Lasst Blumen sprechen! Wenn Redensarten lebendig werden - Martina Meier (Hrsg.) - E-Book

Lasst Blumen sprechen! Wenn Redensarten lebendig werden E-Book

Martina Meier (Hrsg.)

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Blumen sprechen und Besen zum Abendessen serviert werden – willkommen in der wunderbaren Welt der Redewendungen! Es begann ganz harmlos: Ein Gespräch mit jemandem, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist. „Lasst Blumen sprechen“, sagte ich – und mein Gegenüber lächelte selig: „Bei euch können Blumen reden? Wie fantastisch!“ Und genau da war sie geboren, die Idee für dieses Buch: Was passiert, wenn wir unsere liebsten Redewendungen plötzlich wörtlich nehmen? Stellen Sie sich vor, jemand wirft wirklich ein Auge auf jemanden. (Autsch!) Oder Sie fallen buchstäblich aus allen Wolken – direkt auf die nächste Parkbank. Wir treffen Affen im Porzellanladen, stehen ratlos auf einem gigantischen Gartenschlauch und wundern uns, warum alle nur Bahnhof verstehen. In dieser Anthologie machen wir aus Redewendungen lebendige, schräge und herrlich absurde Geschichten – eine wortwörtliche Spielwiese für Sprachliebhaber und Fantasten. Ein Buch für alle, die gerne um die Ecke denken – und manchmal auch direkt vom Acker machen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



o

Lasst Blumen sprechen!

Wenn Redensarten lebendig werden

Martina Meier (Hrsg.)

o

Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.eu

© 2025 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2025.

Titelbild: © Elena Schweitzer - Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-99051-342-2 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-355-2 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

Seichte Tümpel sind tiefgründig

Indisches Blumenrohr

Lies mich!

Etwas in Worte fassen

Ein Tag mit vielen Wendungen

Vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen ...

Sprichwörter

Die nackte Wahrheit

Was willst du damit aussagen?

Frühmorgens im Garten

Ich schicke ihn in die Wüste

Die Strelitzie: Ein Geschenk für einzigartige Menschen

Das selbst gewählte Schicksal

Sonnenblume

Das Gras ist grüner auf der anderen Seite

Die Kirche lassen wir im Dorf

Kauderwelsch

Zwei Körbe

Zu Tisch

Der Ohrwurm

Fakt

Selbstgestricktes

Examen

Omamas Schokoladen-Brownies

Haselstrauch-Außergewöhnliche

Wo der Faden verloren geht

Süße Verführung

Wunschträume

Es wird Zeit

Mariendorf

Kriegsmüde

Grüne Liebe

Kleiner Blumengruß

Von Lügen und zu kurzen Beinen

Sonderbare Blüten

Die Waffelrolle

Schmeckt’s!?

Beziehungszoff

Hüterinnen der Zeit

Ein missglückter Zauber

Kleines Missgeschick

Auf dem absterbenden Ast

Literarisches Krafttraining

Geschenke des Glücks

Krokus Waldemar

Frühlingsgefühle zu Reggaeton

Wenn eine Tür sich schließt …

Tonlage

Was lange währt, ist ungesund!

Durch die Blume

Ardurianische Katzen

Es lebe das Handwerk

*

Die Autorinnen und Autoren

Alexandra Richter

Alina Baitinger

Andrea Tillmanns

Andreas Herkert-Rademacher

Astrid Holzmann-Koppeter

Barbara Korp

Christian Günther

Christian Imhof

Christian Reinöhl

Claudia Dvoracek-Iby

Coelia Altermatt

Dörte Müller

Florian Geiger

Hans Peter Flückiger

Hartmut Gelhaar

Helga Licher

Ingrid Baumgart-Fütterer

Irena Habalik

Juliane Barth

Karen Schröder

Katharina Kanzan

Kaya Briks

Kristin Hogk

Luna Day

Manfred Luczinski

Manuela Klemenz

Marcel(lo) Friedli-Schwarz

Mila Alieva

Miriam Peter

Oliver Fahn

Priska Fiebig

Ramona Antonia Vogler

Sieglinde Seiler

Silke Buchta

Simone Lamolla

Susanne Ulrike Maria Albrecht

Syelle Beutnagel

Tita Schindhelm

Vanessa Boecking

Wolfgang Rinn

Wolfgang Rödig

Zero Alala

*

Prolog

Sprichwörtliches und Redensart,

hier wurde nicht an Text gespart.

Und die Autoren, diesbezüglich,

hoffen, er liest sich auch vergnüglich.

