Lauf um dein Leben, Amir! - Yalcin Kilicer - E-Book

Lauf um dein Leben, Amir! E-Book

Yalcin Kilicer

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Beschreibung

Im Rahmen eines Exklusivinterviews erzählt der neue deutsche Olympiasieger in Eiskunstlauf, Amir Hammadi, seine Lebensgeschichte. Die Lebensgeschichte des als Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommenen Jungen wird begleitet vom Irakkrieg, illegale Einreise nach Deutschland und der Herausforderung der Integration ...

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Kapiteln

Olympische Winterspiele 2018

Kindheit, Familie und Eislaufen

Das Jahr 2003

Eine beschwerliche Reise

Asylant

Klassenausflug

»Ich kann Deutsch«

Gute Nachrichten

Olympische Winterspiele 2018

Amir durchblickt mit höchster Konzentration die schweigende Menge im Publikum der ausverkauften Gangneung ICE Arena in Südkorea. Noch ein letzter Blick zu seiner Trainerin und zugleich Mentorin Claudia Hummel, die sehr angespannt am Rande der Eisbahn steht und beide Hände mit zwei festgedrückten Daumen in seine Richtung streckt.

Dann schließt Amir seine Augen und das Einzige, was er jetzt noch in seinen Gedanken wahrnimmt ist die Stimme seines Vaters.

» Lauf um dein Leben, Amir! «

Mit dem Erklingen des ersten Musiktons öffnet dieser erst 23 jährige junge Mann mit der goldbraunen Hautfarbe, tiefschwarzen und gelockten Haaren, seine großen braunen Augen und fängt an loszugleiten. Amir hat sich für seine Kür das Lied von der australischen Sängerin Sia aus dem Jahre 2016 ausgesucht.

» Unstoppable «

Im Takt zur Musik gleitet er zunächst langsam los, um anschließend parallel zu der ersten Tempoaufnahme im Lied zu beschleunigen. Dann setzt Amir zu seinem ersten Sprung, den Double Loop Jump, an. Er hebt seinen 65 Kilogramm leichten und 175 cm gewachsenen Körper mit einem leichten Schwung in die Luft und dreht sich zweimal in der Luft. Dieser erste Sprung gelingt ihm mit Bravour. Wofür er auch den ersten Applaus des Publikums erntet.

Das Überstehen der ersten Hürde, die Wahrnehmung der ansteigenden Stimmung aus dem Publikum und die Gewissheit des gelungenen Starts beflügelt Amir und er fängt an sich in einen Rausch zu gleiten.

Eine Figur nach der anderen meistert Amir ohne Fehler. Wobei er weiterhin gemäß dem Rhythmus des Liedes mal schneller und mal langsamer gleitet und dabei die jeweiligen Figuren und Sprünge mit technischer Perfektion vorführt.

Nun setzt Amir zu seinem letzten Sprung an, womit die Kür abgeschlossen und überstanden sein wird. Amir nimmt Anlauf und setzt zu einem finalen Sprung an. Er nimmt rasant Tempo auf und stützt sich mit dem linken Bein, während er mit dem rechten Bein den maximal möglichen Schwung aufnimmt und in die Luft abhebt. Mit dem Einzug des rechten Knies an seinen Körper beginnt Amir sich in der Luft zu drehen. Erste Drehung, zweite Drehung, dritte Drehung und dann die vierte Drehung mit gefolgter Landung auf dem rechten Bein, was mit einem filigranen Abschwung abgeschlossen wird. Im Einklang zu der Musik erhebt Amir zum Abschluss seiner Kür seinen rechten Arm und ballt seine Faust in der Luft und senkt dabei seinen Kopf leicht nach vorne. Somit hat Amir seine Aufführung ohne einen Sturz oder einen Fehltritt beendet.

Die Zuschauer in der Eissporthalle in Gangneung stehen auf und applaudieren Amir zu seiner herausragend und fehlerfrei aufgeführten Darstellung. All diese Menschen, die an diesem Tag in die Gangneung ICE Arena gekommen sind, wurden soeben Zeitzeugen des ersten vierfachen Axel Jumps bei den olympischen Spielen. Amir hat bei seiner ersten olympischen Teilnahme, als erster Eiskunstläufer überhaupt, den vierfachen Axel Jump aufgeführt.

Vom tosenden Applaus begleitet, gleitet Amir zum Rande der Eisbahn, um sich zu Claudia Hummel zu gesellen. Sein starkes Atmen und sein sich mal nach vorne und mal nach hinten bewegender Kopf machen deutlich, wie kräftezehrend die Aufführung gewesen sein muss und lassen die Beobachter erahnen, wie erschöpft Amir sein muss.

Angekommen am Rande der Eisbahn, wird Amir von seiner heranspringenden Trainerin umarmt. Durch das Fallen lassen in ihre Arme macht sich eine Erleichterung bei ihm frei, das sein gelöstes Lächeln widerspiegelt.

Mit Spannung erwarten die beiden die Wertung der neun Punkterichter des Olympischen Komitees. Jetzt erscheinen die Bewertungen auf dem Monitor der Gangneung ICE Arena.

