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Ein atmosphärischer Kriminalroman, der uns ins Italien der 80er Jahre entführt. Für Fans von Fred Vargas, Jean-Luc Bannalec und Gil Ribeiro. Wenn Commissario Arcadipane und Bramard gemeinsam ermitteln, wird es packend, komisch und einen Hauch philosophisch. In ihrem fünften Fall im Piemont jagen die beiden lange Zeit einer falschen Fährte hinterher, bis eine einsame Wanderung unverhoffte Erkenntnis bringt ... Eric Delarue, Geschäftsführer eines Stahlwerks, wird durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Wer hat den Kunstsammler, Ehemann, Chef, der sich immer für die Belange seiner Angestellten eingesetzt hat, töten wollen? Die Spur führt Bramard und Arcadipane zu einem längst vergangenen Fall: Nach einer Sportveranstaltung verschwand ein Elfjähriger. Aber dies ist nur eine Fährte in einem komplexen Geflecht aus verbrecherischen Machenschaften. «Longo ist einer der fabelhaftesten Schriftsteller Italiens.» DIE WELT «Viel mehr als ein Krimi, aber nie weniger. Davide Longo gehört zu den spannendsten italienischen Schriftstellern.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG «Die Beobachtungsgabe dieses Schriftstellers: eine helle Freude.» CHRISTINE WESTERMANN «Davide Longo kann wirklich zauberhaft schreiben.» DEUTSCHLANDFUNK
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Seitenzahl: 644
Veröffentlichungsjahr: 2025
Davide Longo
Kriminalroman
Eric Delarue, Geschäftsführer eines Stahlwerks, wird durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt. Wer hat den attraktiven Kunstsammler, guten Ehemann, verlässlichen Chef, der sich immer für die Belange seiner Angestellten eingesetzt hat, töten wollen?
Die Spur führt die noch jungen Commissari Bramard und Arcadipane zu einem längst vergangenen Fall: Nach einer Sportveranstaltung, die das Stahlwerk gesponsort hatte, verschwand ein elfjähriger Junge. Damals geriet Delarue unter einen furchtbaren Verdacht. Wie passt hierzu das Bekennerschreiben einer Gruppe Kommunisten, die den Anschlag auf Delarue eingestehen?
Davide Longo, der internationale Erfolgsautor und große Atmosphäriker, führt uns in die Bars und Straßen Turins der achtziger Jahre und in die piemontesische Provinz. Auf unvergleichliche Art entfaltet er einen komplexen Kriminalfall.
Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: Der Fall Bramard, Die jungen Bestien, Schlichte Wut sowie Am Samstag wird abgerechnet.
Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u. a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch–Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung.
Felix Mayer, geboren 1970, hat Komparatistik, Philosophie sowie Literaturübersetzen studiert. Er übersetzt aus dem Französischen, Englischen, Italienischen und Slowenischen, u.a. John Marrs, Pascal Garnier und Gašper Kralj.
Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des Italienischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Requiem di provincia« bei Einaudi editore s.p.a., Torino.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
»Requiem di provincia« Copyright © 2023 by Davide Longo
Primo Levi, Die Verdopplung einer schönen Dame und andere Überraschungen, Übersetzung Heinz Riedt
Leonard Cohen, Story of Isaac, Text Leonard Cohen
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung mauritius images/ClickAlps
ISBN 978-3-644-02222-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für die Provinz von uns allen.
Für diese Zeit.
Auf dass sie nicht wiederkomme.
Das Leben ist kurz, ich könnte mich verwünschen, das so spät bemerkt zu haben.
Primo Levi
«Die Osteria Due Sorelle in der Via Stampatori, Hausnummer 26, besser bekannt unter dem Namen Die letzte Station, hatte trotz der Uhrzeit 02:38 den Rollladen schon halb herabgelassen, und von drinnen drangen Aufräumgeräusche. Da ich feststellte, dass die Schließung unmittelbar bevorstand, machte ich mich beim Besitzer bemerkbar, indem ich ihn mit Rücksicht auf die Nachtruhe leise rief und wartete, dass er sich am Ausgang zeigte, um mit ihm zu reden.»
So würde Arcadipane am nächsten Tag im Protokoll schreiben, wenn das, was er tut, Arbeit wäre, aber da es sich bloß um eine Schererei handelt, versetzt er dem Rollladen einen Tritt und lehnt sich an die Wand, um geschützt vor dem Dauerregen zu rauchen, der seit Tagen die Stadt heimsucht.
«Aber wer zum Teufel …», sagt Biagio und streckt den Kopf unter dem Rollladen hindurch. «Ach, du bist’s!»
«Machst du zu?»
«Nein, nach zwei lasse ich den Rollladen hinunter für diejenigen, die schon auf allen vieren angekrochen kommen. Sicher mache ich zu, es ist die Nacht auf Montag!»
Arcadipane lächelt ohne Vergnügen, weil er die Antwort auf die Frage, deretwegen er gekommen ist, schon hat.
«Ist er vorbeigekommen?», fragt er, aber nur, weil es immer besser ist, sich nicht allein auf die Nerven zu gehen.
Biagio schlüpft heraus in seinem von Wein und Tomatensauce fleckigen T-Shirt, ein massiger Körper, die Hosen gehalten von der Schnalle mit den sieben Flammen der Fremdenlegion.
«Gegen zwei ist er gegangen», der Satz halb verschluckt vom Rasseln des Rollladens.
«Und wie war er?»
Er beugt sich zum Schließen des Vorhängeschlosses hinunter und zuckt mit den Schultern, dass es wie eine Einladung aussieht, ihm auf den Buckel zu steigen, aber Arcadipane ist seit zwanzig Jahren kein Kind mehr, und auch damals war er eher der Typ, der trägt, als der, der getragen wird.
«Auf seinen zwei Beinen», sagt Biagio und steckt den Schlüssel in die Tasche, «bei den Mengen, die er trinkt, hat er eine Medaille verdient … Da sieh doch einer an, was für ein Scheißwetter! Gib mir eine Zigarette, mir haben sie alle weggeschnorrt.»
Sie rauchen eine Minute, auch zwei, schweigend, und betrachten das kalte Wasser, das seit Tagen den Anlasser des Frühlings ins Stottern bringt. Zwei Männer, einer groß von Statur, vormals athletisch, der andere klein, gedrungen und für jedes Gelände geeignet, wie eine Kettenschubkarre, beide Gefangene von Nachtarbeit, beide wenig Freunde und ständig das Schauspiel schmerzgeplagter Menschen vor Augen.
Die verlassene Straße und der Regen heben die Laune nicht, aber zu Beginn des Abends oder bei schönem Wetter wäre es dasselbe, seitdem Mama Fiat die Stadt in Windeln wickelt und anzieht, ist Turin sonntagabends so gesellig wie eine Prostataentzündung.
«Allons-y? Ich geh meine Schöne besuchen», schließt Biagio die Unterhaltung und schnipst das, was von der Zigarette übrig ist, weg. «Um die Zeit ist nur Moderno offen. Bonne chance!»
Arcadipane sieht ihn im regnerischen Nebel der Gasse kleiner werden, auf dem Weg zu einer der zwei Schwestern, die das Lokal vor dreißig Jahren von ihrem Vater geerbt haben. Damals lag die Osteria gegenüber vom bestbesuchten Bordell von Turin, sie hieß Il ristoro del cavaliere, aber sobald die beiden das Geschäft übernahmen, nutzten sie die Gelegenheit des Merlin-Gesetzes und benannten es um in Zwei Schwestern. Die Osteria lief noch weitere zehn Jahre prächtig, die Jahre, in denen Biagio, der aus dem Kongo auf Urlaub war, Ersilia kennenlernte und heiratete. Doch dann brach durch die harten Jahre des Terrorismus die spendable Kundschaft aus Journalisten, Politikern und Freiberuflern weg, angesichts der Anschläge blieb man lieber zu Hause, und die neuen Fernsehkanäle taten ein Übriges.
Vor drei Jahren ist die zweite Schwester in einem der Wettbüros von Nichelino, wo sie das verspielte, was von den Einnahmen und Hypotheken übrig blieb, an Herzversagen gestorben. Ersilia hat in der Zwischenzeit fünfunddreißig Kilo zugelegt und wartet darauf, dass die Krankenkasse ihr einen OP-Termin für ein künstliches Hüftgelenk zuweist. Unterdessen arbeitet sie bis 21 Uhr in der Küche, dann schaltet sie den Herd aus und geht nach Hause die Beine hochlegen. Von dieser Uhrzeit an ist das Lokal wie ein Gully inmitten eines eleganten Viertels, es zieht die Nachkommen der Kunden von einst an: ewige Söhne, traurige Kindheit in Wohlstand, die den Galgen des Trinkens dem Wilden und Vulgären des Heroins vorziehen. Sauertöpfische Männer und beinah schöne Frauen, mit Diplom und ein paar unter Mühen Promovierte, die am Abend des Zahltags ihrer alten Eltern fünfzigtausend Lire für eine Flasche Barolo springen lassen, um den Rest des Monats billigen Wein zu trinken.
Arcadipane kennt sie, weil ab und zu einer von ihnen tötet beziehungsweise häufiger noch getötet wird. Durch Langeweile begründete Morde, Hehlerei mit Familienschmuck und Rivalitäten zwischen Zukurzgekommenen. Rasche, schnell erledigte Ermittlungen, wenn’s hochkommt ein mit einem Lappen abgewischtes und dann in die Schublade zurückgelegtes Messer, eine in die Mülltonne geworfene Brechstange. Zeugen langweiliger als der Mörder, der wenigstens üblicherweise schweigt, während sie erpicht darauf sind, gehört und zu Protokoll genommen zu werden.