Denn wer schreibt, will seine Zeilen

gerne auch mit anderen teilen.

Mal in Dur und mal in Moll

gibt er sein Werk zu Protokoll.

In allem steckt so irgendwie

unverblümt auch Poesie.

Dem Leser bleibt nun vorbehalten,

an welchem Text sich Geister spalten.

Hartmut Gelhaar, Jahrgang 1948, Rentner, lebt in Wernigerode. Hat bereits in mehreren Anthologien veröffentlicht. Eigene E-Buch Publikationen unter bookrix,de/-texter, eigener Podcast unter Youtube: „Lyrik für die Ohren“.

*

Seichte Tümpel sind tiefgründig

Es begann ganz plötzlich und unglücklicherweise auch ganz zu Anfang. Gerade eben hatte man sich an den Tisch gesetzt, Herbert hatte vorher Frau L. aus dem Mantel geholfen und dann ihren Stuhl positioniert, alles war noch ein bisschen verkrampft, man kannte sich ja noch kaum.

Schließlich kam der Aperitif und man tauschte ein paar hin- und hergedruckste, wenig aussagende Sätze aus, als Herbert überraschend ein seltsames Gefühl in seinem Hals verspürte. Es wurde ihm eng und ja, wie ein Fremdkörper fühlte es sich in der Gegend des Kehlkopfes an.

Er räusperte sich dezent. Dann nochmals. Beim dritten Mal schon so vernehmlich, dass sich Frau L. mit leicht besorgt gerunzelter Stirn nach seinem Befinden erkundigte.

„Es ist nichts, ich muss nur etwas falsch ...“, begann Herbert, als jegliche menschliche Äußerung von einem satten „Quoak!“ unterbrochen wurde.

„Ah, es ist ganz klar, Sie haben einen Frosch im Hals!“, rief Frau L. begeistert aus und klatschte in die Hände. Sie war nun gänzlich vergnügt, mit dieser Neuigkeit versprach der Abend vielleicht doch interessant zu werden. „Gehen Sie schon, gehen Sie auf die Herrentoilette und schauen Sie nach, was es für einer ist!“, drängte sie Herbert weiter. „Hach, so wie dieser gerufen hat, ist es womöglich ein Zipfelkrötenfrosch. Oder vielleicht doch ein gestreifter Seefrosch? Nein …, wohl eher nicht. Wie aufregend wäre aber ein Panama-Stummelfußfrosch oder ein Blauer Baumsteiger!“ Die Dame war ganz aus dem Häuschen.

Herbert kannte die Namen der meisten Frösche nicht, die Frau L. da aufzählte, doch letzterer war ihm geläufig. „Aber der Blaue Baumsteiger gehört zu den Pfeilgiftfröschen und ist daher giftig“, sagte er und setzte etwas beleidigt nach. „Sicher wäre ich in Kontakt mit diesem schon längst gestorben. Und ist es überhaupt wahrscheinlich, dass ein Panama-Stummelfußfrosch hier in Deutschland plötzlich in meinem Hals auftaucht?“

„Man kann ja nie wissen“, sagte Frau L. darauf, „aber, jaja, Sie haben sicher recht! Umso nötiger, dass Sie nun endlich nachsehen, so schauen Sie doch schon! Die Spannung ist ja kaum auszuhalten!“ Sie war mittlerweile so laut geworden, dass andere Gäste schon von ihren Tischen herübersahen.

Seufzend machte sich Herbert auf den Weg zu den Waschräumen. Nach dem vorigen ersten Schreck bemerkte er nun, dass er den Frosch gar nicht mehr so sehr spürte, zumindest das Schlucken ging wieder besser. So könnte er womöglich nachher ohne Probleme trinken und essen.

Vor dem großen Spiegel bei den Waschbecken befand sich niemand, so wagte es Herbert, sich davorzustellen und seinen Mund weit zu öffnen. Er war nun selbst auch etwas gespannt auf den Frosch.

„Quuoak?“, kam es aus seinem Hals.

Nein, ein Blauer Baumsteiger war es zum Glück nicht. Auch kein chilenischer Schnapper oder was Frau L. da vermutet hatte, auch nichts Buntes oder Getüpfeltes. Ein hellbrauner, circa fünf Zentimeter großer, unscheinbarer Frosch hockte da auf Höhe seines Gaumens und sah ihn mit seinen runden, braunen Froschaugen direkt an. Seine waagerecht stehenden Pupillen fixierten Herbert über den Spiegel und so standen sie, Aug’ in Auge mit dem anderen. Standen und sahen sich an. Herbert fand, dass der Frosch trotz seiner Unscheinbarkeit eine ganz besondere Ausstrahlung besaß und er in seiner Rundheit und mit seiner wunderbar glatten Haut auch gar keine Farben oder exotischen Namen bräuchte. Er war perfekt.

