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Die Erzählerin in diesem Roman ist müde - von der Arbeitswelt, ihren absurden Ritualen und entfremdenden Herausforderungen. Gebeutelt von den nie enden wollenden Anforderungen des, na ja: Kapitalismus, wünscht sie sich einen Job, bei dem sie möglichst wenig investieren muss, also am liebsten sehr wenig denken. Allerdings entwickeln auch die abseitigsten Anstellungen ihre Tücken - von Läden, die wie von Zauberhand vom Erdboden verschwinden, über mysteriösen Sekten, zu einem Landschaftspark, der von einem Geist heimgesucht scheint. Fast könnte man meinen, das System ist das Problem ...
Ein abgründiger Roman über die Tücken des modernen Alltags - lustig, surreal, hellsichtig und manchmal ganz schön beunruhigend.
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Seitenzahl: 380
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Erzählerin in diesem Roman ist müde - von der Arbeitswelt, ihren absurden Ritualen und entfremdenden Herausforderungen. Gebeutelt von den nie enden wollenden Anforderungen des, na ja: Kapitalismus, wünscht sie sich einen Job, bei dem sie möglichst wenig investieren muss, also am liebsten sehr wenig denken. Allerdings entwickeln auch die abseitigsten Anstellungen ihre Tücken - von Läden, die wie von Zauberhand vom Erdboden verschwinden, über mysteriösen Sekten, zu einem Landschaftspark, der von einem Geist heimgesucht scheint. Fast könnte man meinen, das System ist das Problem …
Ein abgründiger Roman über die Tücken des modernen Alltags - lustig, surreal, hellsichtig und manchmal ganz schön beunruhigend.
Kikuko Tsumura stammt aus Osaka in Japan. Sie gewann den PEN/ROBERT J. DAU SHORT STORY PRIZE und wurde mit diversen japanischen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem AKUTAGAWA PRIZE, dem NOMA LITERARY PRIZE, dem DAZAI OSAMU PRIZE und dem NEW ARTIST AWARD der japanischen Regierung.
Aus dem Japanischen vonKatja Busson
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag
Titel der japanischen Originalausgabe:»Konoyoni tayasui shigoto wa nai«
Für die englische Originalausgabe:Copyright © Kikuko Tsumura, 2020
This translation of There's No Such Thing as an Easy Job is published byEichborn by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Ann-Catherine Geuder, Lübeck
Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln
Umschlagmotiv: www.thesecretgallery.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-8391-0
eichborn.de
Auf beiden Monitoren ist dieselbe Person zu sehen. Die linke Aufzeichnung datiert von gestern ab 22:00 Uhr, die rechte von vorgestern ab 20:00 Uhr. Wenn oben am Bildschirm nicht das Datum eingeblendet wäre, würde man nicht denken, dass es sich um verschiedene Tage handelt, da die Person exakt dieselbe Fleecejacke trägt. Auf beiden Monitoren sitzt sie, also das zu observierende Objekt, auf einem Bürostuhl vor einem Laptop und tut meistens nichts anderes, als mit verschränkten Armen regungslos zu verharren. Ab und zu hämmert es circa dreißig Sekunden lang wie wild auf die Tasten, um dann wieder regungslos zu verharren, unglaublich umständlich etwas in einem Wörterbuch nachzuschlagen oder mit gerunzelter Stirn eine Stunde im Netz zu surfen. In der Aufnahme von vorgestern isst es Hijiki-Gohan, Misosuppe mit Spinat und Spiegeleier mit Schinken; in der von gestern passiert weiter nichts. Ohne etwas zu notieren zu haben, sitze ich vor dem Texteditor und verharre ebenso regungslos wie das Objekt.
Ich könnte auch etwas vertragen, denke ich, während ich ihm beim Abendessen zusehe, bin aber zu faul, aufzustehen, sodass ich weitere anderthalb Stunden in dieser Position verbringe. Als ich es vor Hunger nicht mehr aushalte und mich erhebe, um zum Kiosk zu gehen, kommt Bewegung ins rechte Bild. Offenbar hat es geklingelt. Das Objekt, das bis zu diesem Moment in mehr oder weniger derselben Position wie auf dem linken Bildschirm verharrte, springt auf und eilt zum Eingang. Ich wechsele zur Kamera, die den Eingangsbereich zeigt. Nachdem es sich fast schon kriecherisch vor der vermutlich zu einem Paketdienst gehörigen, uniformierten Frau verbeugt hat, schließt das Objekt die Tür und geht, einen Karton an die Brust gedrückt, aus dem Bild. Der Karton ist weder klein noch groß. Er ist fast quadratisch und gerade so dimensioniert, dass man ihn gut unter den Arm klemmen kann. Das Objekt bestellt häufig Bücher, DVDs oder Blu-rays, aber dieser Karton sieht nicht danach aus.
In der Annahme, dass sich das Objekt wieder an seinen Computer begibt, schalte ich zu der auf den Arbeitsplatz gerichteten Kamera. Weil es dort aber partout nicht auftauchen will, ziehe ich das Bild aus der Küche zurate, wo es sich tatsächlich gerade mit einer Schere eifrig an dem auf dem winzigen Küchentisch platzierten Karton zu schaffen macht.
Ich kneife die Augen zusammen. Wenn das Objekt an der Tür etwas annimmt, werde ich jedes Mal nervös, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass die »Ware« per Paketdienst geliefert wird. Das Objekt öffnet den Karton, wirft die darin enthaltene Luftpolsterfolie auf den Boden und nimmt einen Beutel heraus. Ich schlucke und zoome ins Bild. Der Beutel ist mit einem Etikett beklebt, auf dem steht: Frisch aus dem Ofen – Feingebäck der Bäckerei Soundso. Das Objekt tritt die Luftpolsterfolie aus dem Weg und holt sich vom Abtropfgestell einen großen Teller, auf dem es die Plätzchen ihrer Form nach stapelt. Es sieht unglaublich glücklich aus. Die Plätzchen haben verschiedene Formen, rechteckig, rund oder blattförmig zum Beispiel, insgesamt fünf. Nur eine Sorte ist braun. Schokoladengeschmack wahrscheinlich. Die stapelt das Objekt ein wenig abseits. Dann verspeist es eins davon.
Im Gegensatz zu dem verzückt lächelnden Objekt im rechten Bild fixiert das Objekt im linken nach wie vor mit verschränkten Armen den Bildschirm. So abrupt, wie es sich aufsetzt, nachdem ihm das Kinn auf die Brust gesunken ist, muss es kurz eingedöst sein. »Nicht im Sitzen pennen«, murmele ich vor mich hin. »Das nervt!« Grundsätzlich dürfe man nicht vorspulen, hieß es bei der Einweisung, es sei denn, das Objekt schlafe, dann sei es ausnahmsweise erlaubt. Eben hätte ich also ein wenig vorspulen können. Aber wie soll man wissen, ob das Objekt schläft, wenn es in derselben Haltung schläft, in der es wach ist? »Tu mir also den Gefallen und schlaf nicht im Sitzen!«
»Alles in Ordnung?«, fragt Frau Oizumi, die Kollegin, die neben mir arbeitet, mit einem Blick über die Trennwand, wahrscheinlich weil ich geflucht habe.
»Ja, ja, alles gut«, winke ich ab.
