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Wie aus dem Nichts brach jemand durch das Unterholz, taumelte den Abhang herab und zwang Lassiter zu einem brutalen Zerren an den Zügeln. Der Wallach ging fast auf die Hinterläufe, kam aber knapp vor einem Mann zum Stehen, der mitten auf der Straße zusammenbrach.
Mit einem Fluch auf den Lippen glitt Lassiter aus dem Sattel und ging vor dem am Boden Liegenden in die Hocke. Er griff nach dessen Schulter und drehte ihn herum. Scharf stieß der Brigadeagent die Luft aus, als er in blutrote Augen schaute.
"Pal Athens", keuchte der Mann und packte ihn am Ärmel. "Sie müssen ..." Unvermittelt ging seine Stimme in ein Husten über, bevor er die Augen verdrehte und das Bewusstsein verlor.
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Hexensabbat in Pal Athens
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Boada / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0686-5
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Hexensabbatin Pal Athens
Wie aus dem Nichts brach jemand durch das Unterholz, taumelte den Abhang hinab und zwang Lassiter zu einem brutalen Zerren an den Zügeln. Der Wallach wieherte, ging fast auf die Hinterbeine, kam aber knapp vor einem Mann zum Stehen, der mitten auf der Straße zusammenbrach. Mit einem Fluch auf den Lippen glitt Lassiter aus dem Sattel und ging vor dem am Boden Liegenden in die Hocke. Er griff nach dessen Schulter und drehte ihn herum, was von einem Stöhnen beantwortet wurde. Scharf stieß der Brigadeagent die Luft aus, als er in blutrote Augen schaute.
»Pal Athens«, keuchte der Mann und packte ihn am Ärmel. »Sie müssen ...« Unvermittelt ging seine Stimme in ein Husten über, bevor er die Augen verdrehte und das Bewusstsein verlor.
Ungläubig starrte der Agent der Brigade Sieben für einige Augenblicke auf das kalkweiße, vor Schweiß glänzende Gesicht hinab, bevor er die Schulter des Mannes am Boden behutsam schüttelte.
»Hey, Mister ...«, versuchte er den Unbekannten wieder zur Besinnung zu bringen, spürte aber sofort, dass er damit keinen Erfolg haben würde. Der Körper des Mannes fühlte sich so schlaff an, als hätten ihn seine Lebensgeister bereits endgültig verlassen.
»Goddam ...«
Lassiter legte zwei Finger an den speckigen Hals des Mannes und versuchte, die Halsschlagader zu ertasten. Er glaubte, ein schwaches Pulsieren zu spüren, war sich aber nicht sicher. Also legte er sein Ohr auf die Brust des am Boden Liegenden und horchte auf einen Herzschlag. Mit ähnlichem Ergebnis.
Der Brigadeagent richtete sich auf und warf einen Blick über die im Dämmerlicht liegende Poststraße, die links und rechts von dichtem Wald gesäumt wurde. In beiden Richtungen war weit und breit kein Lebenszeichen zu entdecken, was ihn nicht weiter verwunderte.
Seit er zur Mittagszeit den parallel zur Bahnstrecke verlaufenden Overlandtrail zwischen Omaha und Sidney verlassen hatte, war ihm keine Menschenseele mehr begegnet. Die Great Sand Hills im Norden von Nebraska zählten immer noch zu den einsamsten Regionen eines ohnehin nur dünn besiedelten Bundesstaates, der erst nach dem Bürgerkrieg Mitglied der USA geworden war.
Er warf seinem Pferd einen kurzen Blick zu, und als der Wallach mit einem Schnauben antwortete, zuckte Lassiter die Achseln und griff dem leblosen Mann unter die Achseln, um ihn von der Straße zu ziehen.
Kaum hatte der Brigadeagent den massigen Körper bis zum Straßenrand geschleift, als der plötzlich und unerwartet wieder zum Leben erwachte.
»Haaaarrrrrhhh ...!«
Lassiter war so überrascht, dass er nicht nur die Hände wegriss und zwei Schritte rückwärts machte, bis er fast im Graben landete, sondern seinerseits erschrocken ausrief: »Bloody hell!«
Der Mann sackte unsanft zu Boden, was ihn aber nicht davon abhielt, sich auf den Bauch zu drehen und den Kopf zu schütteln wie ein nasser Hund. Dabei fiel ihm das lange, dunkelbraune Haar ins Gesicht, und als er schnaubte, tropfte ihm Rotz aus der dicken, rot geäderten Nase.
