Land der Dornen - Colleen McCullough - E-Book

Land der Dornen E-Book

Colleen McCullough

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Beschreibung

Schottland, 1872. Elizabeth Drummond kann der bitteren Armut nur entfliehen, wenn sie ihren Cousin Alexander Kinross heiratet. In Sydney erwartet sie jedoch ein Bräutigam, der ihr noch mehr Furcht einflößt als das heiße, wilde Land. Dennoch gehört sie zu den Glücklichen, denn ihr Mann besitzt eine der reichsten Goldminen der Welt. Und nach vielen schicksalhaften und dramatischen Ereignissen entdeckt Elizabeth etwas völlig Unerwartetes – die Liebe …

Eine faszinierende Australien-Saga voller Dramatik, Leidenschaftlichkeit und Romantik!

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Seitenzahl: 920

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Colleen McCullough

Land der Dornen

Roman

Deutsch von Ursula Pesch,Franka Reinhardund Violeta Topalova

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Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »The Touch« bei Simon & Schuster Inc., New York.

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Colleen McCullough

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Limes Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Johannes Frick, Neusäß

Covermotive: iStockphoto/BerndC; Shutterstock/Flas100

LW · Herstellung: Heidrun Nawrot

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-03059-9V003

www.blanvalet-verlag.de

Für Dr. Kevin Coorey, einen großartigen Menschen, der mich am Leben erhält, in Liebe und Dankbarkeit.