Das ist so spannend, wie für einen Jockey einen Esel zu reiten, und doch hat ein Polizist vor allem damit zu tun, denkt Arcadipane, unterdessen steigt er in den Wagen, dreht den Zündschlüssel und nimmt eine Straße, die ihn ans andere Ende der Stadt bringt.
Sein Alfa 33 biegt in einen der großen Corsi ein, die tagsüber wie die Pest zu meiden sind, aber in der Nacht, wenn die Menschen schlafen, wie es sich gehört, die ideale Geliebte jedes Polizisten.
Im Übrigen hatte auch er bis vor zwei Stunden die Augen geschlossen oder doch fast, dann läutet das Telefon, er brummt «Alles klar», legt auf und tätigt seinerseits einen Anruf, obwohl er weiß, dass er ihn trotz der Pflicht zur Rufbereitschaft nicht antreffen wird. Und da ist er nun um drei Uhr morgens, mit neunzig Sachen unterwegs in Turin mit seinem grünen Alfa 33 Quadrifoglio, den er vor einem Jahr für fünfzehn Millionen und neunhundertvierzigtausend Lire gekauft hat, mit zwanzig Prozent Rabatt, weil er bei der Staatspolizei eingesetzt ist. Die Raten bestreitet er von seinem Gehalt als Ispettore.
Er bedauert lediglich, dass er das Plastiklenkrad unter den Fingern hat, wo er doch mit ein wenig Ehrgeiz und höheren Raten das hölzerne Lenkrad des Quadrifoglio Oro in Händen halten könnte und unter dem Hintern feinen Stoff hätte anstatt dieses grau karierten und rot abgesetzten Bezugs, der nicht schlecht ist, aber …
Als er sein Ziel erreicht hat, parkt er vor dem Lokal von Pieter. Der Inhaber heißt standesamtlich Pietro Moderno, aber in der Jugend hat er in Amsterdam gelebt und ist von dort mit diesem Namen, einem jungen schwarzen Mädchen und etwas Geld zweifelhafter Herkunft zurückgekehrt.
Arcadipane tritt ein und begrüßt Alberta, die auch nicht Alberta heißt, aber damals war sie die einzige schwarze Bedienung in der Stadt, und Alberta war einfacher als Charlene Farida Kitty Mahabier Sarbajo.
Im Raum wie immer eine Handvoll Leute. Männer und Frauen, die einander gleichgültig und nicht hier sind, um zu reden, jemanden anzubaggern oder zu trinken, sondern nur, um in aller Ruhe traurig zu sein. Leute, die trotz der Uhrzeit einen Platz hätten, wo sie hingehen könnten, aber sie bringen es nicht übers Herz zu sagen: «Ich habe einen Fehler gemacht», «Lass mich schlafen» und auch nicht «Reden wir morgen darüber».
Pieter zählt die Cashewnüsse, die im Körbchen übrig sind.
Es ist so still im Lokal, dass jede Nuss, die auf den Tresen fällt, ein Stoß mit einem Rammbock gegen die Tür scheint.
«Er ist vor einer halben Stunde gegangen», sagt er, als Arcadipane vor ihm steht.
«Wohin?»
«Ich glaube, das weiß er selbst nicht.»
Arcadipane lässt seinen stämmigen Hintern auf den Barhocker fallen und die letzte Hoffnung fahren … Er hasst es, wenn alles erst noch beginnen muss und er schon müde ist.
Alberta stellt ein leeres Glas in die Spüle. Pieter gibt ihr das Körbchen.
«Siebenundzwanzig», sagt er zu ihr.
Arcadipane beobachtet die Frau, wie sie sich an einem großen Sack von Cashewnüssen zu schaffen macht, siebenundzwanzig davon abzählt und in das Körbchen legt.
«Was hat der Unglückselige getrunken?»
«Vier Rum und Wasser», sagt Pieter, und jetzt konzentriert er sich auf das Körbchen mit den Nüssen.
«Also stehen wir dumm da.»
«Gut nicht. Willst du auch was trinken?»
«Das fehlte noch», sagt Arcadipane und rutscht vom Hocker herunter.
«Wenn er wiederkommt, sag ihm, er soll anrufen und sich nicht von der Stelle rühren.»
«Wo soll er anrufen?»
«Was weiß ich. Im Polizeipräsidium. Irgendwie geben sie mir Bescheid, und ich komme ihn abholen.»
Pieter nickt, dann gibt er das Körbchen Alberta.
«Zwölf», sagt er.
Arcadipane geht zurück zu dem Alfa. Er schaut auf die Uhr, zwanzig nach drei. Die einzige Möglichkeit ist, eine der Straßen einzuschlagen, die Bramard zu Fuß nach Hause bringen. Aber da der seit ein paar Jahren nicht mehr fährt, schließt er das Zentrum aus, er weiß, dass er die Arkaden an der Via Roma nicht leiden kann, vielleicht am Fluss entlang.
Er lässt den Alfa an und hält den Motor gedrosselt, fährt im Schritttempo am Ufer des Po entlang. Nichts außer einem Junkie mit fahrigen Bewegungen, wie immer, wenn sie nirgendwohin unterwegs sind, ein Transvestit auf dem Strich, aber er kennt ihn, und wenn er ihn gesehen hätte, würde er ihm ein Zeichen geben, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist, ein paar betrunkene Ausländer, die Glück haben, wenn sie morgen früh nur das Portemonnaie verloren haben.
Die Stadt lässt sich anstandslos und ohne Widerstand durchqueren. Der Regen ist schwächer und nutzlos geworden, hört aber nicht auf.
Während er auf die Piazza Vittorio einbiegt, sieht er aus dem Augenwinkel eine reglose Gestalt, die Ellbogen auf das Geländer der Brücke zur Gran Madre gestützt. Wenn es Tag wäre und darunter kein Fluss, könnte es ein alter Mann sein, der auf eine Baustelle schaut. Er fährt näher hin. Von hinten erkennt er die karierte kanadische Jacke, die nassen Haare und den Rücken, den die letzten zwei Jahre nicht geschwächt haben. Er beugt sich hinüber, um das Fenster runterzukurbeln.
«Hey», sagt er nur. «Fahren wir?»
Corso Bramard dreht sich um, als wären sie dort verabredet, kommt er zur Wagentür, öffnet sie und nimmt Platz, die Knie höher als das Becken, ein wenig, weil er lange Beine hat, ein wenig wegen des sportlichen Schnitts der Sitze in dem grünen Quadrifoglio. Er ist völlig durchnässt und scheint einen Berghang hochgestiegen zu sein, bei dem die Holzfäller beschlossen hatten, etwa fünfzig Baumstämme alle bis auf den letzten abrollen zu lassen. Doch die Augen sind wach, die Hände liegen ruhig auf dem Cordsamt der Hose, der Körper scheinbar einsatzbereit. Kein Geruch nach Alkohol oder Verzweiflung, nur ein schwacher Duft nach Hund, Schaf, Antillen.
«Was ist passiert?», fragt Corso und fährt sich mit einer Hand über den Bart, den er seit einer Weile schon nicht rasiert hat, ohne dass er verwildert aussieht.
Es gibt solche Leute, denkt Arcadipane, elegant trotz einer verbeulten Jacke, unfrisiert, übernächtigt, betrunken und in Bergstiefeln. Dann gibt es die normalen. Und dann solche wie ihn.
«Meinst du an dem Ort, wo wir vor drei Stunden hätten sein sollen?», fragt er. «Einer wurde ermordet, stell dir vor! Jedenfalls fast ermordet, mehr jenseits als diesseits.»
Bramard schaut aus dem Fenster, auf den Punkt, wo er beziehungsweise sein Körper sich bis vor wenigen Augenblicken befunden hat. Die Brücke ist massiv und graziös, wenn auch schlecht beleuchtet. Schön wie damals, als Napoleon sie nach der Eroberung von Turin erbauen ließ und als der piemontesische König, nachdem er die Stadt wieder eingenommen hatte, vom wütenden Volk aufgefordert wurde, sie abzureißen, aber … sie machte sich so gut … esageruma nen, sagt man im Piemontesischen, übertreiben wir nicht!
Alles Dinge, die Arcadipane wissen könnte, wäre er Bramard – aber das ist er nicht. Für ihn ist das nur eine große steinerne Brücke mit losem Pflaster, die das Zentrum mit den Hügeln verbindet: zwei Gegenden, wo er nie wohnen könnte.
«Wo ist es passiert? Wer ist das Opfer? Wer sind Zeugen oder Verdächtige? Eins von den Dingen, die du mich fragen willst, weil du der leitende Commissario bist?»
Bramard streicht sich die Haare aus der Stirn und basta.
«Erinnerst du dich an Casalforte? Dieses Dorf in zwanzig Kilometern Entfernung von Turin, wo du bestimmt tausend Mal vorbeigekommen bist, weil du in der Nähe geboren bist? Da ist die Mautstelle, ein Bahnhof, Peperoni, jede Menge Nomadencamps und eine Gießhütte. Erinnerst du dich? Nun, dort ist es passiert.»
«Da sind.»
«Was?
«Da sind die Mautstelle, der Bahnhof, Peperoni, Sinti und eine Gießhütte. Nicht ‹da ist›. Das Verb richtet sich nach dem Subjekt, das in diesem Fall mehr als eines ist.»