Auf einmal schwang die Türe der Männertoilette auf und herein kam Frau L., aufgeregte Röte auf ihren Wagen. „Warum brauchen Sie denn so lange? Sie sind ja schon ewig hier drin und einmal nachzusehen, das müsste doch schnell gehen. Das ist aber gar nicht nett, mich so im Unklaren zu lassen!“ Lachend drohte sie mit ihrem Finger. „Na, was für ein Exemplar ist es denn nun?“

Überrumpelt und aus dem Konzept gebracht, nicht nur deswegen, da Frau L. einfach so in der Herrentoilette auftauchte, nein, auch gänzlich unterbrochen in dieser so besonderen ersten Begegnung mit SEINEM Frosch, öffnete Herbert einfach wieder seinen Mund.

„Quo-Quoak“, sagte der Frosch und glotze Frau L. groß an.

Herbert war ganz bewegt von diesem besonderen Doppellaut und dachte stolz, dass der Frosch damit gewiss Eindruck auf Frau L. machen würde.

Doch deren Begeisterung verschwand urplötzlich, ebenso wie die Röte aus ihrem Gesicht und auch ihr Lächeln. „Ein Grasfrosch“, sagte sie – und die Enttäuschung war überdeutlich zu hören. Sie merkte es und riss sich etwas zusammen. „Es ist ein Grasfrosch“, wiederholte sie lauter. „Sehr stark verbreitet, sehr durchschnittlich und sehr unscheinbar. Tja, da kann man nichts machen“, gab sie sich mit dem letzten Satz einen Ruck und ließ ein wenig die Schultern hängen. „Lassen Sie uns einfach zu unserem Tisch zurückkehren.“

Herbert folgte ihr, doch innerlich war er aufgebracht. Es gefiel ihm gar nicht, wie Frau L. da gerade über den Frosch geredet hatte. Nun gut, dieser war vielleicht kein Ausbund an etwas, das man auffällig nennen würde. Doch in seinen Augen lag etwas, das vollkommen echt und aufrichtig war. Warum war sie so enttäuscht? Herbert konnte es nicht verstehen.

Zurück am Tisch kam die Unterhaltung zwischen Frau L. und Herbert nur schleppend voran. Frau L. interessierte sich für Pferde, für irgendwelche Designer und besonders für die Einrichtung ihres neuen Hauses. Herbert wusste damit nicht viel anzufangen. Er überlegte, während er stumm die von ihm bestellte gefüllte Pute mit Pilzen und Nudeln aß, was er denn eigentlich selbst so mochte und warum er die Unterhaltung mit Frau L. als eher ermüdend empfand. Da bemerkte er, dass er trotz seines Gastes im Hals ganz hervorragend essen konnte und der Frosch sich hier und da mal einen kleinen Bissen von der Pute und der Füllung abzwackte, aber immer nur ganz wenig. Die Pilze und die Nudeln verschmähte er. Herbert freute sich, dass er wohl zumindest zum Teil den Geschmack des Frosches getroffen hatte und überlegte weiter. Was fand er interessant? Er mochte Natur, Ruhe und Frieden, Kunst, gute Bücher. Und – seit Neuestem – auch Frösche.

„Keinen Sinn …“ vernahm er da aus Richtung von Frau L. „Wie bitte? Oh, Entschuldigung, ich war gerade ganz in Gedanken. Quooaark!“, sagten Herbert und der Frosch gleichzeitig. „Ich meinte, das hier hat keinen Sinn. Daher ist es wohl besser, ich gehe nun“, sagte Frau L., sanft und ein wenig traurig. „So ganz passt das wohl nicht mit uns beiden.“

Herbert sah kurz auf seinen Teller, dann Frau L. ins Gesicht. „Nein“, meinte er dann leise, aber lächelte, um die Situation nicht noch unangenehmer zu machen. „So ist es wohl.“ Und nach kurzem Zögern fragte er: „Soll ich Sie noch zum Auto begleiten?“ Er erhob sich, aber Frau L. winkte ab. „Das schaffe ich schon, danke. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

„Ja, ich Ihnen auch.“

Herbert nickte zum Abschied. Sie ging durch die anderen Tische nach draußen und er nahm wieder Platz.