»Ich bin dann weg. Bis morgen«, sagt sie, schlingt sich den Schal um den Hals und verlässt sichtlich erschöpft den Raum. Frau Oizumi, die angeblich Hausfrau ist, kommt zur Arbeit, nachdem sie ihre Tochter von der Grundschule abgeholt und zur Nachhilfeschule gebracht hat. Kurz bevor ihre Tochter mit der Nachhilfeschule fertig ist, geht sie wieder nach Hause.
20:35 Uhr – Objekt nimmt per Paketdienst gelieferten fünfundzwanzig Zentimeter großen, viereckigen Pappkarton entgegen. Inhalt des Kartons: Verpackungsmaterial (Luftpolsterfolie) und Gebäck, notiere ich im Texteditor, seufze, ziehe die Schreibtischschublade auf und nehme ein Fläschchen Augentropfen heraus. Bevor ich hier eingestellt wurde, habe ich so gut wie nie Augentropfen benutzt, aber jetzt verwende ich sie ständig, und da ich mich an den Luxus einer etwas teureren Marke gewöhnt habe, kaufe ich die inzwischen auf Vorrat, wenn es sie für 198 Yen im Angebot gibt. Augentropfen kann ich dankenswerterweise als Spesen geltend machen (alles in allem allerdings nur bis maximal eintausend Yen pro Woche), für Verpflegung habe ich selbst aufzukommen. Im Vergleich zu Yakisobabrötchen sind Augentropfen richtig billig, denke ich in letzter Zeit oft. Andererseits habe ich durch den übermäßigen Gebrauch dieser Tropfen vielleicht trockene Augen, wenn ich den Job irgendwann an den Nagel hänge; unter Berücksichtigung der Kosten dafür sind die Yakisobabrötchen langfristig gesehen also unter Umständen billiger. Dass die mit den Zusatzstoffen, die sie enthalten, noch größeren Schaden in meinem Körper anrichten als die Tropfen, lässt sich allerdings auch nicht ausschließen, sodass die Antwort auf die Frage, was letzten Endes tatsächlich billiger ist, weiter im Dunklen bleibt.
Ich weiß, solche Gedanken kann sich nur jemand machen, der nicht viel zu tun hat. Ich habe nicht viel zu tun. Bei diesem Job gibt es nicht viel zu tun. Überstunden jede Menge, aber viel zu tun gibt es nicht. Einen so zeitintensiven und gleichzeitig arbeitsarmen Job wie den, eine alleinstehende Autorin im Homeoffice zu observieren, gibt’s kein zweites Mal auf der Welt.
Ich gönne mir eine Runde Augentropfen, doch die muntern mich auch nicht auf, also halte ich die Videos an und erhebe mich schwerfällig. Da ich nicht in Echtzeit observiere, sondern lediglich die Aufgabe habe, mir die Aufnahmen der Vortage anzusehen, kann ich stoppen und starten, wie es mir beliebt. Ich muss nur die Zeit, die das Objekt zu Hause verbracht hat, in Gänze prüfen. Je länger die observierte Person sich in ihren eigenen vier Wänden aufhält, desto mehr Arbeit habe ich also. Zwischendurch schläft sie natürlich – um sechs Uhr morgens geht sie ins Bett, um zwei Uhr nachmittags steht sie wieder auf –, trotzdem verbringt sie relativ viel Zeit zu Hause. Da ich mir die Aufnahmen grundsätzlich in einfacher Geschwindigkeit ansehen muss, verbringe ich die meiste Zeit des Tages in dieser Bürozelle. Einmal an die Arbeit gewöhnt, kann ich mir die Aufnahmen von zwei Tagen auch gleichzeitig ansehen, was allerdings nichts daran ändert, dass ein Mensch, der zu Hause arbeitet, enorm viel Zeit in seinen eigenen vier Wänden verbringt.
Da ich direkt gegenüber wohne, habe ich es nicht weit zur Arbeit, aber wenn man nicht nach Hause gehen kann, spielt nah oder nicht nah keine Rolle. Da ich mit so gut wie niemandem in Kontakt komme, muss ich mir zum Glück auch keine Gedanken darüber machen, was ich anziehe. Einmal bin ich sogar nur in Mantel und Pyjama gekommen, und wenn es passt, gehe ich zum Essen nach Hause.
Ob es keinen Job gäbe, wie zum Beispiel den lieben langen Tag dabei zuzusehen, wie das in Kosmetika verwendete Kollagen extrahiert wird, hatte ich die Beraterin vom Arbeitsamt gefragt. Fragen kostet ja nichts. Wegen eines Burn-outs hatte ich an meiner alten Arbeitsstelle gekündigt und war zur Erholung wieder bei meinen Eltern eingezogen. Als das Arbeitslosengeld auslief, begab ich mich zwar wieder auf Stellensuche – Überarbeitung hin oder her, ich konnte ja nicht ewig auf der faulen Haut liegen –, war mir allerdings selbst nicht sicher, ob ich eigentlich arbeiten wollte oder nicht, weshalb ich aus Spaß die obige Frage stellte. »Ich habe genau das Richtige für Sie«, hatte die etwas ältere Beraterin erwidert und mich durch ihre Brille angefunkelt, was sonst gar nicht ihre Art war. Was sie mir präsentierte, war dieser Job. Und obwohl er genau meinen Wünschen entspricht, ist er auch nicht ganz ohne.
Das Objekt, das ich observiere, heißt Yamaë Yamamoto, verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Romanen und soll, ohne es selbst zu wissen, für eine Bekannte Schmugglerware verwahren. »Heiße« Ware angeblich, aber was genau, erfährt man in einer so untergeordneten Position wie der meinen natürlich nicht. Obwohl bekannt ist, dass die »Ware« in der Hülle einer DVD oder Blu-ray ihrer umfangreichen Sammlung versteckt ist, konnte man sie bei einer während Yamaë Yamamotos Abwesenheit durchgeführten illegalen Razzia nicht finden – es waren einfach zu viele Hüllen –, sodass man stattdessen Kameras installierte, um entweder Zeuge zu werden, wie die Bekannte die Ware abholt, oder abzuwarten, dass Yamaë Yamamoto zufällig selbst darauf stößt, sofern sie auf wundersame Weise auf die Idee käme, ihre Sammlung zu sortieren. Yamaë Yamamoto besitze so viele Discs, dass es ihr kaum auffallen würde, wenn man eine hinzuschmuggelte, hieß es. Da die Ware, die sie unwissentlich verwahre, noch nicht gefunden worden sei, könne die Person, die sie ihr untergeschoben habe, ihr noch einmal etwas unterjubeln wollen, hatte mein Chef, Chief Someya, gesagt. Deshalb muss ich jedes Mal, wenn etwas angeliefert wird, besonders auf der Hut sein.