Arcadipane sieht ihn an, dann legt er den Gang ein, und in einem Augenblick haben sie die Brücke und die Gran Madre hinter sich gelassen. Der Corso Moncalieri ist leer wie die übrige Stadt. Bramard wendet den Blick nicht vom Fluss, der von Bäumen verdeckt zu ihrer Rechten dahinfließt. Die Ruderklubs haben vor ein paar Tagen ihre Pforten geschlossen, die Boote aus dem Wasser geholt und alles, was sie konnten, in Sicherheit gebracht.
«Sie haben geklingelt, und als dieser Eric Delarue an die Tür kam, haben sie ihm ins Gesicht geschossen.»
Arcadipane wechselt häufig den Gang, was den sportlichen Motor zur Geltung bringt. «Als Erste sind die Carabinieri vor Ort gewesen, aber da der Typ eine Größe der UTTSID ist, haben die oberen Ränge des Unternehmens die oberen Ränge in Rom angerufen, die unsere oberen Ränge angerufen haben, die wiederum die niederen Ränge angerufen haben, das heißt uns, dass wir übernehmen sollen. In Anbetracht der Person und der Vorgehensweise ist das wahrscheinlich politisch motiviert, aber bevor sie den Vorgang an die Antiterrorismuseinheit weitergeben, wollen sie, dass du deine Nase hineinsteckst.»
«Aha!»
«Aha, sagst du. Seit zwei Stunden suche ich dich! Wenn sie erfahren, wie ich dich vorgefunden habe, reißen sie uns den Arsch auf. Willst du endlich einsehen, dass du hinterlassen musst, wo du zu finden bist?»
«Ich gehe herum.»
«Wenn du zu finden bist, gehst du also nicht herum! Genau wie der Unterzeichnete, der zu Hause bei seiner Mutter ist oder an den fünf beschissenen Orten, die er auf dem Formular mit der Telefonnummer daneben angegeben hat. So kann man mich um zwei Uhr nachts rausklingeln, machen, dass ich mich anziehe, halb schlafend ins Auto steige und die Bars abklappere, um dich zu finden, dabei Benzin verfahre, das man mir nicht ersetzen wird, weil ich in der Zentrale den Dienstwagen hätte nehmen sollen, was ich nicht getan habe, um schneller zu sein, was letztlich nicht eingetreten ist, weil wer weiß, wo du bist.»
«Pedrelli?»
«Was Pedrelli?»
«Kommt Pedrelli nicht?»
«Sicher kommt er! Du weißt, dass er eine Ewigkeit braucht, um sich zu frisieren. Er stößt dann mit Mario und den anderen von der Spusi zu uns. Leute, die zu Hause schlafen und nicht nachts im Regen herumlaufen. Darf man erfahren, was zum Teufel du auf dieser Brücke zu gaffen hattest?»
Bramard drückt den Zigarettenanzünder und holt eine Zigarette aus der Innentasche der Jacke.
Er bläst darauf und dreht sie einen Moment zwischen den Fingern, die nasser sind als der Tabak, dann steckt er sie in den Mund, Aktionen, die Arcadipane nicht sieht, weil er noch immer auf den Zigarettenanzünder des Alfa 33 Quadrifoglio starrt, den Bramard anzurühren gewagt hat.
Als er herausspringt, zuckt er zusammen, während Bramard ihn nur einfach nimmt, an die Zigarette hält und einen Zug inhaliert. Im Nu verbreitet sich eine Wolkenwand wie bei einem Einsatz der Bereitschaftspolizei. Der Geruch ist der von einer Garbe feuchten Grases. Übergossen mit Composter und dann den Flammen übergeben.
«Da war viel Wasser», sagt Corso, sobald die Zigarette glüht, dass es kein Zurück mehr gibt.
«Wo? Unter der Brücke? Sicher war da viel Wasser. Es regnet seit Wochen, es wurde sogar Hochwasseralarm gegeben. Meine Mutter schläft nachts nicht, und sie wohnt im fünften Stock. Neulich habe ich sie dabei erwischt, wie sie Stoffwürste nähte, um die Türen damit abzudichten!»
Arcadipane zündet sich auch eine Zigarette an, mehr um den Gestank der von Bramard zu überdecken, als aus Lust zu rauchen. Er nimmt einen Zug und fährt, er fährt und nimmt einen Zug.
«Hör mal … Man braucht zwanzig Minuten dorthin, also rauch dieses Zeug zu Ende und dann schlaf ein wenig, okay? Ich dreh die Heizung hoch» – und er tut es –, «so wirst du trocken und richtest dich ein bisschen her. Sobald wir da sind, lassen wir uns von dem Carabiniere, den sie dort abgesetzt haben, erzählen, wie die Sache gelaufen ist, wir fragen die Beinahwitwe, ob es Drohungen gegeben hat, ob der Mann in letzter Zeit nervös war, das Übliche halt, dann kramen wir ein paar Fragen für die Zeugen hervor und überlassen das Feld der Spurensicherung. Keine Zirkusnummern, verstanden? Ich weiß nicht, wie es bei dir heute Nacht aussieht, aber wenn’s gut geht, liegen wir in ein paar Stunden in unseren Betten und schlafen, und den Delarue knöpfen sich die zarten Harten von der DIGOS vor. Einverstanden?»
Bramard nickt, aber Arcadipane hat den Verdacht, dass das ein bedingter Reflex ist.
Nach den letzten Wohnblocks hat die Stadt sich zurückgezogen, die Staatsstraße verläuft nun zwischen Feldern, auf denen Ende März Mais ausgesät sein sollte, aber nicht bei diesem Regen … Ab und zu taucht in der Dunkelheit der Scheinwerfer eines Gehöfts auf, neben vorgefertigten Stallungen und Silos. Am Horizont erahnt man trotz des Regens den orangefarbenen Flecken der Gießerei, der zum Himmel aufsteigt.
«Es war wirklich viel Wasser», sagt Bramard.
Arcadipane wirft ihm einen kurzen Blick zu.
«Verflucht», zischt er, dann sieht er wieder in die anhaltende, künstliche Dämmerung, auf die sie zusteuern.
Wenn man ihn so an der Wand des Wohnhauses lehnen sieht, in Dienstuniform und schon sommerlichen Schuhen, wird einem sofort klar, dass er mindestens schon drei oder vier Stunden bei dieser Tür steht, ohne auch nur die Möglichkeit, pinkeln zu gehen. Was ein schönes Problem ist, bei dem Harndrang auslösenden Wasserschwall, der auch auf Casalforte niedergeht.
Das erklärt, warum der junge Carabiniere, als sie aus dem Alfa aussteigen, fast hüpfend auf sie zukommt, so sehr hatte er schon daran gezweifelt, dass überhaupt noch jemand aufkreuzt.
«Giuseppe Rotella», sagt er und vergisst vor Erleichterung die Angabe des Dienstgrads.
«Ispettore Arcadipane, das ist Commissario Capo Bramard. Entschuldige die Verspätung, aber wir mussten noch ein paar Formalitäten wegen des Einsatzes klären, Papierkram.»
«Sicher, die Bürokratie», stimmt der Carabiniere zu, in der Zwischenzeit hat er seine Aufmerksamkeit auf Corso gelenkt, der ganz darein vertieft ist, einen unbestimmten Punkt des Gehsteigs zu fixieren, mit den Händen in den Taschen und Haaren, die ihm trotz der maximal aufgedrehten Heizung im Alfa 33 noch feucht in die Augen fallen.
Da haben wir’s, denkt Arcadipane.
«Müssen wir uns hier draußen etwas sagen?», fragt er und zieht den Reißverschluss der Wildlederjacke hoch, um zu bedeuten, dass das Klima nicht danach ist, die Sterne zu betrachten.
«Nein, nein», rafft der Carabiniere Rotella sich auf. «Ich gehe vor.»
Er schließt die Tür auf, sie gehen im Eingangsbereich drei Stufen hinauf und stehen vor dem Aufzug. Sie treten ein, und der Carabiniere drückt den Knopf für den fünften Stock. Er ist von Natur aus mager, der Adamsapfel groß und vorspringend. Die Haut ist so blass und empfindlich, dass man unter dem Kinn noch die rötlichen Spuren des elektrischen Rasierapparats sieht, den er am Morgen benutzt hat.
Arcadipane schätzt, dass er vermutlich noch nie eine Leiche gesehen hat oder jemanden, der es bald sein wird, in seinem Blick leuchtet noch die zarte Erregung der ersten Erfahrungen. Was erklärt, warum er bis zu diesem Zeitpunkt, an eine Hauswand gelehnt, hat wach bleiben können.
«Der Maresciallo ist zurück in die Station», sagt der Carabiniere, um die beklemmende Nähe ihrer stummen Körper zu durchbrechen, insbesondere die zu dem besonders stummen Bramard. «Aber er hat gesagt, wir sollen ihn anrufen, wenn es nötig ist. Wir stehen alle ganz zu Ihrer Verfügung.»
Arcadipane nickt, auch für Corso.
Die Aufzugskabine quietscht, während vor der Tür der Zementsockel des ersten Stocks in Zeitlupe vorüberzieht. Das rot lackierte Innere und die Türen aus Holz sollen ihm einen Anstrich von alt verleihen, aber das Gebäude ist zweifellos vom Anfang der sechziger Jahre: das einzige mit sechs Stockwerken, das der Gemeinderat aufgrund von wer weiß welchen Machenschaften mitten im historischen Zentrum hat bauen lassen, bevor jemand darauf aufmerksam machte, dass es doppelt so hoch war wie die alten Häuser ringsum, also auch höher als die Kirche und das Stadtschloss, die an demselben Platz stehen.