Das bedeutet die Goldmedaille für Amir Hammadi bei den Olympischen Winterspielen in Südkorea 2018!

Amir und Claudia fallen sich vor Freude erneut in die Arme und die Tränen fließen unaufhörlich. Amir schnappt sich die Flagge und springt auf das Eis. Er hebt die Flagge hoch, die zur einen Hälfte aus der irakischen und zur anderen Hälfte aus der deutschen Flagge besteht. Die beiden Länder; in dem einen sein Leben anfing und in dem anderen sein Leben neu begann.

Das Publikum würdigt den neuen Olympiasieger mit Standing Ovation. Amir kann es kaum glauben, dass all die harte Arbeit sich ausgelohnt hat.

Das einstmalige Flüchtlingskind aus Sulaimaniyya, Amir Hammadi, ist nun mit seinen jungen 23 Jahren Olympiasieger im Eiskunstlauf für Deutschland geworden.

Nachdem Amir seine Siegerrunde gedreht und sich vom Publikum seinen hochverdienten Applaus geholt hat, geht es wieder runter vom Eis. An der Seite warten bereits die übrigen Mitglieder der deutschen Olympia Mannschaft und empfangen Amir mit begeistertem Jubel. Alle liegen sich in den Armen.

Anschließend nach dem Duschen und Umziehen geht es zur Siegerehrung. Auf dem Siegertreppchen steht Amir voller Stolz und schaut, wie die deutsche Flagge ganz oben hängt und die Melodie der deutschen Nationalhymne durch die Halle in Gangneung, Südkorea, schallt.

Nach der Siegerehrung geht es dann gleich weiter zu dem Interview mit dem Sender, der die Olympischen Winterspiele in Deutschland Live überträgt.

Nachdem die Pflichttermine und das Interview mit dem Sender beendet sind, wird Amir von der Journalistin Bianca Berger von der Zeitschrift Eiskunst für ein Exklusivinterview erwartet. Dieses soll in einem, hierfür reservierten, kleinen Nebenraum der Gangneung ICE Arena stattfinden.

Bianca Berger hat sich bereits vor den Olympischen Spielen einen Exklusivinterview mit dem als neuen Hoffnungsträger der deutschen Eiskunstlaufszene hervorstechenden und nun aktuell deutschen Olympischen Goldmedaillen Gewinner Amir Hammadi gesichert.

Für die 24-jährige Bianca Berger, die selbst noch am Anfang ihrer journalistischen Karriere steht, ist dieses Exklusivinterview zugleich das erste von ihr selbst geführte Interview. Dieses hat sie nach langen Bemühungen und durch die Vermittlung einer gemeinsamen Freundin, Aisha, arrangieren lassen können.

Nach der Begrüßung gratuliert Bianca Amir zu seinem großen Erfolg und bedankt sich für die Ermöglichung dieses Interviews. Amir erwidert

» Ist doch selbstverständlich, schließlich sind Sie extra für dieses Interview nach Südkorea geflogen. Ich habe mich bei Ihnen für Ihr Kommen und Interesse an meiner Person zu bedanken. Außerdem hat sich unsere gemeinsame Freundin sehr hartnäckig um diesen Termin bemüht. Und wenn Sie die Aisha so gut kennen wie ich, wissen Sie, dass sie stets ihren Willen durchsetzt. «

Begleitet von einem Schmunzeln deutet Bianca mit einem zustimmenden Nicken diese Aussage von Amir, ohne verbal etwas beizutragen.

Dann fügt Amir abschließend hinzu » Außerdem hoffe ich, dass Sie verstehen konnten, dass ich aufgrund der langen und intensiven Vorbereitungsphase keinen Interviewtermin mit ihnen einrichten konnte. «

Begleitet von diesen begrüßenden Worten nehmen Amir und Bianca auf den beiden Sesseln Platz. Außer den beiden Sesseln steht in diesem Nebenraum nur ein kleiner schwarzer Couchtisch, auf dem die von Bianca Berger organisierte Flasche mit stillem Wasser und zwei Gläser stehen.

Bianca Berger nimmt ihr Tonaufnahmegerät aus ihrer Tasche und platziert es auf dem Tisch, direkt neben ihrem Glas. Mit dem Betätigen des Aufnahmeknopfes beginnt das Interview mit Amir Hammadi.

Zu Beginn des Interviews möchte Bianca von Amir seine Gemütslage und seine aktuellen Gefühle wissen. Woraufhin Amir erzählt, dass er in diesem Moment selber immer noch nicht glauben kann, dass er es tatsächlich geschafft hat, die Goldmedaille zu gewinnen. Dann fährt er fort und erläutert, dass er eine unglaubliche Freude empfindet und, dass er vor seiner Anreise zu den Olympischen Spielen von so einem Erfolg nicht einmal geträumt hat.

Schließlich ist er mit dem Versuch des vierfachen Axel Jumps, ein enormes Risiko eingegangen und gesteht zugleich, dass er diesen Sprung zuvor nur zweimal ohne einen Sturz hinbekommen hatte.

