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In Abigail Winfords Herz regte sich so etwas wie Erwartung, als der Planwagen von Osten her auf die Farm zukam. Ihre Augen waren trotz ihrer sechsundvierzig Jahre immer noch scharf genug, um das Mädchen und den leicht gebückt auf dem Kutschbock sitzenden Prediger zu erkennen, während sie durch das Tor auf den Hof fuhren. Ein hölzernes, mit Silbernieten verziertes Kreuz baumelte zwischen den beiden vom Bogen der Kutschenplane herab, und der betagte Morgan, der das Fuhrwerk zog, hatte drollige Troddeln und Glöckchen am Zaumzeug. Das kuriose Pärchen wirkte alles andere als bedrohlich, aber Abigail behielt trotzdem ihre Schrotflinte im Blick, als sie sich erhob und den Ankömmlingen zunickte.
Der Mann auf dem Kutschbock nahm den Hut ab und neigte sein Haupt. "Gott ist mein Zeuge, Ma'am: Wir teilen Ihren Gram und möchten Sie in Demut bitten, Ihnen beistehen zu dürfen."
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Lassiter und die Seelen trösterin
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ertugrul Edirne / Becker-Illustrators
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0491-5
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Lassiter unddie Seelentrösterin
In Abigail Winfords Herz regte sich so etwas wie Erwartung, als der Planwagen von Osten her auf die Farm zukam. Ihre Augen waren trotz ihrer sechsundvierzig Jahre immer noch scharf genug, um das Mädchen und den leicht gebückt auf dem Kutschbock sitzenden Prediger zu erkennen, während sie durch das Tor auf den Hof fuhren. Ein hölzernes, mit Silbernieten verziertes Kreuz baumelte zwischen den beiden vom Bogen der Kutschenplane herab, und der betagte Morgan, der das Fuhrwerk zog, hatte drollige Troddeln und Glöckchen am Zaumzeug. Das kuriose Pärchen wirkte alles andere als bedrohlich, aber Abigail behielt trotzdem ihre Schrotflinte im Blick, als sie sich erhob und den Ankömmlingen zunickte.
Der Mann auf dem Kutschbock nahm den Hut ab und neigte sein Haupt. »Gott ist mein Zeuge, Ma'am: Wir teilen Ihren Gram und möchten Sie in Demut bitten, Ihnen beistehen zu dürfen.«
Abigail Winford verengte die Augen und versuchte, die Schmerzen in den Gelenken zu ignorieren, als sich ihre Hände um das Geländer der Veranda schlossen. Sie musterte den Prediger und blickte dabei in eindringlich leuchtende kastanienfarbene Augen, die ihrer Inquisition mühelos standhielten.
»Woher wissen Sie, was mit Ralph...« Mitten im Satz brach sie ab, und eine innere Stimme schalt sie: Was geht das diese Leute an, dass mein Mann gestorben ist? Und woher wissen sie davon?
Der Mann auf dem Kutschbock hob die Hände und streckte sie beschwichtigend nach vorn. Er trug die schlichte Kleidung eines Wanderpredigers; schwarze, schwere Stoffe, die dem Klima nicht angemessen waren. Seine treuherzige Miene erinnerte Abigail an Tristan – ihren Hütehund, den sie vor einem Jahr begraben hatten. Ralph hatte Tris oben auf dem Hügel beigesetzt.
Und nun lag ihr Gatte selbst nur ein paar Schritte entfernt davon unter der Erde im Schatten der Sycamore.
Der Prediger wirkte ein wenig zerknirscht und schien nach den richtigen Worten zu suchen. Abigail war nicht bereit, ihm dabei behilflich zu sein; eigentlich fühlte sie sich bereits gestört von den ungebetenen Besuchern.
Schick sie fort!, befahl ihr eine innere Stimme, doch obwohl sie durchaus darauf hören wollte, fielen ihr einfach nicht die passenden Worte dafür ein.