Der Carabiniere studiert verstohlen immer noch Corso, und als Arcadipane ihn dabei ertappt, tut er so, als würde er sich für die Druckknopftafel interessieren, auf der jetzt träge die Nummer 2 aufleuchtet.
Arcadipane weiß, dass der Junge sich in der Wartezeit die Dinge zurechtgelegt hat, die er zu berichten hat, vielleicht auch die eine oder andere Bemerkung, aber er kennt die Wirkung, die Bramard auf Menschen hat. Bei x Gelegenheiten hat er Zeugen, Verdächtige und sogar geständniswillige Schuldige gesehen, die, wenn sie ihn vor sich hatten, von nichts mehr überzeugt waren, stotterten und kaum etwas herausbrachten, sich widersprachen und den Faden einer tausend Mal im Kopf einstudierten Rede verloren, um dann benommen Corso anzustarren, wie man zusieht, wenn einem die Flut die Füße umspült, erst die Knie und dann den Nabel bedeckt.
Alles nützlich am Schauplatz eines Verbrechens oder in einem Verhör, zugegeben. Nur schade, dass Bramard auch um vier Uhr früh in einem Scheißaufzug in der Provinz Bramard ist, wo ein junger Carabiniere ihm mitteilen soll, was sein Maresciallo ihm gesagt hat, damit sie endlich wieder gehen können und sich unter ihren Bettdecken die feuchten Knochen wärmen.
«Die Mitbewohner?», versucht Arcadipane den Carabiniere zu ködern, während die Nummer 3 aufleuchtet.
«Hä?», macht der Junge.
«Was sagen die Mitbewohner? Abgesehen davon, dass diesen Aufzug ein indischer Guru entworfen haben muss.»
«Ah, ja, die zwei Mieter vom fünften Stock haben den Schuss gehört, sie wissen also, was geschehen ist, und stehen zur Verfügung, falls Sie sie befragen wollen.»
«Sie auch.»
«Wie meinen Sie?»
«Auch Sie stehen zur Verfügung, alle stehen zur Verfügung.»
«Ja … Die anderen Mieter haben den Rettungswagen kommen sehen, aber wir haben das Gerücht gestreut, dass es Signor Delarue nicht gut ging. Das Kommando hat äußerste Diskretion nahegelegt. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, ist es wahrscheinlich, dass sie etwas mitbekommen haben.»
«Wahrscheinlich», sagt Arcadipane, während der Lift endlich stehen bleibt.
Der Carabiniere öffnet die Türen, macht sich ganz schmal, um Bramard nicht zu streifen, tritt auf den Treppenabsatz hinaus, der zu den zwei Wohnungen führt. An der Wand stehen ein paar überhaupt nicht üppige Topfpflanzen, die aber auf den ersten Blick imstande scheinen, den Sommer zu erleben.
«Die Dachgeschosswohnung erreicht man über eine weitere Treppe», sagt der Carabiniere und weist darauf. «Der Lift geht nur bis zum fünften Stock. Bitte sehr.»
Sie folgen ihm über ein Dutzend Stufen aus bescheidenem Marmor und stützen sich dabei auf einen Handlauf, der wie die Wände, der Lift, die Gegensprechanlagen und die Türschlösser vom Grad der Sauberkeit und den dazu erforderlichen Produkten in einem gepflegten Wohnhaus zeugen, das ohne Sparsamkeit errichtet, aber nicht luxuriös, ja vielleicht nicht einmal herrschaftlich zu nennen ist. Die Oberlichter an der Treppe sind aus dunklem Glas und weisen ein paar schwer zu entfernende Spinnennetze auf.
«Da sind wir», sagt der junge Mann, als sie auf dem Treppenabsatz der Dachgeschosswohnung angelangt sind: Die Tür ist jüngeren Datums als die im fünften Stock, gepanzert, und auf dem Klingelschild steht «UTTSID». Keine Fußmatte, oder vielleiht wurde sie nach dem fatalen Ereignis entfernt. Die Deckenlampe über ihnen vibriert leise. Der Carabiniere betrachtet Bramard, der die Lampe fixiert.
«Was hast du gesagt, wie heißt du?», bringt Arcadipane hervor.
«Giuseppe Rotella.»
«Gut, Giuseppe, das ist Corso Bramard, Commissario, geben Sie ihm die Hand!»
Bramard streckt die Rechte aus und schaut dabei den Carabiniere, der sie ihm drückt, kaum an.
«Jetzt hast du ihn kennengelernt und auch berührt. Ich weiß nicht, was du gefühlt hast, aber wie du siehst, ist er mehr oder weniger wie wir, abgesehen davon, dass er größer ist, einen Bart hat und eine schwierige Phase durchmacht. Jetzt entspannst du dich und erzählst uns alles, wie du es einem Freund erzählen würdest, den du morgen in der Bar triffst und der dich fragt, was verdammt noch mal heute Nacht in diesem Wohnhaus passiert ist. Einverstanden?»
«Ja.»
«Hast du dir Notizen gemacht, während du auf uns gewartet hast?»
«Ja.»
«Sehr gut. Hol sie heraus, du musst ja nicht heimlich hineinschauen wie in der Schule. Wir sind unter Freunden, und es ist auch vier Uhr früh. Das nenne ich mal ein schönes Notizbuch. Wo hast du es gekauft?»
«Hat mir meine Verlobte geschenkt.»
«Nette Idee, nützlich, ist das amerikanisch?»
«Ich weiß nicht.»
«Egal. Auch wenn es amerikanisch ist, wirst du italienisch darin geschrieben haben. Wo fangen wir an, bei dem Toten?»
«Eigentlich ist er nicht wirklich tot.»
«Er ist nicht tot, du hast recht. Wie genau du bist, das hat dein Mädel gut gemacht, dir das Notizbuch zu schenken, sie weiß, du bist pingelig. Es wird dir nützlich sein, wenn sie dich einkaufen schickt. Was hast du da geschrieben? Ja, da, fang bei der ersten Sache an, die du aufgeschrieben hast. Kümmre dich nicht um ihn, es sieht so aus, als würde er nicht zuhören, aber er hört zu, was hast du da geschrieben?»
«Die Dachgeschosswohnung von 1963 ist Eigentum des Unternehmens, das sie dem Direktor in pectore zur Verfügung stellt.»
«In pectore, schön, woher kommt das?»
«Das ist Latein, ich studiere im ersten Semester Jura.»
«Pingelig und ehrgeizig, du bringst es mindestens zum Maresciallo … Jetzt machen wir weiter.»
«Eric Delarue und seine Frau Dora Dasei bleiben hier über Nacht, wenn es bei ihm spät wird oder wenn er am nächsten Morgen früh im Büro sein muss. Das geschieht gewöhnlich von Donnerstag auf Freitag und von Montag auf Dienstag, aber gestern war Familiensonntag, den Delarue, seit er Direktor der Gießhütte ist, das heißt vor sechs Jahren, eingeführt hat, weshalb er und seine Frau nicht fehlen durften.»
«Richtig.»
«Also haben sie am Ende des Festes gegen sechs Uhr das Betriebsgelände verlassen und sind vom Chauffeur hierher gebracht worden, weil Delarue morgen früh um acht eine Sitzung hat. Der Chauffeur heißt Gustavo … ich erinnere mich nicht an den Nachnamen.»
«Das ist gleich, machen wir weiter.»
«Der Chauffeur ist nach Turin zurückgekehrt. Er würde Signor Delarue um 7:45 Uhr abholen und in die Gießerei bringen.»
«Siehst du, wie wunderbar das klappt? Sie benutzen die Dachwohnung gewöhnlich zwei Abende in der Woche, aber das war eine Ausnahme.»
«Nicht wirklich. Die Signora sagt, sie benutzen sie auch zu anderen Gelegenheiten wie Abendgesellschaften oder Abendessen mit Freunden oder wenn der Mann müde ist und keine Lust hat, in seine Wohnung im Corso Marconi 62 in Turin zu fahren. Beide lieben diese Dachgeschosswohnung vor allem wegen des Ausblicks, und sie betrachten sie als ihr Eigentum.»
«Stell dir nur vor, das ist ganz in der Nähe von dort, wo der Commissario wohnt! Stimmt’s, Commissario, wie weit entfernt wohnen Sie? Fünfhundert Meter? Auch wenn dort, wo Sie wohnen, eine ganz andere Atmosphäre herrscht, das muss man sagen. Delarue und seine Frau sind in der Wohnung und …»
«Dachgeschosswohnung.»
«Dachgeschosswohnung, sicher. Wollen wir nun diese Dachgeschosswohnung aufschließen, und du erzählst uns …»
«Gewiss», sagt der junge Mann und sucht in der Tasche nach den Schlüsseln.
«Gut, öffnen wir sie, bravo. Wie viele Leute sind hier schon hereingekommen? Eine ganze Kohorte Kavallerie, stelle ich mir vor.»
«Eine Kohorte Kavallerie, ich weiß nicht, ob …»
«Lass gut sein, wer ist hereingekommen?»
«Die drei Sanitäter vom Rettungsdienst, die versucht haben, Signor Delarue wiederzubeleben. Er lag genau dort» – und er weist etwas furchtsam auf die Stelle vor der Tür, die er soeben geöffnet hat – «und dann Maresciallo Luglio, Carabiniere Morelli und ich. Sonst niemand. Wir wollten schon Verstärkung anfordern, aber der Maresciallo wurde verständigt, dass Sie kommen. Also …»
«Also haben sich die Sanitäter zu schaffen gemacht, um Delarue beim Schopf zu packen, logisch, das musste getan werden, in der Tat sehe ich ein paar Fußabdrücke von ihnen, während ihr?»