Eine in jeder Hinsicht harmlos wirkende Person wie Yamaë Yamamoto zu überwachen, schien mir eine recht einfache Aufgabe zu sein; da sie aber mehr Zeit zu Hause verbringt als gedacht, sehr häufig etwas geliefert bekommt und in Sachen DVD nicht berechenbar ist (einmal dachte ich, sie sähe sich Toy Story 3 an, dabei war es das Spiel um Platz 3 der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland), nimmt mir Chief Someya hin und wieder einen Teil der Arbeit ab. Chief Someya ist ein kleiner Mann um die fünfzig mit sanfter Stimme, den ich immer sehe, egal zu welcher nachtschlafenden Zeit ich arbeite. Manchmal sitzt er wie abgeschaltet in der Teeküche, eine Tasse Algentee in der Hand, deshalb möchte ich ihn nicht über Gebühr strapazieren. Mit dreißig Jahren in diesem Geschäft ein Veteran, observiert Chief Someya angeblich Objekte, gegen die Yamaë Yamamoto ein Waisenkind ist. Ein Grund mehr, seine Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Außerdem klingt mir der »exorbitante Bonus« im Ohr, den ich angeblich bekommen soll, wenn ich die Ware entdecke oder Zeugin der Abholung werde. Geld ist wichtig. Wer weiß, wann der nächste Burn-out kommt.
Am Ende des sterilen, seltsam neonlichthellen, anorganischen Flurs nehme ich die Treppe ins Untergeschoss und steuere den Kiosk an. Das Gebäude hat eigentlich kein Untergeschoss, nur diesen kleinen Keller mit dem Kiosk. In diesem Gebäude, in dem nichts anderes getan wird, als Tag und Nacht Überwachungsvideos zu sichten, brennen selbst nachts sämtliche Lichter. Da es zudem keine handelsüblichen Neonlampen sind, sondern Lichtquellen, wie sie offenbar in Polarregionen verwendet werden, ist es in diesem Gebäude so hell, dass man jedes Zeitgefühl verliert.
Nur in dem Kiosk im Keller mit seinen, wenn es hochkommt, zehn Quadratmetern ist es selbst tagsüber seltsam düster. Man könnte meinen, in diesem Gebäude existierten nur Kiosk und Nichtkiosk. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber als Verkäuferin in diesem Kiosk arbeiten, denke ich, während ich ein Yakisobabrötchen und eine Flasche Matetee auf den Kassentresen stelle. »Das wär’s«, sage ich kleinlaut, beschämt, eine Plastikflasche zu kaufen. Matetee könnte ich schließlich selber machen, wenn ich Teeblätter hätte; Yakisobabrötchen natürlich nicht. »Zweihundertneunzig Yen, bitte«, sagt das Mädchen an der Kasse und wirkt dabei für einen Donnerstagabend um neun Uhr recht lebhaft. Es ist immer dasselbe Mädchen, egal, wann ich hingehe. Anscheinend hat sie genauso wenig ein Zuhause wie Chief Someya.
Das nur mit dem Verfallsdatum bedruckte Klarsichtbeutelchen mit dem Yakisobabrötchen und die Flasche Matetee in den Händen, kehre ich an meinen Arbeitsplatz zurück.
Ich werde noch zwei Stunden Aufnahmen sichten und dann Feierabend machen. Vielleicht sollte ich mir losen Matetee bestellen. Zum Einkaufengehen habe ich sowieso keine Zeit. Aber könnte ich den überhaupt in Empfang nehmen, wenn ich ständig hier bin? Vielleicht sollte ich ihn mir an meinen Arbeitsplatz liefern lassen. Dafür müsste ich allerdings Chief Someya um Erlaubnis bitten.
*
»Tut mir leid, das kann ich leider nicht erlauben. Wir haben ohnehin zu wenig Personal.«
Kritisch beäugt Chief Someya einen Bericht. Um nicht in der Zeile zu verrutschen, benutzt er ein Lineal, das er Stück für Stück über das Papier schiebt. Wenn ich an meiner alten Arbeitsstelle Unterlagen mit viel Text durchzusehen hatte, habe ich das auch so gemacht. Jetzt, wo ich sehe, wie gewissenhaft er die Berichte liest, tut es mir fast leid, dass ich Tag für Tag so wenig schreibe, aber was soll ich machen, Yamaë Yamamoto ist wirklich nicht sonderlich aktiv.
»Die Lieferung würde ich natürlich selbst annehmen. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
»Wenn Sie die Einzige wären, könnten wir darüber reden, aber so ist es leider nicht, und wenn ich es Ihnen erlaube, muss ich es den anderen auch erlauben, und dann wären Sie binnen kürzester Zeit Annahmestelle für alle Pakete. Und das auch noch unbezahlt«, fügt er hinzu.
»Das macht nichts. Ich bin ja noch neu, und diese Mühe nehme ich gerne auf mich.«
»Das mag sein, aber wenn alle Mitarbeiter etwas bestellen würden, hätten Sie über fünfzig Sendungen anzunehmen. Da kämen Sie nicht mehr zum Arbeiten.«
»Hier arbeiten fünfzig Leute?«
Groß genug wäre das Gebäude mit seinen drei Stockwerken schon, aber vorstellen kann ich es mir nicht, denn außer Chief Someya, Frau Oizumi und dem Mädchen aus dem Kiosk sehe ich nie jemanden.
»Ja.« Chief Someya nickt, wirft einen Blick auf den Bericht, sieht wieder zu mir, bevor er sanft ergänzt: »Tut mir leid, aber hierhin können Sie sich leider nichts liefern lassen.«
Hüstelnd widmet er sich wieder dem Bericht. Ich verlasse sein Büro. Was bleibt mir anderes übrig?
In diesem Gebäude gibt es keine Großraumbüros, die Etagen sind mit Trenn- und Stellwänden in unzählige, circa knapp zehn Quadratmeter große Kleinbüros unterteilt, vermutlich, damit sich jeder konzentrieren kann. Wenn man aufsteigt und »große Fische« observiert, bekommt man anscheinend ein größeres Büro, aber ich habe erst letzte Woche angefangen und bin noch in der Probezeit, weshalb ich mir mit Frau Oizumi, die nur Teilzeit arbeitet, ein Büro teile.
Den menschenleeren, hellen Flur hinunter kehre ich an meinen Arbeitsplatz zurück. Deprimiert lasse ich die Aufnahmen weiterlaufen. Yamaë Yamamoto hat ihr Arbeitspensum offenbar erledigt, schaltet den hinter ihrem Laptop stehenden Fernseher nebst Videorekorder ein und scrollt durch die Sendungen, die sie aufgenommen hat. Ihre Entscheidung fällt auf Navy CIS. Wahrscheinlich Staffel 1 oder 2, weil nicht die Frau vom Mossad, sondern die andere ermittelt. Da ich nur die Folgen mit der Frau vom Mossad kenne, schaue ich, die Augen zusammengekniffen, zwar zu, kann ohne Ton aber nicht ganz folgen. Das Mikro, das bei Yamaë Yamamoto heimlich hätte installiert werden sollen, sei defekt gewesen, hieß es.
Ich bin bedient. Mir etwas liefern lassen, darf ich nicht. Ob Yamaë Yamamoto jetzt Staffel 1 oder 2 guckt, weiß ich auch nicht, was die Gute allerdings nicht davon abhält, den Videorekorder plötzlich per Fernbedienung anzuhalten und zur Eingangstür zu laufen. Diesmal kehrt sie, anders als bei den Keksen, sofort wieder zum Schreibtisch zurück, zieht eine kleine, rechteckige Schachtel aus der angelieferten Papiertragetüte und inspiziert sie. An der Schachtel klebt ein Sticker, auf dem fett Mate steht. Ich sehe mich stirnrunzelnd die Augen schließen und mit den Zähnen knirschen, mein Gesicht gewissermaßen gequält verziehen. Am liebsten würde ich sie anrufen. Was fällt dir ein? Den wollteich haben! Her damit, und zwar sofort! Aber leider kenne ich ihre Telefonnummer nicht.