Das Mädchen neben ihm half dem Prediger auf die Sprünge. Mit der linken Hand schob sie sich die goldenen Locken aus dem engelhaften Gesicht und sah Abigail auf eine Weise an, die sie sofort gefangen nahm.
Ihr Blick hatte etwas Einnehmendes, fast schon Hypnotisches, das Abigail plötzlich das Gefühl gab, zuzuhören könne nicht schaden.
Was angesichts der Tatsache, dass sie seit drei Wochen mit keiner Menschenseele mehr geredet hatte außer mit Mo, wohl auch nicht weiter verwunderlich war.
»Hören Sie, Ma'am – wir wollen uns keinesfalls aufdrängen. Aber unten in der Stadt hat man uns von ihrem bedauerlichen Schicksal erzählt. Ihr Gatte hat Sie verlassen...«
»Ralph...«, ergänzte der Mann neben ihr leise und schaute dabei betroffen irgendwohin. »Gott sei seiner Seele gnädig.«
»... er ist vor zwei Monaten von Ihnen gegangen, und das trifft uns tief in unserer Seele. Ralph... er sitzt nun an der Seite von Jesus und schaut herab auf die Welt, befreit von all den Sünden und Qualen des Diesseitigen.«
»Christus sei gepriesen, und gebenedeit sei sein Leib«, murmelte der Prediger an der Seite des blonden Engels und bekreuzigte sich.
»Doch Sie sind nun allein und müssen dem Leben trotzen, dem Gewicht auf Ihren Schultern, das Gott, der Herr, Ihnen in seiner Weisheit auferlegt hat.« Das Mädchen klimperte mitfühlend mit den Wimpern und hob den Blick, weil sie auf eine Antwort wartete.
Abigail starrte die beiden an und hob die Augenbrauen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie ein wenig ratlos.
Die junge Frau sprang vom Kutschbock und kam mit ausgebreiteten Händen auf sie zu. Ihre Miene strahlte Freundlichkeit, Zuversicht und Lebensfreude aus. Nichts davon hatte sie seit dem Tod von Ralph empfangen oder in sich selbst gespürt.
Was natürlich auch an ihr und ihrem Mann gelegen hatte, wie sie zugeben musste. Ihr war nur zu bewusst, warum sie keine Freunde hatten, obwohl sie allenfalls zum Teil schuld daran waren.
Schon lange waren sie Außenseiter in der Gemeinde – gemieden, allenfalls geduldet – und hatten nichts unternommen, um das zu ändern. Ralphs Tod hatte daran nichts geändert.
»Die Frage ist falsch, Ma'am«, erwiderte die junge Frau und ordnete dabei ihr blondes Haar. Dabei sah sie Abigail so offen in die Augen, wie es schon lange niemand mehr getan hatte.
»Fragen Sie uns doch einfach, was wir für Sie tun können.«
Abigail wich einen halben Schritt zurück und betrachtete ihr Gegenüber genauer.
Das Mädchen trug ein schlichtes, taubenblaues Baumwollkleid, deren Knöpfe züchtig bis zum Hals geschlossen waren. Ihre blonden Locken umrahmten zarte Züge, die makellose Haut war nur leicht gebräunt. Der Teint war von jener Natur, die der Sonne zwar widerstand, sich dabei aber kaum tönte. Sie mochte von der Ostküste stammen, was auch ihr Zungenschlag nahelegte.
Die junge Frau trug weder Schmuck noch hatte sie sich auf andere Art zurechtgemacht, doch das war auch nicht nötig, denn ihre natürliche Schönheit rief Abigail auch so ihr eigenes Alter in Erinnerung. Der Anblick des Mädchens machte ihr bewusst, dass ihre Schönheit seit Jahren verblüht war. Sie verzog die Lippen und schüttelte langsam den Kopf.