«Der Maresciallo hat die Signora ins Wohnzimmer begleitet. Sie fühlte sich nicht wohl.»
«Auch das ist verständlich. Du warst vielleicht ebenfalls ein bisschen erschrocken.»
«Ja, ein bisschen», sagt der junge Mann, der plötzlich eine um zwei Nummern zu große Dienstmütze aufzuhaben scheint, so kindlich ist sein Gesicht geworden.
«Das ist normal. Mach dir nichts draus. Wir sprechen hier nicht von einem aufgeschlagenen Knie, sonst wären weder du noch wir hier. Also habt ihr euch in der Wohnung … in der Dachgeschosswohnung umgesehen.»
«Der Maresciallo hat Morelli gesagt, er soll die Station anrufen, also ist Morelli ans Telefon gegangen und hat erklärt, was passiert ist. Ich war in der Küche, um aus dem Kühlschrank für die Signora ein Glas Wasser zu holen. Dann haben die von der Station angerufen, um mit dem Maresciallo zu reden.»
«Gut, was hast du da sonst noch aufgeschrieben?»
«Bevor die Signora mit ihrem Mann im Rettungswagen wegfuhr, hat der Maresciallo sie gebeten zu erzählen, was passiert war.»
«Okay, jetzt gehen wir ganz vorsichtig hinein, ohne allzuviel anzufassen, sonst ziehen uns die von der Spusi das Fell über die Ohren, und du erzählst, wie die Dinge der Signora nach gelaufen sind, okay? Schön langsam und der Reihe nach, wie du es bisher gemacht hast. Kommen Sie, Commissario, kommen Sie auch her. Delarue lag also am Boden, hast du gesagt. Wie ist er dahin gekommen? Lies, was du geschrieben hast.»
«So um 21 Uhr, hat die Signora gesagt, genauer konnte sie es nicht angeben, waren mein Mann und ich im Wohnzimmer, als es an der Tür läutete, und mein Mann ist aufmachen gegangen. Vom Wohnzimmer aus habe ich gehört, wie er den Schlüssel der gepanzerten Tür herumdrehte, dann etwas wie ein Schlag. Wie ein Buch oder eine Kiste, die runterfällt. Ich lief in den Flur, um nachzusehen, was passiert ist, fand Eric vor der Tür am Boden liegen und …»
Bramards Gestalt, die sich bisher im Flur aufgehalten hatte, verschwindet in einem der hinteren Zimmer.
«Er inspiziert die Räumlichkeiten, er ist gewohnt zu tun, was er für richtig hält. Wir machen weiter.»
«… die Frau präzisiert, dass ihr Mann im rechten Winkel zur Tür lag, als ob die Tür ihn am Kopf getroffen hätte und er nach hinten gefallen wäre.»
«Gut, die Lage des Körpers ist immer nützlich, du hast gut daran getan, das aufzuschreiben. Was macht Signora Delarue dann?»
«Als Erstes hat sie gedacht, ihr Mann sei hingefallen, sagte sie uns», liest er in seinem Notizbuch. «Aber als ich näher hinging, sah ich, dass seine Augen weit aufgerissen waren und in der Wange ein Loch war, aus dem etwas Blut austrat. Also schaute ich nach der Treppe und sah eine Person die letzten Stufen hinunterlaufen. Er trug eine Sturmhaube, braune Handschuhe und hielt einen Gegenstand in der Hand, der eine Pistole sein konnte.»
«Eine Pistole.»
«Konnte sein, sagt die Signora.»
«Sicher, konnte sein, und mehr hat die Signora nicht über die Person auf der Treppe gesagt?»
«Sie hat gesagt, die Person wäre groß gewesen, vielleicht einsfünfundachtzig, und ihr fiel auf, dass sie nur ein wenig schneller hinunterging als normal. Sie ist also nicht runtergestürzt.»
«Nicht runtergestürzt.»
«In dem Moment, sagte die Signora, habe ich mich auf meinen Mann konzentriert, der atmete, sein Blick aber war abwesend, und er war nicht ansprechbar», liest er ab. «Die Beine zitterten, sie hatten Zuckungen, so habe ich Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihm versucht und dann Herzmassage, denn ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, aber er reagierte nicht, und ich bin ans Telefon. Ich habe sein Telefonbuch genommen, wo er die Notfallnummern eingetragen hatte.»
«Hat sie als Erstes bei euch angerufen?»
«Nein, zuerst im Krankenhaus, meinte sie, dann unsere Dienststelle, ich habe den Anruf entgegengenommen, sie war sehr aufgeregt. Wir sind wenige Minuten nach dem Rettungs…», aus dem Raum, in dem Bramard verschwunden war, kommt das Geräusch der Toilettenspülung.
Arcadipane tut so, als hätte er nichts gehört, und sieht auf die Stelle, wo Delarue gelegen ist. Auf dem Orientteppich, der den Parkettboden bedeckt, ist das, was ein kleiner Blutfleck zu sein scheint, ein paar Stücke Klebeband, das die Sanitäter zurückgelassen haben, und die Spuren ihrer verschlammten Schuhe. Neben der Tür die Pantoffeln, die Eric wahrscheinlich anhatte, bevor sie ihn auf die Tragbahre hoben.
«Hör mal …»
Der Carabiniere Giuseppe Rotella fixiert Bramard, der aus dem Bad gekommen ist und die Buchrücken in dem Regal studiert, das eine Wand im Flur ausfüllt.
«Er denkt nach, mach dir nichts daraus … Wir werfen unterdessen einen Blick ins Wohnzimmer, was meinst du?»
Sie gehen durch den Flur, wo rechterhand das Esszimmer mit offener Küche liegt, sie gehen nach links in einen Raum, so groß wie zwei Güterwaggons nebeneinander. Weinroter Teppichboden, zwei Sessel und ein dazu passendes Sofa in Chenille, weiße Wände, wertvolle Bilder, ein großer Ficus, ein Tischchen mit Mode-, Kunst- und Motorsportzeitschriften, weitere Regale mit echten Büchern, keine Meterware Enzyklopädie. Dann eine Skulptur, eine kleine Vitrine mit antiken Vasen, ein Möbel mit Spirituosen, eins für die Stereoanlage und viele Schallplatten.
«Gibt es im Esszimmer einen Fernseher?»
«Scheint mir nicht so», sagt der Carabiniere.
«Sie haben keinen Fernseher», stellt Arcadipane fest.
«Vielleicht nicht, die Signora sagte, dass sie Musik hörten, als es klingelte.»
Arcadipane nickt, dann geht er zu der großen Glastür, die auf die Terrasse führt.
Zunächst hat er das Gefühl, es habe aufgehört zu regnen, aber nach zwei Schritten ist sein Gesicht nass. Scheißregen, denkt er, während er das Mäuerchen erreicht, das die enorme hufeisenförmige Fläche rings um die Wohnung einschließt.
Er betrachtet sie, auch wenn es da nicht viel zu sehen gibt außer ein paar in Gaze gehüllte Topfpflanzen, vielleicht Olivenbäume, eine Pergola und an die Mauer gelehnte Liegestühle, vier Stühle, ein großer Gartentisch, die in ein paar Wochen wieder zum Einsatz kommen würden, um mit den Freunden aus Turin oder Mailand oder Rom oder gar aus dem Ausland Abend zu essen, denn solche Leute kennen immer jemand, der aus Rom oder aus dem Ausland kommt. Jemand, der überraschend zu Besuch kommt, um dann beeindruckt zu sein, was für einen netten Abend man in einem solchen Kaff verbringen kann, dessen Namen man noch nie gehört hat, aber im Übrigen ist in Italien ja selbst der unbedeutendste Flecken …
«Möchten Sie einen Regenschirm?», fragt der junge Carabiniere von der Tür aus.
Arcadipane verneint mit einer übertriebenen Geste, indem er den Arm hebt, als ob all diese Feuchtigkeit abzubekommen eine der Freuden des Metiers wäre, dann schaut er auf den Turm der Consolata, dessen Uhr 4:25 Uhr anzeigt. Zu Füßen der Kirche duckt sich der Bau des Gemeindeamts wie ein missgestalteter Hund auf dem Teppich seines Herrchens. Im Rest des Ortes herrscht noch Dunkelheit. Nur ein paar erleuchtete Fenster in den entfernteren Häuserblocks mit Sozialwohnungen. Wahrscheinlich jemand, der sich für die Frühschicht bereit macht.
Weiter seinen Gedanken nachhängend, sucht Arcadipane die Gießerei im Nordwesten, zwischen Bahnlinie und Autobahn. Und er findet sie, still und aus der Entfernung nicht einmal so erschreckend. Ein Schein, der ihn nicht trügen kann, sein Vater hat an so einem Ort gearbeitet. Arcadipane weiß, was diese Betriebshallen sind, wie man hineingeht und, vor allem, wie man herauskommt, wenn man keine Möglichkeit findet, rechtzeitig zu fliehen. Er weiß es, ohne je dort gewesen zu sein, wie der Bauernsohn den Gestank von Dung kennt, noch bevor er eine Kuh hat scheißen sehen.
«Können Sie kommen?»
