Läuferopfer - Heike Wempen-Dany - E-Book

Läuferopfer E-Book

Heike Wempen-Dany

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die Lewis Chessmen zu rauben reizt ihn. Zugegeben, normalerweise würde er nie ein krummes Ding direkt vor seiner Haustür drehen. Doch als die wertvollen Schachfiguren Teil einer Ausstellung in der Limburger Staurothek sind, scheint die Gelegenheit günstig. Der Meisterdieb und Schachgroßmeister Walter Wollhausen setzt all sein Können ein. Doch dann geht alles schief. Nicht nur seine Ganovenehre gerät ins Wanken. Ein windiger Geschäftsmann sitzt ihm im Nacken, ebenso wie ein Kommissar, der ihm und seiner Geschäftsidee gefährlich nahekommt. Warum verhält sich sein bester Freund derart merkwürdig? Und wer versuchte ihn von der Straße zu drängen? Walter Wollhausen wird von seiner Vergangenheit eingeholt.

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Läuferopfer

Ein Dauborn-Krimi

Heike Wempen-Dany

Über die Autorin

Heike Wempen-Dany (*1976) wohnt mit Mann und vier Katzen in einem kleinen Dorf nahe Limburg. Als studierte Geisteswissenschaftlerin ließ sie Geschichte und Politik nie ganz los, auch wenn sie beruflich andere Pfade ein schlug. Geschichte und Geschichten habe es verdient entdeckt und erzählt zu werden.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.

© 2023 -Verlag, Altheim

Buchcover: Germencreative

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

»Ich bin zu dem persönlichen Schluss gekommen, dass zwar alle Künstler keine Schachspieler sind, aber alle Schachspieler Künstler.«

Marcel Duchamp

Für meinen Schatz! Danke, dass ich meinen Traum leben kann.

Prolog

(März 1990)

Die März-Temperaturen in Boston wurden in den Abendstunden unangenehm kühl. Zusammen mit dem Wind, der von der Massachusetts Bay hereinkam, machten sie einen Aufenthalt im Freien ungemütlich.

Walter Wollhausen sollte ihren Auftraggeber in einem privaten Flugzeughangar der Logan international Airports treffen.

»Wenn wir hier fertig sind, freue ich mich auf eine heiße Badewanne im Hotel«, flüsterte Bernd die Handflächen aneinanderreibend seinem Freund zu.

»Seit wann stehst du auf Baden?«

»Seit dem wir im Cour Season residieren. Du musst schon zugeben, dass die Suite der Hammer ist.«

»Übertreibe es nicht«, warnte Walter Wollhausen seinen Freund. »Wir können es uns nicht leisten, dass wir auffliegen. Ein Gelage im Hotel können wir uns demnach auch nicht leisten. Walter Wollhausen ist für die Welt da draußen ein hochbegabter, seriöser Schachgroßmeister.«

»Walter, ganz ruhig, es ist nur die Badewanne mit ein bisschen Badeschaum, kein Champagnerbad.

Schau du lieber, dass du deine morgige Partie nicht verlierst, sonst können wir den Auftrag hier vergessen. Meine Geldbörse gibt einen Aufenthalt hier nicht her.«

»Kein Problem, den Schweden schaffe ich morgen locker. Jetzt lass uns erst einmal hören, was unser chinesischer Auftraggeber von uns will.«

Walter klappte den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Kopf etwas ein, um sich vor dem kalten Wind zu schützen.

Ein schwarzer Chevrolet bog in diesem Moment um die Ecke und näherte sich dem Hangar.

Es ging los.

Aus dem Wagen stieg ein kleiner Chinese. Walter wusste, dass der zurückhaltend wirkende Mann millionenschwer war. In seiner abgetragenen Anzugshose mit dem zu weiten Wollpullover war er leicht zu übersehen.

»Mister Wollhausen«, sprach ihn eine leise Stimme an.

»Mister Chang«, erwiderte Walter.

»Schön, dass Sie es einrichten konnten. Ich habe einen Auftrag für Sie. Ihr Ruf eilt Ihnen nicht nur in der Schachwelt voraus.«

»Sie haben sich über mich erkundigt«, stellte Walter anerkennend fest.

»Natürlich habe ich das. Für so einen Auftrag möchte ich nur den Besten verpflichten. Aber lassen wir die Höflichkeiten und sprechen direkt über das Geschäft. Ich habe gehört, dass Sie bestimmte Kunstwerke beschaffen können. Ich bin an einem Gemälde von Jan Vermeer interessiert.«

»Soweit ich informiert bin, befindet sich das Werk im Isabella Stewart Gardner Museum.«

»Genau und deshalb komme ich zu Ihnen.«

Walter Wollhausens Herz hüpfte vor Aufregung. Das würde nicht leicht werden, aber er liebte die Herausforderung.