ERSTER TEIL1874-1885

1Das Schicksal wendet sich

Dein Cousin Alexander schreibt, dass er eine Frau sucht«, sagte James Drummond und sah von einem Blatt Papier hoch.
Von ihrem Vater in die gute Stube beordert zu werden, hatte Elizabeth einen Schlag versetzt, denn das konnte nur bedeuten, dass er sie wegen eines Vergehens tadeln und entsprechend bestrafen würde. Nun, sie wusste, was sie getan hatte – sie hatte heute Morgen seinen Haferbrei versalzen – und wie ihre Strafe aussehen würde: für den Rest des Jahres ungesalzenen Haferbrei essen. Der Vater ging sehr sparsam mit seinem Geld um, würde es nie für ein Salzkorn mehr als nötig ausgeben. Und so stand Elizabeth, die Hände auf dem Rücken, mit offenem Mund vor dem schäbigen Ohrensessel und konnte kaum glauben, was sie da hörte.
»Er hält um Jean an, was wirklich dämlich ist – denkt er vielleicht, die Zeit steht still?« Empört fuchtelte James mit dem Brief herum und ließ dann den Blick zu seinem jüngsten Kind wandern, das im hellen, durch das Fenster hereinfallenden Licht stand, während er im Schatten saß. »Du bist wie jede andere Frau, also wird er mit dir vorlieb nehmen müssen.«
»Mit mir?«
»Bist du taub, Mädchen? Ja, mit dir. Oder ist sonst noch jemand hier im Raum?«
»Aber Vater! Wenn er um Jean bittet, wird er mich nicht wollen.«
»Nach den Zuständen zu urteilen, die dort herrschen, von wo aus er schreibt, wird er sich mit jeder ehrbaren, anständig erzogenen jungen Dame zufrieden geben.«
»Von wo aus schreibt er denn?«, fragte sie, denn sie wusste, dass sie den Brief nicht würde lesen dürfen.
»Neusüdwales.« James grunzte zufrieden. »Dein Cousin Alexander scheint erfolgreich zu sein – sieht so aus, als hätte er ein kleines Vermögen auf den Goldfeldern gemacht.« Er runzelte die Stirn. »Oder zumindest genug verdient, um sich eine Frau leisten zu können.«
Der erste Schock war jetzt Bestürzung gewichen. »Wäre es nicht einfacher für ihn, dort eine Frau zu finden, Vater?«
»In Neusüdwales? Was Frauen angeht, gibt’s dort nur Huren, ehemalige Gefängnisinsassinnen und englische Snobs, schreibt er. Nein, er hat Jeannie gesehen, als er das letzte Mal zu Hause war, und einen Narren an ihr gefressen. Hat damals um ihre Hand angehalten. Aber ich war dagegen – warum hätte ich für Jeannie einen unsteten Kesselschmiedlehrling aus den Elendsvierteln von Glasgow akzeptieren sollen, wo sie zudem gerade mal sechzehn war? Dein Alter, Mädchen. Deswegen bin ich sicher, dass er mit dir zufrieden sein wird – er mag es, wenn sie jung sind. Er will eine schottische Frau, deren Tugend über jeden Vorwurf erhaben ist, die das gleiche Blut in den Adern hat wie er und der er vertrauen kann. Sagt er zumindest.« James Drummond stand auf und marschierte an seiner Tochter vorbei in die Küche. »Mach mir einen Tee.«
Während Elizabeth Teeblätter in die vorgewärmte Kanne warf und kochendes Wasser darüber goss, kam die Whiskyflasche auf den Tisch. Der Vater war Presbyter und somit kein Trinker, geschweige denn Säufer. Er trank seinen Tee nur dann mit einem Schuss Whisky, wenn er eine besonders gute Nachricht erhalten hatte, wie etwa die von der Geburt eines Enkels. Aber warum war dies hier eine so besonders gute Nachricht? Was würde er tun, wenn er keine Tochter mehr hatte, die für ihn sorgte?
Was stand wirklich in diesem Brief? Vielleicht, dachte Elizabeth, die das Aufbrühen des Tees beschleunigte, indem sie ihn mit einem Löffel umrührte, sorgt ja der Whisky dafür, dass ich eine Antwort bekomme. Wenn er einen kleinen Schwips hatte, war der Vater ziemlich redselig. Vielleicht ließ er sich dann ja etwas entlocken. »Schreibt mein Cousin Alexander sonst noch was?«, wagte sie zu fragen, nachdem ihr Vater die erste Tasse Tee getrunken und sie ihm die zweite eingegossen hatte.
»Nicht viel. Er ist genauso wortkarg wie alle anderen Drummonds.« James schnaubte verächtlich. »Drummond, dass ich nicht lache! Es ist unglaublich, aber so heißt er gar nicht mehr. In Amerika hat er seinen Namen in Kinross geändert. Du wirst also nicht Mrs Alexander Drummond, sondern Mrs Alexander Kinross sein.«
Weder in diesem Moment noch später, als sie die Dinge klarer sehen konnte, wäre es Elizabeth in den Sinn gekommen, diese willkürliche Entscheidung über ihr Schicksal infrage zu stellen. Denn abgesehen von einer Strafpredigt des Pfarrers Dr. Murray gab es in ihrer Vorstellung nichts Angsterregenderes, als sich ihrem Vater in einer so wichtigen Angelegenheit zu widersetzen. Nicht dass es Elizabeth Drummond an Mut mangelte. Aber von klein auf war sie, das mutterlose jüngste Kind der Familie, von zwei bösartigen alten Männern, ihrem Vater und seinem Herrn Pfarrer, tyrannisiert worden.
»Kinross ist der Name unserer Stadt und unserer Grafschaft und nicht der eines Clans«, sagte sie.
»Er hatte sicher seine Gründe, den Namen zu ändern«, meinte James ungewöhnlich nachsichtig und nahm einen weiteren Schluck seines mit Whisky vermischten Tees.
»Ein Verbrechen, Vater?«
»Das bezweifle ich, denn dann würde er jetzt nicht so offen darüber reden. Alexander war immer eigensinnig, immer ein bisschen größenwahnsinnig. Dein Onkel Duncan hat vergeblich versucht, mit ihm fertig zu werden.« James seufzte tief und glücklich. »Alastair und Mary können bei mir einziehen. Sie werden ein hübsches Sümmchen erben, wenn ich unter der Erde bin.«
»Ein hübsches Sümmchen?«
»Ja. Dein Zukünftiger hat einen Wechsel geschickt, um die Kosten für deine Reise nach Neusüdwales abzudecken. Tausend Pfund.«
Elizabeth schnappte nach Luft. »Tausend Pfund?«
»Richtig gehört. Aber dass du nicht auf falsche Ideen kommst, Mädchen. Du kannst zwanzig Pfund haben, um deine Aussteuerkiste zu füllen, und fünf für deinen Hochzeitsstaat. Er sagt, wir sollen dich erster Klasse und mit einer Zofe schicken – aber ich werde solche Extravaganzen nicht unterstützen! Bah, schrecklich! Morgen werde ich als Erstes an die Zeitungen in Edinburgh und Glasgow schreiben und eine Anzeige aufgeben.« Er schloss die Augen, ein Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte. »Was ich suche, ist ein ehrbares verheiratetes Paar, das der Kirche angehört und vorhat, nach Neusüdwales auszuwandern. Wenn sie bereit sind dich mitzunehmen, zahle ich ihnen fünfzig Pfund.« Er öffnete wieder die Augen. »Das werden sie sich nicht entgehen lassen. Und ich stecke neunhundertfünfundzwanzig Pfund in meine Tasche. Ein hübsches Sümmchen.«
»Denkst du denn, Alastair und Mary sind bereit, bei dir einzuziehen, Vater?«
»Wenn nicht, hinterlasse ich mein Geld eben Robbie und Bella oder Angus und Ophelia«, meinte James Drummond selbstgefällig.
Nachdem sie ihm an diesem Sonntag zum Abendbrot zwei dick mit durchwachsenem Speck belegte Brote serviert hatte, warf sich Elizabeth ihr Plaid um die Schultern und machte sich unter dem Vorwand davon, sie wolle nachsehen, ob die Kuh nach Hause gekommen sei.
Das Haus, in dem James Drummond seine große Familie aufgezogen hatte, lag am Rande von Kinross, einem Dorf, dem man als Zentrum der Grafschaft Kinross den Status einer Marktstadt verliehen hatte. Mit zwölf mal zehn Meilen war Kinross die zweitkleinste Grafschaft Schottlands, machte ihren Mangel an Größe jedoch durch einen gewissen Grad an Wohlstand wett.
Aus der Wollspinnerei, den beiden Getreidemühlen und der Brauerei quoll schwarzer Rauch, denn kein Fabrikbesitzer ließ seine Dampfkessel ausgehen, nur weil Sonntag war. Es war billiger, als sie montags wieder von neuem in Gang zu bringen. Im südlichen Teil der Grafschaft gab es genügend Kohle für diese bescheidenen lokalen Industriezweige, und so war James Drummond dem Schicksal so vieler Schotten entgangen, sein Heimatland verlassen zu müssen, um andernorts Arbeit zu finden und zu leben oder aber im Schmutz eines stinkenden Großstadtslums dahinzuvegetieren. Wie sein älterer Bruder Duncan, Alexanders Vater, hatte James fünfundfünfzig Jahre lang in der Wollspinnerei gearbeitet und, nachdem die Königin das Schottenmuster in Mode gebracht hatte, kilometerweise karierten Stoff für die Engländer produziert.
Die heftigen schottischen Winde bliesen den Schornsteinrauch fort, so als hätte ein Künstler ihn mit seinem Daumen verwischt, und enthüllten das blasse Blau des unendlich weiten Himmels. In der Ferne erhoben sich die Hügelketten der Ochils und Lomonds mit ihrem dunkelrot leuchtenden Heidekraut, hohe, wilde Berge, in denen kleine Bauernhäuschen standen, deren morsche Türen im Wind quietschten, und wohin schon bald die Grundbesitzer von weit her kommen würden, um Rotwild zu jagen und in den Seen zu fischen – was die Grafschaft Kinross, eine fruchtbare Ebene voller Rinder, Pferde und Schafe, wenig kümmerte. Die Rinder waren dazu ausersehen, das beste Londoner Roastbeef zu werden, die Pferde dienten als Zuchtstuten für Reit- und Kutschpferde und die Schafe produzierten Wolle für die Spinnerei und dienten als Nahrung für die Einheimischen. Es gab auch Feldfrüchte, denn der moosige Boden war vor fünfzig Jahren trockengelegt worden.
