Langsame Heimkehr - Peter Handke - E-Book

Langsame Heimkehr E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Seit Jahren war Valentin Sorger entfernt von allem, was sich unter dem Begriff ›Heimat‹ oder ›Familie‹ verstehen läßt. In seiner Daseinslust, im Bewußtsein seiner Stärke hatte er Bindungen und Beziehungen aufgegeben; Gefühle für Zurückgelassenes hatte er überlebt; er empfand keine Sehnsucht mehr; er war nicht einmal mehr imstande gewesen, den Gedanken an sein Kind zu Ende zu denken. Nun, in der Erkenntnis solchen Entferntseins, solcher Verlassenheit, bereitet sich die Heimkehr vor. Der Weg ist lang. Er führt von Alaska — Sorger arbeitet hier am Rande einer Indianer- siedlung mit seinem Kollegen Lauffer als Geologe — zunächst an die Westküste, dann an die Ostküste der USA, wo er einen Freund aus seinem Herkunftsland besuchen will; und er führt schließlich in die Stadt der Städte, in der Sorger ein Gesetz für sein Handeln (und das anderer) formulieren kann, das seine Heimkehr nach Europa notwendig und möglich zugleich macht: »Das ist ein gesetzgebender Augenblick: mich lossprechend von meiner Schuld, der selbstverantworteten und auch der nachgefühlten, verpflichtet er mich, den einzelnen immer nur zufällig Teilnahmsfähigen, zu einer so stetig wie möglich geübten Einmischung. Es ist zugleich mein geschichtlicher Augenblick: ich lerne (ja, ich kann noch lernen), daß die Geschichte nicht bloß eine Aufeinanderfolge von Übeln ist, die einer wie ich nur ohnmächtig schmähen kann — sondern auch, seit jeher, eine von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form.«

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Seitenzahl: 196

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Peter Handke

Langsame Heimkehr

Erzählung

Suhrkamp Verlag

»Dann, als ich kopfüber den Pfad hinunterstolperte, war da plötzlich eine Form …«

1. Die Vorzeitformen

Sorger hatte schon einige ihm nah gekommene Menschen überlebt und empfand keine Sehnsucht mehr, doch oft eine selbstlose Daseinslust und zuzeiten ein animalisch gewordenes, auf die Augenlider drückendes Bedürfnis nach Heil. Einerseits zu einer stillen Harmonie fähig, welche als eine heitere Macht sich auch auf andere übertrug, dann wieder zu leicht kränkbar von den übermächtigen Tatsachen, kannte er die Verlorenheit, wollte die Verantwortung und war durchdrungen von der Suche nach Formen, ihrer Unterscheidung und Beschreibung, über die Landschaft hinaus, wo (»im Feld«, »im Gelände«) diese oft quälende, dann auch wieder belustigende, im Glücksfall triumphierende Tätigkeit sein Beruf war.

Am Ende des Arbeitstages in dem hellgrau angestrichenen Giebelholzhaus am Rand der vor allem von Indianern bevölkerten Siedlung weit weg im hohen Norden des anderen Erdteils, das ihm und seinem Kollegen Lauffer schon seit einigen Monaten als Labor und zugleich Wohnstatt diente, hatte er die abwechselnd benützten Mikroskope und Ferngläser mit Schutzhüllen versehen und war, mit einem aufgrund der vielen Blickwechsel noch schiefen Gesicht, durch den draußen vom Sonnenuntergangslicht mit den schwebenden, weißwolligen Strauchpappelsamen erzeugten episodischen Raum wie durch einen Feierabendkorridor zu »seinem« Gestade hinübergegangen.

An dessen Lehmsockel ‒ er hätte hinabspringen können ‒ begann der ungeheure Bereich des zum gesamten Horizontrund wegfliehenden, menschenleer glänzenden, den Kontinentschild von Ost nach West durchflutenden und zugleich stetig in dem wohl punkthaft besiedelten, doch eigentlich unbewohnten Tiefland nach Nord und Süd mäandernden Stroms, welcher zu Sorgers Füßen, infolge der jahreszeitlichen Trockenheit und gestoppten Gletscherschmelze hinter eine breite Kiesel- und Schotterbankfläche und noch einen feuchten Schlammabhang zurückversetzt, mit leichten, langgestreckten Seewellen an Land schlug.