Allerdings waren vor dem Finalauftritt Amir und seine Mentorin Claudia Hummel einer Meinung. So schnell kommt die Chance auf die Olympische Goldmedaille nicht wieder und ohne diesen Sprung würde dieser Traum wohlmöglich nicht in Erfüllung gehen. Schließlich war die Konkurrenz sehr stark.

Nach dieser zunächst zu erwartenden Frage-Antwort-Runde und der kurzen Wiedergabe seines Auftritts überrascht Bianca ihren Interviewgast und erzählt ihm von ihren Vorrecherchen bezüglich Amirs Lebensgeschichte. Die Recherche habe sie auf Anraten von Aisha betrieben und sie sei unabhängig von den Olympischen Spielen sehr beeindruckt von seiner Lebensgeschichte. Bianca bittet Amir um mehr Details.

Schließlich sei er in ihren Augen ein prägendes Beispiel für eine erfolgreiche Integration und zugleich Vorbild für die Millionen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Amir antwortete mit einer zögerlichen Stimme. » Ich fühle mich geehrt, aber ich weiß nicht so recht. Ich will mir jetzt so eine Position in der Gesellschaft nicht anmaßen. Eigentlich bin ich nur ein Eiskunstläufer, der sein Leben lebt. Da gibt es hunderte sogar tausende anständige und hart arbeitende Menschen mit Migrationshintergrund in der deutschen Gesellschaft, die täglich ihrem Beruf mit Pflichtbewusstsein und Disziplin nachgehen. Für mich sollten eher diese Menschen die wahren Vorbilder der Kinder und Jugendlichen sein. «

Bianca hat das Gefühl, dass Amir zögert und nicht ganz abgeneigt für ein privates Interview scheint. Während Amir noch zögert, schiebt Bianca eine Anmerkung und eine weitere Frage nach.

» Nicht falsch verstehen, diesen Menschen gehört aller Respekt und Hochachtung zugesprochen. Ich meinte nur, dass Sie zusätzlich eine Funktion als Vorbild haben könnten. «

» Vielleicht können Sie uns auch in diesem Kontext erläutern, was Sie meinen, wenn Sie sagen, der Eiskunstlauf ist mein Leben! «

Tatsächlich brachte Amir diese Aussage fast in jedem seiner Interviews, was durch die Häufigkeit eher schon als eine eher unglaubwürdig und schlecht versuchte Liebeserklärung an den Eiskunstlauf klang.

Amir, dem der abgedroschene Ruf dieser Aussage bekannt ist, lächelt auf diesen letzten Einwurf von Bianca hin und willigt ein. Er fragt mit einem Schmunzeln

» Na gut, wo soll ich beginnen? «

» Von Ihrer Kindheit im Irak, Ihren Eltern und wie Sie zum Eislaufen kamen? «

Kindheit, Familie und Eislaufen

Amir Hammadi, geboren am 15.03.1995 in Sulaimaniyya im Nordosten des Iraks, ist das einzige Kind von Fatima und Mohammad Hammadi. Die damals wohlhabende Familie lebte in einem großen Anwesen außerhalb der Stadt Sulaimaniyya. Das Anwesen stand auf einem Grundstück, dass von einem ein Meter hohen Mauerwerk umgeben war.

Auf dem Grundstück befanden sich verschiedene Obstbäume und ein kleiner Garten in dem Tomaten, Zwiebeln und Gurken geerntet wurden. Neben dem Haupthaus befand sich eine große Garage, in der Mohammad Hammadi einen Oldtimer Cadillac neben einem Mercedes E-Klasse Baujahr 2000 stehen hatte.

Als eine wohlhabende Familie beschäftigten sie auch eine Haushaltsgehilfin und einen Gärtner, die lediglich tagsüber kamen. Mohammad und Fatima Hammadi legten Wert darauf, am Abend die Zeit für sich alleine als Familie zu haben und waren gegen eine Haushaltshilfe, die im Haus übernachten würde.

Amirs Vater Mohammad Hammadi, ein großer schlanker Mann mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren und braunen Augen, war ein tüchtiger und erfolgreicher Geschäftsmann. Er war ein Importhändler, der verschiedene Waren von Stoffrollen und Teppichen bis hin zu einzelnen Antiquitäten im Angebot hatte.

Diese vertrieb er sowohl als Großhändler an den regionalen Handel als auch in seinem eigenen Laden, der sich in einer Händlerstraße im Zentrum von Sulaimaniyya befand, einzeln an die Kunden.

Trotz des Embargos seitens der Vereinigten Nationen gegen den Irak hatte es Mohammad Hammadi geschafft, seine Geschäftsbeziehungen über die Grenzen des Iraks auszuweiten. Durch seine Beziehungen konnte er auch die eine oder andere Besorgung und Gefälligkeit für manche regierungsnahen und einflussreichen Personen machen. Dabei waren es in erster Linie westliche Güter, wie Rum und Zigaretten, die sehr begehrt und beliebt waren. Durch diese Gefälligkeiten konnte Mohammad Hammadi seinen Handel betreiben, ohne dass er dem Regime von Saddam Hussein ein Dorn im Auge war und dieses sich bei seinen Geschäften einmischte.