Vor dem Städtchen Kinross lag der Loch Leven, ein breiter, sich kräuselnder, stahlblauer See, in den bernsteinfarbene Moorbäche mündeten. Elizabeth stand am Ufer, nicht weit vom Haus entfernt (sie hütete sich, außer Sichtweite zu gehen), und blickte über den See hin zu der grünen Ebene, die sich bis zum Firth of Forth erstreckte. Manchmal, wenn der Wind von Osten her wehte, brachte er den fischigen Geruch der Nordsee mit sich, aber heute kam der Wind von den Bergen her und es roch nach verrottenden Blättern. Auf der Insel Lochleven erhob sich die Burg, in der man Maria, Königin der Schotten, fast ein Jahr lang gefangen gehalten hatte. Was war es wohl für ein Gefühl gewesen, gleichzeitig Monarchin und Gefangene zu sein? Eine Frau zu sein, die versuchte, ein Land voll grimmiger, freiheitsliebender Männer zu regieren? Aber sie hatte den römischen Glauben wieder einführen wollen, und Elizabeth Drummond war zu sehr Presbyterianerin, um ihr das als Verdienst anzurechnen.
Ich reise an einen Ort, den sie Neusüdwales nennen, um einen Mann zu heiraten, den ich noch nie gesehen habe, dachte sie, einen Mann, der um die Hand meiner Schwester angehalten hat, nicht um meine. Und zu verdanken habe ich das meinem Vater! Was, wenn ich dort ankomme, und dieser Alexander Kinross mag mich nicht? Wenn er ein Ehrenmann ist, wird er mich sicher wieder nach Hause schicken! Und er muss ehrenhaft sein, sonst würde er nicht eine Drummond zur Frau haben wollen. Aber ich habe gelesen, dass in diesen so weit entfernten primitiven Kolonien tatsächlich ein Mangel an geeigneten Ehefrauen herrscht, von daher wird er mich wohl heiraten. Lieber Gott, mach, dass er mich mag! Mach, dass ich ihn mag!
Elizabeth hatte zwei Jahre lang Dr. Murrays Schule besucht, lange genug, um Lesen und Schreiben zu lernen, und sie war sehr belesen, wenn auch nur in bestimmten Bereichen. Schreiben war schwieriger, da James sich weigerte, wegen dummer Gören Geld für Papier auszugeben. Aber wenn sie das Haus tadellos sauber hielt, die Mahlzeiten ihres Vaters zu seiner Zufriedenheit zubereitete, kein Geld ausgab und nicht mit anderen, gleichermaßen dummen Gören plauderte, stand es ihr frei, so viele Bücher zu lesen, wie sie wollte. Sie hatte zwei Quellen: die Texte in der Bibliothek in Mr Murrays Pfarrhaus und die langweiligen, braven Romane, die unter den weiblichen Mitgliedern seiner großen Gemeinde im Umlauf waren. Kein Wunder, dass sie sich besser in Theologie als in Geologie und besser im Alltag als in der Liebe auskannte.
Dass es einmal ihr Los sein würde zu heiraten, war ihr nie in den Sinn gekommen, obwohl sie allmählich in das Alter kam, in dem sie sich Gedanken über die Freuden und Gefahren der Ehe machte und die Beziehungen ihrer älteren Geschwister fasziniert beobachtete. Alastair und Mary, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit und ihrer ständigen Streitereien eine innige Gemeinschaft verband; Robert und Bella, die perfekt zueinander passten – geizig, wie sie beide waren; Angus und seine zwitschernde Ophelia, die entschlossen schienen, einander zu zerstören; Catherine und Robert, die in Kircaldy lebten, weil er Fischer war; Mary und James; Anne und Angus; Margaret und William … und Jean, die älteste Tochter, die Familienschönheit, die mit achtzehn einen Montgomery geheiratet hatte – ein beneidenswerter Fang für ein Mädchen, das zwar aus einer guten Familie kam, aber keine Mitgift hatte. Ihr Ehemann hatte sie zu einer Villa in der Princess Street in Edinburgh gebracht, und seither hatten die Drummonds in Kinross Jean nicht mehr gesehen.
»Sie schämt sich unseretwegen«, sagte James voller Verachtung.
»Sehr clever«, sagte Alastair, der sie geliebt hatte und zu ihr hielt.
»Sehr egoistisch«, sagte Mary höhnisch.
Sehr einsam, dachte Elizabeth, die sich nur vage an Jean erinnerte. Doch sollte Jean ihre Einsamkeit nicht mehr ertragen können, wäre ihre Familie nur fünfzig Meilen entfernt. Sie hingegen würde nie nach Hause kommen können, und ihr Zuhause war doch alles, was sie kannte!
Nach Margarets Hochzeit hatte man beschlossen, dass Elizabeth, das jüngste von James’ Kindern, zumindest bis zum Tod des Vaters – der, wie die Familie glaubte, noch in weiter Ferne lag – unverheiratet bleiben sollte. Der Vater war zäh wie Leder und völlig unverwüstlich. Nun hatte sich dank Alexander Kinross und seinen tausend Pfund alles geändert. Alastair, James’ ganzer Stolz nach dem Tod seines nach ihm benannten Sohns, würde sich über Mary hinwegsetzen und mit ihr und den sieben Kindern in das Haus seines Vaters ziehen. Irgendwann würde es ihm sowieso gehören, denn er hatte sich seinen Platz in James’ Herzen gesichert, indem er die Nachfolge des Vaters als Webstuhlmeister in der Spinnerei antrat. Aber Mary – die arme Mary, wie sie leiden würde! Der Vater hielt sie für schrecklich verschwenderisch, denn sie kaufte ihren Kindern Schuhe für sonntags und stellte sowohl zum Frühstück als auch zum Nachtessen Marmelade auf den Tisch. Sobald sie bei James eingezogen wäre, würden ihre Kinder Stiefel tragen und Marmelade gäbe es nur am Sonntag zum Abendbrot.
Ein starker Herbstwind kam auf und Elizabeth zitterte, doch mehr aus Angst als aufgrund der plötzlichen Kälte. Was hatte der Vater über Alexander Kinross gesagt? »Ein unsteter Kesselschmiedlehrling aus den Elendsvierteln von Glasgow.« Was meinte er mit unstet? Dass Alexander Kinross nichts zu Ende führte? Wenn er unstet war, würde er dann am Ende ihrer Reise da sein, um sie abzuholen?
»Elizabeth, komm rein!«, brüllte James.
Sie gehorchte eilig.
Die Zeit verging wie im Flug und Elizabeth wurde wenig Zeit zum Nachdenken gelassen. Wie sehr sie sich auch bemühte, wach zu bleiben und über ihr Schicksal nachzudenken, sobald sie sich hinlegte, übermannte sie der Schlaf. James und Mary stritten sich ständig. Alastair hatte Glück, denn er ging schon frühmorgens zur Spinnerei und kam erst abends, wenn es dunkel war, wieder nach Hause. Marys gesamtes Mobiliar musste zu ihrem neuen Heim gebracht werden und erhielt Vorrang vor James’ alten, ramponierten Möbelstücken. Wenn Elizabeth nicht gerade voll bepackt mit Wäsche oder Kleidungsstücken (einschließlich Schuhen) die Treppe rauf- und runterrannte oder dabei half, das Klavier, den Sekretär oder den Kleiderschrank hereinzutragen, war sie draußen, um einen von Marys über der Wäscheleine hängenden Läufer auszuklopfen. Mary war eine Cousine aus der Murray-Linie und hatte einiges Hab und Gut, eine kleine Zuwendung ihres Vaters, der Bauer war, und mehr geistige Unabhängigkeit mit in die Ehe gebracht, als eine Frau, wie Elizabeth bis dahin geglaubt hatte, besitzen konnte. Doch so richtig bekam sie das erst zu spüren, nachdem Mary bei ihrem Vater eingezogen war. Der, wie Elizabeth erstaunt feststellte, nicht immer die Oberhand behielt. Die Marmelade kam weiterhin jeden Morgen und Abend auf den Frühstückstisch. Die Kinder trugen sonntags zum Gottesdienst in Dr. Murrays Kirche ihre Schuhe. Und Mary trug ihre schön geformten Fesseln in einem Paar wunderbar blauer Schühchen mit so hohen Absätzen zur Schau, dass sie eher tänzelte als ging. James raste oft vor Wurt und schon bald hatten seine Enkel riesige Angst vor seinem Stock, aber Alastair war, wie ihm bald klar wurde, Wachs in Marys Händen.
Elizabeths einzige Chance, diesem häuslichen Getümmel zu entkommen, waren Besuche in Miss MacTavishs Geschäft im Zentrum von Kinross. Es war ein kleines Haus, und der Laden, der zum Bürgersteig hin lag, hatte ein großes Fenster, in dem eine geschlechtslose, mit einem langen rosafarbenen Taftkleid ausstaffierte Schaufensterpuppe stand – es war nicht ratsam, bei der Kirche Anstoß zu erregen, indem man eine Schaufensterpuppe mit Brüsten zeigte.
Alle, die ihre Kleidung nicht selbst nähten, gingen zu Miss MacTavish, einer abgemagerten unverheirateten Dame Ende vierzig, die, nachdem sie hundert Pfund geerbt hatte, ihre Stelle als Näherin aufgab und ihr eigenes Geschäft als Modistin eröffnete. Das Geschäft florierte, denn in Kinross lebten Damen, die sich ihre Dienste leisten konnten, und Miss MacTavish war clever genug, ihnen Modezeitschriften zu zeigen, die man ihr, wie sie behauptete, aus London geschickt hatte.
Elizabeth hatte fünf von ihren zwanzig Pfund für Kleider aus den Schottenstoffen der Spinnerei ausgegeben, wo sie dank Alastairs Position einen kleinen, aber willkommenen Rabatt erhielt. Diese und vier Hauskleider aus grobem braunem Leinen sowie ihre Schlüpfer aus ungebleichtem Kattun, ihre Nachthemden, Unterkleider und Petticoats würde sie selbst nähen. Rechnete sie alle Ausgaben zusammen, blieben ihr für Miss MacTavish noch sechzehn Pfund.
»Zwei Hauskleider, zwei Kleider für den Nachmittag, zwei Abendkleider und dein Hochzeitskleid«, sagte Miss MacTavish, hocherfreut über diesen Auftrag. Sie würde nicht viel daran verdienen, aber nicht jeden Tag kam ein so junges und hübsches Mädchen – was für eine Figur! – ohne eine Mutter oder Tante, die den ganzen Spaß verdarb, zu ihr ins Haus.
»Nur gut«, sagte die Modistin, während sie ihr Maßband schwang, »dass ich hier bin, Elizabeth. Wenn du nach Kircaldy oder Dumfermline gehen müsstest, würdest du das Doppelte für die Hälfte bezahlen. Und ich habe ein paar wunderschöne Stoffe auf Lager, genau richtig für deinen Teint. Dunkle Schönheiten kommen nie aus der Mode, sie passen sich der Umgebung nicht an. Obwohl ich höre, dass deine Schwester Jean, diese blonde Schönheit, immer noch der Star von Edinburgh ist!«