Yamaë Yamamoto dreht und wendet die Schachtel und liest jeden Buchstaben, der darauf zu finden ist. Wie ein Affe, der zum ersten Mal eine Packung Matetee in der Hand hat. Wahrscheinlich hat sie zum ersten Mal eine Packung Matetee in der Hand. Nachdem sie sich alles genau durchgelesen hat, hält sie die Packung ein Stück von sich weg. Ohne Wasser kannst du den nicht trinken, und auf wundersame Vermehrung brauchst du auch nicht zu hoffen!
Moment, schießt es mir durch den Kopf: Vielleicht ist die Ware darin versteckt, denke ich, kneife die Augen zusammen und sehe genauer hin. Yamaë Yamamoto legt die Schachtel auf den Tisch, aktiviert ihr Wi-Fi und startet den Browser. Dann gibt sie in der Suchleiste Matetee ein. Arbeite lieber, denke ich. Yamaë Yamamoto öffnet eine Seite nach der anderen, wiegt mal skeptisch den Kopf, mal beugt sie sich vor, mal speichert sie eine Seite ab. Obwohl es mit dem, was ich suche, wahrscheinlich nichts zu tun hat, zoome ich ins Bild. Uruguayer konsumieren pro Monat über zwei Kilo Matetee, steht auf der Seite, die Yamaë Yamamoto so beflissen liest. »Wow!«, entfährt es mir unwillkürlich. Das ist zu viel!
Noch eine geschlagene Stunde verbringt Yamaë Yamamoto damit, sich im Netz über Matetee zu informieren. So wirst du mit deiner Arbeit nie fertig, denke ich, wobei ich zugeben muss, dass auch ich, sobald ich zu Hause bin, manchmal ewig im Netz surfe und meine kostbare Zeit mit unerheblicher Recherche verplempere. Ich ziehe den neben dem Monitor liegenden Notizblock heran, schreibe Wer das Objekt für einen Idioten hält, sollte selbst auch keine Zeit verschwenden! und stecke mir den Zettel in die Hosentasche.
Was Yamaë Yamamoto angeht, kann man, in Anbetracht ihres Berufes, nicht unbedingt behaupten, dass es Zeitverschwendung wäre, wenn sie sich eine Stunde lang über Matetee informiert. Ich weiß zwar nicht genau, was für eine Autorin sie ist, habe aber, wenn ich ins Bild zoome und mir ansehe, was sie Tag für Tag zu Papier bringt, den Eindruck, dass sie praktisch täglich über ein anderes Thema schreibt. Gestern schrieb sie über ein gutes Restaurant mit westlicher Küche, heute schreibt sie über Kolonialismus. Auch das, was sie im Wörterbuch nachschlägt, variiert zwischen »Kollokation« und »Krösus«. Das Einzige, was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass Yamaë Yamamoto keinen blassen Schimmer davon hat, dass sie »heiße Ware« verwahrt. Auch wenn sie tatsächlich kein bisschen mit ihrer Arbeit voranzukommen scheint, geknickt die monatlichen Kontoauszüge studiert, so gut wie keinen der auf dem Block neben ihrem Laptop notierten Namen der »zu kontaktierenden Personen« streichen kann, kurzum, alle möglichen Sorgen hat, zeigt sie keinerlei Nervosität, die darauf hindeuten würde, dass sie wissentlich »heiße Ware« in ihrer Wohnung hat.
Yamaë Yamamoto geht um sechs Uhr morgens ins Bett und steht nachmittags um zwei Uhr auf. Sie ist täglich sechzehn Stunden wach. Sie lebt für ihr Zuhause, könnte man fast sagen, da sie zum Arbeiten nicht das Haus verlässt, geht allerdings praktisch jeden Tag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr vor die Tür. Angeblich spazieren oder einkaufen. Frau Oizumi zufolge, die die Kameras auf Yamaë Yamamotos Spazierweg beziehungsweise in dem Supermarkt checkt, den Yamamoto regelmäßig aufsucht, gibt es keine verdächtigen Treffen; die Frau liefe bloß herum oder könne sich ewig nicht entscheiden, was sie kaufen soll.
Nicht selten verbringe sie über eine Stunde im Supermarkt. Neulich habe sie sage und schreibe dreißig Minuten vor den Nametake gestanden und überlegt, ob sie das etwas teurere Glas mit weniger Inhalt, dafür aber aus heimischer Pilzproduktion, oder das billigere mit mehr Inhalt aus China nehmen soll. Das Gläschen sei so oft vom Einkaufskorb zurück ins Regal und wieder in den Einkaufskorb gewandert, dass Frau Oizumi es ihr am liebsten spendiert hätte. Dabei ist auch die, nach allem, was ich höre, nicht auf Rosen gebettet. Sie arbeite, damit ihr Kind Nachhilfeunterricht nehmen könne. Der Job liege ihr, sagt Frau Oizumi, bei den sieben davor sei sie rausgeflogen.
So viele Jobs hat die schon gemacht? Wahnsinn. »Also dann«, höre ich ihre Stimme, während ich, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, noch meinen Gedanken nachhänge. »Bis morgen!«, erwidere ich und drehe mich zu ihr um. Hier könne man keine Privatpost empfangen, sage ich, anstatt nach den sieben Arbeitsstellen zu fragen, an denen man sie rausgeworfen hat, das hätte ich gar nicht gewusst. Da, wo ich früher gearbeitet hätte, wäre das möglich gewesen. Was man denn machen solle, wenn man mal wichtige Unterlagen in Empfang nehmen müsse, worauf Frau Oizumi mich unverblümt fragt, ob ich etwas bestellen wolle.
»Äh, ja, eigentlich schon.«
»Ich frage, weil der Mensch, der vorher in diesem Büro gearbeitet hat, auch etwas bestellen wollte, Animes auf DVD, und sich beschwerte, dass er nie etwas in Empfang nehmen könne, wenn er ständig hier sei.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Im Urlaub. Kommt aber bestimmt bald wieder, denke ich«, sagt Frau Oizumi mit einem Blick zur Uhr. »Vielleicht lag es auch daran, dass er DVDs bestellen wollte. Der Kollege nebenan lässt sich aus Hokkaido hin und wieder Cheesecake schicken, den er während der Arbeit verspeist. Und Chief Someya hat doch diese Neonfarbe in seinem Füller.«
»Aber die bestellt er doch nicht online …?«
»Nein, er bittet das Mädchen aus dem Kiosk, sie zu bestellen«, sagt Frau Oizumi und sieht sich noch einmal zur Wanduhr um; sie scheint es eilig zu haben. »Sie bestellt aber nur, was sie für nötig hält, und immer nur eine Sorte.«
»Bis morgen!« Sie hebt die Hand und eilt aus dem Büro. Ich weiß nicht, ob sie freundlich oder abweisend ist. Im Grunde wahrscheinlich freundlich und nur abweisend, wenn sie das Gefühl hat, dass ihr jemand schaden will. Wie jeder andere also auch.