Der Abschied fiel kurz aus. Chang und Wollhausen vereinbarten, dass Walter sich nach der erfolgreichen Beschaffung des Gemäldes bei seinem Auftraggeber melden solle.

***

»Du glaubst, dass das mit der Verkleidung funktionieren wird?«

»Mach dir keine Sorgen. Die Leihuniformen des Boston Police Departments sehen täuschend echt aus. Das Überraschungsmoment wird auf unserer Seite sein.«

»Aber wenn wir sprechen, wird das Wachpersonal merken, dass wir keine Amerikaner sind.«

»Das können sie ruhig. Wichtig ist, dass wir ein paar Worte Italienisch fallen lassen. Glaube mir, die Amerikaner werden das nicht unterscheiden können und im besten Fall denken, dass die Mafia hinter dem Raub steckt.«

»Ach dafür musste ich die paar Brocken Italienisch lernen.«

»Wir werden auch eine zweite Täuschung einbauen.«

»Da bin ich mal gespannt, was du dir noch ausgedacht hast.«

»Wir werden nicht nur ein Gemälde mitnehmen.«

»Werden wir nicht? Hat der Chinese noch eins geordert?«

»Nicht wirklich, aber er hat auch nichts dagegen, wenn es mehr werden.«

»Wie mehr werden? Wie viele willst du denn mitnehmen?«

Walter Wollhausen und sein Freund Bernd entwendeten in der Nacht vom 18. März 1990 insgesamt 13 Kunstwerke aus dem Isabella Stewart-Gardner-Museum.

***

Der Trick mit der Verkleidung als Polizisten ging auf.

Ihnen war es gelungen, das Wachpersonal an der Nase herumzuführen.

Sie näherten sich zu Fuß dem Hinterausgang des Museums. Ihren Van hatten sie in einer Seitenstraße weiter geparkt.

Zwei Männer des Wachpersonals hatten sich für eine heimliche Zigarettenpause am Hintereingang getroffen. Die Tür war nur angelehnt.

»Du bist dir sicher, dass die auch heute Nacht rauchen gehen?«, fragte Bernd unruhig.

»Ich bin mir todsicher. Die gehen seit Tagen immer um diese Uhrzeit rauchen. Das ist die Gelegenheit für uns.«

Walter Wollhausen sollte Recht behalten. Pünktlich um 0:20 Uhr öffnete sich die Stahltür. Einer der Wachleute schob einen Backstein zwischen Tür und Türrahmen, um zu verhindern, dass diese wieder zufiel.

Die beiden Wachmänner zündeten sich jeweils eine Zigarette an und zogen genüsslich daran.

Das war der richtige Zeitpunkt für die beiden Ganoven Walter und Bernd.

Sie schlenderten auf die rauchenden Männer zu.

»He, Guys«, begrüßten sie die beiden.

»Alles okay, Office?«, fragte einer der beiden verdutzt.

»Routinepatrouille«, entgegnete Bernd.

»Uns wurden ein paar zwielichtige Gestalten in der Gegend hier gemeldet und da wollten wir sicherheitshalber nachschauen«, ergänzte Walter.

»Hier ist alles ruhig. Wir haben niemanden gesehen.«

»Das sind gute Nachrichten«, bestätigte Bernd. Mit zwei schnellen Schritten stand er plötzlich hinter einem der beiden Wachmänner und bohrte ihm eine Pistole in den Rücken.

»Und damit das so bleibt, gehen wir alle ruhig und entspannt nach drinnen.«

Das Überraschungsmoment lag auf der Seite der beiden Räuber. Vor lauter Schreck fiel den beiden Wachmännern die Zigarette aus dem Mund. Im selben Moment hoben sie die Hände.

Kaum im Gebäude angekommen, lief alles wie am Schnürchen.

Die Jungs vom Wachpersonal verschnürten sie wie große Geschenkpakete und ließen sie im Keller liegen.

Bernd behauptete immer, dass er damals den Clinchknoten als Festmacherknoten zum ersten Mal gebunden hatte.

Walter war das damals egal und heute immer noch. Doch es freute ihn, dass Bernd augenscheinlich Freude an solchen Dingen hatte.

***

Jan Vermeers »Das Konzert« verschwand in irgendeinem chinesischen Bunker.

Bei der Übergabe der Gemälde konnte Walter kaum eine Gefühlsregung in Mister Changs Gesicht erkennen, bis zur Geldübergabe.

Die beiden Männer standen sich erneut in dem privaten Flugzeugshangar gegenüber. Sie reichten sich die Hände. Ein Funkeln in Mister Changs Augen war dann doch für einen kurzen Moment zu erkennen.

Dieser Mann hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass er unbedingt dieses Gemälde besitzen wollte. Die anderen waren für ihn nur Beiwerk, die über weitere Mittelsmänner in anderen geheimen Privatsammlungen verschwinden würden.