Elizabeth, die sich in Miss MacTavishs Spiegel betrachtete, hörte nur deren letzte Worte. James duldete keinen Spiegel in seinem Haus und hatte diese Auseinandersetzung sogar gewonnen. Mary musste, nachdem der Vater Dr. Murray als Verstärkung hinzugeholt hatte, den Spiegel in ihrem eigenen Schlafzimmer aufstellen. Schönheit war, wie Elizabeth spürte, ein Wort, das Miss MacTavish leicht über die Lippen kam und dazu diente, die Kundinnen zu umgarnen. Sie konnte in ihrem Spiegelbild kein Zeichen dafür entdecken, dass sie eine Schönheit war, obwohl »dunkel« nur allzu deutlich zutraf: sehr dunkles Haar, dichte dunkle Brauen und Wimpern, dunkle Augen, ein ganz gewöhnliches Gesicht.
»Und deine Haut!«, säuselte sie jetzt. »So weiß und makellos! Lass dich nicht von irgendjemandem mit Rouge voll kleistern, das würde überhaupt nicht zu dir passen. Und ein Hals wie ein Schwan!«
Nachdem sie Maß genommen hatte, führte Miss MacTavish Elizabeth in den Raum, in dem sie ihre Stoffballen aufbewahrte – feinstes Musselin, Kambrik, Seide, Taft, Spitze, Samt und Satin. Borten in jeder Farbe. Federn, Seidenblumen. Elizabeth eilte sofort mit glühendem Gesicht auf einen Ballen leuchtend roten Stoffes zu. »Dieser, Miss MacTavish«, rief sie aus. »Dieser!«
Die zur Modistin aufgestiegene Näherin wurde so rot wie der Stoff. »Um Gottes willen, nein«, presste sie hervor.
»Aber er ist so schön!«
»Scharlachrot«, sagte Miss MacTavish und schob den anstößigen Ballen ganz nach hinten ins Regal, »ist überhaupt nicht das Richtige, meine liebe Elizabeth. Dieser Stoff ist für gewisse Kundinnen gedacht, die – äh – nicht so tugendhaft sind, wie sie sein sollten. Natürlich kommen sie, um mir Peinlichkeiten zu ersparen, nur nach Absprache hierher. Kind, du kennst doch die Heilige Schrift, oder? Die ›scharlachrot gekleidete Hure‹.«
»Ohhhh!«
Und so nahm Elizabeth mit einem – ganz untadeligen – rostroten Taft vorlieb, und nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, sagte sie bei einer Tasse Tee zu Miss MacTavish: »Ich glaube nicht, dass Vater mit irgendeinem dieser Kleider einverstanden wäre. Sie entsprechen nicht meiner Stellung.«
»Deine Stellung«, sagte Miss MacTavish mit Nachdruck, »wird sich bald gewaltig ändern, Elizabeth. Als die Braut eines Mannes, der reich genug ist, dir tausend Pfund zu schicken, kannst du nicht nur in Schottenstoffen aus der Spinnerei und einfachem braunem Leinen herumlaufen. Es wird Partys geben und Bälle, nehme ich an, Ausfahrten in der Kutsche, Besuche bei den Frauen anderer reicher Männer. Dein Vater hätte nicht so viel von deinem, ja deinem, nicht seinem Geld, da bin ich mir sicher, behalten sollen.«
Nachdem sie das losgeworden war (denn es musste ja einmal gesagt werden, was für ein gemeiner, alter Geizkragen James Drummond war!), goss Miss MacTavish mehr Tee ein und drängte Elizabeth ein Stück Kuchen auf. So ein hübsches Mädchen, einfach zu schade für Kinross!
»Ich möchte überhaupt nicht nach Neusüdwales gehen und Mr Kinross heiraten«, sagte Elizabeth unglücklich.
»Unsinn! Betrachte es als Abenteuer, meine Liebe. Alle jungen Frauen in Kinross beneiden dich, glaube mir. Denk doch nur: Hier wirst du überhaupt keinen Ehemann haben, du wirst die besten Jahre deines Lebens damit verbringen, für deinen Vater zu sorgen.« Ihre blassblauen Augen wurden feucht. »Ich weiß, wovon ich rede, glaube mir. Ich musste meine Mutter bis zu ihrem Tod versorgen, und dann war es zu spät für eine Heirat.« Plötzlich seufzte sie und ihre Augen bekamen einen strahlenden Glanz. »Alexander Drummond … Und ob ich mich an ihn erinnere! Kaum fünfzehn, als er wegrannte, aber es gab nicht ein weibliches Wesen in Kinross, dem er nicht aufgefallen wäre.«
Elizabeth setzte sich aufrecht. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der ihr ein wenig über ihren zukünftigen Ehemann erzählen konnte. Im Unterschied zu James hatte Duncan Drummond nur zwei Kinder gehabt, ein Mädchen, Winifred, und Alexander. Winifred hatte einen Pfarrer geheiratet und war in die Nähe von Inverness gezogen, bevor Elizabeth zur Welt kam. Von ihr konnte sie also nichts erfahren. Diejenigen in ihrer eigenen Familie auszufragen, die alt genug waren, sich an Alexander zu erinnern, hatte wenig gebracht. Es war, als wäre das Thema Alexander aus irgendeinem Grund tabu. Dahinter steckte sicher der Vater. Er wollte das unerwartete Geschenk nicht zurückgeben und ging kein Risiko ein. Außerdem glaubte er, dass Unwissenheit im Falle einer Heirat ein Segen war.
»Sah er gut aus?«, fragte sie gespannt.
»Ob er gut aussah?« Miss MacTavish verzog das Gesicht und schloss die Augen. »Nein, ich hätte ihn nicht als gut aussehend bezeichnet. Es war die Art, wie er ging – so stolz. Duncan schlug ihn immer grün und blau und es muss manchmal hart für ihn gewesen sein, so zu gehen, als gehöre ihm die Welt. Aber er tat es. Und sein Lächeln! Man wurde einfach – schwach.«
»Er ist weggelaufen?«
»An seinem fünfzehnten Geburtstag«, sagte Miss MacTavish und fuhr mit ihrer Version der Geschichte fort. »Dr. MacGregor, der damalige Pfarrer, war untröstlich. Alexander, so pflegte er zu sagen, sei so klug. Er lernte Latein und Griechisch und Dr. MacGregor hoffte, ihn zur Universität schicken zu können. Doch davon wollte Duncan nichts wissen. Da Winifred weg war, sollte wenigstens Alexander hier bleiben, er konnte ja in der Spinnerei arbeiten! Ein gnadenloser Mann, dieser Duncan Drummond. Er hat mir mal einen Heiratsantrag gemacht, weißt du, aber ich musste Mutter versorgen und es tat mir nicht Leid, seinen Antrag abzulehnen. Und nun wirst du Alexander heiraten! Es ist wie ein Traum, Elizabeth, wie ein Traum!«
Das war es wirklich. Wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, dachte sie über ihre Zukunft nach, und sie erschien ihr wie die über den weiten schottischen Himmel ziehenden Wolken: manchmal in kleinen leichten Fetzen, manchmal traurig und grau, ein andermal stürmisch und schwarz. Ein Aufbruch ins Unbekannte mit unbekannten Folgen, und das begrenzte Wissen, über das sie mit ihren sechzehn Jahren verfügte, bot ihr weder Trost noch Hilfe. Sie war im einen Moment aufgeregt und brach im nächsten in Tränen aus, freute sich und verlor dann wieder allen Mut. Selbst die intensive Beschäftigung mit Dr. Murrays alphabetischem Ortsverzeichnis und der Britannica halfen ihr nicht, den Aufruhr ihrer Gefühle zu verstehen.
Die Garderobe, einschließlich ihres Hochzeitskleides, wurde genäht, gefaltet, zwischen Seidenpapier gelegt und in ihre beiden Schrankkoffer gepackt. Alastair schenkte ihr die Koffer, Mary einen Schleier aus weißer französischer Spitze für die Hochzeit, Miss MacTavish ein Paar weiße Satinslipper. Mit Ausnahme von James hatte jedes Familienmitglied irgendein kleines Geschenk für Elizabeth, sei es Kölnischwasser, eine geschnitzte Brosche, ein Nadelkissen oder eine Schachtel Bonbons.
James’ ehrbares presbyterianisches Ehepaar antwortete auf eine seiner Anzeigen aus Peebles und hatte, nachdem mehrere Briefe zwischen Kinross und Peebles hin und her gegangen waren, zugesagt, die junge Braut für fünfzig Pfund in seine Obhut zu nehmen.
Alastair und Mary wurde aufgetragen, Elizabeth zu begleiten. Erst ging es mit der Kutsche nach Kircaldy, wo sie für die Reise über den Firth of Forth nach Leith einen Dampfer bestiegen. Von dort aus ging’s dann weiter mit von Pferden gezogenen Straßenbahnen nach Edinburgh, wo Mr und Mrs Richard Watson an der Princess Street Station auf sie warten sollten.
Hätte die raue Überfahrt sie nicht so mitgenommen, wäre Elizabeth in Edinburgh wohl völlig aus dem Häuschen gewesen. In ihrem ganzen Leben war sie nicht einmal bis Kircaldy gekommen, und so hätte die riesige Stadt sie völlig überwältigen müssen, wenn man bedenkt, wie sehr sie sich gefreut hatte, Kircaldy zu sehen. Catherine und Robert lebten dort, hatten die drei bei sich untergebracht und Elizabeth die Sehenswürdigkeiten gezeigt. Aber für Edinburghs geschäftiges Treiben, seine winterliche Schönheit, die bewaldeten Hügel und Schluchten konnte sie sich nicht begeistern. Als die letzte der Straßenbahnen sie zum Bahnhof gebracht hatte, ließ sie Alastair vorausgehen. Er brachte sie zu ihrem winzigen, kastenförmigen Abteil zweiter Klasse, das sie bis London mit den Watsons teilen würde, und hielt dann auf dem überfüllten Bahnsteig Ausschau nach ihren verspäteten Begleitern.
»Das ist doch ganz annehmbar«, sagte Mary, die sich in Elizabeths Abteil umsah. »Die Sitze sind gut gepolstert und mit deiner Wolldecke wirst du nicht frieren.«
»Die Reisenden dritter Klasse beneide ich wirklich nicht«, sagte Alastair und schob zwei Gepäckscheine in Elizabeths linken Handschuh. »Verlier sie nicht, sie sind für deine Koffer, die sicher in der Gepäckabteilung aufbewahrt sind.« Dann steckte er fünf Goldmünzen in ihren anderen Handschuh. »Von Vater«, sagte er grinsend. »Ich konnte ihn davon überzeugen, dass du nicht mit leerem Geldbeutel nach Neusüdwales reisen kannst, aber ich soll dir sagen, dass du nicht einen Viertelpenny unnütz ausgeben sollst.«