Ich stoppe die Aufnahmen, verlasse voller Skepsis das Büro und eile zum Kiosk. Wenn Frau Oizumi nach Hause geht, ist es sowieso an der Zeit zu essen. Im Kiosk ist es heute Mittag ebenso düster wie gestern um diese Zeit. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich unter den Schreibwaren allerdings besagte neongrüne Tinte und neben den Feinstrumpfhosen und Herrensocken ein Schild mit der Aufschrift: Cheesecake – kurze Haltbarkeit! -50%. Die Bleistifte mit den Sternzeichen sehen aus wie Mitbringsel aus dem Planetarium, auf den Taschentüchern steht Sanft zur Nase, Blu-ray-Rohlinge BD-RE gibt es nur in 50er-Spindeln, Bleistiftminen nur in 2B, an Geld- und Gratulationsumschlägen nur die etwas besseren mit nicht bloß aufgedruckten, sondern richtigen Zierschnüren. In der Ecke steht obendrein ein einsamer Stapel des kürzlich erschienenen Buches Seelische Entspannung durch Meditation, schätzungsweise zehn Exemplare. Bei Brot, Onigiri und Getränken gibt es eine Auswahl, von allem anderen findet sich tatsächlich nur eine Sorte.
»Sie verkaufen ja auch Bücher.«
»Ja. Wenn die Exemplare weg sind, bestelle ich einen neuen Titel«, antwortet das Mädchen fröhlich. Das lässt hoffen. Vielleicht tut sie aber auch bloß freundlich.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Matetee bestellen könnten? Keinen fertigen, losen.«
»Selbstverständlich«, sagt das Mädchen, holt geschwind ihr Tablet heraus und öffnet ein Vergleichsportal. »Welchen hätten Sie denn gerne?«
Nach einigem Zögern entscheide ich mich für den drittbilligsten der ellenlangen Liste. Das Tablet als Schreibunterlage benutzend, notiert das Mädchen die Marke und sagt, sie werde den Vorschlag an die Geschäftsleitung weitergeben.
»Ach so. Ich dachte, Sie würden das entscheiden …«
»Nein, tut mir leid.«
»Verstehe«, murmele ich verwirrt und will schon wieder gehen, als mir einfällt, dass ich doch etwas kaufen könnte, wenn ich schon einmal da bin, und nehme ein Butter-&-Bohnenmus-Brötchen sowie eine Flasche Matetee.
»Dreihundert Yen, bitte.«
Was?, denke ich entrüstet, während ich die dreihundert Yen bezahle, ein Butter-&-Bohnenmus-Brötchen kostet einhundertfünfzig Yen?
Halsabschneider, denke ich, während ich die Treppe ins Erdgeschoss hinaufsteige.
Das Brötchen, das ich an meinem Arbeitsplatz esse, schmeckt gut. Auch wenn es etwas teurer war. Yamaë Yamamoto scheint nicht in Form zu sein. Sie sitzt die ganze Zeit nach hinten gekippt auf ihrem Bürostuhl und starrt auf ihr Laptop. In der letzten Stunde hat sie eine Zeile geschrieben, wenn überhaupt. Dank des schmackhaften Brötchens wieder ich selbst, mache ich mir, auch wenn es mich gar nichts angeht, ein bisschen Sorgen um sie.
*
Obwohl es genug gibt, worüber ich mich beschweren könnte – ich bin so gut wie nie zu Hause, ich sitze die ganze Zeit, ich habe nichts zu tun –, hat dieser Job auch seine guten Seiten. Ich brauche mit meinen Kollegen nur das Mindestmaß an Konversation zu betreiben, es gibt nur einen Vorgesetzten, Chief Someya; alle anderen Mitarbeiter stehen auf einer Stufe, sodass sich das Miteinander unkompliziert gestaltet, und auch Chief Someya ist ein sehr zugänglicher Mensch, der Kontrolle ernst nimmt, aber einen nicht gängelt, wenn man seine Berichte ordnungsgemäß schreibt. In Anbetracht dessen, wie erschöpft er in seinem Büro gesessen hat oder dass in der Teeküche alle drei Tage die Dose Algentee mit Pflaumengeschmack durch eine frische ersetzt wird, fehlt ihm vielleicht auch bloß die Kraft dazu. Dass er regelmäßig Algentee trinkt, kann ich verstehen, der schmeckt wirklich gut. Ich habe mir, wenn auch schlechten Gewissens, erlaubt, ihn zu probieren. Allerdings frage ich mich, ob so viel Salz gesund ist. Bei der Vorstellung, dass Chief Someya damit womöglich seine Mahlzeiten ersetzt – ich habe ihn noch nie etwas essen sehen –, wird mir ganz anders. Das würde zwar erklären, warum er so klein ist, aber trotzdem!
Außerdem wusste ich an meiner alten Arbeitsstelle häufig nicht, was ich mittags essen soll. Dieses Problem hat sich jetzt auch erledigt. Denn wenn ich wieder einmal nicht weiß, was ich zu mir nehmen soll, muss ich nur gucken, was Yamaë Yamamoto gegessen hat. Natürlich gibt es darunter auch Gerichte, die ich nicht im nächstbesten Convenience Store oder in meiner nur einen Katzensprung entfernten Wohnung »nachkochen« kann, trotzdem fungieren sie gewissermaßen als Trigger. Wenn Yamaë Yamamoto sich zum Beispiel einen Eintopf mit Tofu, Schweinefleisch und Chinakohl-Kimchi kocht, besorge ich mir im Convenience Store eine Schale Brühe mit Yakidofu und Krautröllchen und gebe zu Hause Kimchi dazu. So ungefähr.
Je länger ich Yamaë Yamamoto observiere, desto mehr verlangt es mich nach den praktischen Utensilien, die sie besitzt. Der magnetischen Messerleiste, die an ihrer Küchenwand hängt, dem dünnen, vogelförmigen Tastaturcleaner oder der Wäschespinne mit den supervielen Klammern. Die Spinne, stellt sich heraus, als ich sie spontan vergrößere und zähle, hat fünfzig Klammern. Yamaë Yamamoto lebt zwar alleine, da sie aber nicht nur ihre Unterwäsche – natürlich! –, sondern auch ihre Strümpfe, von denen sie immer zwei Paar übereinander trägt, täglich wechselt, könnte die Spinne so viele Klammern haben wie sie will, es wären nie genug.
Letztendlich habe ich alle Produkte, die ich ebenfalls gerne hätte, gesucht und gebookmarkt. Bestellt habe ich allerdings noch nichts, schließlich könnte ich die Sendung gar nicht annehmen. Da ich derzeit bei meinen Eltern wohne, könnte ich sie bitten, ein Paket für mich anzunehmen, aber die Blöße will ich mir nicht geben. Dass ich wieder bei ihnen eingezogen bin, ist schon schlimm genug.
Mir, vom Observierungsobjekt verleitet, etwas kaufen zu wollen, es aber nicht kaufen zu können, stresst mich. Verglichen mit einem Fernsehprogramm war es in etwa so, als wäre Yamaë Yamamoto ein Werbespot und gleichzeitig auch das Hauptprogramm. Ich würde zur Abwechslung gerne mal jemand anderes observieren. Laut Frau Oizumi ist es durchaus denkbar, unter Kollegen das Observierungsobjekt zu tauschen, wenn man erst mal eingearbeitet ist, aber für ein Küken wie mich, das noch keinen Monat dabei ist, scheint so ein Tausch in unendlicher Ferne zu liegen.