Die Medien hatten später darüber spekuliert, ob die italienische Mafia hinter diesem spektakulären Coup gesteckt hatte.

Wer hätte schon damit gerechnet, dass zwei Krauts alle so an der Nase herumgeführt hatten.

Eins

(Februar 2014)

Achim Baumeister stand am Fenster und starrte in die Nacht. Der blonde kleine Mann sah zerbrechlich aus in seinem dunkelblauen Trainingsanzug. In der Ferne konnte er die Schatten der sich angrenzenden Felder erkennen, die sein aktuelles Dach über dem Kopf umgaben. Dahinter war es stockfinster. Vereinzelnd erkannte er kleine tanzende Schneeflocken. Die ersten in diesem Jahr. Achim rollte mit den Augen. »Musste es unbedingt jetzt anfangen zu schneien?«

Er mochte Schnee nicht. Diesen Riesenrummel um die weiße Pampe gar verstand Achim Baumeister nicht.

Rutschte man aus, verletzte man sich. Es gab Statistiken belegten, dass in den Wintermonaten die Einlieferungen wegen Knochenbrüchen in den Notaufnahmen höher waren als in den Sommermonaten.

Außerdem legten diese wild tanzenden Flocken den Verkehr lahm. Er würde in den nächsten Stunden ein Auto benötigen.

Warum fiel ihm in dem Moment der Bericht ein, den er vor ein paar Tagen im Fernsehen gesehen hatte? Da wollten doch Wissenschaftler am Fraunhofer -Institut für Molekularbiologie und angewandte Ökologie in Münster in Zusammenarbeit mit dem Reifenhersteller Continental an einem Produkt arbeiten zur Gewinnung von Kautschuk aus Löwenzahn. Unbegreiflich, auf welche Ideen die Menschheit immer wieder kam.

Fernsehen, die einzige Freiheit, die ihm geblieben war.

Mit dem eingesperrt sein, kannte er sich aus. Das hatte seinem Leben trotz aller Widrigkeiten immer wieder eine gewisse Struktur gegeben. Doch jetzt hieß es, sich wieder der Welt da draußen zu stellen. Raus aus den Vorgaben, die andere für ihn getroffen hatten. Da draußen war er wieder für sich allein verantwortlich. Kein doppeltes Netz mehr.

Die Welt wurde immer verrückter. Bei dem Gedanken grinste Achim unvermittelt. War er nicht gerade eingesperrt und galt als verrückt?

Die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im hessischen Hadamar bot ihm zurzeit ein Dach über dem Kopf. Anders konnte er diesen Ort nicht benennen, der ihm ein Bett und warme Mahlzeiten und auch Fernsehen sicherte.

Historisch bot dieser Ort eine traurige Geschichte. In den Nebengebäuden der Klinik befand sich die Gedenkstätte Hadamar. Hier gedachten man den während der NS-Zeit ermordeten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen.

Seine persönliche Geschichte war mindestens genauso unfassbar und nervenaufreibend.

Die schlurfenden Schritte auf dem Gang wurden immer leiser und holten Achim aus seinen Gedanken heraus. In etwa zwei Minuten und 32 Sekunden würde Frank, der Betreuer für den heutigen Nachtdienst, seine letzte Runde vor dem Schichtwechsel absolviert haben. Achim Baumeister hatte sich tage – und nächtelang die Arbeitsabläufe der Pfleger und Schwestern der Klinik genau eingeprägt, er kannte jede Gewohnheit und jedes Schlupfloch im Gebäude.

Die schmalen vierstöckigen Gebäude der Klinik war Ortsausgang gelegen. Weitläufigen Felder und ein kleines Wäldchen schmiegten sich an landwirtschaftlichen Nutzflächen. Die Aussicht lange Spaziergänge in der Natur zu unternehmen, gehörte für einen Teil der Patienten zum Therapieplan.

Achim Baumeister gab die schöne landschaftliche Umgebung, die Möglichkeit ungestört seinem aktuellen Zuhause auf Nimmerwiedersehen zu sagen.

Er verließ diese Einrichtung mit einem lachenden und weinenden Auge. Die Ärzte und Pfleger hatten ihn stabilisiert und ihm geholfen, seine innere Mitte wieder zu finden.

»Hallo Achim, hast du die letzte Olympiaübertragung aus London gesehen«, wollte Frank der Pfleger wissen.

»Ich wusste gar nicht, dass Kanufahren so spannend sein kann.«

»Mich reizen ja mehr die Leichtathletik-Wettbewerbe.«

»Die stehen bei mir als nächstes auf dem Plan. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so entspannt Sportveranstaltungen im Fernsehen anschauen kann.«

»Ich kann mich noch an deinen ersten Tag hier erinnern. Wie ein gefangenes Tier bist du immerzu auf und ab gelaufen. Ich hatte erwartet, dass du irgendwann umfallen würdest.«

»Ihr habt ein wahres Wunder vollbracht. Das ist für mich auch immer noch unfassbar.«

Achim war in den letzten Jahren durch die Hölle gegangen. Nach seiner Rückkehr aus Afrika litt er unter Albträumen und Schlafstörungen. Tote Gesichter suchten ihn immer wieder heim, wenn er die Augen schloss.