Schließlich trafen die Watsons ein, völlig außer Atem. Sie waren groß und knochig und ihre schäbige Kleidung ließ darauf schließen, dass Elizabeths fünfzig Pfund sie vor den Schrecken der dritten Klasse bewahrt und ihnen die relative Bequemlichkeit der zweiten Klasse ermöglicht hatten. Sie schienen nett zu sein, auch wenn Alastair bei Mr Watsons Alkoholfahne die Nase rümpfte.
Der Zug pfiff zur Abfahrt und die Leute beugten sich aus ihren Abteilfenstern, um den auf dem Bahnsteig Stehenden noch etwas zuzurufen, sie heftig zu umarmen und ihnen unter Tränen zum Abschied zu winken. Mit Zischen und Knallen, Dampfwolken, Rucken und Rasseln setzte sich der Nachtzug nach London in Bewegung.
So nah und doch so fern, dachte Elizabeth, deren Lider schwer wurden. Meine Schwester Jean, die doch die Ursache von all dem ist, lebt in der Princess Street, und dennoch müssen Alastair und Mary sich ein Zimmer im Bahnhofshotel nehmen und, ohne sie gesehen zu haben, nach Kinross zurückkehren. »Ich empfange keinen Besuch«, hatte es in ihrer knappen Mitteilung geheißen.
Elizabeth fielen die Augen zu und sie schlief, in eine Ecke gekuschelt und die Wange gegen das eisige Fenster gelehnt, ein.
»Armes kleines Ding«, sagte Mrs Watson. »Hilf mir mal, es ihr bequemer zu machen, Richard. Es ist schon eine Schande, dass Schottland seine Kinder zwölftausend Meilen weit schicken muss, damit sie einen Ehemann abkriegen.«
Schiffe mit Schraubenantrieb bahnten sich in sechs oder sieben Tagen den Weg durch den Nordatlantik von Großbritannien nach New York. Aber für einen Dampfer, der zum entgegengesetzten Ende der Welt unterwegs war, gab es nicht genügend Kohle. Dorthin fuhren noch immer Segelschiffe.
Die Aurora war eine Viermastbark mit Rahsegeln an Fock- und Großmast und Vor- und Schratsegeln an den Besanmasten, und sie legte die zwölftausend Meilen nach Sydney in zweieinhalb Monaten mit nur einer Zwischenstation in Kapstadt zurück. Durch den Atlantik nach Süden, dann rund um Kap Hoorn in den Pazifik. Ihre Fracht bestand aus mehreren hundert Wasserklosetts aus Keramik mitsamt Spülkästen, zwei Kaleschen, teuren Sitzgarnituren aus Nussbaumholz, Baumwoll- und Wollstoffen, Ballen feiner französischer Spitze, Kisten mit Büchern und Zeitschriften, Gläsern mit englischer Marmelade, Dosen mit Sirup, vier Dampfmaschinen von Matthew Boulton & Watt sowie einer Ladung Türknaufe aus Messing. Außerdem standen in der Stahlkammer viele sehr große Kisten, auf denen ein Totenkopf abgebildet war. Auf dem Rückweg würde das Schiff Tausende von Säcken mit Weizen transportieren und die Stahlkammer mit Goldbarren statt mit Kisten, auf denen ein Totenkopf prangte, gefüllt sein.
Gegen den Willen des Kapitäns, einem fanatischen Frauenhasser, nahm die Aurora ein Dutzend Passagiere beiderlei Geschlechts auf, obwohl es keine Einzelkabinen gab und das Essen äußerst einfach war – viel frisch gebackenes Brot, gesalzene Butter aus Holzfässern, gekochtes Rindfleisch und Kartoffeln sowie mehlige Nachspeisen mit ein wenig Marmelade oder Sirup.
Zwar war Elizabeth, nachdem sie den Golf von Biskaya zur Hälfte durchquert hatten, seefest geworden, Mrs Watson jedoch nicht, sodass Elizabeths Zeit damit ausgefüllt war, sich um ihre Begleiterin zu kümmern. Keine unangenehme Pflicht, denn Mrs Watson war eine freundliche Seele, die mit vielen Problemen belastet zu sein schien. Die beiden Frauen und Mr Watson teilten sich eine Kabine mit einem Bullauge und einer kleinen Nische für die Zofe, doch noch bevor die Aurora in den Ärmelkanal eingefahren war, hatte Mr Watson verkündet, dass er im Aufenthaltsraum schlafen werde, damit die Frauen ein wenig Privatsphäre hätten. Zuerst hatte Elizabeth sich gefragt, warum diese Ankündigung Mrs Watson so bekümmerte, doch dann wurde ihr klar, dass die Armut der Watsons zum großen Teil auf Mr Watsons Schwäche für harte Drinks zurückzuführen war.
Aber es war so entsetzlich kalt! Erst als sie die Kapverdischen Inseln hinter sich gelassen hatten, wurde es endlich ein bisschen milder, doch inzwischen hatte Mrs Watson einen schlimmen Husten. Als sie Kapstadt erreichten, war ihr erschrockener Ehemann so weit ausgenüchtert, dass er einen Arzt rief, der ihn kopfschüttelnd am Kragen packte.
»Wenn Ihnen das Leben Ihrer Frau lieb ist, Sir, dann sollten Sie sie an Land bringen und nicht weitersegeln!«
Aber was sollte aus Elizabeth werden?
Gestärkt durch eine halbe Flasche Gin, hörte Mr Watson gar nicht mehr auf, sich diese Frage zu stellen, während die völlig benommene Mrs Watson sich gar keine Frage mehr stellen konnte. Beide waren eine halbe Stunde nachdem der Arzt gegangen war mit all ihrer Habe von Bord gegangen und hatten Elizabeth einfach ihrem Schicksal überlassen.
Wäre es nach dem Kapitän gegangen, hätte man Elizabeth gleich hinterherverfrachtet. Aber er hatte die Rechnung ohne eine seiner drei anderen weiblichen Passagiere gemacht. Sie berief eine Versammlung ein, an der sie selbst, zwei Ehepaare, die drei nüchternen unverheirateten Herren und der Kapitän teilnahmen.
»Das Mädchen geht an Land«, sagte dieser in unnachgiebigem Ton.
»Also wirklich, Kapitän«, sagte Mrs Augusta Halliday. »Ein sechzehnjähriges Mädchen ohne jemanden, der sie beschützt, an einem fremden Ort an Land zu schicken – denn die Watsons sind keine geeigneten Begleiter -, ist einfach unerhört! Wenn Sie das tun, Sir, werde ich es den Besitzern der Aurora, der Kapitänsgilde und jedem, der mir sonst noch einfällt, melden. Miss Drummond bleibt an Bord.«
Als Mrs Halliday dies mit einem kriegerischen Funkeln in den Augen verkündete und die anderen zustimmend murmelten, da wusste der Kapitän, dass er sich geschlagen geben musste.
»Wenn das Mädchen bleibt«, sagte er verbissen, »verbiete ich jeden Kontakt zwischen ihr und meiner Besatzung. Und jeden Kontakt zwischen ihr und einem männlichen Passagier, verheiratet oder unverheiratet, betrunken oder nüchtern. Sie wird in ihrer Kabine bleiben und dort ihre Mahlzeiten einnehmen.«
»Als sei sie eine Gefangene?«, empörte sich Mrs Halliday. »Das ist skandalös! Sie muss frische Luft und Bewegung haben.«
»Wenn sie frische Luft braucht, kann sie das Bullauge öffnen, Madam, und wenn sie Bewegung braucht, auf der Stelle auf und ab hüpfen. Ich bin der Kapitän dieses Schiffes und mein Wort ist Gesetz. Ich dulde keine Hurerei an Bord der Aurora.«
Und so verbrachte Elizabeth die letzten fünf Wochen dieser endlos langen Reise eingesperrt in ihrer Kabine und vertrieb sich die Zeit mit den Büchern und Zeitschriften, die Mrs Halliday ihr nach einem schnellen Besuch an Land und in Kapstadts einzigem englischen Buchladen zukommen ließ. Nur ein Zugeständnis machte der Kapitän der kämpferischen Dame. Er erlaubte ihr, Elizabeth täglich nach Einbruch der Dunkelheit zweimal um das Deck zu begleiten, und selbst dann folgte er ihnen und fuhr jeden Matrosen an, der in ihre Nähe kam.
»Wie ein Wachhund«, kicherte Elizabeth.
Sobald die Watsons das Schiff verlassen hatten, war ihre Stimmung wieder gestiegen, trotz des Eingesperrtseins – etwas, das ihr Vater und Mr Murray, wie sie wusste, sicher gutgeheißen hätten. Und es war herrlich, ein eigenes Reich zu haben, ein größeres als ihr kleines Zimmer zu Hause, das sie erst hatte betreten dürfen, wenn es Zeit war, schlafen zu gehen. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie durch das Bullauge das Meer sehen, diese wogende Weite, die sich bis zum Horizont erstreckte, und während ihrer allabendlichen Spaziergänge an Deck konnte sie das Zischen hören, das Donnern, wenn der Bug der Aurora auf das Wasser traf.
Sie erfuhr, dass Mrs Halliday die Witwe eines freien Siedlers war, der in Sydney mit einem Fachgeschäft für die feinen Leute ein bescheidenes Vermögen gemacht hatte. Ob Bänder oder Knöpfe, Korsettschnüre oder Walknochenstäbe, Strümpfe oder Handschuhe, Sydneys Gesellschaft kaufte sie in Hallidays Kurzwarenhandlung.
»Nachdem Walter gestorben war, konnte ich es kaum abwarten, nach Hause zu fahren«, erzählte sie Elizabeth und seufzte. »Aber dieses Zuhause war nicht, was ich erwartet hatte. Ich musste erkennen, dass das, wovon ich all die Jahre geträumt hatte, einzig eine Ausgeburt meiner Fantasie war. Ich war, ohne es zu wissen, Australierin geworden. In Wolverhampton gab es so viele Schlackenhalden und Schornsteine, und es ist kaum zu glauben, aber ich hatte Schwierigkeiten, die Menschen zu verstehen. Ich habe meine Kinder vermisst, meine Enkel und die Weite. Wir glauben gerne, Großbritannien habe Australien nach seinem Ebenbild geschaffen, so wie Gott den Menschen. Aber das stimmt nicht. Australien ist ein fremdes Land.«
»Heißt es nicht Neusüdwales?«, fragte Elizabeth.
»Streng genommen, ja. Aber der Kontinent wird nun schon seit langem Australien genannt, und ob sie nun aus Victoria, Neusüdwales oder Queensland sind, die Leute nennen sich Australier. Das tun auch meine Kinder.«
In ihren Unterhaltungen kamen sie oft auf Alexander Kinross zu sprechen, aber leider kannte Mrs Halliday ihn nicht.