Ich kann meinem Job nicht viel abgewinnen, habe mich inzwischen aber daran gewöhnt, den ganzen Tag in diesem Gebäude zu verbringen. Für mein heutiges Überstundenessen mache ich mir einen Kiosk-Bagel warm, den ich mit Schinken und Käse aus dem nächstgelegenen Supermarkt aufgepeppt habe. Da das übliche Yakisobabrötchen gut genug schmeckt, will ich solchen Aufwand eigentlich gar nicht betreiben, aber Yamaë Yamamotos Bagel sah so verlockend aus, dass ich mir auch einen zubereite. Mir schmeckt er ausnehmend gut, aber Yamaë Yamomoto macht kein besonders glückliches Gesicht, vielleicht, weil sie die ständig isst. Vielleicht aber auch, weil sie mit der Arbeit nicht vorankommt.
Auf meine Frage, ob man nicht im Laufe der Zeit anfange, sich wie das Observierungsobjekt zu benehmen, erwidert Frau Oizumi: »Doch, natürlich«, und nickt.
»Das vor-vorherige Objekt, die war zwei Jahre jünger als ich und in einer Firma angestellt, war für das bisschen Geld, das sie zur Verfügung hatte, immer schick. Beim Einkaufen habe ich dann festgestellt, wie sie das macht, welche Accessoires sie zum Beispiel benutzt, und das habe ich dann auch probiert, mit dem Ergebnis, dass meine Tochter mich jetzt auch schick findet.«
»Hört, hört.«
»Auf Chief Someya färbt anscheinend auch noch manchmal was ab. Dabei ist er schon so lange dabei.«
»Ja? Was denn zum Beispiel?«
»Das verrät er leider nicht …«
Dann sagt sie noch, dass Yamaë Yamamoto ständig Eintöpfe esse, da würde man überhaupt keine Anregungen fürs Familien-Abendessen bekommen, und fragt, wie man den Flächeninhalt eines Parallelogramms berechne, das wolle ihre Tochter wissen. Seite mal Höhe, ganz normal, antworte ich. Ach so, sagt sie, die sehe man so selten im täglichen Leben, und geht.
Neidisch, dass Frau Oizumi nach Hause gehen kann, wende ich mich wieder der mit ihrer Arbeit nicht vorankommenden Yamaë Yamamoto auf dem Bildschirm zu. Frau Oizumi arbeitet Teilzeit, ich Vollzeit, allerdings noch auf Probe. Werde ich nach der Probezeit für tauglich befunden, werde ich automatisch übernommen. Für mich hätte es auch Teilzeit sein dürfen, denke ich, auch wenn man als Teilzeitkraft weniger verdient. Aber das hatte mir die Beraterin mit dem »Ich habe genau das Richtige für Sie« gar nicht angeboten, was vielleicht bedeutet, dass das Unternehmen seinerzeit nur eine Vollzeitstelle zu besetzen hatte. Ob ich jetzt noch darum bitten könnte, mich auf einen Teilzeitjob zurückzustufen? An wen müsste ich mich dann wenden? An Chief Someya?
Yamaë Yamamoto scheint es mit der Arbeit gut sein zu lassen. Sie wendet sich einem Onlineprospekt zu. Den Sonderangeboten des Supermarkts um die Ecke anscheinend, wie ich beim Hineinzoomen feststelle. Das ist der Markt, dessen Überwachung Frau Oizumi obliegt. Wenn ich mich nicht täusche, hat der bis Mitternacht geöffnet, denke ich, während ich mir die Angebote ansehe, durch die Yamaë Yamamoto scrollt. Nachdem wir über Küchenpapier und andere Dinge des täglichen Lebens, Süßigkeiten und Gemüse zum Fleisch gelangen, fällt mir Würste (Direktimport) – 1 kg ins Auge. Weißwürstchen. Noch dazu ein Kilo 498 Yen!!!!!!!!!!! Das nenne ich mal ein Angebot! Yamaë Yamamoto scheint es ähnlich zu gehen. Sie klebt förmlich an der Anzeige. Ich werfe einen Blick auf die Uhr in der Menüleiste. Noch zwei Stunden, dann mache ich Feierabend, beschließe ich. 498 Yen!!!!!!!!!!! Die kauf ich. Für den Preis kauf ich die.
*
Am nächsten Tag schleppe ich mich erschöpft über die Straße zur Arbeit. Nicht dass mir nicht öfter mal ein Missgeschick passieren würde, aber hätte ich doch bloß einen Blick auf den Zeitraum geworfen, in dem die Angebote gültig waren! Die in den Prospekt vertiefte Yamaë Yamamoto, der ich gestern über die Schulter schaute, war die Yamaë Yamamoto von vorgestern, und das Sonderangebot galt nur vorgestern, was mir hätte auffallen können, wenn ich nicht so auf die Würstchen fixiert gewesen wäre. Ich bin also ganz umsonst kurz vor zwölf in den Supermarkt gerannt. Der Supermarkt ist bloß fünf Minuten entfernt, insofern ist ganzumsonst vielleicht ein bisschen übertrieben, aber nachdem ich mich in den zwei Stunden bis Feierabend so auf die Würstchen gefreut hatte, war die Auskunft der Angestellten, das Angebot habe nur den vergangenen Tag gegolten, die Würste seien komplett ausverkauft, ein Schock! Sie habe gleich drei Kilo gekauft, so viel passe gar nicht in ihren Kühlschrank, a-hahahaha, mischte sich aus unerfindlichen Gründen im Vorbeigehen ein Tantchen ein; ich hätte sie am liebsten umgebracht. Morgen gehe ich nicht zur Arbeit, dachte ich. Morgen bleibe ich den ganzen Tag zu Hause und lecke meine Wunden. Oder ich ramme das Tantchen mit meinem Einkaufswagen und haue ab.
Aber auch trüben Nächten folgt ein Morgen. Mit einem Gesicht wie eine abgelaufene Schuhsohle – so bin ich zuletzt zu meiner alten Stelle gegangen – überquere ich die Straße vorm Haus und zur Arbeit. Ein kurzer Weg zur Arbeit ist nicht schlecht; zu kurz, finde ich, darf er allerdings auch nicht sein. Denn dann lässt sich der morgendliche Missmut nicht ganz abschütteln. Bei meinem jetzigen Job gehe ich erst um zehn Uhr morgens aus dem Haus, fange also vergleichsweise spät an zu arbeiten, aber das bringt mir nichts, wenn ich erst nach elf Uhr abends Feierabend machen kann.
Ich schalte die beiden Monitore ein, fahre den Rechner hoch, lasse links die neueste Aufzeichnung von gestern laufen und rechts die Aufnahme von vorgestern, dem Tag, an dem Yamaë Yamamoto einkaufen war. Wenn Yamaë Yamamoto von einem ihrer Ausflüge kommt, ist sie immer wie ausgewechselt, frisch und munter. Sie kauft nicht so viel, dass man behaupten könnte, sie kaufe gerne; wahrscheinlich macht ihr bloß das viele Sitzen zu schaffen. Das macht mir auch zu schaffen, aber im Gegensatz zu Yamaë Yamamoto, die sich ihre Zeit frei einteilen kann, kann ich mir nicht eben mal ein Mittagessen kaufen gehen. In puncto Bewegung ist sie flexibler als ich.