»Vielen Dank, aber wir kommen schon zurecht.«
»Oh. Wir haben Besuch!«
Abigail runzelte die Stirn, als Moses, ihr Sohn, mit steifen Schritten heran kam und dabei schüchtern lächelte.
Mo war zum buchstäblich falschesten Zeitpunkt aufgetaucht, doch der blonde Engel schien das anders zu sehen. Die Augen des Mädchens leuchteten auf, und sie streckte Abigails Sohn die Hand entgegen. Der ergriff sie sofort und schüttelte sie so heftig, dass die Frau überrascht auflachte.
»Ich bin Moses!«, rief er, und die Blonde nickte erfreut.
»Hallo, Moses. Mein Name ist Ruby.«
»Ruby...« Der hochgewachsene junge Mann ließ zögernd ihre Hand los und musterte sie neugierig unter den langen schwarzen Haarsträhnen hindurch, die ihm in das schmale Gesicht hingen, während er sich mit den Fingern nervös die Träger der Latzhose zurechtrückte. Seine braunen Augen blitzten lebhaft, und er warf seiner Mutter ein unsicheres Lächeln zu, das eine wortlose Frage in sich trug.
Abigail tat ihr Bestes, es zu erwidern, während sie Ruby in den Blick nahm. »Mein Sohn...«, sagte sie und stockte. »Er, er ist...«
»Ein ausnehmend netter junger Bursche, wie mir scheint.«
Überrascht wandte Abigail sich um und stellte fest, dass der Prediger von der Kutsche gestiegen war und nun nur zwei Schritte von ihr entfernt vor den Stufen der Veranda stand. Er zwinkerte ihr verschmitzt zu und hob die Achseln.
»Moses – was für ein schöner Name. Er trägt alle Hoffnungen der Menschheit in sich, nicht wahr? Haben Sie ihn gewählt, oder war es Ralph, der seinen Sohn so nennen wollte?«
Dass er wie ein Geist so nah bei ihr aufgetaucht war, machte Abigail ein wenig Angst, doch als sie dem Prediger in die Augen sah, hatte sie unwillkürlich das Gefühl, darin so etwas wie den Glauben an eine bessere Zukunft zu finden.
Oder auch noch mehr als das. Die Züge dieses Mannes strahlten Gleichmut aus, Entschlossenheit und dabei etwas Demütiges, das seine Behauptung, ein tiefgläubiger Mensch zu sein, unterstützte.
Sie war so allein und mutlos in diesen Tagen, dass sie durchaus bereit war, die Hand eines Fremden zu ergreifen. So gewagt diese Geste auch sein mochte.
»Ich habe den Namen ausgesucht«, hörte sie sich murmeln und starrte den Mann, der in der leicht gebückten Haltung auf dem Kutschbock fast gedrungen gewirkt hatte, ein wenig verwirrt an.
Denn nun schaute er plötzlich auf sie herab, und sein Schatten erschien groß wie ein Baum, obwohl sie zwei Stufen über ihm auf der Veranda stand.
Es fühlte sich an, als könne sie nicht mehr genug Luft in ihre Lungen ziehen, daher kam der nächste Satz nur noch als ein leises Krächzen über ihre Lippen: »Und wie heißen Sie, Mister?«
Er lächelte breit und trat zwei Schritte zurück, als hätte er ihre Beklemmung bemerkt und wolle ihr die Gelegenheit geben, ihn aus freien Stücken willkommen zu heißen.
»Mein Name ist Hades, Mrs. Winford. Ruby, meine Nichte, hat sich ja bereits selbst vorgestellt. Wir reisen über Land, um Gottes Wort zu verkünden und jedem, der unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchte, gegen Kost und Logis zu Diensten zu sein.«
✰
»Was soll das heißen – er ist tot?«
Entgeistert beugte Lassiter sich vor und stützte die Hände auf die Schreibtischplatte des Sheriffs. Er glaubte, sich verhört zu haben.