Er glotzte Lassiter an, als würde er ihn für eine Sinnestäuschung halten. Das früher einmal Weiße, Iris und Pupille in seinen Augen schwammen in dunklem Rot und waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
Der Mann stützte sich auf seinen Ellenbogen ab und öffnete den Mund, doch statt Worten kam nur rosafarbener Speichel über seine Lippen und bildete Blasen in den Mundwinkeln und auf dem vorspringenden Kinn.
Himmel! Das könnte Tollwut sein!, schoss es Lassiter schlagartig durch den Kopf. Er hob abwehrend beide Hände und wich einen weiteren Schritt zurück.
»Hören Sie, Mister«, sagte er leise, »können Sie mich verstehen? Dann sagen Sie mir Ihren Namen und woher Sie kommen.«
Der Mann schien tatsächlich zu lächeln, doch zwischen dem schaumigen Speichel rund um seinen Mund war das nicht eindeutig zu erkennen.
»Hrchhhhiii Garrrwinn ...«, röchelte er.
Lassiter hob beide Hände und hielt dem blutigen Blick stand. »Schon okay, Sir«, brummte er und bemühte sich um einen gelassenen Tonfall. »Nur die Ruhe.«
Das wenige, was er über Tollwut wusste, reichte, um dem am Boden Liegenden nicht näher kommen zu wollen. Gleichzeitig erinnerte er sich auch daran, dass Menschen und Tiere, die diesen teuflischen Virus in sich trugen, extrem empfindlich auf Helligkeit, laute Geräusche und unruhige Bewegungen reagierten.
Also war die hereinbrechende Dunkelheit wohl ein Segen für den bemitleidenswerten Mann, und er wollte dessen Qualen keinesfalls verschlimmern, indem er seine Stimme erhob oder seine Nervosität erkennen ließ.
»Ich werde Hilfe holen, okay?«, sagte Lassiter leise und ging dabei in die Hocke, um vier Schritte von dem Mann entfernt dessen Blick einzufangen. Denn der ließ mittlerweile den Kopf hängen und spuckte Blut in den Dreck am Straßenrand.
Lassiter schob sich den Stetson in den Nacken und legte die Stirn in Falten.
Pal Athens. Das hatte der Mann vor ein paar Minuten noch hervorgebracht. Und jetzt erinnerte sich der Brigadeagent auch daran, vor knapp einer Stunde ein Schild am Wegesrand wahrgenommen zu haben, auf dem dasselbe gestanden hatte.
»Ssssssiiiieee düüffnnnn nitt...«
Lassiter fuhr hoch, und als der Mann ihn aus diesen trüben roten Augen anstarrte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
»Iiiiieeecchhh...« Die Stimme erstarb in einem feuchten Gurgeln, und Lassiter musste entsetzt zusehen, wie ein blutiger Schwall aus der Kehle des Mannes kam, dessen Kinn rot färbte und er ein letztes Mal hustete und ächzte, bevor sein Gesicht in die rote Lache am Straßenrand sackte und er sich nicht mehr rührte.
Lassiter erhob sich, presste die Lippen zusammen und ging zum Wallach zurück. Er zog eine Decke hinter dem Sattel hervor und breitete sie über dem reglosen Körper aus, bevor er auf den Rücken seines Pferdes stieg.
»Pal Athens – 20 Meilen« hatte auf dem Schild gestanden.
Er ging davon aus, dass die Stadt in unmittelbarer Nähe lag.
✰
»Juli, du bist doch wirklich alt genug, fast schon erwachsen.«
Die Miene der Frau mit der dunklen Mähne, die bis zum Gürtel über ihren Rücken fiel und von silbrig glänzenden Strähnen durchzogen war, veränderte sich nur um eine Nuance von der gewohnten Gleichmut zu einem Anflug von Strenge.
Sie thronte auf einem Stuhl mit überlanger, von kunstvollen Schnitzereien verzierter Rückenlehne. An ihrer Seite saßen zwei Frauen auf schlichteren Möbelstücken, und alle drei blickten von dem Podest an der Stirnseite des kleinen Gemeindesaals auf eine junge Delinquentin herunter, die man gezwungen hatte, auf dem Boden zu knien.