»Es ist vier Jahre her, seit ich aus Sydney fortgegangen bin, er ist dort wahrscheinlich in meiner Abwesenheit angekommen. Außerdem würden, wenn er nicht verheiratet ist und sich nicht in der Gesellschaft zeigt, nur seine Kollegen seinen Namen kennen. Aber ich bin sicher«, fuhr Mrs Halliday freundlich fort, »dass er über jeden Vorwurf erhaben ist. Warum sollte er sonst um die Hand einer Cousine anhalten? Schurken, meine Liebe, heiraten in der Regel überhaupt nicht. Besonders wenn sie auf den Goldfeldern leben.« Sie presste die Lippen aufeinander und rümpfte die Nase. »Die Goldfelder sind Lasterhöhlen, in denen es viele zweifelhafte Frauen gibt.« Sie hustete vornehm. »Ich hoffe, Elizabeth, du weißt über die Ehepflichten Bescheid?«
»Oh ja«, antwortete Elizabeth ruhig. »Meine Schwägerin Mary hat mir erzählt, was da auf mich zukommt.«
Als die Aurora den Hafen von Port Jackson erreichte, wurde sie von einem Dampfboot ins Schlepptau genommen. Verärgert über die Anwesenheit eines Lotsen, den er verachtete, war der Kapitän zu sehr abgelenkt, um zu bemerken, dass Mrs Halliday Elizabeth mit an Deck genommen hatte, um ihr mit Besitzerstolz die Wahrzeichen dessen zu zeigen, was die gute Dame »den prachtvollsten Hafen der Welt« nannte.
Ja, er ist in der Tat prachtvoll, dachte Elizabeth, als ihr Blick auf die massiven orangefarbenen, von dichten blaugrauen Wäldern gekrönten Kliffe fiel. Dann tauchten sandige Buchten und sanftere Abhänge auf – ein Zeichen, dass man sich bewohnter Gegend näherte. Die hohen, dürren Bäume wurden von Häuserreihen abgelöst, deren Bewohner Mrs Halliday mit knappen Kommentaren bedachte, die von Diffamierung bis zu Verurteilung reichten. Aber die Luft war unglaublich feucht, die Sonne unerträglich heiß und über all der Schönheit dieses prachtvollen Hafens lag ein entsetzlicher Gestank. Das Wasser war, wie Elizabeth bemerkte, von einem ekelhaft schmutzigen Braun.
»Der März ist keine gute Zeit, um hier anzukommen«, sagte Mrs Halliday, an die Reling gelehnt. »Immer feucht. Im Februar und März beten wir stets um stürmische Südwinde, die kühle Luft mit sich bringen. Macht dir der Geruch zu schaffen, Elizabeth?«
»Sehr sogar«, sagte Elizabeth, die ganz blass war.
»Abwasser«, sagte Mrs Halliday. »Rund einhundertsiebzigtausend Menschen, und alles fließt in den Hafen, der sich kaum von einer Jauchegrube unterscheidet. Sie haben zwar vor, etwas zu unternehmen – aber wann, das wissen die Götter, sagt mein Sohn Benjamin. Er ist im Stadtrat. Wasser ist ebenfalls ein Problem. Die Tage, als es einen Shilling pro Eimer kostete, sind zwar vorbei, aber es ist immer noch teuer. Abgesehen von den sehr Reichen sind nur wenige ans Wassernetz angeschlossen.« Sie schnaubte verächtlich. »Mr John Robertson und Mr Henry Parkes dürften da allerdings keine Probleme haben.«
Da stürzte der Kapitän auf sie zu und brüllte: »In Ihre Kabine, Miss Drummond! Sofort!«
Und dort blieb Elizabeth, während die Aurora zu ihrem Liegeplatz geschleppt wurde. Das Einzige, was sie durch das Bullauge sehen konnte, waren Masten, und das Einzige, was sie hörte, waren laute Stimmen und das Tuckern eines Motors.
Als Stunden später, wie es ihr schien, jemand an die Tür pochte, sprang Elizabeth mit klopfendem Herzen von ihrer Koje hoch. Aber es war nur Perkins, der Steward.
»Ihre Koffer sind bereits an Land, Miss, und für Sie wird es jetzt auch Zeit.«
»Mrs Halliday?«, fragte sie, während sie ihm in eine chaotische Welt hinausfolgte, voller Winden, die in geflochtenen Körben Kisten hinunterließen, rotbackigen Männern in Flanellhemden und Matrosen, die pfiffen und höhnisch lachten.
»Oh, sie ist schon vor längerer Zeit von Bord gegangen. Sie bat mich, Ihnen das hier zu geben.« Perkins griff in seine Westentasche und reichte ihr eine kleine Karte. »Wenn Sie sie brauchen, finden Sie sie dort.«
Die Planken der Gangway hinunter, über die schmutzigen Bretter des Kais, zwischen hohen Stapeln von Kisten und Kasten hindurch – wo waren ihre Koffer?
Als sie sie schließlich in einer relativ ruhigen Ecke gegen die Wand eines verfallenen Schuppens gelehnt entdeckte, setzte Elizabeth sich auf einen der Koffer, die Handtasche auf dem Schoß, die Hände darüber gefaltet. Wo sollte sie hingehen? Was tun? Da sie meinte, Alexander Kinross würde sie sofort erkennen, wenn er das Schottenmuster der Drummonds sah, trug sie eines ihrer selbst genähten Kleider, doch der dicke Stoff war für dieses Wetter nicht gerade geeignet. Eigentlich, dachte sie, von der Hitze ganz benommen, eignete sich kaum etwas von dem, was sie in ihren Koffern hatte, für dieses Klima. Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn, rannen von ihrem Haar, das unter einer zum Kleid passenden Haube steckte, den Nacken hinunter und sickerten durch ihre Baumwollunterwäsche in den Drummond-Schottenstoff.
Und dann war sie es, die ihn, dank Miss MacTavish, sofort erkannte. Sie saß da und schaute in eine schmale Gasse zwischen der abgeladenen Fracht, als sie einen Mann entdeckte, der daherspazierte, als gehöre ihm die Welt. Er war groß und recht schlank und trug Kleidungsstücke, die Elizabeth sehr fremd vorkamen. Sie war an Männer in Arbeitshosen und Kappen, in Kilts oder in dunklen Anzügen über gestärkten Hemden und mit steifen Hüten auf dem Kopf gewöhnt. Er hingegen trug eine weiche Hose aus einem beigefarbenen Leder, ein ungestärktes Hemd mit breiter Krawatte, einen offenen Mantel aus dem gleichen Leder mit langen von den Ärmeln und dem Saum herunterhängenden Fransen und einen weichen beigefarbenen Hut mit breiter Krempe. Unter dem Hut schaute ein schmales, tief gebräuntes Gesicht hervor. Und der schwarze Bart und Schnurrbart waren genauso gestutzt, wie man es vom Teufel kannte.
Sie stand auf und in diesem Moment bemerkte er sie.
»Elizabeth?«, fragte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie nahm sie nicht. »Sie wissen, dass ich nicht Jean bin?«
»Warum sollte ich dich für Jean halten, wenn du es offensichtlich nicht bist?«
»Aber Sie – du hast doch angehalten um – um Jean«, stammelte sie und wagte es nicht, ihn anzusehen.
»Und dein Vater hat mir geschrieben und stattdessen dich angeboten. Es spielt keine Rolle«, sagte Alexander Kinross, drehte sich um und gab einem Mann in seinem Gefolge ein Zeichen. »Lad ihre Koffer in den Wagen, Summers. Ich bringe sie in einer Droschke zum Hotel.« Dann zu ihr: »Ich hätte dich schon eher gefunden, wenn nicht zufällig mein Dynamit an Bord des Schiffes gewesen wäre. Ich musste es erst abfertigen und sicher verstauen lassen, bevor es vielleicht einem unternehmungslustigen Schurken in die Hände fällt. Komm.«
Er schob eine Hand unter ihren Ellbogen und führte sie durch den schmalen Gang und hinaus auf etwas, was eine unglaublich breite Straße zu sein schien, zugleich Lagerhaus und Durchgangsstraße, übersät mit Waren und voller Männer, die mit Spitzhacken den Boden bearbeiteten. »Sie bauen die Bahnlinie weiter aus bis zum Hafen«, erklärte Alexander Kinross, als er sie in eine der wartenden Pferdekutschen hob. Und dann, sobald er neben ihr saß: »Dir ist heiß. Kein Wunder bei diesen Kleidern.«
Schon etwas mutiger, drehte Elizabeth sich zu ihm um und sah sich sein Gesicht genauer an. Miss MacTavish hatte Recht. Trotz seiner gleichmäßigen Züge konnte man ihn nicht als gut aussehend bezeichnen. Lag es vielleicht daran, dass es nicht die für die Drummonds oder Murrays typischen Gesichtszüge waren? Kaum zu glauben, dass er ihr Cousin ersten Grades war. Was sie jedoch erschreckte, war seine eindeutige Ähnlichkeit mit dem Teufel. Nicht nur wegen des Barts und Schnauzers. Seine Augenbrauen waren pechschwarz und spitz nach oben gebogen und die Augen, eingerahmt von schwarzen Wimpern, so dunkel, dass sie nicht zwischen Pupille und Iris unterscheiden konnte.
Auch er musterte sie. »Ich hatte gedacht, du wärst so wie Jean – blond«, sagte er.
»Ich schlage den Black Scot Murrays nach.«
Er lächelte. Es war tatsächlich, wie Miss MacTavish gesagt hatte, ein wunderbares Lächeln, doch sie bekam keine weichen Knie davon. »Ich auch, Elizabeth.« Er streckte die Hand aus, legte sie ihr unters Kinn und drehte ihr Gesicht dem strahlenden Licht zu. »Aber deine Augen sind außergewöhnlich – dunkel, und doch weder braun noch schwarz. Marineblau. Das ist gut! Denn da besteht die Chance, dass unsere Söhne eher wie Schotten aussehen als wir.«
Seine Berührung war ihr unangenehm, ebenso die Bemerkung über ihre Söhne. Und sobald sie das Gefühl hatte, dass er nicht gekränkt sein würde, wich sie zurück und starrte die auf ihrem Schoß liegende Tasche an.
Das Droschkenpferd trottete fort von den Kais einen Hügel hinauf und in eine große Stadt, die Elizabeths ungeübtem Auge so belebt erschien wie Edinburgh. Kutschen, Sulkys, Gigs, Droschken, Rollwagen, Fuhrwerke und von Pferden gezogene Busse drängten sich in den engen Straßen, die zunächst von gewöhnlichen Gebäuden gesäumt waren, später jedoch von Geschäften mit Markisen, die bis zum Rand des Bürgersteigs ragten und den Reisenden frustrierenderweise den Blick in die Schaufenster verwehrten.