„Gott sei Dank, das wurde aber auch Zeit, dass die verschwindet“, kam es aus Herberts Kehle, doch er war sich sicher, nichts gesagt zu haben. „Warst du das?“, fragte er vorsichtig in Richtung des Frosches, also vielmehr seiner eigenen Kehle, um ganz sicherzugehen.

„Ja, ich war das. Sonst ist doch niemand mehr hier am Tisch.“

„Du kannst sprechen?“, fragte Herbert erstaunt.

„Ich spreche sieben Sprachen, meine Heimatsprache Englisch sowie Deutsch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Ungarisch und Finnisch“, sagte der Frosch würdevoll. „Und da ich sehr viel herumgekommen bin, kann ich mit dir – ich darf doch du sagen – über sehr viele interessante Themen sprechen. Es wird Zeit, dass dieser Abend endlich mal in Schwung kommt.“

So begann Herbert ein angeregtes Gespräch mit dem Frosch – der Randall hieß, wie er erfuhr – über zeitgenössische Kunst, das neuste Lieblingsbuch von Herbert, das Leben und Sterben in einem Tümpel und die Bedeutung des Frosches in der Gesellschaft. Herbert dachte dankbar, dass er für diesen Abend nun zwar keine Begleiterin mehr hatte, aber er sich keineswegs allein fühlte – dank seines Frosches im Hals.

Nachdem sie so eine Weile geplaudert und ganz selbstvergessen die Umgebung ausgeblendet hatten, drehte sich eine Dame am Nachbartisch schließlich zu Herbert um. „Verzeihen Sie mein Herr“, sagte sie, „ich höre Ihnen nun schon eine Weile zu und bin ganz hingerissen von ihrer Konversation. Doch ich sehe niemanden außer Sie – höre aber eine zweite Stimme. Sind Sie Bauchredner?“

Herbert lachte ein erstauntes und gutmütiges Lachen. Dann präsentierte er der Dame den Frosch und diese stieß nach einem Blick in dessen runde, freundliche Augen ein entzücktes „Oh!“ aus. „Rana temporaria – der Grasfrosch aus der Gattung der Echten Frösche. Was für ein wunderschönes Exemplar“, sagte sie begeistert und anerkennend.

„Angenehm, Randall“, quakte der Frosch.

„Hu! Äh, ganz meinerseits“, machte die Dame überrascht, fasste sich dann aber und sagte warm: „Und mein Name ist Camille.“

In dieser Nacht redeten die drei noch lange und wurden ein unzertrennliches Trio. Und wenn sich Herbert und Camille etwas mehr Zweisamkeit als Paar wünschten, war Randall ganz Frosch und zog sich diskret in den hintersten Winkel von Herberts Hals zurück. Bei deren Hochzeit glänzte er jedoch als Trauzeuge mit solch einer empfindsamen und eloquenten Rede, dass die Gäste noch lange danach davon sprachen.

Herbert behielt so seinen Frosch im Hals, bis dieser nach elf Jahren das Ende seines Froschlebens erreicht hatte und bettete ihn zur letzten Ruhe in seinem Garten.

Silke Buchta: Magisterabsolventin der Neueren Deutschen Literatur, mit langem Zwischenstopp im Schuhverkauf und schließlich gelandet im Lektorat, die immer schon gerne geschrieben hat, sich aber nie traute, etwas zu veröffentlichen oder einzusenden – bis jetzt!

*

Indisches Blumenrohr

Die Blüten fliegen mir zu rot

Und schwer im Aufwind der

Hundstage – der Sommer hat

Noch genug heiße Luft im Ballon

Karen Schröder lebt als freie Autorin in Schulzendorf bei Berlin, Lyrikveröffentlichungen in Anthologien und Magazinen.

*

Lies mich!

Roman schlendert durch die Innenstadt, als ein Buch direkt vor ihm auf den Gehsteig knallt. „Raus damit!“, hört er zugleich eine Frauenstimme aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock kreischen.

„Raus!“

„Raus!“

Und mit jedem weiteren „Raus!“ wird temperamentvoll ein Buch aus dem Fenster geschleudert. Ein junger Mann stürzt aus dem Haustor und beginnt hastig, die Bücher aufzusammeln.

„Meine Freundin ist wütend auf mich, weil ich lieber lesen als mich mit ihr unterhalten will“, klärt er Roman unaufgefordert auf, während ihnen beiden nun gelbe Reclam-Hefte um die Ohren flattern. „Tja, meine baldige Ex-Freundin ist sehr temperamentvoll“, fügt der Mann seufzend dazu.