Arcadipane erreicht die Tür, bei der der Carabiniere Giuseppe Rotella auf glühenden Kohlen steht. Sobald er in seiner Nähe ist, versteht er, warum. Bramard hat die Stereoanlage eingeschaltet und betrachtet wie hypnotisiert die Platte. Aus den Lautsprechern ertönt Musik und eine Stimme, die ganz schi schi baobab ist. Arcadipane geht näher hin.
«Was ist?», fragt er.
«Sie haben Chico Buarque de Hollanda gehört.»
«Das ist in der Tat merkwürdig, meines Wissens hört niemand holländische Musik.»
Bramard drückt die Stopptaste, steckt die Hände in die Tasche der karierten Jacke und kehrt in den Flur zurück.
«Ich glaube, er ist Brasilianer», sagt der Carabiniere Giuseppe Rotella, sobald sie allein sind.
«Nee», sagt Arcadipane, «die Mutter war aus dem Roero hier in der Nähe und der Vater aus einem Tal bei Cuneo, ein Kaff am Ende der Welt, aber man sieht, die Verbindung hat funktioniert.»
Der Carabiniere schaut in den Flur, von dem sie nur einen Ausschnitt sehen, in dem Bramard nicht ist. Das Gute ist, dass keine anomalen Geräusche zu hören sind.
«Stimmt es, dass er alle Fälle gelöst hat außer …»
«Alle», unterbricht ihn Arcadipane, aber mit leiser Stimme, «und der einzige, der ihm fehlt … und wenn er dreißig Jahre braucht … Ich hoffe nur, ich erlebe es noch, dass er diesen Scheißkerl fasst.»
Der junge Carabiniere nickt.
«Ich habe gesehen, dass Sie vorhin die Fotos angeschaut haben, die dort drüben sind», er hebt die Hand und weist auf das Esszimmer.
Sie begeben sich in den fraglichen Raum, aber beim Überqueren des Flurs stockt der Carabiniere erneut. Arcadipane will ihn schon fragen, was los ist, doch da sieht er Corso Bramard, der in der Nähe des Eingangs auf dem Bauch liegt, die Wange am Boden und die Augen halb geschlossen.
Sie schauen ihn eine Weile an, dann verschränkt Arcadipane die Hände auf dem Rücken und geht weiter.
Das Wohnzimmer mit offener Küche hat in der Mitte eine Insel, wie die Zeitschriften für Innenarchitektur das nennen, mit Herdplatten, Ofen und Spüle, und die beiden Wände sind komplett ausgestattet, wie sie das auch nennen. Antiker Tisch, Industriestühle, Truhen und viele Bücher als Beilage, zur Geschmacksorientierung und Raumgestaltung. Ganz zu schweigen von einer weiteren Vitrine mit Scherben und Terrakotten, die eines Museums würdig sind. Und dann die Fotos an den Wänden, deshalb sind sie hier.
«Scheiße, aber der sieht genauso aus wie …», sagt Arcadipane, ein Foto näher in Augenschein nehmend, «wie heißt er noch gleich?»
«Julio Iglesias», sagt der Carabiniere beim Ausgang, vielleicht um Bramard im Auge zu behalten.
«Julio Iglesias», Arcadipane schüttelt den Kopf, um die außergewöhnliche Ähnlichkeit zu unterstreichen, «dasselbe Gesicht, dann das Lächeln. Auch die Haare! Wie ein Ei dem anderen.» Er geht an den Bildern von Eric Delarue entlang, strahlend mit vierzig, dann mit fünfzig in einem anisfarbenen Duetto Cabrio, in Maranello an einen Ferrari gelehnt, Seite an Seite mit Alboreto, am Meer auf einer Segeljacht mit Giovannino Cerea, dem Eigentümer der UTTSID, mit dem Geschäftsführer Rumina und seiner frisch angetrauten Frau bei ihrer Hochzeit, schließlich mit anderen, die Arcadipane nicht kennt, die aber wichtig sein müssen, da sie auf einer Jacht zu Mittag essen.
Auf fast allen Fotos, ausgenommen dem mit dem Ferrari, ist neben Delarue Dora Dasei zu sehen, auf Skiern, am Strand, auf den Jachten, bei Abendessen und auch ein paar Festen, die von der Fabrik organisiert sein dürften, da die beiden umgeben sind von Männern, Frauen und Kindern, die angezogen sind, wie Arbeiter sich sonntags anziehen. Arcadipane kennt ihre Gesichter, weil er einen Spiegel hat, jedenfalls unter ihnen aufgewachsen ist, so wie er diese Hosen aus Barchent oder leichter Wolle kennt, die Jeans vom Markt, die Socken, bei denen nach der ersten Wäsche der Gummizug ausleiert, die hochgeschlossenen Shirts, die andauernd kratzen, und die Westen, die aus Pullovern gemacht werden, deren Ärmel nicht einmal mit Flicken mehr zu retten sind.
«Er mag Sportwagen, der Signor Delarue, hm?»
«Ja, ich habe ihn ein paarmal mit dem Duetto gesehen», brummt der Carabiniere, der die ganze Zeit über Bramard im Flur nicht aus dem Auge gelassen hat, «aber er und seine Frau benutzen meistens den Firmenwagen, einen grauen Thema mit Chauffeur.»
«Klar, wenn man schon einen Chauffeur hat!»
Arcadipane betrachtet Delarues lächelndes Gesicht, der auf einer Terrasse am Meer mit einer Languste hantiert. Er überlegt sich, dass derselbe Mann um 21 Uhr mit einer Kugel in der Diele gelegen ist, mit zuckenden Beinen, um anzuzeigen, dass er noch nicht hinüber war.
Aber was konnte einer mit solchen Gesichtszügen und mit solchen Zähnen im Leben auch anderes tun als lächeln und Langusten essen? Mit diesen Haaren, die zerzaust wirken, auch wenn kein Wind weht? Mit diesem Körper, diesem Einkommen! Die Ehefrau hingegen … Nicht hässlich, aber fahl, bescheiden, spitzes Gesicht, höchstens ein schmales Lächeln und eine Hand auf dem Arm des Mannes, der sie hingegen mit Verve um die Taille fasst. Wer weiß, wie ihre Haare aussehen, auf den Fotos trägt sie fast immer Kopftuch und Sonnenbrille. Aber vielleicht macht es diesen Eindruck, weil sie neben ihrem Mann steht. Wer würde neben Delarue keine schlechte Figur machen? Eine Bardot vielleicht, eine Kim Basinger, eine Melato, eine Cindy Crawford, sicher eine Carmen Lasonella.»
«Die Frau ist älter als er, oder wirkt das nur so?»
Giuseppe Rotella kommt ein paar Schritte ins Wohnzimmer und blättert in seinem Notizheft. Offenbar ist die Situation im Flur unverändert.
«Meinen Informationen zufolge ist Delarue zweiundfünfzig Jahre alt und Dora Dasei fünfundfünfzig.»
«Fünfundfünfzig, da sieh einer an. Drei Jahre älter, und doch hat sie ihn sich geschnappt. Bestimmt war sie, als sie sich kennenlernten … oder auf Fotos kommt sie nicht recht zur Geltung.»
Sie drehen sich um, Bramard steht in der Tür.
«Hat jemand etwas vom Treppenabsatz oder aus dem Flur genommen?», fragt er. «Vielleicht etwas, was unter dem Bücherregal oder dem Schuhschrank war?»
«Absolut nicht», sagt Giuseppe Rotella, dem alle Schuld der Welt plötzlich auf seine schwachen Schultern zu fallen scheint, «Maresciallo Luglio hat viel Erfahrung mit solchen Dingen. Wir haben nichts angefasst.»
«Ist gut», sagt Bramard, dann zu Arcadipane: «Wenn Pedrelli und die anderen kommen, lassen wir die Bilder in diesem Raum abfotografieren, die Stereoanlage im Wohnzimmer und die Garderobe in der Diele. Da hängen ein Balenciaga-Trenchcoat, ein Jägerhut aus grünem Filz und ein Borsalino, beide mit breiter Krempe. Fotografiert sie und tut sie wieder an ihren Platz.»
«Das soll geschehen», antwortet Arcadipane, «jetzt ist es aber halb fünf. Der Carabiniere Rotella hat uns alles Erzählenswerte erzählt, die anderen kommen dann mit der Spusi, und ich würde sagen, wir könnten …»
«Hören wir die beiden Mieter vom Stock darunter.»
«Aber meiner Meinung nach morgen … mit kühlem Kopf.»
Bramard sieht sich um.
«Besser jetzt, vorher aber suchen wir uns etwas zu trinken.»
«Sicher», Giuseppe Rotella geht zum Kühlschrank, «ich habe gesehen, dass da jede Menge gekühlte …»
«Von wegen gekühlt!», sagt Arcadipane und stellt sich ihm in den Weg, «ein bisschen Leitungswasser ist optimal», und er weist aufs Waschbecken. «So, sehr gut, drei schöne Gläser Trinkwasser! Commissario Bramard ist aufgewacht! Der Glückliche! Wir befragen jetzt, wir prüfen. Die Nacht ist noch jung!»
Der Mann, der an der Tür erscheint, als sie klopfen, ist um die sechzig, nicht dick, aber auch nicht unbedingt in Form, an den Schläfen kahl, mittelgroß, mit der Gesichtsfarbe eines Buchhändlers. Er trägt einen eleganten Pyjama, Arcadipane sieht so etwas in Filmen und denkt, das ist eine gute Idee, es sei denn, man schläft seit jeher in Unterhosen und T-Shirt.
«Entschuldigen Sie die Störung.»
«Ist keine Störung», sagt Luciano Allasia, wie neben der Klingel geschrieben steht, «bei dem, was passiert ist.»