Tagsüber sah es nicht besser aus. Pausenlos hatte er das Gefühl beobachtet zu werden. Einmal war er durch die schmalen Straßen von Limburgs Altstadt geirrt. Jeden Hauseingang hatte er als Schutz genutzt und sich immer wieder umgesehen. Er konnte keinen Verfolger ausmachen.

Das Gefühl hatte den ganzen Tag angehalten. Am Abend meinte Achim seinen Verfolger unter den anderen Obdachlosen ausmachen zu können.

»Was starrst du mich die ganze Zeit so an? Willst du mir an den Kragen? Ich werde es dir nicht leicht machen«, brüllte Achim Baumeister dem zahnlosen Obdachlosen am anderen Ende ihres Nachtlagers entgegen.

»He, sag was. Sprich mit mir. Wer schickt dich?«, versuchte er die Aufmerksamkeit des verdutzt dreinblickenden Mannes zu bekommen.

»Wir können es auch sofort hier austragen, Mann gegen Mann. Schnell und sauber. Komm schon.«

Mit diesen Worten schälte er sich aus seinem Schlafsack. Er wollte gerade auf seinen vermeintlichen Gegner zustürmen, als Olaf, ein bulliger Mittsechziger, sich ihm in den Weg stellte.

»Kleiner, du legst dich entweder wieder zurück in deinen Schlafsack und hältst die Klappe oder du fängst dir von mir eine. Von Mann zu Mann, wenn du verstehst, was ich meine.«

Erschrocken starrte er Olaf an. Was passierte da mit ihm? Ohne einen weiteren Mucks von sich zu geben, schlüpfte er zurück in seinen Schlafsack. Er zog die Beine an seinen Körper und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.

Binnen kürzester Zeit konnte er die Situation nicht mehr ohne Alkohol ertragen. Dieser gab ihm das Gefühl, für einen Moment seinem Leben entfliehen zu können. Er fühlte sich dann so leicht an. So unbeschwert. Fast fröhlich. Einfach gut. Doch je betrunkener er wurde, desto panischer wurde er, wenn der Rausch verflogen war.

Es kam, wie es kommen musste. Er verlor seine kleine Wohnung und landete auf der Straße.

Den Platz unter der Brücke hatte er sich erkämpfen müssen. Erinnern konnte er sich nicht mehr an diese Zeit. Da war irgendetwas mit einer Bierflasche mit abgebrochenem Hals, ausgerissenen Haarbüscheln, jede Menge blauer Flecken und Blut.

Das Leben auf der Platte war im Grunde genommen ähnlich hart. Dies hatte er an anderen Orten bereits gelernt. Und so erarbeitete er sich den Respekt dort, wie er es in den letzten Jahren selbst mit vielen Schmerzen erfahren hatte.

Der windgeschützte Platz unter der Brücke war für den Moment sein Zuhause. Sein Inneres war nach wie vor so zerrissen, dass er fast die Hoffnung aufgegeben hatte, je wieder eins mit sich sein zu können.

Doch in all seiner Hoffnungslosigkeit begegnetet ihm ein Mensch. Ein Engel.

Ein Sozialarbeiter nahm sich seiner an. Gewiss Achim brauchte seine Zeit sich diesem Fremden zu öffnen. Doch nach vielen gemeinsamen Stunden mit literweise heißem Kaffee und unzähligen leergerauchten Zigarettenschachteln, erzählte er ihm von den Geistern, die ihn jede Nacht heimsuchten.

»Zigarette?«, fragte Patrick Esser Achim.

»Hm.«

»Kommst du klar hier?«, wollte der Sozialarbeiter von ihm wissen.

»Geht so.«

»Olaf hat dir letzte Nacht den Marsch geblasen, haben mir die anderen erzählt. Was war denn da los?«

»War doch klar, dass da jemand petzt. Ich hatte zu viel getrunken, nicht der Rede wert.«

»Das war aber nicht das erste Mal, oder?«

»Nein.«

»Versteh mich nicht falsch, aber auf der Platte ist es wichtig, dass ihr euch einigermaßen versteht.«

»Ich will doch auch nur meine Ruhe.«

Für Patrick war schnell klar, dass Achim dringend ärztliche Hilfe benötigte, und es gelang ihm einen Therapieplatz in der Klinik zu vermitteln.

Achims Ankunft in Hadamar sollte der Beginn eines neuen Lebensabschnitts für ihn sein. Ungewohnt die weiß getünchten, hellen Räume.