Während die Yamaë Yamamoto links, in der Aufnahme von gestern, mit verschränkten Armen vor ihrem Laptop sitzt und nicht weiterkommt, nimmt die vom Einkaufen zurückgekehrte Yamaë Yamamoto rechts, in der Aufnahme von vorgestern, ein einfaches Essen zu sich – eine Schale Soba garniert mit Frühlingszwiebeln, frittiertem Tofu und gehobeltem Seetang –, und eilt geschäftig an ihren Schreibtisch zurück, wo sie Fernseher und Videorekorder einschaltet. Sofort läuft ein Stand-up-Comedy-Special. »Oh nein«, entfährt es mir. Auf dieses Programm habe ich gewartet. Kann doch nicht sein, dass das schon gelaufen ist? Ach Mensch. Woher soll ich bei meinen Arbeitszeiten wissen, wann das läuft, wenn mir niemand Bescheid sagt!
Das tonlose Schauspiel macht mich bloß wütend. Angestrengt das Gesicht verzogen, versuche ich zu begreifen, wer oder was da aufs Korn genommen wird, doch ohne Erfolg. Ich kann nicht einmal erkennen, ob die Witze gut ankommen oder nicht. Yamaë Yamamoto lacht und lacht. Wie schön, dass sie sich amüsiert! Nach drei Komikerduos checkt sie die verbleibende Zeit, drückt auf »Pause« und geht in die Küche. Obwohl dort, nach allem, was bisher passiert ist, wohl kaum die »Ware« auftaucht oder sie die »Ware« entgegennimmt, schalte ich vorschriftsgemäß auf die Kamera in der Küche um, wo Yamaë Yamamoto gerade lächelnd etwas Weißes aus dem Kühlschrank nimmt. Die Weißwürste! Die, die mir nicht vergönnt gewesen waren. Sie reißt die Packung auf, entnimmt ihr zwei Würstchen und schneidet sie mit einem Küchenmesser ein. Dann stellt sie eine Pfanne auf den Herd und brät sie.
Ich schnaube. Mein Unmut gilt der Person, die sich das Programm ansieht, das ich nicht aufnehmen konnte, und Würstchen brät, die ich nicht kaufen konnte. Im Handumdrehen sind sie gar. Yamaë Yamamoto füllt Ketchup in ein Schälchen und sprenkelt Currypulver darüber. Dann taucht sie die Wurst hinein und isst.
Ich stoppe die Aufnahme von vorgestern fürs Erste, stütze mich auf die Armlehnen meines Bürostuhls und lasse den Kopf sinken. Was für ein Pech, denke ich. Ja, ja, es gibt Schlimmeres, ich weiß, trotzdem will ich mich einen Moment meinem Frust ergeben. Ich reiße mich auch wieder zusammen, spätestens übermorgen, versprochen.
Ich war motiviert gewesen, hatte mich aber permanent sowohl quantitativ als auch qualitativ so betrogen von meinem Job gefühlt, dass ich gekündigt hatte und wieder bei meinen Eltern eingezogen war. Dann war das Arbeitslosengeld ausgelaufen. Yamaë Yamamoto zu beschatten, hatte ich geglaubt, wäre immer noch besser, als selbst unter Beobachtung zu stehen. Aber da hatte ich mich getäuscht!
Ich stoppe auch das linke Bild und stehe auf wie ein Bär, der gerade aus dem Winterschlaf erwacht ist. Mit hängenden Schultern tappe ich aus dem Büro und mache mich auf den Weg zum Kiosk. Mir steht der Sinn nach, wie soll ich sagen, irgendetwas Spritzigem. Eine Mischung aus Pflaume und Schwarzem Reisessig wäre ideal, aber ob es das im Kiosk gibt?
Aus Sorge, versehentlich das Atmen zu vergessen, wenn ich schweige, lege ich dem Kioskmädchen in einem Atemzug dar, was ich gerne trinken würde. »Dann mixe ich Ihnen das«, erwidert sie beschwingt und verschwindet im hinteren Teil des Ladens. O Gott, meldet sich mein Verstand, wer weiß, was die mir jetzt kredenzt. Aber schlimmer als das, was Yamaë Yamamoto mir angetan hat, kann es nicht werden, also, was soll’s?
Mit einem Pappbecher von etwa der Größe des kleinsten Bechers eines Getränkeautomaten kommt das Mädchen zurück. »Bitte sehr«, sagt sie und reicht ihn mir. Das sprudelnde dunkelgelbe Getränk sieht tatsächlich so aus, wie ich es beschrieben habe. Nach Pflaume riecht es auch.
»Was macht das?«
»Ähm … Vierhundert Yen.«
Wow. Das ist teuer. Und was heißt »ähm«? Dass sie den Preis ad hoc bestimmt hat? Da mir schon beim Nippen bewusst wird, wie belebend dieser Drink sein wird, stelle ich den Becher an die leere Stelle auf dem Kassentresen, zücke mein Portemonnaie und bezahle exakt vierhundert Yen. Ich versuche mich zu erinnern, was hier vorher gestanden hat, aber es will mir partout nicht einfallen. Währenddessen leere ich den Becher bis zur Hälfte. Essig, Kohlensäure und Süße. Ein klarer Fall von Doping!
»Das Meditationsbuch ist ausverkauft. Vielleicht haben Sie eine Idee, welchen Titel ich als Nächstes ins Sortiment nehmen könnte«, sagt das Mädchen lebhaft, den Finger auf den leeren Platz auf dem Kassentresen gerichtet.
»Seit ich wegen eines Burn-outs an meiner alten Arbeitsstelle gekündigt habe, kann ich nicht mehr lesen.«
Das klingt übertrieben, stimmt zur Hälfte aber. Mehr als eine Seite Text pro Tag macht mich so fertig, dass ich zu nichts mehr zu gebrauchen bin. Gleichzeitig bin ich wie aufgeputscht.
»Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
Das Mädchen hat mir wohl nicht zugehört. »Ich denke darüber nach«, sage ich und wende mich zum Gehen.
Mein gequälter Tonfall hält sie natürlich nicht davon ab, mir ein »Ja, bitte. Unbedingt!« nachzurufen. Die Vertrautheit darin verleiht ihr etwas Verlässliches, aber der Matetee ist immer noch nicht da, und abgesehen davon ist sie eine Person, die ihre Preise ad hoc bestimmt!
Noch bevor ich wieder an meinem Arbeitsplatz sitze, habe ich den Drink geleert. Er hat mich zu einem gewissen Grad zwar wieder aufgemuntert, aber jetzt muss ich mich erneut an die Beobachtung von Yamaë Yamamoto machen, die mit so viel mehr Glück gesegnet ist als ich. Dann doch lieber eine glückliche Familie beobachten, Frischvermählte oder ein Paar, das gerade ein Baby bekommen hat, im Lotto gewonnen, was weiß ich, eine Familie jedenfalls, deren Leben in keiner Weise meinem eigenen ähnelt. Eine ausländische am besten. Frisch verheiratete Inuit oder eine Familie in Patagonien, die gerade Nachwuchs bekommen hat, würde ich mir wünschen, aber leider beschränkt sich das Unternehmen, in dem ich arbeite, weitestgehend auf die Observierung inländischer Objekte, noch dazu auf solche, die im näheren Umkreis wohnen.