Arcadipane ist an erster Stelle, Bramard einen Schritt hinter ihm im Windschatten, Giuseppe Rotella bildet die Nachhut. Seit sie auf dem Treppenabsatz stehen, bellt der Hund in der gegenüberliegenden Wohnung in Abständen, aber andauernd. Jetzt einmal und fünf Sekunden später wieder. Dass man ihn aufspießen möchte.
«Das macht er immer so», sagt Luciano Allasia mit resigniertem Lächeln, den gewalttätigen Wunsch Arcadipanes erahnend.
«Der Kollege von den Carabinieri hat uns gesagt, dass Sie den Schuss gehört haben und dann jemanden die Treppe hinuntergehen.»
«Ja, ich lag im Bett und habe gelesen …»
«Nicht ferngesehen?»
«Nein», und er öffnet die Tür ein wenig und gibt den Blick frei auf drei Kisten, die im Weg stehen, ein kleines Feldbett, eine Stehlampe und viele Bücher am Boden, nichts weiter, «ich bin gerade erst umgezogen, und dann mag ich Fernsehen nicht.»
«Was machen Sie beruflich?»
«Ich habe fünfunddreißig Jahre lang am Gymnasium Geschichte unterrichtet, dreihundert Meter von hier entfernt. Ich bin seit Kurzem in Pension.»
«Fünfunddreißig Jahre, Donnerwetter. Aber Sie haben jedenfalls den Schuss gehört …»
«Ja, ein sehr lauter Knall, der aus dem Treppenhaus kam, ich habe noch gehorcht, denn abgesehen von Salomè», und er weist auf die Tür, hinter der der Hund nicht ablässt zu bellen, «ist das Haus sehr ruhig, es gibt nie Geräuschbelästigung, vor allem abends nicht.»
«Und Sie haben Schritte hinuntergehen gehört?»
«Ja, die Treppe ist direkt an der Zimmerwand, wenn also jemand hinauf- oder hinuntergeht …»
«Eilige Schritte?»
«Nein, normale. Sie hielten hier auf dem Treppenabsatz einen Moment inne, dann gingen sie weiter.»
«Sie hielten auf Ihrem Treppenabsatz inne.»
«Ja, ich dachte, es wäre einer der Delarues, der läuten kam, weil etwas passiert ist … wer konnte das ahnen! Seit Stunden laufe ich in der Wohnung auf und ab, ich kann kein Auge zutun!»
«Und wir erst.»
«Möchten Sie einen Kaffee, wenn’s genehm ist?»
«Nein, danke.»
«Die Küche muss erst noch eingerichtet werden, aber einen Kaffee kann ich Ihnen anbieten.»
«Besser nicht. Jetzt versuchen Sie zu schlafen, wir sprechen mit Ihrem Nachbarn, so gibt der Hund vielleicht ein wenig Ruhe.»
«Um Himmels willen, bevor Sie nicht gehen …»
«Sind Sie Eigentümer oder Mieter?», mischt Bramard sich ein, wobei er die Frage über Arcadipanes rechte Schulter hinweg stellt.
Luciano Allasia fixiert diesen Mann, dem zu öffnen er sich bei anderer Gelegenheit, nachdem er ihn durchs Guckloch gesehen hätte, wohl gehütet hätte.
«Ich bin Mieter von Herrn Tomatis», er weist auf die Wohnung gegenüber, «wie gesagt bin ich eben erst umgezogen.»
Arcadipane wartet, dass Bramard noch etwas fragt, aber das Schweigen zieht sich in die Länge.
«Gut», nimmt er die Situation wieder in die Hand, «wir gehen davon aus, dass wir Sie diese Nacht nicht mehr stören werden müssen.»
«Viel Erfolg bei der Arbeit, ich hoffe nur, dass Sie ihn erwischen, diesen …» Das Letzte, was sie von ihm sehen, ist, wie der Mann sich den Mund zuhält, um nicht mehr zu sagen, dann verbarrikadiert Luciano Allasia sich in seiner Wohnung, mit seinem eleganten Pyjama, den Geschichtsbüchern und dem kaum gebändigten piemontesischen Tonfall.
Arcadipane bemerkt, dass er die Schultern hochgezogen hat, angespannt, das geschieht ihm häufig, wenn er Zeugen befragt. Bei den Verhören im Polizeipräsidium ist es noch schlimmer. Am Abend kommt es ihm vor, als hätte er Zementsäcke geschleppt, Barockmöbel gewuchtet, am Presslufthammer gearbeitet. Dann dreht er sich um und sieht Bramard mit seiner gewohnt entspannten Art eines Golfspielers an und mit seinen Haaren, die getrocknet in ihrer verwuschelten Art sogar schön sind.
«Was meinst du?», fragt er ihn.
Bramard holt ein Sukai aus der Tasche und steckt es in den Mund. Er bietet keins an, weil er weiß, dass Arcadipane sie nicht leiden kann und dass die Leute im Allgemeinen angesichts dieses asphaltgrauen, rautenförmigen Dings, das nicht einmal mit ein bisschen Zucker aufwartet, zurückschrecken. Schon gar nicht würde er es dem Carabiniere Rotella anbieten, der sich womöglich verpflichtet fühlt, es anzunehmen, wodurch er außer stundenlang einen Platz zum Pinkeln zu suchen auch noch das Problem hätte, wo er es ausspucken kann.
Bramard kaut und spricht nicht, was ein gutes Zeichen ist. Bis er sich umdreht und an der anderen Tür klingelt, hinter der der Hund sein Werk der methodischen Ruhestörung fortsetzt.
Das Schrillen der Klingel lässt ihn augenblicklich verstummen. Wenige Sekunden später dreht sich der Schlüssel im Schloss, und es erscheint ein Junge, der genauer betrachtet ein Mann ist, auch wenn die glatten Haare mit dem akkurat gezogenen Scheitel und die grüne Strickjacke ihn einige Jahre zurückdatieren im Verhältnis zu den 40–45, die er sicher ist. Und dann die kleinen, hässlichen Zähne, ja, eines Rauchers. Die Augen sind schmachtend und erinnern an Saigon. Eine Illusion, die nur kurz anhält, die Flanellhosen und die Lederpantoffeln versetzen einen sogleich wieder nach Casalforte.
«Entschuldigen Sie den Hund», sagt der Mann hierhin und dorthin schauend, «wenn Lärm ist …»
«Nur ein paar Fragen», sagt Bramard, der jetzt vorne steht und nie was von Höflichkeitsfloskeln gehalten hat, «Ihr Mieter, Signor Allasio, sagt, er hat den Schuss gehört und dann jemanden die Treppe hinuntergehen. Können Sie das bestätigen?»
«Vielleicht habe ich den Knall gehört, aber ich habe ferngesehen … ich habe nicht verstan…»
«Dann haben Sie also einen Fernseher?», mischt Arcadipane sich ein
«Ja … ja … sicher», stammelt Paolo Tomatis.
Der Hund, ein Yorkshire Terrier, den Körper für den Sommer geschoren, die Beine naturbelassen, sitzt zu seinen Füßen in engem Kontakt mit seinen Waden, die Schnauze hochgereckt, als wolle er ihm etwas einflüstern, jedesmal wenn ihm die Worte fehlen, was nach dem erschöpften Zustand des Tiers oft vorkommen muss.
Bramard kniet nieder und betrachtet den Vierbeiner, der laut Hundemarke Salomè heißt, aber ein Rüde ist. Der Hund erwidert die Neugier, dann widmet er sich wieder seinem Herrchen und der krankhaften Schüchternheit, die ihn die ganze Zeit ans Zuhause fesselt, rausgehen gerade mal zum Einkaufen, zum Tierarzt, zum Hundefriseur und das Abonnement im Teatro Regio, wie die Plakate der Opernaufführungen verraten, die Corso flüchtig im Flur erblickt.
«Dann haben Sie also niemanden die Treppe hinuntergehen gehört?», sagt Bramard und richtet sich wieder auf. «Oder auf Ihrem Treppenabsatz haltmachen?»
«Nein. Nur den Knall, aber … ich habe gedacht, es ist etwas umgefallen … im Stock drüber. Ich bin vor dem Fernseher im Sessel sitzen geblieben … Schritte … ehrlich gesagt …»
«Schritte nicht», Bramard fixiert ihn.
Der Mann sucht den Blick Arcadipanes, dann den des jungen Carabiniere.
«Nein», sagt er, «nur den Knall.»
Bramard nickt.
«Wohnen Sie schon lange hier?»
«Seit 1963», lange Pause, dann mit großer Mühe: «Mein Vater hat das Haus gebaut, für uns hat er die Wohnungen auf diesem Stock behalten, und die anderen hat er vermietet.»
«Für uns?»
«Meine Eltern und mich. Meine Eltern sind dann … verstorben. Ich bin in ihre Wohnung gezogen, und die andere», er weist auf Allasias Wohnung, «blieb leer.»
«Und das Dachgeschoss?»
Arcadipane hat nicht die geringste Idee, worauf Bramard hinauswill, aber er hat gelernt, dass es, wenn man nicht imstande ist, ein Boot zu lenken, unnütz ist, verstehen zu wollen, was zum Teufel der am Steuer mit diesen Tauen macht. Genauso gut kann man den Wind und die Geschwindigkeit genießen, insbesondere, wenn der am Steuer einen immer irgendwo hingebracht hat.