Die Stromebene erschien als ein stehendes Gewässer auch dadurch, daß sie sich allseits bis zum Horizont ausdehnte, wo die Horizontlinien selber aber, als ein Phänomen der Mäanderbiegungen, nicht von den ost-westströmenden Fluten, sondern von festem Land, den Ufern der dortigen Flußkrümmung mit dem obenauf wachsenden Strauchpappeldickicht oder den sehr kleinwüchsigen, an sich schütteren, auf die Entfernung jedoch wie dichtgereiht stehenden Zacken der Nadelholzurwälder gebildet wurden.

Dieser von allen Himmelsenden nur durch flach wirkende Landstriche abgegrenzte scheinbare See strömte freilich unfixierbar schnell und, bis auf das wannenhafte Plätschern der Wellen an den Schlammstrand, auch lautlos und fast einheitlich glatt dahin, als ein das ganze Tiefland ausfüllender, vom Sonnenuntergangshimmel gelbgespiegelter, zunächst gar nicht als Naß wahrnehmbarer Fremdkörper, mit vereinzelten, in der vagen Dämmerungsluft schon relieflos liegenden Inselstücken und Sandbänken; nur wo über den unsichtbaren Gruben, Dellen und Löchern im Sand- und Kiesboden des Strombetts an der Wasseroberfläche sich Wirbel in der sonst so kompakten metallgelben Masse ergeben hatten, zeigten diese heftig auf der Stelle kreiselnden Trichter nicht das Gelb, sondern, da sie in einem anderen, schieferen Winkel zum Himmel standen als der glatte Fluß, ein entfernteres Tagesblau, aus dessen Innern, im sonst fast vollkommen stillen Wegströmen, leise, bachähnliche Geräusche kamen.

Sorger war beflügelt von der Vorstellung, daß diese Wildnis vor ihm durch die Monate der Beobachtung, in der (annähernden) Erfahrung ihrer Formen und deren Entstehung, zu seinem höchstpersönlichen Raum geworden war; indem ihm die verschiedenen an dem Landschaftsbild beteiligten Kräfte, ohne daß er sie in der Vorstellung erst herbeibemühen mußte, schon im bloßen Wahrnehmungsvorgang, zugleich mit dem Erfassen des großen Wassers, dessen Strömens, dessen Wirbel und Schnellen, gegenwärtig waren, wirkten sie, mochten sie in der Außenwelt einst auch zerstörerisch gewesen sein (und die Zerstörung immer noch fortsetzen), durch ihre Gesetze zu einer guten Innenkraft verwandelt, stärkend und beruhigend auf ihn. Er war überzeugt von seiner Wissenschaft, weil sie ihm half, zu fühlen, wo er jeweils war; das Bewußtsein, gerade jetzt auf dem Gestade eines Flachufers zu stehen, während das meilenweit entfernte, durch die Inseln dazwischen kaum sichtbare andere Ufer tatsächlich doch um einiges steiler war, und diese seltsame Asymmetrie der abdrängenden Kraft der Erddrehung zuschreiben zu können, war nicht unheimlich, gab vielmehr eine Idee von der überschaubaren Zivilisiertheit und Heimatlichkeit des irdischen Planeten, die seinen Geist spielerisch und seinen Körper sportlich machte.

Dazu gehörte auch die Augenblicksvorstellung, daß gleichzeitig mit den über die Landschaft treibenden Pappelsamen auf dem Boden der Stromrinne gerade im Verborgenen die Schotterkugeln dahinglitten, sich rollend überschlugen oder sogar langsame Bogensprünge vollführten, eingehüllt in Schlammwolken und weiterbefördert von natürlichen Wasserwalzen, welche ‒ tief unter der stillen Oberfläche in der Gegenrichtung rotierend ‒ er sich nicht denken, sondern sinnlich miterleben konnte: Sorger versuchte, wo auch immer er war, sich solcher burlesker, winziger Abläufe zu vergewissern, die ihn manchmal angenehm zerstreuten, dann wieder, schön aufregend, ganz und gar einnahmen.