Das Bett mit der weichen Matratze und dem sauberen Bettzeug. Drei Mahlzeiten am Tag. Schwierig hingegen war der Alkoholentzug.

Die Nächte durchzogen sich mit Albträumen, aus denen er jedes Mal Schweiß gebadet aufwachte. Die Geister hatten sich daran gewöhnt, ihn heimzusuchen, und wollten nicht von ihm ablassen. Das Zittern seiner Hände ließ nur langsam nach und dann diese permanenten Kopfschmerzen. Doch hier heilte sein Körper schneller als seine Seele.

Nachdem er körperlich den Entzug hinter sich hatte, begannen sich Ärzte und Pfleger um seine Seele zu kümmern. Zuerst konnte er mit den Therapiestunden nichts anfangen. Alle schienen es gut mit ihm zu meinen, doch diese Freundlichkeit drang nur langsam zu ihm durch.

Professor Dr. Geiger, der ihn mit seinem langen weißen Bart an einen Weihnachtsmann erinnerte, hatte ihn nicht aufgegeben. Sein zweiter Engel.

Die gemeinsamen Therapiesitzungen öffneten ihm die Augen. Hart war es seine Erlebnisse in Afrika aufzuarbeiten. Oft hatte er sich in dieser Zeit den Alkohol als Trost zurückholen wollen. Professor Dr. Geiger konnte ihm diesen Zwiespalt ansehen.

»Herr Baumeister, erzählen Sie mir von Ihrem aktuell stärksten Dämon.«

»Die vielen Gesichter?«

»Nein, den anderen Dämon.«

»Der Alkohol?«

Sie hatten viele Gespräche über den Alkohol geführt und der Professor hatte ausdauernd zugehört, Fragen gestellt und Tipps gegeben.

Achim sollte Geduld mit sich selbst haben, kleine Schritte gehen und das Erreichen dieser als Erfolge feiern. Sein Heilungsprozess sei lang.

Achim Baumeister verspürte ein warmes Gefühl von Dankbarkeit. Sollte sich sein Leben tatsächlich zum Besseren wenden?

Je mehr sie sprachen und je besser sie die einzelnen Begebenheiten in seinem Leben begannen aufzuarbeiten, desto mehr Sicherheit über sein eigenes Leben gewann er zurück. Und mit dem wachsenden Selbstbewusstsein wuchs sein Selbstvertrauen. Achim wurde klar, was er zu tun hatte.

Doch das konnte er nur außerhalb dieser Mauern tun.

Seine Einweisung damals war trotz des netten Sozialarbeiters nicht freiwillig erfolgt. Ein Gericht ordnete diese an. Am Ende konnte sich jemand etwas mehr an seine Revierkämpfe unter der Brücke erinnern. Achims Vergehen umfasste eine mittelschwere Körperverletzung. Der Richter folgte der Ausführung seines Pflichtverteidigers, dass es sich bei ihm um einen alkoholkranken und psychisch kranken Menschen handelte, der nicht ins Gefängnis gehöre, sondern in therapeutische Obhut.

Und so konnte nur ein gerichtlicher Beschluss ihn in die Welt außerhalb dieser Mauern entlassen.

Und wieder war Achims Freiheit gebunden an die Entscheidungsfreudigkeit von anderen Menschen.

***

Das Schlurfen war kaum mehr zu hören. Achim zählte langsam die zwei Minuten und 32 Sekunden herunter.

Mit Hilfe der Wanduhr in seinem Zimmer hatte er seine innere Uhr so trainiert, dass es auf den Punkt passte.

Er drückte langsam die Klinge seiner Zimmertür herunter. In den letzten Tagen hatte er morgendliche Kreislaufprobleme vorgetäuscht, um er auf seinem Zimmer frühstücken zu können.

Mit der Frühstücksbutter hatte er fleißig Türscharniere und Türklinke geschmiert. Er wollte an seinem großen Tag jedes unnötige Geräusch vermeiden.

Die Zimmertüren der Klienten, so der offizielle therapeutische Fachjargon, wurden schon lange nicht mehr abgeschlossen. Die wenigsten der hier lebenden Patienten waren für andere Menschen gefährlich. Die meisten Erkrankungen waren als autoaggressiv diagnostiziert worden.

Vorsichtig trat Achim auf den Flur und schaute nach links und rechts. Die Turnschuhe hatte er in der Hand. Das Laufen auf Strümpfen würde auf dem hellgrauen Linoleumboden keine quietschenden Geräusche von sich geben.

Die Nachtbeleuchtung war angeschaltet und badete den Flur in ein sanftes Dämmerlicht. Achim wandte sich nach rechts und folgte diesem langsam.

Plötzlich Schritte.

Mit aller Macht presste sich Achim an die weiß getünchte Wand und versuchte, sich so schmal wie möglich zu machen.

Was würde er antworten, wenn ihn ein Pfleger erwischen würde? Darüber hatte er nie nachgedacht.