«Mein Vater hat es 1963 an die UTTSID verkauft», sagt Paolo Tomatis und lässt sich zwischen den Worten Zeit. «Das Unternehmen suchte eine Wohnung … mit einem gewissen Anspruch … für den Direktor der Firma.»
«Die Delarues wohnten seit sechs Jahren dort, ich stelle mir vor, Sie kannten sich gut.»
Trost suchend schaut Paolo Tomatis auf den Hund. Die unnatürliche Stellung, mit der er die Tür offenhält, sagt etwas aus über seine Verlegenheit allen und allem gegenüber, wie auch seine abgekauten Fingernägel und das gelbe letzte Fingerglied von zu vielen Zigaretten.
Arcadipane versteht wirklich nicht, was Bramard da macht, hinzu kommt der erschwerende Umstand, dass sich durch die Oberlichter Helligkeit zu verbreiten beginnt, die dem Morgengrauen vorausgeht. Auch müsste er pinkeln. Umso mehr, wenn er daran denkt, wie nötig der Carabiniere Giuseppe Rotella das hat.
«Nicht so sehr», bringt Paolo Tomatis hervor, «nur Guten Morgen … und Guten Abend.»
Arcadipane hofft, dass das nun reicht, aber Bramard lässt nicht locker.
«Haben Sie Signor Delarue je in Gesellschaft von anderen Personen gesehen, ohne seine Frau?»
Paolo Tomatis bemerkt die Brisanz der Frage. Er lässt sich gegen die Wohnungstür fallen, die sich ein paar Zentimeter weiter öffnet, was ihn noch mehr in Aufregung versetzt.
«Nein … Vielleicht allein. Im Aufzug … aber meistens mit der Frau.»
Der Hund steht auf und setzt sich wieder.
«Haben Sie sich mit der Frau je unterhalten?»
«Manchmal … im Aufzug.»
«Im Aufzug tauscht man schon mal ein Wörtchen aus», kommentiert Arcadipane.
Bramard betrachtet die Fußmatte, dann wieder den Hund. Im Treppenhaus hört man Stimmen, jemand, der den Aufzug ruft.
«Gut», sagt Bramard, und dann, aber sehr distanziert: «Danke.»
Paolo Tomatis zögert, weil er nicht weiß, was er tun soll.
«Machen Sie zu, machen Sie zu», ermuntert ihn Arcadipane auch mit Gesten, «wir sind fertig.»
Der Erste, der kapiert und zurückweicht, ist der Hund, dann auch Tomatis. Kaum ist die Tür geschlossen, fängt Salomè wieder im selben Rhythmus an zu bellen wie vorher.
Unterdessen hat der Aufzug auf dem Stockwerk haltgemacht. Mühsam zwängen sich heraus Pedrelli, zwei von der Spusi, zwei steife Koffer, das Fotozubehör und ein Köfferchen.
«Guten Tag, Commissario, guten Tag, Ispettore», grüßt Pedrelli, und es gelingt ihm, die Großbuchstaben in den Titeln seiner Vorgesetzten hörbar zu machen.
Unter dem Arm hat er die erforderlichen Akten, Zeichen dafür, dass er schon im Polizeipräsidium vorbeigegangen ist. Scheinbar auch beim Friseur, aber Arcadipane weiß, dass die Wartung seines Streichholzkopfes er selbst vornimmt, mit dem Ergebnis, dass sich im letzten Jahrzehnt die Haartracht des David von Michelangelo mehr verändert hat als seine.
Hosen stets mit Bügelfalte, immer mausgrau, braun, wenn es wirklich sein muss, weil Festtag ist, Schnürstiefel im Winter, Mokassins im Sommer und Jacke eines Bocciaspielers. Der Rest ist Fleiß und Zuverlässigkeit. Praktisch die Werbung für ein Abführmittel, das man benutzt, aber über das man nicht spricht: Diskretion ist alles für einen hundertprozentigen Piemontesen wie Pedrelli.
«Guten Tag, Pedrelli», begrüßt ihn als Einziger auf dem Treppenabsatz Bramard, bevor er die Stufen hinuntergeht und die Verteilung der Aufgaben Arcadipane überlässt.
«Mario?»
«Telefoniert mit der Zentrale, Ispettore, er kommt gleich mit Penna herauf.»
«Hoffen wir’s. Ihr habt ja eine Ewigkeit gebraucht! Das ist der junge Carabiniere Rotella.»
«Carabiniere Rotella, zu Befehl.»
«Und das ist der Assistente Capo Pedrelli, unser Faktotum. Da ihr euch mit Latein auskennt.»
«Erfreut.»
«Ganz meinerseits.»
«Brav, die Hand küsst ihr euch später. Hör mal, Pedrelli, stell den Funk ein, es gibt viel zu tun. Erstens, wenn Mario da ist, der eine Pistole hat, nicht wie du, der du mit dem Kamm als Waffe herumläufst, sagst du ihm, er soll bei Signor Tomatis läuten und den Hund erschießen, weil wir als Polizei dem Allgemeinwohl verpflichtet sind.»
«Hä, hä», kichert Pedrelli, «immer zu Scherzen aufgelegt, der Ispettore.»
«In der Tat, schade, dass du nicht da warst, denn wir haben uns bisher schiefgelacht. Hör mir gut zu, Pedrelli, ich bin seit ein Uhr nachts auf den Beinen, und davor bin ich auch nicht wirklich schlafen gegangen, also versuchen wir rasch voranzukommen.»
«Gewiss, Ispettore.»
«Der Carabiniere Scelto geht mit dir in die Wohnung hinauf, und er erzählt dir, wo Delarue getroffen wurde und wie alles gelaufen ist. Auch wenn die Zeugin aussagt, dass der Mörder Handschuhe trug, kontrolliert ihr von der Spusi die Fingerabdrücke auf der Klingel zur Dachgeschosswohnung, am Geländer des ganzen Hauses und zur Sicherheit auch im Aufzug, denn bestimmt ist er zu Fuß hinuntergegangen, aber hinauf wissen wir nicht. Ich glaube nicht, dass er wo geklingelt hat, um hineinzukommen, die Haustür hat ein Schloss, das sich mit einer Telefonkarte öffnen lässt, aber Hauseingang und Klingelbord müssen jedenfalls überprüft werden. In der Wohnung oben verlangt Bramard, alle Fotos im Esszimmer als Beweisstücke aufzunehmen und auch in der Diele und auf dem Treppenabsatz genau nachzuschauen, denn die Patronenhülse ist nicht gefunden worden, aber es könnte eine Waffe sein, die sie nicht auswirft und dann … Ach ja, die Hüte und die Jacke an der Garderobe, scheinbar hat Bramard da etwas gesehen.»
«Nehmen wir sie mit?», fragt einer der beiden, der älter wirkt, aber Arcadipane weiß, dass er jünger ist.
«Nein, alles fotografieren und wieder an seinen Platz tun. Die Kugel ist nicht ausgetreten, es ist kein Blut oder Hirnmasse zu sehen, aber wir haben keinen ärztlichen Befund, also untersucht die Wand und das Bücherregal hinter der Tür genau. Bevor die Leute zur Arbeit aufbrechen, hört die Mitbewohner an. Man weiß ja nie.»
«Der Abteilungsdirektor hat angerufen», bemerkt Pedrelli. «Angesichts der Position von Signor Delarue empfiehlt er, größtmögliche Diskretion walten zu lassen.»
Zwei Dinge bringen Arcadipane auf: die volle Blase und wenn Pedrelli Ausdrücke verwendet wie «größtmögliche Diskretion walten lassen», «unter Aufbietung aller Kräfte» und «die Einsatzfahrzeuge koordinieren». So was hört man in Kriminalfilmen, während Pedrelli das in den Dienstvorschriften gelernt hat, die er allein gelesen hat.
«Ich sage dir, in welcher Position Delarue sich befand: am Boden, die Beine vorn und ein Loch im Gesicht, aber da der Abteilungsdirekor dich angerufen hat, um Diskretion zu empfehlen, wirst du persönlich sämtliche Bewohner befragen, und dann schickst du sie in Quarantäne, sie können schließlich nicht erzählen, sie hätten auf Eric Delarue geschossen! Ja, fordere Verstärkung an, verlange die Aufbietung aller Kräfte, koordiniere die Einsatzfahrzeuge und begleite jeden einzelnen von ihnen zur Arbeit.»
Pedrelli studiert Arcadipane, dann den Carabiniere Rotella, dann wieder Arcadipane,
«Aus allem machen Sie einen Witz», probiert er es.
«Warum nicht», setzt Arcadipane ein falsches Lächeln auf, dann schaut er die zwei von der Spurensicherung an, die das mitverfolgt haben, was ihnen aber gleichgültig zu sein scheint. Einer von beiden fixiert die Tür, hinter der der Hund im Rhythmus einer Dampfwalze bellt. Gut möglich, dass er sich etwas mit einer Spritze oder einem Skalpell zusammenfantasiert, da Mario mit der Pistole nicht daherkommt, aber Arcadipane interessiert an diesem Punkt lediglich, die Treppe hinunterzugehen, wo Bramard rauchend steht, ihn in den Alfa zu laden, bis nach Turin zu fahren, ihn vor seinem Haus abzusetzen und sich zwei, drei Stunden schlafen zu legen, bevor er wegen des Berichts, wegen der Protokolle ins Polizeipräsidium geht und eventuell mit Dora Dasei spricht, Witwe oder halbe Witwe, die sie dann sein wird. Nicht zu vergessen: so bald wie möglich pinkeln.
«Los, machen wir uns an die Arbeit», sagt er, die Situation zusammenfassend.