Seit einigen Jahren ‒ seit er fast immer allein lebte ‒ hatte er es nötig, genau zu fühlen, wo er in jedem Augenblick war: die Abstände gewärtig zu haben; sich der Neigungswinkel sicher zu sein; Material und Schichtung des Grunds, auf dem er sich jeweils befand, zumindest in einige Tiefe hinunter zu ahnen; durch Messen und Begrenzen sich überhaupt erst Räume herzustellen, als »bloße Formen auf dem Papier«, mit deren Hilfe er aber, jedenfalls auf eine kleine Dauer, auch sich selber zusammenfügte und unverwundbar machte.

Sorger brauchte die Natur, jedoch nicht nur als das »Natur«-Belassene ‒ sondern es genügte ihm zum Beispiel, in beliebigen Großstädten der kaum wahrnehmbaren, auch asphaltüberzogenen Buckel oder Mulden innezuwerden, sachter Senkungen oder Hebungen im Straßenpflaster, der durch die Jahrhunderte eingetretenen Kirchenböden und Steintreppen; oder in einem zunächst fremden Hochhaus sich von ganz oben senkrecht durch alle Stockwerke bis in den Untergrund hinabzuphantasieren und in solcher Art tagzuträumen etwa den Granitsockel dort nachzuvollziehen ‒ und Orientierung und lebensnotwendiger Atemraum (und damit Selbstvertrauen) ergaben eins das andere.

Er hatte die Fähigkeit (welche freilich nicht beständig, sondern sporadisch und zufällig war, wobei seine berufliche Beschäftigung den Zufall erst ermöglichte und ein wenig beständiger machte), die Welt-Räume, in die er sich durch seine Arbeit einmal eingelebt hatte, im Notfall zu Hilfe zu rufen ‒ oder auch bloß zur Unterhaltung von sich und anderen herbeizuzitieren, mit allen Begrenzungen, den Licht- und Windverhältnissen, den Längen- und Breitengraden, dem Stand der Himmelskörper, als immer friedliche, allen und niemandem gehörende Bilder zu noch auszudenkenden Begebenheiten.

In jeder neuen Umgebung, mochte diese sich dem ersten Blick als einförmig übersichtlich oder durch Gegensätzlichkeit pittoresk, jedenfalls faßbar eröffnen, folgte doch gleich nach diesem Moment der naiven Raumvertrautheit wie endgültig die als Gleichgewichtsstörung erlebte stumpfsinnige Befremdung, wieder einmal vor bloßen, zudem bekannten Kulissen zu stehen, noch verstärkt durch das Schuldgefühl, auch hier »nicht am Platz zu sein«: deswegen war es mit der Zeit Sorgers Leidenschaft geworden, draußen bleibend und die erste Leere aushaltend, diese so schnell verspielten Räume durch Betrachtung und Aufzeichnung für sich zurückzugewinnen; seit langem ja nirgends zu Hause und also nicht in der Lage, nach solchen touristischen Demütigungen durch die Erdgegenden sich zwischen eigenen vier Wänden wiederzufinden, sah er in dem Ort jetzt und hier seine einzige Möglichkeit: wenn er sich nicht auf ihn (oft verdrossen) mit einer Arbeitsanstrengung einließe, gebe es auch keine Zuflucht mehr zu den Räumen seiner Vergangenheit ‒ im Glücksfall aber, in der seligen Erschöpfung, fügten sich alle seine Räume, der einzelne, neueroberte mit den früheren, zu einer Himmel und Erde umspannenden Kuppel zusammen, als ein nicht nur privates, sondern auch den anderen sich öffnendes Heiligtum.

Nach dem ersten Mißmut über die sich jedesmal vorschnell verheißende und gleich wieder entziehende Natur mußte sich Sorger, wollte er nicht verlorengehen, mit aller Heftigkeit in sie vertiefen. Er hatte die Umwelt in jeder geringsten Form ‒ einer Rille im Stein, einer wechselnden Färbung im Schlamm, dem vor einer Pflanze angewehten Sand ‒ ernst zu nehmen, wie nur ein Kind ernstnehmen kann, damit er, der kaum irgendwo Zugehörende, sonst nirgendwo Zuständige, sich für wen auch immer zusammenhielte ‒ und das gelang ihm manchmal nur mit wütender Selbstüberwindung.