Roman, der sich weder mit aus Fenstern fliegenden Büchern noch mit Konflikten fremder Leute auseinandersetzen, sondern in Ruhe seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang fortsetzen will, möchte diesen dramatischen Ort rasch und dezent passieren, als ihm ein schweres Buch auf den Kopf fällt und dann vor seinen Füßen landet.

LIES MICH! kann Roman noch den in Goldbuchstaben gedruckten Titel des dicken, rot eingebundenen Buches entziffern, bevor ihm schwarz vor Augen wird.

„Oh, wie furchtbar!“, hört er den jungen Mann entsetzt rufen. „Ich hoffe, Sie sind nicht verletzt!“

„Aber nein, alles gut“, beeilt Roman sich, diese Gefahrenzone nun endlich zu verlassen. „Alles gut, alles gut.“

Und er geht, nein, er schwebt nun förmlich weiter, fühlt sich trotz Brummschädel so ungewohnt beschwingt, dass er ernsthaft überlegt, ob eventuell durch die Wucht, mit der dieses schwere Buch seinen Kopf getroffen hat, irgendein bis dahin schlummerndes Areal seines Gehirnes aktiviert worden ist und dies jene wunderbare Leichtigkeit in ihm auslöst.

„Lies mich, lies mich ...“, summt er fröhlich die beiden Wörter vor sich hin, die golden vor seinem inneren Auge leuchten.

„Warum eigentlich nicht?“, denkt Roman übermütig, „warum eigentlich nicht wieder einmal ein Buch lesen?“ Er überlegt, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen ist. Es liegt tatsächlich viele, viele Jahre zurück. Roman ist ein Spaziergänger, ein Billardspieler, ein Katzenfreund, ein Pfeifenraucher. Roman ist vieles, aber kein Leser.

Er biegt in die Fußgängerzone ein und schreitet feierlich auf eine kleine Buchhandlung zu. Höflich lässt er einer alten Frau den Vortritt, die ebenfalls in den Laden will, und folgt ihr hinein. Drinnen grüßt er lächelnd die telefonierende Buchhändlerin und nickt freundlich einem älteren Mann zu, der tief in einem Ohrensessel und in ein Buch versunken ist. Der Lesende, die alte Frau, die sogleich zielsicher ein Regal mit der Kennzeichnung Lyrik ansteuert, und er, Roman, sind die einzigen Kunden.

Roman sieht sich um und stellt sich schließlich vor eine Bücherwand mit der Aufschrift Romane – nomen est omen. Als er seinen Blick über die Bücher in den Fächern schweifen lässt, bleibt dieser auf einem ihm bekannten, dicken, roten Buch hängen.

„Ah!“, entfährt es Roman überrascht und: „He!“, ruft er empört, als ihm plötzlich der vertraute goldene Titel LIES MICH! ins Auge springt. Seine gute Laune verschwindet schlagartig. Tiefste Beunruhigung macht sich stattdessen in ihm breit.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigt sich die Buchhändlerin, die ihr Telefonat beendet hat und sich kundenfreundlich zu Roman gesellt.

„Ich bitte darum! Stellen Sie sich vor: Der Titel dieses Buches da ist mir soeben ins Auge gesprungen. Wenn Sie so nett wären …“

„Aber gerne. Dieses hier?“ Sie greift nach dem roten Buch. „Igitt! Was klebt denn da Ekliges auf dem Cover? Und warum steht da kein Titel darauf?“

„Das Eklige“, räuspert sich Roman beleidigt, „ist mein Blick, der an dem Buch hängen geblieben ist. Und der Titel ist mir, wie schon gesagt, vorhin ins Auge gesprungen. Bitte helfen Sie mir, ihn wieder herauszufischen, es juckt entsetzlich!“

„Ich fische doch nicht in fremden Augen“, weicht die Buchhändlerin, das rote Buch zwischen spitzen Fingern, hinter ihr Kassapult. „Ich ersuche Sie, Ihr Problem eigenhändig zu lösen.“

„Aber ich schaffe es nicht ohne Hilfe“, klagt Roman und zwinkert mitleiderregend. „Und schließlich entstand mein Problem aufgrund eines Buches Ihrer Buchhandlung.“

„Junger Mann, ich will mich ja nicht einmischen“, mischt sich der ältere Mann im Ohrensessel ein, „aber ich finde Ihr Jammern so dermaßen absurd.

---ENDE DER LESEPROBE---