Die Angesprochene schob trotzig die Unterlippe vor und starrte auf die dunklen Dielenbretter. Die beiden Frauen links und rechts der Bürgermeisterin furchten ihre Stirnen angesichts der Renitenz des jungen Mädchens.
»Jetzt mach endlich den Mund auf, Juli!«, zischte Sarah zwischen zusammengepressten Lippen hindurch. Sie rieb sich die Hände, als würde sie ein unsichtbares kleines Tier erwürgen. »Wo ist dein Vater hin? Wir wissen alle, dass er niemals abhauen würde, ohne dir zu sagen, wohin er will.«
»Und du weißt, er kommt ohnehin nicht davon«, ergänzte Fedora mit einem kalten Lächeln. »Wenn du uns verrätst, was dein Vater vorhat, rettest du ihm vielleicht das Leben. Niemand weiß, ob und wie lange er ohne das Gegengift überlebt.«
Erschreckt schaute Juliette auf und bereute es sofort. Denn als sie in die selbstgefällig lächelnden Gesichter blickte, ahnte sie, dass Fedoras Worte sie nur aus der Reserve hatten locken wollen.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, stieß sie hervor und ballte unbewusst die Hände zu Fäusten. »Selbst wenn ihr mich grün und blau prügelt, werdet ihr nicht mehr erfahren.«
Die Frauen tauschten kurze Blicke, bevor die Langhaarige, die ganz in helles Leder gekleidet war wie eine Indianerin, schließlich seufzte. »Sie weiß wirklich nichts«, verkündete sie, als könne sie Juliettes Gedanken lesen, und zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Dennoch musst du deine Tochter bestrafen, Sarah. Als sie die Flucht ihres Vaters nicht gemeldet hat, hat sie sich gegen die Gemeinschaft gestellt, und das können wir nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
Juliette presste grimmig die Lippen zusammen, und ihr lag eine wütende Antwort auf der Zunge. Doch sie wusste, dass jedes Aufbegehren zwecklos war – ihre Strafe würde dadurch nur noch strenger ausfallen.
»Zehn Stunden im Schacht sollten reichen, um ihr Vernunft beizubringen.«
»So sei es«, hörte Juliette ihre Mutter murmeln, bevor Sarah sie mit hartem Griff auf die Beine zog.
Als die Tür des Gemeindehauses kurz darauf hinter ihnen hart ins Schloss fiel, hielt Juliette den Kopf immer noch gesenkt, denn sie wollte ihrer Mutter nicht in das gefühlskalte Antlitz schauen.
Ihre Haltung – das Haupt gesenkt und die Schultern gebeugt wie eine zum Tode Verurteilte auf dem Weg zum Schafott – bewahrte sie davor, den Blicken der Leute begegnen zu müssen, als sie von Sarah und Fedora hinaus auf den Platz geführt wurde.
Das Raunen und höhnische Gemurmel war schlimm genug.
»Ich weiß, dass du lügst!«, zischte Sarah neben ihr, und die Finger, die ihren Unterarm umklammerten, schlossen sich so fest um Fleisch und Knochen, dass Juliette sich schmerzerfüllt auf die Unterlippe biss.
Nie hatte sie Mutter mehr gehasst als in diesem Moment.
Ein rostiges Knirschen bewog sie, vorsichtig ein wenig den Kopf zu heben. Sie blickte auf ein Paar lederne Stiefel und ein eisernes Gitter, das sich vor ihr hob und den Weg freigab auf steil abfallende Stufen, die in einen dunklen Schacht führten.
Das Raunen wurde lauter, während sie auf die erste Stufe trat. Ein verstohlener Seitenblick ließ sie blinzeln, weil hinter den Dächern der Stadt die Sonne unterging und ihr einen letzten wärmenden Strahl schenkte.
»Jetzt geh schon«, hörte sie Sarah hinter sich, und im nächsten Moment ließ sie ein grober Stoß in den Rücken ein paar Stufen auf einmal hinab taumeln.
Der Geruch war ekelerregend, und Juliette hielt unwillkürlich den Atem an. Obwohl ihr natürlich klar war, dass sie das nicht lange würde durchhalten können.