Für wen also der Zusammenhalt? Sorger war sich bewußt, wie sehr er mit seiner Wissenschaft zugleich eine Religion ausübte: erst seine Arbeit machte ihn immer wieder beziehungsfähig, und wahlfähig, im zweifachen Sinn: er konnte wählen und gewählt werden. Von wem? Von wem auch immer; er wollte nur wählbar sein.

Seine Erfassung der Erdgestalt, nicht fanatisch betrieben, sondern so inständig, daß er sich selbst dabei allmählich als Eigengestalt mitfühlte, hatte, indem sie ihn von der mit bloßen Launen und Stimmungen drohenden Großen Formlosigkeit abgrenzte, tatsächlich bis jetzt seine Seele gerettet.

Und die anderen? Sorger hatte in seinem Beruf noch keine Arbeit verrichtet, mit welcher er jemandem ausdrücklich nützlich gewesen wäre oder vielleicht sogar irgendeiner Gemeinschaft gedient hätte: weder hatte er bei einer Ölbohrung mitgewirkt, noch ein Erdbeben voraussagen können, noch auch nur als Verantwortlicher die Untergrundfestigkeit eines Baustellenprojekts geprüft. Aber er war sich »seiner Tatsache« gewiß: ohne seine Anstrengung, das Befremdende jeder Erdgegend auszuhalten, mit den verfügbaren Methoden in der Landschaft zu lesen und das Gelesene in einer strengen Ordnung weiterzugeben, wäre er kein Umgang gewesen, für niemanden.

Er glaubte nicht etwa an seine Wissenschaft als an eine Art Weltreligion, sondern die immer gemessene Ausübung seines Berufs (»Maßarbeit« war Sorgers Vorgangsweise für den daneben chaotischen und oft auch liebenswert sprunghaften Lauffer) geschah zugleich als eine Weltvertrauens-Übung, wobei die Gemessenheit in den technischen und auch den alltäglichen Handhabungen ein steter Versuch zur Meditation war, welcher ihn freilich an Orten wie Badezimmern, Küchen oder Werkzeugkammern manchmal nur gravitätisch herumtapsen ließ. Sorgers Glaube war an nichts gerichtet; er bewirkte bloß, wenn er ihm gelang, ein Teilhaftigwerden an »seinem Gegenstand« (einem durchlöcherten Stein, aber auch einem Schuh auf dem Tisch, einem Nähfaden auf dem Mikroskop) und begabte ihn, den oft Bedrückten, der sich nun wirklich als Forscher fühlen konnte, mit Humor: in ein stilles Vibrieren versetzt, schaute er sich dann einfach seine Welt näher an.

In solchen Zeiträumen der selbstlosen Zuneigung (in den flüchtigen Momenten der Hoffnung sah er sich als den Dummen) war Sorger nicht göttlich; er wußte nur, kurz, doch verewigbar durch Formen, was schön und gut war.

Es verlangte ihn wohl nach einem auf etwas gerichteten Glauben, ohne daß er sich einen Gott je denken konnte; aber in Zeiten der Bedrängnis merkte er, daß er ‒ bloß zwanghaft? ‒ geradezu flehentlich immer einen Gott mitdenken wollte. (Zuweilen wünschte er sich, fromm zu sein ‒ was ihm nie gelang; er war dann aber sicher, daß »die Götter« ihn verstanden.)

Beneidete er die unablässig Glaubenden, die schon gerettete Schar der Gläubigen? Jedenfalls war er berührt von ihrer Launenlosigkeit, ihrem so mühelosen Wechsel zwischen Ernst und Heiterkeit, ihrem beharrlichen, wohltätigen, guten Nach-Außen-Gekehrt-Sein; er selber war manchmal kurzweg nicht gut, und er fand sich auch nicht damit ab: zu oft begrüßte er etwas mit wortreicher Begeisterung, von dem er sich gleich darauf in stummem Unwillen wieder abkehrte ‒ statt es ein für alle Male zu beantworten mit einem übergreifenden Humor.