Ihm fiel nicht viel Nützliches ein.

Schlafwandeln mit Turnschuhen in der Hand.

Wenig glaubwürdig.

Nächtliche Lust auf Süßes? Quatsch.

Achim lauschte ein weiteres Mal. Die Schritte entfernten sich. Da musste jemand in einem der Querflure unterwegs gewesen sein. Gut für ihn.

Langsam setzte er seinen Weg fort, bis er rechts auf einen der Speisesäle traf, die es auf jedem der vier Stockwerke gab.

Behutsam drückte er die Türklinke nach unten und hoffte, dass diese beim Öffnen kein Geräusch von sich geben würde. Millimeter für Millimeter schob der die Tür auf, bis er durchschlüpfen konnte.

Der erste Teil seines Planes war geschafft.

Die Nachtbeleuchtung des Flures verlor sich immer mehr, je weiter er in den Speisesaal hineintrat. Leise schloss er die Tür. Vorsicht war geboten. Achim musste unbedingt vermeiden, gegen Tische und Stühle zu laufen.

Im Slalomstil erreichte er den hinteren Bereich des Speisesaals und die dort gelegene Behelfsküche.

Teil zwei seines Planes war geschafft. Jetzt begann der schwierigste Part.

Per Zufall hatte Achim davon erfahren, dass sich in der Behelfsküche ein kleiner Lastenaufzug in die Hauptküche befand. Beim Bau des Gebäudes irgendwann in den 60ern hatten die Stiftungseigener diesen einbauen lassen. Damit sollten die kleinen Behelfsküchen in den einzelnen Stockwerken entlastet werden. Heute hatte jeder dieser Küchen einen eigenen Konvektomaten, in dem die vorportionierten Speisen nur noch erwärmt und dann verteilt wurden. Selbst gekocht wurde schon lange nicht mehr. Der kleine Lastenaufzug war kaum noch in Betrieb. Kostenreduzierung und Sparmaßnahmen im Gesundheitssektor waren seiner Meinung der Grund, dass das Essen immer schlechter wurde.

Heute würde der kleine Aufzug einen wichtigen Teil zum Gelingen von Achims Flucht beitragen.

Aus Sicherheitsgründen konnte Achim kein Licht anmachen, also tastete er sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand entlang und gelangte nach einigen Minuten an einen metallenen Rahmen und eine Tür. Das musste der Lastenaufzug sein.

Zu allem Überfluss hatten die Pflegekräfte vor dem Aufzug allerlei an Küchenutensilien platziert. Achim musste sie erst einmal bei Seite räumen.

»Das konnte doch nicht wahr sein.

Unter Hochdruck räumte er Pfannen, Töpfe, Tellerhauben auf die kleine Arbeitsfläche, die er bei Herantasten ausgemacht hatte«, fluchte er innerlich.

Kalter Schweiß lief ihm vor lauter Anspannung den Rücken herunter.

»Jetzt bloß keine falsche Bewegung«, betete er.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er den Aufzug endlich freigeräumt.

Seine Finger ertasteten drei Knöpfe, einen runden und zwei eckige. Mit dem Runden konnte er den Aufzug in seine Etage rufen, mit dem eckigen gab er dann die Richtung an.

Wieder hielt Achim die Luft an und betete, dass der Aufzug beim Hochfahren möglichst leise sein würde.

Er drückte den Knopf.

Im Inneren des Schachtes begannen die Zugbänder mit ihrer Arbeit. Das Hochfahren machte Geräusche.

Achims Puls trommelte im Stakkato.

Zu allem Überfluss kündigte der Aufzug seine finale Ankunft mit einem hellen »Ping« an.

»Nicht doch«, fluchte Achim leise in sich hinein.

Er drückte sich auf die freigeräumte Arbeitsfläche und öffnete die kleine schmale Tür zum Aufzug.

Jetzt kam ihm seine schmächtige Körpergestalt zugute. In der Hocke müsste er dort locker hineinpassen.

Auf allen vieren krabbelte er in die Öffnung hinein, um gleich darauf wieder rückwärts hinauszukrabbeln. So kam er niemals an den Knopf, um den Aufzug auf abwärts schalten zu können.

Einmal um die eigene Achse drehend, startete er einen neuen Versuch und parkte nun rückwärts in den kleinen Aufzug ein.

Geschafft! Er drückte den Abwärtspfeil und die Tür schloss sich. Im selben Moment startete die Mechanik und er fuhr nach unten.

Wenige Momente später öffnete er vorsichtig die Tür und verließ auf allen vieren den engen Aufzug. Morgen würde er definitiv Rückenschmerzen haben.

Jetzt war es nur noch ein Katzensprung. Wenn denn der letzte Teil seines Planes aufgehen würde.

Hierfür war er auf die Hilfe des Aushilfsspülers Mike angewiesen. Der Mann gehörte nicht zu den hellsten Kerzen auf der Torte, doch Achims einzige Möglichkeit Zugang zur Lieferantentür zu bekommen.