Die Stufen unter ihren nackten Füßen fühlten sich feucht und glitschig an, und sie bewegte sich vorsichtig, während über ihr das schwere Gitter zugeworfen wurde.
Zehn Stunden, dachte sie und versuchte, durch den Mund zu atmen, während sie sich auf den Stufen niederließ.
Zehn Stunden. Ich bleibe einfach hier auf der Treppe sitzen, bis sie mich wieder rausholen.
Sie faltete die Hände und begann zu beten. Sie flehte Gott um Hilfe an für ihren Vater und hoffte, dass er Hilfe finden möge, bevor ihn das Gift übermannte.
✰
»Findest du das eigentlich in Ordnung?«, wagte Geoffrey Winter zu fragen, während er das Abendessen auf den Tisch stellte. Heute gab es Hackbraten mit Frühkartoffeln, dazu Buttermais, Karotten und gebratene Zwiebeln.
Er schwitzte und nahm die geblümte Schürze ab, bevor er die Schüsseln und die Platte mit dem Fleisch auf dem Tisch zurechtrückte und sich dabei bemühte, alles auf vortrefflichste Art zu arrangieren. Hastig zog er ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn trocken, denn er wusste, dass Alma es hasste, wenn sie ihn so sah.
Ein Blick in Richtung der offenen Tür zum Nebenzimmer verriet ihm, dass seine Frau noch nicht bereit war, ihm zu antworten. Vermutlich saß sie vor dem Spiegel über ihrem Toilettentisch und machte sich zurecht, wobei er wusste, dass das nicht für ihn geschah. Meist betrachtete Alma sich einfach nur gern selbst dabei, wie sie sich schminkte und ihr Haar zu Zöpfen flocht.
Lautes Geschrei bewog Winter dazu, den Kopf zu heben und für einen Moment aus dem Fenster zu schauen. Ein junger Bursche in ausgewaschenen Latzhosen floh über die Mainstreet, gefolgt von einer Frau mit der Statur eines Ringers, die einen Karabiner im Hüftanschlag hielt und keine Eile zu haben schien, während sie den Repetierbügel betätigte. Es war Meredith Hancock, die Hufschmiedin, und ihre groben, missmutigen Züge ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie zu allem entschlossen war.
Der laute Knall, der kurz darauf die Scheibe zum Zittern brachte, ließ Winter zusammenzucken.
»Was meinst du?«
Er fuhr herum. Seine Frau stand in dem Türsturz zum Nebenzimmer und starrte ihn auf eine Weise an, die Winter postwendend den Blick senken ließ.
»Ich ...« Er fühlte sich wie ein kleiner Junge und schämte sich dafür. »Ich finde nur, Juliette Goodwin hat das nicht verdient. Sie hat doch gar nichts getan.«
Genau so wenig wie Archie, dachte er und sah seine Frau mit großen Schritten auf sich zukommen.
»Wann habe ich dir erlaubt, eine Meinung zu haben?«
Sie holte aus und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.
Er prallte rückwärts gegen die Wand, schmeckte Blut auf den Lippen und rutschte neben dem Geschirrschrank zu Boden. Rasch wandte er sich ab und hob schützend die Arme vors Gesicht, weil er befürchtete, dass sie weiter machen würde. In der Erwartung von Tritten, Schlägen und hämischen Sprüchen duckte er sich und biss die Zähne zusammen.
Doch auch Alma war der Schuss nicht entgangen, und sie war eine sehr neugierige Person. Also fiel neben ihm vernehmlich die Tür ins Schloss, und er traute sich, den Blick zu heben.
Allmählich gelang es ihm, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen und zu atmen, als wäre die Welt um ihn herum eine ganz normale. Vorsichtig lugte er über das Fensterbrett nach draußen.
»Vater im Himmel«, flüsterte er. »Lass all dies an uns vorübergehen ...«
Neben dem Brunnen hatte sich eine Gruppe von Frauen versammelt, zu der Alma sich gesellte. Meredith Hancock hatte sich den Lauf ihres Karabiners über die Schulter gelegt, die Hand immer noch um Bügel und Abzug, und blickte mit kalter Miene hinunter auf den reglosen Körper, der in der Mitte der Frauen im Staub lag.