Dennoch waren die Gläubigen keine Gesellschaft für ihn. Er verstand sie, doch er konnte in ihrer Sprache nicht mitreden, weil er sprachlos war, oder, in den Ausnahmezuständen seiner Religiosität, mit einer ihnen fremden Zunge geredet hätte: in der »dunklen Nacht ihres Glaubens«, wo es kein Reden in Zungen gab, wäre er ihnen unverständlich geblieben.

Sorger dagegen konnten die Sprachformeln seiner Wissenschaft, bei allem Überzeugtsein, immer von neuem als ein fröhlicher Schwindel erscheinen; ihre Riten der Landschaftserfassung, ihre Beschreibungs- und Benennungsübereinkünfte, ihre Vorstellung der Zeit und der Räume, kamen ihm fragwürdig vor: daß in einer Sprache, welche sich aus der Menschheitsgeschichte gebildet hatte, die Geschichte der unvergleichlich anderen Bewegungen und Gebilde des Erdballs gedacht werden sollte, bewirkte noch immer einen ruckhaften, körperlichen Taumel, und es war ihm oft geradezu unmöglich, mit den zu untersuchenden Orten die Zeit mitzudenken. Er ahnte die Möglichkeit eines ganz verschiedenen Darstellungsschemas der Zeitverläufe in den Landschaftsformen und sah sich, verschmitzt und schmunzelnd wie seit jeher die Umdenker (das war ihm auf all ihren Photographien aufgefallen), der Welt seinen eigenen Schwindel unterschieben.

So konnte Sorger, in der Feierabend-Beschwingtheit fähig zum Gedankenspiel, jetzt vor der gelben Wildnis auch die Verlassenheit dessen nachfühlen, der ohne Glauben an die Kraft der Formen oder durch Unkenntnis auch ohne Möglichkeit dazu, sich wie in einem Alptraum allein vor dieser Erdgegend fände: es wäre das Entsetzen vor dem Leibhaftigen, dem unwiderruflichen Ende der Welt, wo der Betreffende vor Alleinsein ‒ auch hinter ihm gäbe es nichts mehr ‒ nicht einmal an Ort und Stelle sterben könnte: denn es gäbe weder Ort noch Stelle mehr ‒ nicht einmal von dem Leibhaftigen geholt werden könnte: denn es gäbe auch solche Namen nicht mehr ‒ einfach nur ewig vor Entsetzen verginge; denn es gäbe auch keine Zeit mehr. Und die Stromebene und der weite flache Himmel darüber erschienen plötzlich als die beiden Teile einer aufgeklappten Muschel, aus welcher, schrecklich verführerisch, mit einem Schauder schneller, scharfer Wollust der Sog der seit dem Beginn der Zeiten Verschollenen kam.

Unwillkürlich, aus dem Spiel gerissen, drehte sich Sorger, als sein eigener Doppelgänger auf einem Lehm-, Mergel- und vielleicht Goldstaubvorsprung dieser schwirrenden, gleichsam immerzu die Richtung wechselnden Leere ausgesetzt, nach dem zivilisierten Hinterland um, wo die buschigen hellen Schweife der Kettenhunde überall zwischen den Gebüschen wedelten, wo die auf den Erddächern der Indianerhütten sprießenden Grasbüschel leuchteten, und wo der »ewige andere« ‒ so sah er seinen Kollegen Lauffer in diesem Moment ‒ in schlammverkrusteten Schaftstiefeln und der Spezialjacke mit den vielen Taschen, eine blinkende Lupe um den Hals, von der Geländearbeit gerade zurückgekehrt auf der obersten Holzstapfe vor dem Giebelhaus stand, das Gesicht und den Oberkörper noch in der Sonne, in der ersten Ratlosigkeit der Heimkehr an einen Ort, der ihm zum bloßen Aufenthalt diente, zunächst einmal starr und zugleich ungebärdig die Haltung Sorgers nachahmend und wie dieser in das riesige Stromland hineinblickend, eine Zigarette rauchend, mit ähnlich verkniffenem Gesicht, als stellte er, eine seltsam hilfsbedürftige Figur, einen der in einer Reihe gestaffelten identischen Hintermänner dar.