Eigentlich hatte er im Office des Ordnungshüters nur nach dem Weg zur Farm seines alten Freundes Ben »Hickory« Dust fragen wollen, denn seit Hickory sich aufs Altenteil nach Südtexas zurückgezogen hatte, war es Lassiter nicht einmal gelungen, ihn dort zu besuchen.
Ein Brief von Dust an sein Postfach in Washington hatte ihn erst nach Wochen erreicht, weil er sich lange Zeit im Westen aufgehalten hatte. Hickorys Zeilen hatten beunruhigend geklungen.
Seine mexikanische Ehefrau war an einem Schlangenbiss gestorben, und Hicks schrieb in einer Art über den Verlust seiner Lebensgefährtin, die in Lassiter die Sorge keimen ließ, der alte Kämpe würde sich etwas antun. Sofort hatte er ein Telegramm geschickt und seinen Besuch angekündigt.
Die Antwort von Hicks kam rasch und war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert gewesen.
Zum einen schien sein Freund den Kummer nicht nur überwunden zu haben, sondern sprühte regelrecht vor neuer Lebensfreude. Das fast schon geschwätzige Telegramm musste Dust ein kleines Vermögen gekostet haben. Außerdem schien der alte Schwerenöter bereits eine Seelentrösterin gefunden zu haben, die ihm über den Verlust von Marisol hinweghalf.
Ihr Name ist Ruby, und sie ist einfach umwerfend. Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen, Lassiter – aber sei gewarnt: Sie ist mein Weib, und schon bald werden wir das offiziell machen. Den Segen ihres Onkels haben wir, und ich glaube, Gott hat beschlossen, mir altem Gerippe an seinem Lebensabend noch einmal eine glückliche Zeit zu bescheren. Wenn du kommst, kannst du vielleicht ja noch einmal mein Trauzeuge sein. Ich freue mich auf dich.
»Tut mir leid, Mister. Kannten Sie Mr. Dust näher?«
Die Stimme des Sheriffs brachte Lassiter zurück in die Gegenwart, und er nickte.
»Sicher. Wir waren alte Freunde.«
»Gibt es Angehörige? Mr. Dust lebte sehr zurückgezogen, und hier in Gapton weiß niemand viel über ihn. Seine Gattin hat er ja im vergangenen Herbst zu Grabe getragen, und wir haben kein Testament gefunden.«
Lassiter schaute auf. »Er hat einen Bruder in Wisconsin. Robert Dust, betreibt einen Kolonialwarenladen in Shepards Creek«, brummte er und legte kurz darauf die Stirn in Falten. »Was ist mit seiner Braut, Ruby...?«
»Seine Braut?« Der Sheriff lehnte sich auf dem Stuhl zurück und musterte Lassiter forschend. »Also, wenn Sie mich fragen, hätte es mich gewundert, wenn die Ihren Freund tatsächlich geheiratet hätte.« Als er Lassiters grimmige Miene bemerkte, hob er beschwichtigend die Hände.
»Nichts für ungut, Sir. Ich möchte Verstorbenen nicht zu nahe treten, aber das Mädchen ist höchstens zwanzig und ein verdammt scharfes Luder. Auch wenn sie immer diese hochgeschlossenen Klamotten trug und einen auf Nonne gemacht hat.«
Lassiter hob die Augenbrauen. »Klingt, als mochten Sie sie nicht besonders.«
Der Sternträger lachte kehlig. »Wie man's nimmt. Ein hübsches Ding war sie allemal, aber ich hab ihr nicht über den Weg getraut. Sie und ihr Onkel kamen daher wie Wanderprediger, ständig hat der Kerl die Bibel zitiert und sich ganz demütig gegeben. Aber wenn Sie mich fragen, war das nur eine Masche, um sich das Vertrauen von Leuten zu erschleichen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Leuten wie Mr. Dust eben.«
»Und wenn Sie so einen Verdacht hegten, Sheriff«, knurrte Lassiter, »dann haben Sie wohl auch genauer hingesehen, als Hickory so plötzlich zu Tode kam.«
Die Züge des Sternträgers verspannten sich ein wenig, und er nahm Haltung an. »Selbstverständlich«, brummte er. »Doc Harris hat den Toten untersucht, aber es gab keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung. Dust ist schlicht an einem Herzinfarkt gestorben, so steht es auch im Totenschein. Wenn Sie wollen, kann ich ihn gern für Sie heraussuchen.«
»Später vielleicht«, entgegnete Lassiter. »Was ist mit Ruby und Ihrem Onkel?«
»Abgereist, vor zehn Tagen.«
»Ihr Ziel haben Sie Ihnen wohl kaum mitgeteilt.«
Der Sheriff schüttelte wortlos den Kopf und wirkte allmählich so interessiert an dem Gespräch, als würde Lassiter über die Teeernte in Südostindien räsonieren.