War das Oscar Moorcock, dessen Mutter im letzten Frühjahr gestorben war? Winter war sich nicht ganz sicher, da er das Gesicht des jungen Burschen in der Abenddämmerung nicht richtig hatte sehen können. Aber er hielt es für wahrscheinlich. Bei mutterlosen jungen Burschen reichte manchmal schon ein kleines Vergehen, um ihr Lebensrecht zu verwirken.
Moorcocks Vater war bereits vor Jahren der Großen Neuordnung zum Opfer gefallen. Er war Herausgeber des Herald, dem bescheidenen Wochenblatt von Pal Athens gewesen, und hatte den Fehler begangen, sich Rachel Wakootas Vorstellungen einer neuen Gesellschaft entgegenzustellen. Wie eine Reihe weiterer Männer in der Stadt hatte er diesen Mangel an Aufgeschlossenheit mit dem Leben bezahlt.
Bis zum heutigen Tag blieb es für Winter schleierhaft, wie es so weit hatte kommen können. Wie es einer Frau, der Squaw einer verdammten Rothaut, gelungen war, eine ganze Stadt in ihre Gewalt zu bringen.
Vermutlich waren die Tinkturen und Tränke, die der Indsman zusammenbraute, zu einem guten Teil verantwortlich dafür gewesen. Aber vielleicht hatten er und seine Hexenfrau auch irgendeinen teuflischen Zauber angewandt, um die Köpfe der Frauen von Pal Athens zu verwirren und ihre Herzen zu vergiften.
Eigentlich war Winter ein bodenständiger Mann, der nicht an Ammenmärchen von Hexerei, Dämonen und Verwünschungen glaubte. Doch es gab wohl niemanden, der die unheimlichen Vorgänge in dieser Stadt miterlebt hatte, ohne dass sein festgefügtes Weltbild gehörig erschüttert worden war.
Allerdings hatten auch ein paar ganz reale Umstände Rachel Wakootas Vorhaben, in Pal Athens die Macht zu übernehmen und einige althergebrachte Grundsätze ins Gegenteil zu verkehren, begünstigt.
Zum einen war das der Sezessionskrieg gewesen, der erst vor acht Jahren beendet worden war. Ein Krieg, für den diese Stadt einen exorbitanten Blutzoll geleistet hatte.
Fast die Hälfte der männlichen Bürger von Pal Athens war im Bürgerkrieg gefallen, und hinzu kam noch, dass in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ungewöhnlich viele Töchter das Licht der Welt erblickt hatten.
Woraus umgekehrt folgte, dass im Spätsommer des Jahres 1868, als Rachel mit ihrem Gefährten in der Stadt ankam, etwa drei Viertel der Einwohner von Pal Athens weiblichen Geschlechts war. Eine komfortable Mehrheit der Bevölkerung also, bei der Rachels Vision eines archaischen Matriarchats auf offene Ohren stieß.
Zum zweiten war die Stadt mitten im Nirgendwo, weit ab von großen Straßen und Bahnlinien, ein derart isolierter Ort, dass deren Einwohner leicht zu beeinflussen und zu kontrollieren waren. Nur eine Hand voll Pal Athener hatte in ihrem Leben die Grenzen der Stadt weiter hinter sich gelassen als bis zu den Weiden und Feldern im Osten und Süden. Und selbst als es den Herald noch gegeben hatte, war darin kaum einmal über etwas berichtet worden, was sich außerhalb von Pal Athens zutrug.
Sogar vom Ende des Krieges hatten die Bürger erst zwei Monate nach der Kapitulation der Südstaaten erfahren, als sich ein Siedlertreck auf dem Weg nach Westen in die Stadt verirrte. Weder Postkutschen noch Handlungsreisende hatten Pal Athens auf ihrer Route, und das störte ihre Bürger auch nicht weiter. Sie waren sich immer selbst genug gewesen.
Und damit zu perfekten Opfern geworden. Eine Herde tumber Schafe, die sich bereitwillig von Rachel und ihrem indianischen Gefährten zu Untertanen machen ließ.
Natürlich war das nicht im Handstreich geschehen. Rachel war sehr geduldig und geschickt vorgegangen, hatte sich anfangs bescheiden und hilfsbereit gegeben, und ihr Mann, dem die Weißen instinktiv mit Argwohn begegnet waren, hatte sich im Hintergrund gehalten.