Lauffer war ein Freund, mit dem die gegenseitige Vertrautheit sich nicht in Kumpanei, sondern in zuweilen fast schüchterner Höflichkeit äußerte. Nie würde zwischen ihnen, die doch täglich von Launen abhingen, der Ausbruch von Launenhaftigkeit möglich sein (der ihnen manchmal notgetan hätte). Obwohl sie sich den Arbeitsraum des Hauses teilen mußten, war es nur am Anfang vorgekommen, daß sie einander im Weg standen; jeder hatte, auch im Schlafzimmer ‒ das Haus bestand nur aus diesen zwei Räumen ‒ ohne Plan seinen Platz. Es gab die selbstverständliche Gemeinsamkeit, doch sah es wie ein Zufall aus, wenn sie jeweils etwas zusammen taten; jeder ging nur mit den eigenen Sachen um, hatte, selbst im Haus, eigene Wege. Sie aßen nicht wirklich gemeinsam, sondern der eine kam dazu und aß mit dem anderen, der regelrecht speiste, und wurde dann etwa aufgefordert: »Trinkst du mit mir ein Glas Wein?« Wollte einer Musik, ging der Partner nicht hinaus, sondern hörte, ohne ausdrückliche Teilnahme, vielleicht auch allmählich zu ‒ wünschte sich ein Stück sogar wiederholt.

Lauffer war ein Lügner; Sorger, bei aller Beruhigtheit und Undurchdringlichkeit, immer noch ein bis zur abrupten Gleichgültigkeit, ja Treulosigkeit unbeständiger Mensch: beide ahnten oder kannten stillschweigend das Ungute des anderen (es sogar gespenstischer vorfühlend als der, gegen den es sich tatsächlich einmal gerichtet hatte) und waren, gewitzt in dem Bewußtsein, daß sie wohl zu einem Dritten sich immer wieder als Schurken verhalten könnten, niemals aber unter sich, über die Jahre froh, einander zu haben: mit dem Freund zusammen, erlebte jeder sich als Gutgesinnter, jedenfalls nie als Bösewicht.

Sie bildeten kein Paar, nicht einmal im Kontrast; waren vielmehr mit der Zeit, auch auf die Entfernung, Partner geworden ‒ eingespielt, aber nicht verschworen: die Widersacher des einen konnten die guten Bekannten des anderen bleiben.

Lauffer, der Lügner, hatte freilich keine Feinde, und seine Lügenhaftigkeit war fast nur hin und wieder Frauen aufgefallen, ganz wenigen zudem, die sich dann aber, als wüßten sie ein tragisches Geheimnis, wie auf Leben und Tod, Lauffer dabei völlig für sich beanspruchend und alle übrige Welt aus der Beziehung aussperrend, mit ihm verbündeten.

Ohne sich einzuschmeicheln war er überall sofort beliebt, und die Leute nannten ihn auch in seiner Abwesenheit beim Vornamen, nicht erst hier auf dem amerikanischen Kontinent, wo das ja üblich war. Es wurde zwar auf ihn geschimpft, aber jeweils so, wie man manchmal seinen Helden schmäht: niemals würde man zulassen, daß ein Außenstehender ihn angriffe. Bei all seiner körperlichen Unstetigkeit ‒ wenn er dem oft versunkenen Sorger gewaltsam still gegenübersaß, wirkte er beflissen und puppenhaft ‒ zeigte er schon auf den ersten Blick, auch durch seine gar nicht athletische, sondern belustigende und dadurch wie brüderlich wirkende Massigkeit, eine glückliche Einheit, eine ruhelos sich bewegende Mitte, an der man teilnehmen wollte; er, der Lügner, hatte etwas Verläßliches: man war jedesmal erleichtert oder einfach erfreut, ihn wiederzusehen, mochte er auch bloß kurz den Kopf zur Tür hereinstrecken.