Mit Yamaë Yamamoto, die allein zu Hause arbeitet und mit ein paar Aufträgen als Freelancerin ganz gut über die Runden zu kommen scheint, verbindet mich, die ich trotz meiner Liebe zur Arbeit von den Arbeitspflichten erdrückt worden und wieder bei meinen Eltern eingezogen bin, mehr als mit dem oben erwähnten Personenkreis. Gerade weil ich sie so gut verstehe, greift mich ihre Beobachtung wohl dermaßen an.
Sowohl die linke Yamaë Yamamoto, die immer noch deprimiert vor ihrem Computer sitzt, als auch die rechte, die sich Würstchen essend über die Comedians amüsiert, muss über kurz oder lang wieder an die Arbeit gehen, sodass die Bilder bald nicht mehr zu unterscheiden sein werden. Fast bekomme ich Mitleid, aber die rechte Yamaë Yamamoto hat wenigstens Würstchen im Bauch. Ich schüttele den Kopf.
*
Machio leerte sein Bier, als wollte er damit die Erschöpfung der zahlreichen Überstunden hinunterspülen. Als ihm bewusst wurde, dass er den Halbliterkrug in nur drei Zügen hinuntergestürzt hatte, grinste er bitter. Dessen ungeachtet nahm die junge Köchin des Kushiage-Lokals, an dessen Tresenende er saß, weiter gleichgültig Bestellungen auf und frittierte stoisch. Unter ihrem Kopftuch lugte ein fast briefumschlagbraun aufgehellter Pony hervor. Heute würde er Kräuterseitlinge im Speckmantel, Ginkgonüsse und Wachteleier essen, dachte Machio.
Wohl kaum, denke ich. Im vorvorletzten Kapitel hat Machio so viele Ginkgonüsse gegessen, dass er umgefallen ist und Samstag, Sonntag das Bett hüten musste. In Romanzeit wäre das erst letztes Wochenende gewesen. Dass Machio innerhalb so kurzer Zeit das Ginkgonuss-Debakel vergisst, kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem hat er sich doch beim Verlassen der Firma darüber gewundert, dass er früher als sonst Feierabend hat. An Überstunden kann die Erschöpfung, die er »hinunterspülen« will, also nicht liegen. Wäre es demnach nicht besser, die Erschöpfung auf »die Arbeit der letzten Tage« zurückzuführen, als auf »Überstunden«?
Kopfschüttelnd zoome ich aus Yamaë Yamamotos Bildschirm wieder heraus. So eifrig, wie sie ihre Ungereimtheiten dahinschreibt – anscheinend ist sie heute besser in Form als sonst –, kann ich mir meine Kommentare wohl sparen. Ob alle Autoren so nachlässig arbeiten? Oder schreiben die, einmal in Schreiblaune, alles in einem Rutsch hinunter und überarbeiten es anschließend gewissenhaft? Aber Yamaë Yamamotos Machio schielt auf die vier (!) ausschließlich mit Ginkgonüssen bestückten Spießchen, die die Frau neben ihm auf dem Teller liegen hat. Wenn das so weitergeht, muss das vorvorletzte Kapitel, in dem Machio sich an den vielen Ginkgonüssen den Magen verdirbt, umgeschrieben werden. Müssen die Nüsse durch Austern ersetzt werden oder so.
Aber auch diese Empfehlung kann ich mir sparen, denn die Kontaktdaten der Objekte bleiben vorschriftsgemäß unter Verschluss. Wenn es nicht dem Zweck der Beobachtung dient, dürfen die Beobachter unter keinen wie auch immer gearteten Umständen Einfluss auf die Objekte nehmen. Kommt einem etwas komisch vor, hat man sich an Chief Someya zu wenden, der die Sache allerdings auch nur eine Etage höher gibt, denn selbst ihm wird angeblich weder die Telefonnummer noch die Adresse einer Zielperson mitgeteilt. Einmal sei in der Wohnung eines Objekts, kurz nachdem dieses mit seiner Familie zu einem Ausflug ins Tokioter Disneyland aufgebrochen war, hinter dem Fernseher ein winziger Kabelschaden entdeckt worden. Fünfzehn Minuten, nachdem Chief Someya informiert worden sei, seien streng geheim ein Feuerwehrmann und ein Techniker angerückt und hätten Schlimmeres verhütet. Selbst heute habe das Objekt nicht die geringste Ahnung, wie knapp seine Wohnung damals einem Brand entgangen sei. Von ihm aus hätte dem in RL ruhig die Hütte abbrennen können, sagte Herr XY, den ich heute in der Teeküche kennenlernte. Da ich die Zeichen seines Namens nicht lesen konnte, taufte ich ihn fürs Erste Mister Anime. Als wir über den Kiosk lästerten und ich ihm die Sache mit dem Matetee erzählte, beschwerte er sich nämlich, dass er keine Anime-DVDs geliefert bekäme.
»Der war seiner Frau und seinen drei Kindern gegenüber so, wie soll ich sagen, abfälligdrauf. Worauf wartest du, iss oder Idiot war bei dem an der Tagesordnung. Ich würde so was nie zu meinen Kindern sagen, wenn ich welche hätte, natürlich, ich bin nicht verheiratet, hab nicht mal ’ne Freundin, bloß diesen Job, der unspektakulärer nicht sein könnte, das macht mich fertig, ehrlich.«
Auf meine Frage, ob er über das Kioskmädchen Anime-DVDs bestellt habe, antwortete Mister Anime, der schätzungsweise fünf Jahre jünger ist als ich und eine dicke runde Brille trägt, ja, zwei. Der eine heiße The Dark Crystal, den anderen brauche er gar nicht zu nennen, den würde ich sowieso nicht kennen. Mir war es gleich. Ich kannte nicht einmal den ersten.
In den meisten Fällen bekäme man, Mister Anime zufolge, der inzwischen anderthalb Jahre in der Firma ist, ein Objekt zugeteilt, das in etwa dasselbe Alter und dasselbe Geschlecht hätte, aber wie schon in der Schule gäbe es Leute, mit denen man gut zurechtkäme, und solche, mit denen man weniger gut zurechtkäme, und deren Beschattung sei eine echte Qual. Den Typen mit dem Kabelschaden beispielsweise habe er überhaupt nicht leiden können, da habe ihn die Arbeit wirklich Überwindung gekostet. Solche mismatches seien recht häufig, aber er habe sich seinerzeit mit der Geschäftsführung darauf geeinigt, verhandeln zu können, wenn er wirklich mal jemanden observieren müsste, der ihm total gegen den Strich ginge, und das sollte ich auch tun, sobald meine Probezeit zu Ende wäre und ich festangestellt würde.
Als ich ihm von den Weißwürsten erzählte, winkte er lässig ab. »Ganz unter uns«, schickte er voraus, ich glaube ja gar nicht, was er auf seinem Beobachtungsposten schon alles erlebt habe. Nicht nur Ehepaare, die vor laufender Kamera eine Nummer schöben, auch solche, die sich so fetzten, dass man beim Zuschauen Mitleid bekäme. Wenn die sich bloß kabbelten, okay, aber sobald es um Geld, Sorgerecht oder die Pflege der Eltern gehe, würde es hart, sagte Mister Anime, schlug die Augen nieder und leerte seinen Pappbecher mit dem Rest Real Gold darin. Dankbar, dass bei Yamaë Yamamoto rein gar nichts passierte, wuchs in mir die Sorge, dass die Fortführung dieser Arbeit womöglich riskant sein könnte.