Zufällig hatten sie sich kennengelernt. Der junge Mann mit der dicken Hornbrille fuhr jeden Morgen mit dem Fahrrad zum Dienst. Und so an dem Tag, an dem die beiden sich zum ersten Mal begegneten.

Achim war ein bisschen auf dem Klinikgelände herumgestreift. Eine alte Angewohnheit aus seiner Vergangenheit.

Verbotenerweise kam er zum Nebeneingang. Hier kettete Mike immer sein Fahrrad an.

An diesem Tag musste sich der junge Aushilfsspüler auf seinem Weg in die Klinik einen Nagel oder spitzen Stein in den Vorderreifen hineingefahren haben. Verzweifelt kniete er vor dem platten Reifen.

War es strategisches Kalkül oder doch eher Mitleid?

Achim war sich nicht sicher.

Aber er half dem jungen Mann und so freundeten sich die beiden ein wenig an.

Es war ein Leichtes für Achim Baumeister den naiven Mike mit einem Versprechen auf 50 Euro um die Ausführung eines Gefallens zu bitten.

Die beiden Männer hatten abgesprochen, dass Mike bei Schichtende den schließ Schnapper nach unten drücken sollte.

Achim näherte sich der Tür. Er war im Begriff nach der Türklinke zu greifen, als er eine Hand auf seiner linken Schulter spürte. Ihm stockte der Atem. Langsam drehte er sich um. Im Halbdunkel konnte er zwei hellgrüne Augenpaare erkennen, die ihn freundlich anlächelten.

»Hallo Achim.«

»Mike, was machst du hier? Hat dich jemand gesehen?«

»Keine Panik, ich kann lautlos schleichen, wie eine Katze. Niemand ist hier, außer uns beiden.«

»Was machst du hier?«, wiederholte er seine Frage.

»Ich habe noch mal mit meiner Mutter gesprochen. Sie meinte für 50 Euro, ist das mit der Tür zu riskant.«

»Zu riskant? Willst du mich verarschen?«

»Keineswegs. Schon Konfuzius sagte, dass man sich nicht unter Wert verkaufen soll.«

»Wo hast du denn den Scheiß her? Konfuzius? Brennt es bei dir?«

Achim konnte seinen Zorn und seine Verzweiflung nicht unterdrücken.

Für einen Moment hatte Achims Wutanfall Mike verunsichert. Er war nicht so weit gekommen, um diese philosophische Gülle mit einem Deppen zu diskutieren.

»Ist die Tür denn auf?«

»Na Logo, sonst wäre ich doch nicht hier drin.«

Achim schüttelte den Kopf und ersparte sich diese Aussage zu hinterfragen. Er griff sich kurzerhand eine der gusseisernen Pfannen und schlug sie Mike auf den Kopf.

Mit einem dumpfen Stöhnen glitt dieser zu Boden.

Achim ließ die Pfanne auf den Boden fallen und griff erneut nach der Türklinke. Ihm war jetzt völlig egal, ob das Aufschlagen auf den Betonboden außerhalb der Küche zu hören war.

Mike hatte nicht gelogen.

Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Achim trat in die kühle Nacht hinaus.

Hinter ihm schnappte die Tür mit einem Klick zurück ins Schloss. Endlich frei!

Ohne sich einmal umzudrehen, rannte er auf die nahe gelegenen Felder zu.

Die Zeit seiner Rache war gekommen.

Zwei

(Frühsommer 2014)

Auf das neue Logo war Hannes Limfaller, der Vorsitzende des Schachklubs Dauborn 2005 e.V., besonders stolz. Im Vorstand hatten sie lange diskutiert, ob die Fahne eine Überarbeitung des Logos beinhalten sollte. Die Mehrheit hatte sich dafür ausgesprochen, dass aus dem braunen, schlichten Stil eher etwas Modernes Farbenfrohes entstehen sollte.

Hannes Limfallers unermüdlichem Einsatz war es zu verdanken, dass sich die Anzahl von sieben Mitgliedern im Laufe der letzten fünf Jahre auf 25 erhöht hatte.

Der gewiefte Architekt, der seine Wirkungsstätte ebenfalls in Dauborn hatte, hatte sich den Umstand zunutze gemacht, dass der nächste seriöse Schachverein in Limburg ansässig war und der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs mitunter immer zu wünschen übrigließ.

Nach Dauborn könne die interessierte »Schachjugend« aber mit dem Rad oder dem Moped fahren.

Ein weiterer, glücklicher Umstand hatte Hannes zudem in die Karten gespielt.

Eines Tages hielt er den Mitgliedsantrag eines gewissen Herrn Walter Wollhausen in den Händen.