Er log freilich nicht von sich aus, sondern gleichsam erst in der Antwort auf die allseits ihn beäugende, von allen Gutgesinnten ‒ und er kannte nur solche ‒ dargebrachte Mittler-Erwartung, welche er, auf die Dauer natürlich außerstande, sie einzulösen, und dann unverschämt und geradezu unanständig lügend, auch nicht enttäuschen durfte. Die Tatsache war, daß Lauffer allüberall ohne sein Zutun als ein Einsammler von Versprengten diente und sich dadurch zu einer Harmlosigkeit verurteilt sah, in der er sich nicht wiedererkannte: er war kein leidenschafts- oder geschlechtsloses Wesen, sondern verfolgte insgeheim, für sich selber auf ganz andere Weise ein Held als für die vielen sich seine Freunde Nennenden, den Traum oder Wahn von der Größe.

»Ich möchte gefährlich sein wie du«, sagte er, während er mit Sorger im Haus beim Abendessen saß, das sich wieder einmal zufällig ergeben hatte.

Der Tisch stand am westlichen Fenster, das in seinem Mittelteil, wo Fluß und Abendhimmel es querten, ein gelbes Viereck mit langen dunklen Streifen, und darüber und darunter (Wolkenbank und Festland) schon tiefschwarz war, ohne ein Mückennetz davor; die Moskitos, wenn sie auch noch vereinzelt geradeaus und torkelig daherflogen, stachen nicht mehr, setzten sich nur manchmal auf den Handrücken und blieben dort.

Die Mahlzeit waren bei der Geländearbeit gesammelte hellbraune, im Geschmack den chinesischen ähnliche Pilze, die ein wenig die Feuchte des Bodens angenommen hatten, wo das Wasser nicht in die gleich darunter ständig gefrorene Schicht wegsickern konnte; dazu von den Indianerfischern erworbene dicke weißliche Stücke von Lachs und die letzten übergroßen Kartoffeln, noch aus dem eher formlosen »Sommergarten« geerntet, welcher im windgeschützten Osten hinter dem Giebelhaus lag. Sie tranken einen im »Handelsposten« genannten Supermarkt der Ansiedlung gekauften Wein, so kalt, daß dessen Süße, zusammen mit den bitteren Pilzen und dem Fisch, eine Zeitlang schmackhaft war.

Es war einer der ersten Herbsttage, in einem Haus, dessen Inneres, mit den Einrichtungsgegenständen und den technischen Geräten, als geheimnislos praktischer Allerweltsplatz anheimelte: erst bei einem wenn auch achtlosen Blick ins Freie passierte vielleicht jenes erhabene und zugleich bange Gefühl, eine schwindelerregende Raumflucht in den draußen weltfern sich dehnenden Hohen Norden; und auch ohne den Blick hinaus konnte doch, selbst beim Essen und Trinken, in den Augenwinkeln ein befremdendes Licht einfallen, das an den Gegenständen zwar beständig mitwirkte, als eigene Helligkeit aber erst erlebbar wurde in dem phantastischen kleinen Ruck von innen her, mit dem das Bewußtsein erfuhr, daß es tatsächlich »weit, weit weg« war, »ganz woanders«, in einem anderen Erdteil.

Die schwarzweiß gefleckte Katze, die zu dem Haus gehörte, blieb, nachdem sie die Fischreste gefressen hatte, auf dem Tisch sitzen ‒ es gab, bei den eher dünnen Holzwänden, keine Fensterbank ‒ und schaute zu dem im Abendwind stark geschüttelten Flußauengestrüpp hinaus, ab und zu mit dem sonst starren Kopf und der Pfote einer einzelnen gegenläufigen Bewegung im Buschdickicht folgend.

Der Wind wehte stromaufwärts und erzeugte auf der immer noch gelben Fläche jetzt heftige kleine Wellen, die nach Osten liefen, als flösse auch das Wasser in diese Richtung; erst an den Rändern des Bildes wurde in mächtigen spiralenförmigen Schlieren die wahre Strömung deutlich, wo, fast stofflich wirkend, wie ins Wasser geworfenes Gekröse, sich die schon nachtschwarzen Strudel drehten. Weit unten im Westen richtete sich, halb schon im Uferschatten, immer wieder ein finsteres Gebilde hoch aus dem Wasserspiegel auf, erzeugte dabei einen rhythmisch ins Haus herdringenden Knarrton und fiel dann jeweils ins Wasser zurück, mit einem tierhaften, die ganze leere Landschaft durchdringenden Geschnarch: es war einer der letzten Tage, da die Indianer, bei dem sinkenden Pegelstand, dort vom Fluß ihre großen hölzernen Fischräder antreiben ließen, welche ihnen als Fangturbinen auch über Nacht die Lachse einsammelten.