Der große Mann dachte einen Moment nach, bevor er den Sternträger wieder in den Blick nahm. »Ich würde mich gern ein wenig umsehen auf Hickorys Farm. Wenn Sie dagegen nichts einzuwenden haben.«
Der Sheriff zuckte die Achseln und öffnete eine Schublade an seinem Schreibtisch. Er zog ein Schlüsselbund hervor und schob es über die Tischplatte. »Machen Sie nur«, brummte er. »Aber viel werden Sie dort nicht mehr finden.«
Lassiter runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
»Die beiden sind jedenfalls nicht mit leeren Händen abgehauen«, gab der Sheriff mit humorlosem Grinsen zurück.
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Die Schlüssel erwiesen sich als überflüssig, denn die Tür des Farmhauses war nur angelehnt, und auch die Tore der Scheune standen offen. Von Tieren war weit und breit nichts zu sehen; entweder hatten Leute aus Gapton sie geholt oder Ruby und ihr Prediger-Onkel hatten sie mitgenommen.
Unter seinen Stiefeln knarrten leise die Bodendielen, als Lassiter das Haus betrat und sich umschaute. Er sah sofort, was der Sheriff gemeint hatte.
Es sah zwar nicht aus, als hätten Plünderer gewütet, doch der Anblick kam dem recht nah.
Die Laden der Kommoden und Schränke waren nur nachlässig zur Hälfte zugeschoben, und überall lagen leere Schachteln, Utensilien, Kleiderstücke und Papiere verstreut, die wohl als nicht wertvoll genug eingeschätzt worden waren, um sich damit zu belasten. Auf dem Esstisch stand eine Schatulle aus Kirschholz mit Kupferbeschlägen, deren Innenfächer mit dunkelrotem Samt ausgeschlagen waren. Es sah aus, als wäre darin Schmuck aufbewahrt worden, vermutlich der von Hickorys verstorbener Gattin Marisol; doch die Schatulle war leer bis auf einen vernickelten Hosenknopf.
Lassiter trat an den Kamin und betrachtete die darüber hängende Fotografie. Sie zeigte Hicks und Marisol an ihrem Hochzeitstag vor der St. Philips Chapel in Austin. Lassiter erinnerte sich noch gut daran, obwohl seitdem fast sechs Jahre verstrichen waren, denn es war der Tag gewesen, an dem er seinen Freund zum letzten Mal gesehen hatte.
Der Bilderrahmen hing schief auf dem Nagel, und Lassiter rückte ihn gerade. Dabei fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der hinter einem Sessel neben dem Kamin auf dem Boden lag und vom Licht, das durch das Fenster hereinfiel, matt zum Glänzen gebracht wurde. Er bückte sich und griff hinter die Sesselbeine, um kurz darauf ein Fläschchen aus braunem Glas in der Hand zu halten.
Es trug kein Etikett, doch er sah, dass sich noch drei Pillen darin befanden.