»Die Markisen«, sagte er, scheinbar in der Lage, ihre Gedanken zu lesen – eine weitere Eigenschaft des Teufels -, »sorgen dafür, dass die Kauflustigen trocken bleiben, wenn es regnet, und es ihnen nicht zu warm wird, wenn die Sonne scheint.«
Was Elizabeth mit Schweigen quittierte.
Zwanzig Minuten nachdem sie den Hafen verlassen hatte, bog die Droschke in eine breitere Straße ein, die an einen Park angrenzte, dessen Gras völlig verdorrt aussah. In der Mitte der Straße verliefen Gleise für das öffentliche Verkehrsmittel: von Pferden gezogene Straßenbahnen. Der Fahrer hielt vor einem großen gelben Sandsteingebäude mit dorischen Säulen zu beiden Seiten des Eingangs und ein Mann in einer fantastischen Uniform half Elizabeth aus der Kutsche. Respektvoll verbeugte er sich vor Alexander und zeigte noch mehr Ehrerbietung, nachdem dieser ihm eine Goldmünze zugesteckt hatte.
Das Hotel war unvorstellbar luxuriös. Eine imposante Treppe, überall purpurroter Plüsch, große Vasen mit dunkelroten Blumen, glitzerndes Gold von Bilderrahmen, Tischen und Sockeln. Ein riesiger Kristallleuchter mit brennenden Kerzen. Livrierte Männer trugen ihre Koffer fort, während Alexander Elizabeth nicht zur Treppe führte, sondern zu etwas, das aussah wie ein gewaltiger Vogelkäfig aus Messinggeflecht, wo ein weiterer Herr in Livree wartete, die behandschuhte Hand auf der offenen Tür. Sobald sie mit Alexander und dem Pagen in diesem Käfig war, ruckte und wackelte dieser erst und bewegte sich plötzlich nach oben! Fasziniert und zugleich voller Angst blickte Elizabeth hinab auf das sich entfernende Foyer, sah den Querschnitt eines Stockwerks, einen purpurroten Korridor. Knarrend und stöhnend stieg der Vogelkäfig weiter nach oben, vier, fünf, sechs Stockwerke. Dann kam er mit einem Ruck zum Stehen und sie konnten aussteigen.
»Hast du noch nie einen Aufzug gesehen, Elizabeth?«, fragte Alexander amüsiert.
»Einen Aufzug?«
»Ja. In Kalifornien sagt man auch Fahrstuhl. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Hydraulik – Wasserdruck. Fahrstühle sind etwas ganz Neues. Dies hier ist der einzige in Sydney, aber bald wird man alle Geschäftsgebäude höher und höher bauen, weil die Bewohner nun nicht mehr Hunderte von Treppen steigen müssen. Ich wohne des Aufzugs wegen in diesem Hotel. Die besten Zimmer sind nämlich im obersten Stock, wo es frische Luft, eine Aussicht und viel weniger Lärm gibt.« Er nahm einen Schlüssel und öffnete damit eine Tür. »Das ist deine Suite, Elizabeth.« Dann holte er eine goldene Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und zeigte dann auf eine Uhr auf dem Marmorsims. »Das Mädchen wird gleich kommen, um deine Sachen auszupacken. Du hast bis acht Uhr Zeit, um ein Bad zu nehmen, dich auszuruhen und dich zum Abendessen umzuziehen. Abendkleid, bitte.«
Damit verschwand er den Gang hinunter.
Jetzt hatte sie wirklich weiche Knie, aber nicht dank Alexander Kinross’ Lächeln. Was für ein luxuriöses Zimmer! Es war ganz in Blassgrün gehalten, hatte ein großes Himmelbett und einen Bereich mit einem Tisch, Stühlen sowie etwas, das aussah wie eine Mischung aus einem schmalen Bett und einem Sofa. Verandatüren führten hinaus auf einen kleinen Balkon – oh, Alexander hatte Recht! Die Aussicht war herrlich! Nie zuvor war sie höher als ein Stockwerk gewesen – wenn sie doch nur Loch Leven und die Grafschaft aus solch luftiger Höhe hätte sehen können! Das östliche Sydney lag ausgebreitet zu ihren Füßen – Kanonenboote in einer Bucht, viele Häuserreihen, Wälder auf den entfernten Hügeln und entlang des Küstenvorlands dessen, was von so hoch oben wirklich wie der prachtvollste Hafen der Welt aussah. Aber frische Luft? Nicht für Elizabeths empfindliche Nase, die immer noch diesen üblen Gestank aufnahm.
Das Zimmermädchen klopfte und kam mit einem Tablett mit Tee, kleinen Sandwiches und Gebäck herein.
»Aber nehmen Sie zuerst Ihr Bad, Miss Drummond. Der Etagenbutler wird den Tee machen, wenn Sie fertig sind«, sagte diese würdevolle Person.
Elizabeth entdeckte, dass auf der anderen Seite des Bettes eine Tür in ein großes Badezimmer sowie einen mit Spiegeln, Schränken und Kommoden ausgestatteten Raum führte, den das Zimmermädchen Ankleidezimmer nannte.
Alexander musste ihr erklärt haben, dass all dies seiner Zukünftigen fremd war, denn die Frau nahm völlig ausdruckslos die Sache in die Hand – sie zeigte Elizabeth, wie sie die Wasserspülung betätigen musste, ließ ihr in einer riesigen Wanne ein Bad ein und wusch ihr das salzverkrustete Haar, als ob sie jeden Tag nackte Frauen sähe und sich nichts dabei dächte.
Alexander Kinross, dachte Elizabeth später, als sie ihren Tee trank. Eindrücke können trügerisch sein, können sich Zufällen und Tratsch, Unwissen und Aberglauben verdanken. Alexander Kinross hatte Pech, genauso auszusehen wie der Teufel auf dem Bild, das Dr. Murray ganz bewusst an die Wand des Raumes gehängt hatte, in dem der Bibelunterricht für die Kinder stattfand. Damit wollte er den Kindern seiner Gemeinde Angst einjagen, was ihm auch gelang: der schmale Mund mit dem leicht spöttischen Lächeln, die schrecklich dunklen, tief liegenden Augen, eine durch scharfe Linien und durch Schatten angedeutete Bösartigkeit. Alexander Kinross fehlten nur die Hörner.
Der gesunde Menschenverstand sagte Elizabeth, dass dies reiner Zufall sei, aber sie war noch viel mehr Kind als Frau. Es war nicht seine Schuld, aber Alexander Kinross trat mit einem Handicap in Elizabeths Leben, und sie empfand Abneigung gegen ihn. Der Gedanke, ihn zu heiraten, machte ihr Angst. Wie bald? Bitte, jetzt noch nicht!
Wie kann ich in diese diabolischen Augen sehen und ihrem Besitzer sagen, dass er nicht der Ehemann ist, den ich mir auswählen würde?, fragte sie sich. Mary hatte ihr erzählt, was sie im Ehebett zu erwarten hatte, obwohl sie bereits wusste, dass es für eine Frau kein Vergnügen war, denn Dr. Murray hatte ihr vor der Abreise klar gemacht, dass eine Frau, die den Akt genießt, nicht besser sei als eine Hure. Nach Gottes Willen sei es allein ein Vergnügen für die Ehemänner, Frauen seien die Quelle des Bösen und der Versuchung, weswegen es ihre Schuld sei, wenn Männer fleischlichen Begierden nachgäben. Eva habe Adam verführt, sie sei es gewesen, die einen Bund mit dem Teufel geschlossen habe, dem Teufel in Gestalt der Schlange. Das einzige Vergnügen, das den Frauen gestattet sei, sei das, sich an ihren Kindern zu erfreuen. Mary hatte betont, dass eine vernünftige Ehefrau das, was im Ehebett passiere, von der Person ihres Ehemanns trenne, der in allem anderen ihr Freund sei. Aber sie konnte sich Alexander nicht als Freund vorstellen! Er machte ihr mehr Angst als Dr. Murray.
Miss MacTavish hatte schon erwähnt, dass Reifen jetzt aus der Mode waren, doch dank zahlreicher Petticoats waren die Röcke immer noch voluminös. Elizabeths schlichte Petticoats aus ungebleichter Baumwolle waren wirklich keine Zierde. Nur das Abendkleid war das Werk von Miss MacTavish, aber auch das war, wie Elizabeth spürte, als das Zimmermädchen ihr hineinhalf, nicht gerade umwerfend.
Zum Glück war es in dem von Gaslampen beleuchteten Korridor dämmerig. Alexander musterte sie und nickte anerkennend. Er trug heute Abend eine weiße Krawatte und einen Frack, eine Herrenmode, die sie bislang nur in Zeitschriften gesehen hatte. Das Schwarz-Weiß unterstrich seine diabolischen Züge, aber sie legte ihm die Hand auf den Arm und ließ sich in den wartenden Aufzug führen.
Als sie das Foyer erreichten, wurde ihr noch deutlicher, wie hinterwäldlerisch das ländliche Schottland und Miss MacTavish waren. Beim Anblick der Damen, die am Arm ihrer Herren umherspazierten, schwand der Stolz auf das eigene dunkelblaue Taftkleid völlig dahin. Ihre Arme und Schultern waren entblößt und sie trugen Kleider mit bauschiger Seide oder Spitze verziert. Die Taillen waren schmal und die Röcke hinten zusammengerafft, und über der Turnüre fiel der Stoff wie eine Schleppe bis auf den Boden. Die passenden Handschuhe reichten bis zu den Ellbogen, das Haar war hochgesteckt und in den Dekolletés funkelten Edelsteine.
Als das Paar den Speisesaal betrat, wurde es ruhig. Alle Köpfe drehten sich zu ihnen um. Die Männer nickten Alexander zu, die Frauen setzten sich in Positur. Und dann begann das Getuschel. Ein hochnäsiger Kellner führte sie zu einem Tisch, an dem bereits zwei Personen saßen, ein älterer Herr, der in einem Anzug steckte, den sie als »Gesellschaftsanzug« zu bezeichnen lernte, und eine Frau von etwa vierzig, deren Kleid und Schmuck fantastisch waren. Der Mann stand auf und verbeugte sich, die Frau, mit einem aufgesetzten Lächeln in einem ansonsten undurchdringlichen Gesicht, blieb sitzen.
»Elizabeth, das sind Charles Dewy und seine Frau Constance«, sagte Alexander, als Elizabeth sich auf den Stuhl setzte, den der Kellner ihr zuwies.
»Meine Liebe, Sie sind bezaubernd«, sagte Mr Dewy.
»Bezaubernd«, echote Mrs Dewy.
»Charles und Constance werden unsere Zeugen sein, wenn wir morgen Nachmittag heiraten«, sagte Alexander und griff nach der Speisekarte. »Hast du irgendwelche Vorlieben, was das Essen angeht, Elizabeth?«
»Nein, Sir«, sagte sie.