Jenseits des Rades, wo der Strom schon seiner Mäanderkrümmung nach Norden folgte, zog sich wie an dem Rand eines Lagunenbogens die gezackte Horizontlinie des niedrigen, kompaktbraunen Fichtenurwalds hin. Dadurch, daß die Spitzen der wenigen höheren Bäume aus der flachen, sich weithin erstreckenden Masse ragten, schienen dahinten in der Ferne, mit den schmalen Inselrücken als Haff vorgelagert, wirklich die Türme einer Lagunenstadt vor einem reinen Himmelsraum zu stehen. In dieser völlig dunkelgefallenen Stadt, deren Einzelheiten nur noch an der Spiegelung in dem um so helleren Stromwasser sichtbar wurden, knallte es manchmal von Gewehrschüssen, oder es bellte ein verlorener Hund, was aber vielleicht bloß als ein hallendes Echo von dort ins Dorf zurückkam, wo bis spät in der Nacht allerorten die meist in Rudeln gehaltenen Hunde jaulten.

Ein Nachen, in dem, da die Insassen knieten oder kauerten, kein Mensch zu sehen war, glitt aus dem Schatten der Lagunenbucht in die Resthelle hinaus und zog eine tintenblaue Furt hinter sich her. Eine Büchsenkugel, wie aus dem Hinterhalt über das Wasser geschossen, streifte die glatte Fläche, die sich davon kaum kräuselte, und sprang dann weg in einen Inselbuschwald hinein, wo ein paar Raben aufflogen.

Sorger, früh in der Nacht mit dem von Lauffer geliehenen Jeep unterwegs zu der Indianerin, die ihn nie erwartete, ihm aber bei Gelegenheit spöttisch und gutmütig, zuzeiten sogar in einer Art zufriedener Würde diente, hatte vor sich, in den Schlaglöchern des am Gestade entlangführenden Schotterwegs, eine zwar nicht mehr blinkende, doch immer noch fahlhelle Pfützenreihe, die der ebenfalls fahlhellen Stromfläche zugeordnet schien. Aber auch diese Wasserfläche mit den eingelagerten Sandbänken ruhte nicht mehr in sich, sondern ging ohne unterscheidbare Grenzlinie in den die ganze Horizontferne einnehmenden und wie ein Sinnbild für den Polarkreis stehenden lichten Himmelsstreifen über: die dünnen schwarzen Wolkenbänder darin konnten auch die hintersten Inseln im Stromland sein, und die oben um die Wolken sich gabelnde letzte Himmelshelligkeit war vielleicht immer noch der westwärts fließende Strom.

Sorger hatte gestoppt und wollte dieses Raumereignis festhalten. Aber es gab schon keinen Raum mehr, nur noch, ohne Vorder- und Hintergrund, bei endlich sich verlierender Perspektive, eine mächtig und sanft sich erhebende Offenheit vor ihm, nicht leer, sondern glühend stofflich, und der aufgeregte Sorger, zu Häupten und im Rücken um so heftiger den stockdunklen Nachthimmel, und zu seinen Seiten und Füßen die tiefschwarze Erde empfindend, versuchte die Naturerscheinung und die in ihr geschehende Selbstvergessenheit am Vergehen zu hindern, indem er die widersprüchlichen Einzelheiten geradezu wild aus dem Bild herausdachte ‒ bis sich doch wieder Perspektive und Fluchtpunkte und ein klägliches Alleinsein einstellten. Für einen Augenblick freilich hatte er in sich die Kraft gespürt, sich als Ganzes in den hellen Horizont wegzuschießen und dort für immer in die Ununterscheidbarkeit von Himmel und Erde aufzugehen.

Er saß in dem weiterfahrenden Auto, den Körper starr und wie von allen Apparaturen abgerückt, und hielt das Lenkrad ziemlich weit oben, als gehörte er nicht dazu.