Lassiter runzelte die Stirn. Hätte ein Apotheker oder ein Doktor Hickory Tabletten verschrieben, müsste sich eigentlich ein Zettel auf dem Fläschchen befinden, mit dem Namen des Medikaments und der vorgeschriebenen Dosierung. Außerdem hatte Hicks in seinen Briefen nie von Krankheiten gesprochen, die die Einnahme von Medizin erforderten – im Gegenteil. Der Alte war stets stolz auf seine ungebrochene Gesundheit gewesen.
Das schloss natürlich nicht aus, dass die Wahrheit eine andere gewesen war, schließlich neigten ältere Herren wie Ben Dust dazu, ihre Konstitution schönzureden. Und ein Etikett konnte sich auch lösen und verlorengehen.
Lassiter steckte die Flasche ein und nahm sich vor, Doc Harris danach zu fragen.
Er ließ sich Zeit mit der Inspektion des Hauses und ging dabei systematisch vor. Raum für Raum wurde bis ins Detail unter die Lupe genommen, doch das Interesse des Brigadeagenten wurde dabei weniger von Dingen geweckt, als vielmehr vom Fehlen derselben.
In der Küche waren die Laden fast komplett leer. Kein Besteck, keine Küchenmesser, nicht einmal ein Korkenzieher.
Die Kammer neben den Schlafzimmern, in der ein Schreibpult darauf hindeutete, das Hicks sie als Büro benutzt hatte, sah aus, als wäre sie gerade erst eingerichtet worden. Lassiter fand Briefpapier, Kuverts, Stifte und einen alten Füllfederhalter, ein paar zerlesene Bücher und eine Dokumentenmappe, in der sich vermutlich wichtige Unterlagen wie Besitz- und Geburtsurkunden befunden hatten.
Doch die Mappe war leer.
So leer wie der Waffenschrank im kurzen Flur zwischen der Stiege nach oben und dem Wohnzimmer. Keine Spur von Hickorys Navy Colt, der Spencer Rifle und seinem geliebten Henry-Stutzen.
Gut möglich, dass der Sheriff und seine Männer die Feuerwaffen sichergestellt hatten, was auch für die Dokumente galt. Doch hätten sie bei Letzteren die Ledermappe zurückgelassen? Fragen, die sich nach seiner Rückkehr in die Stadt schnell klären lassen würden.
Über eines war sich Lassiter jedenfalls schon jetzt im Klaren: Eine trauernde Verlobte hätte nach dem plötzlichen Ableben ihres zukünftigen Gatten wohl kaum alles von Wert zusammengerafft, um sich dann in Windeseile davonzumachen.
Wenn Ruby und Hicks tatsächlich vorhatten zu heiraten, wäre sie dann nicht besser beraten gewesen, auf seinen gesamten Nachlass zu spekulieren, sich vielleicht sogar einen Anwalt zu nehmen, um eventuelle Ansprüche durchzusetzen? Ganz egal, wie aufrichtig ihre Gefühle dem alten Mann gegenüber waren?
Stattdessen hatten sie und ihr Onkel die Farm so rasch verlassen, dass es fast einer Flucht gleichkam.
Es lag auf der Hand, dass da einiges faul war – und zwar mehr, als Lassiter sich zu diesem Zeitpunkt zusammenreimen konnte.
Vielleicht hatte Hickory Verdacht gehegt, war argwöhnisch geworden. Vielleicht hatte die junge Frau ihn zu sehr bedrängt, so dass ihm Zweifel gekommen waren über ihre wahren Beweggründe. Vielleicht war ihm aufgegangen, dass sie nur auf sein Geld aus war, und er hatte ihr den Laufpass gegeben.
Und diese Entscheidung mit dem Leben bezahlt.
Vielleicht, vielleicht. Was ihm fehlte, waren mehr Fakten.
Einige davon würde er in Gapton erhalten. Weitere vielleicht durch ein Telegramm, dass er noch an diesem Tag nach Washington zu schicken beabsichtigte.
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