»Nein, Alexander«, korrigierte er sie freundlich.
»Nein, Alexander.«
»Da ich nur allzu gut weiß, was man bei dir zu Hause so isst, werden wir es einfach halten. Hawkins«, sagte er zu dem wartenden Kellner, »eine Flunder meunière, ein Sorbet und Roastbeef. Gut durch für Miss Drummond, englisch für mich.«
»Seezunge«, sagte Mrs Dewy, »gibt es in diesen Gewässern leider nicht. Wir müssen uns mit Flundern begnügen. Aber Sie müssen die Austern probieren. Wohl die besten der Welt, wenn ich das so sagen darf.«
»Was um alles in der Welt denkt sich Alexander nur dabei, dieses Kind zu heiraten?«, fragte Constance Dewy ihren Ehemann, sobald der Aufzug sie in den fünften Stock gebracht hatte.
Charles Dewy grinste und zog die Augenbrauen hoch. »Du kennst doch Alexander, meine Liebe. Es löst seine Probleme. Weist Ruby ihren Platz zu und gleichzeitig hat er hier eine Frau, die jung genug ist, um seinen Vorstellungen entsprechend geformt zu werden. Er ist schon viel zu lange alleine. Wenn er nicht bald eine Familie gründet, wird ihm nicht mehr genug Zeit bleiben, Söhne darin auszubilden, ein Imperium zu leiten.«
»Armes kleines Ding! Sie hat einen so starken Akzent, dass ich sie kaum verstehen konnte. Und dieses schreckliche Kleid! Ja, ich kenne Alexander wirklich, und er mag wohlhabende Frauen, keine einfachen Mädels. Sieh dir Ruby an.«
»Hab ich, Constance, hab ich! Aber nur mit der Wollust eines Betrachters, Ehrenwort«, sagte Charles, der mit seiner Frau spaßen konnte und sich ausgezeichnet mit ihr verstand. »Allerdings wäre die kleine Elizabeth ein tolles Weib, wenn man was aus ihr machte, und zweifelst du daran, dass Alexander was aus ihr macht? Ich nicht.«
»Sie hat Angst vor ihm«, sagte Constance bestimmt.
»Nun, das ist ja wohl nicht anders zu erwarten, oder? Es gibt in dieser Stadt keine einzige Sechzehnjährige, die nur halb so behütet ist, wie das Elizabeth offensichtlich war. Deswegen hat er sie kommen lassen, da bin ich mir sicher. Er mag ja mit Ruby und einem Dutzend anderer herumtändeln, aber wenn es um die Ehefrau geht, kommt für ihn nur eine infrage, die noch völlig unberührt ist. Das ist der schottische Presbyterianer in ihm, auch wenn er beteuert, Atheist zu sein. In dieser Kirche hat sich seit John Knox aber auch rein gar nichts geändert.«
Sie wurden am folgenden Nachmittag um siebzehn Uhr nach presbyterianischem Ritus getraut. Selbst Mrs Dewy hatte an Elizabeths Hochzeitskleid nichts auszusetzen. Es war sehr schlicht, hochgeschlossen, hatte lange Arme und war vom Kragen bis zur Taille mit winzigen Knöpfen verziert. Der Satin raschelte, das Futter aus Kattun sah man nicht, und die weißen Slipper betonten Knöchel, die, Charles Dewy zufolge, lange und wohlgeformte Beine versprachen.
Die Braut war gefasst, der Bräutigam gelassen. Sie gaben ihr Eheversprechen mit fester Stimme. Als sie zu Mann und Frau erklärt waren, hob Alexander den Spitzenschleier, der Elizabeths Gesicht bedeckte, und küsste sie. Auch wenn dieser Kuss den Dewys ganz harmlos erschien, Alexander spürte, wie Elizabeth zitterte und sich ein klein wenig von ihm zurückzog. Doch dieser Augenblick ging vorüber, und nachdem die Dewys ihnen vor der Kirche von Herzen gratuliert hatten, gingen das Brautpaar und ihre beiden Zeugen getrennte Wege, denn die Dewys fuhren nach Dunleigh, wo sie zu Hause waren, während Mr und Mrs Kinross zum Abendessen zurück ins Hotel gingen.
Dieses Mal applaudierten die anderen Gäste, als sie hereinkamen, da Elizabeth noch immer ihr Hochzeitskleid trug. Mit rotem Kopf senkte sie den Blick. Auf ihrem Tisch standen weiße Blumen, Chrysanthemen gemischt mit zarten weißen Gänseblümchen. Als sie sich hinsetzte, lobte sie, nur um etwas zu sagen und ihre Verlegenheit zu überspielen, den Blumenstrauß. »Herbstblumen«, erklärte Alexander. »Die Jahreszeiten sind hier umgekehrt. Komm, trink ein Glas Champagner. Du wirst lernen müssen, Wein zu mögen. Egal, was man dir vielleicht in der Kirche beigebracht hat, selbst Jesus Christus und seine Frauen haben Wein getrunken.«
Der schlichte goldene Ehering schien zu brennen, aber nicht so stark wie der andere Ring am gleichen Finger, ein Solitär von der Größe eines Viertelpennys. Als Alexander ihn ihr während des Mittagessens gegeben hatte, hatte sie nicht gewusst, wo sie hinschauen sollte. Sie wollte auf keinen Fall in die kleine Schachtel sehen, die er ihr hinhielt.
»Machst du dir nichts aus Diamanten?«, hatte er gefragt.
»Oh, doch, doch«, brachte sie aufgeregt hervor. »Aber gehört sich das? Er ist so – so auffällig.«
Er runzelte die Stirn. »Ein Diamant ist Tradition, und der meiner Frau muss ihrer Stellung angemessen sein«, sagte er, nahm ihre linke Hand und streifte ihr den Ring über den Ringfinger. »Ich weiß, dass dir dies alles sehr fremd erscheinen muss, Elizabeth, aber als meine Frau musst du das Beste tragen, das Beste haben. Immer.
Offensichtlich hat Onkel James dir nur einen Bruchteil des Geldes gegeben, das ich ihm geschickt habe, was eigentlich nicht anders zu erwarten war.« Er lächelte belustigt. »Onkel James, der sitzt auf seinem Geld. Aber die Zeiten sind jetzt vorbei«, fuhr er fort. »Ab heute wirst du Mrs Kinross sein.«
Vielleicht stimmte der Ausdruck in ihren Augen ihn nachdenklich, denn er verstummte plötzlich und stand ungewöhnlich schwerfällig auf. »Ein Stumpen«, sagte er und ging auf den Balkon. »Nach dem Essen rauche ich gern einen Stumpen.«
Und damit war das Thema beendet gewesen. Elizabeth sah Alexander erst in der Kirche wieder.
Jetzt war sie seine Frau und musste diese Mahlzeit über sich ergehen lassen, ob sie wollte oder nicht. »Ich habe keinen Hunger«, flüsterte sie.
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Hawkins, bringen Sie Mrs Kinross etwas klare Rindfleischsuppe und ein leichtes pikantes Soufflé.«
An die restliche Zeit, die sie im Speisesaal verbrachten, konnte Elizabeth sich später nicht mehr erinnern, sie war ihrem Bewusstsein völlig entglitten. Doch begriff sie, dass ihre Verwirrung, der innere Aufruhr und die Angst, die sie verspürt hatte, daher rührten, dass sich die Ereignisse überstürzten, so viele unbekannte Gefühle auf sie einstürmten. Nicht der Gedanke an ihre Hochzeitsnacht war für ihren Gemütszustand verantwortlich, sondern die Aussicht auf ein lebenslängliches Exil mit einem Mann, den sie nicht lieben konnte.
Der Akt (wie Mary es zu nennen pflegte) sollte in Elizabeths Bett stattfinden. Sobald sie in ihr Nachthemd geschlüpft war und das Zimmermädchen sich zurückgezogen hatte, öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite des Raums und herein trat ihr Ehemann, bekleidet mit einem bestickten Morgenrock aus Seide.
»Ins Bett mit dir«, sagte er lächelnd und löschte alle Lichter.
Besser, viel besser! Sie würde ihn nicht sehen können und auf diese Weise den Akt hinter sich bringen, ohne sich zu blamieren.
Alexander setzte sich seitlich aufs Bett und betrachtete sie. Offensichtlich konnte er im Dunkeln sehen. Doch ihre übergroße Nervosität ließ nach. Er wirkte so entspannt, so locker und ruhig.
»Weißt du, was geschehen muss?«, fragte er.
»Ja, Alexander.«
»Es wird zuerst wehtun, aber ich hoffe, dass du später lernst, es zu genießen. Ist der böse alte Murray immer noch der Pfarrer?«
»Ja«, stieß sie hervor, entsetzt über diese Beschreibung Dr. Murrays – als ob Dr. Murray der Teufel wäre!
»Er ist für viel mehr menschliches Elend verantwortlich als tausend anständige, ehrliche, heidnische Chinesen.«
Die Seide raschelte, als er unter die Decke schlüpfte und sie in die Arme nahm. »Wir sind nicht nur hier zusammen, um Kinder zu zeugen, Elizabeth. Das, was wir tun werden, ist durch die Ehe geheiligt. Es ist ein Akt der Liebe – der Liebe. Nicht nur des Fleisches, sondern des Geistes und sogar der Seele. Da ist nichts dran, was du nicht willkommen heißen solltest.«
Als sie entdeckte, dass er nackt war, vermied sie es krampfhaft, ihn mit den Händen zu berühren, und als er versuchte, ihr das Nachthemd auszuziehen, wehrte sie sich dagegen. Achselzuckend schob Alexander es nach oben und ließ seine rauen Hände über ihre Beine, ihre Schenkel gleiten, bis die Veränderung eintrat, die für ihn das Stichwort war, sie zu besteigen und hart in sie hineinzustoßen. Vor Schmerz füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie hatte schon Schlimmeres erlebt – wenn der Vater sie mit dem Stock geschlagen hatte, sie gefallen war oder sich geschnitten hatte. Und es war schnell vorbei. Er verhielt sich genauso, wie Mary es ihr geschildert hatte – zitterte und schluckte hörbar und zog sich dann zurück. Aber nicht aus ihrem Bett. Dort blieb er, bis er den Akt noch zweimal vollzogen hatte. Er hatte sie nicht geküsst, doch bevor er wegging, berührte er ihre Lippen flüchtig mit seinen.
»Gute Nacht, Elizabeth. Es war ein guter Anfang.«
Tröstlich ist, dachte sie schläfrig, dass er sich nicht wie der Teufel angefühlt hat. Sein Atem und sein Körper rochen angenehm. Und wenn der Akt nicht furchterregender war als das, dann würde sie überleben, ja vielleicht sogar schließlich das Leben in Neusüdwales, wie immer es aussehen mochte, genießen.