Zunächst glaubte Hannes Limfaller, dass die Ähnlichkeit ein Zufall sei. Wie oft kam es vor, dass Menschen ähnlich oder auch gleich hießen, aber dann nichts miteinander zu tun hatten.

Mit einem Blick auf das Geburtsdatum, den 22.05.1967 begann das Grübeln wieder von Neuem.

Konnte es wahr sein? Hatte ein Großmeister und international äußerst erfolgreicher Schachspieler um Aufnahme in einem kleinen hessischen Dorfschachverein gebeten?

Normalerweise winkte er die Anträge durch, indem er seiner Frau auftrug, den Blankobrief »Anmeldebestätigung« auszufüllen, auszudrucken und zusammen mit den Bankdaten für den Jahresbeitrag und den Vereinsregeln zuzuschicken.

In diesem Fall lud Hannes in die ortsansässige Gaststätte »Zur Post« zu einem Kennenlerngespräch ein.

Zehn Jahre war es mittlerweile her. Ein schwülheisser Nachmittag im Juli im vergangenen Jahr. Beide Männer saßen sich schwitzend gegenüber.

Hannes hatte eine dunkelblaue Anzugshose mit einem hellblauen Anzugshemd an. Mit nach oben gerollten Ärmeln wollte er lässig wirken.

So ganz gelang ihm das nicht, da die Ärmelwulste so ungeschickt gerollt waren, dass sie drohten, den unteren Teil beider Oberarme abzubinden.

Hannes ertrug diese Schmerzen, nach unten rollen war keine Option. Für einen weiteren Aufrollversuch war keine Zeit. Schließlich wollte er von Anfang an einen guten Eindruck machen.

Lässig gekleidet erschien dagegen Walter Wollhausen zu ihrer Verabredung. Ein locker fallendes weißes Leinenhemd. Eine hellgrüne kurze Hose.

Der schachspielenden Architekten konnte es nicht fassen, ihm saß ein erfolgreicher Schachgroßmeister gegenüber.

»Herr Wollhausen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Ehre es für mich ist, Sie hier in unserem beschaulichen Dorf begrüßen zu können. Wissen Sie, normalerweise treffe ich mich nicht mit unseren Anwärtern, aber bei Ihnen…«, lächelte er schüchtern.

»Herr Limfaller, ich war ehrlich gesagt etwas erstaunt über die Einladung«, unterbrach der Schachgroßmeister sein Gegenüber.

»Bitte verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber ich musste einfach sichergehen. Hannelore, das ist meine Frau, Hannelore, habe ich gesagt, ich muss dem nachgehen.«

»Herr Limfaller, bitte machen Sie keine große Sache aus meinem Antrag.«

Walter Wollhausen machte kein Geheimnis daraus, warum er sich Dauerns Schachklub als neue sportliche Heimat ausgesucht hatte. Nach seiner Scheidung wollte er aufs Land nach Dauborn ziehen und da bot sich der Eintritt in den AK Dauborn 2005 e.V. an.

»Dauborn, Herr Wollhausen. Ich mag meine Heimat, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Die großartige Einbettung im Limburger Becken. Den Feldberg haben Sie beinahe vor der Tür. Wald und Wiesen, die uns umgeben. Das ist landschaftlich nicht zu verachten. Aber Sie als Weltstar? Sie sind doch nicht wegen unseres berühmten Schnaps hier? Die edleren Weine sind bestimmt eher ihre Welt?«

»Ich mache mir ehrlich gesagt nicht viel aus Alkohol. Ich möchte nur ab und zu mal ein paar Figuren über das Brett schieben«, beruhigte Walter Wollhausen Hannes.

Mit einem Vereinsturnier sollte das neue Vereinslogo der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Nichts Großes. Ein paar Partien unter den Mitgliedern. Abends gemütliches Beisammensein sollte und Grillen. Hannes Frau wollte ihren berühmt berüchtigten Kartoffelsalat beisteuern.

An einem Spätnachmittag vor ein paar Wochen war es dann so weit.

Der Wettergott sollte ein Einsehen mit den Vereinsmitgliedern haben. Leichte Bewölkung, aber keinen Regen.

Gespielt werden sollte in der Dauborner Mehrzweckhalle. Leider hatte es der Verein immer noch nicht geschafft, einen dauerhaften Klubraum zu mieten. Eine Weile hatten sie in der Germania Unterschlupf gefunden, doch hier konkurrierten sie immer wieder mit dem Oldtimerklub.

Laute Motoren und Schachpartien waren nicht zu vereinbaren.

Die Dauborner Mehrzweckhalle hatte den Charme einer Schulturnhalle. Aber was brauchte man denn schon für eine gute Partie Schach?

Tische, Stühle, genug Abstand zwischen den Tischen, um sich nicht gegenseitig in der Konzentration zu stören.

Die Schachspiele und Schachuhren brachten die Spieler selbst mit.

Und so gestaltete sich das freudige Ereignis der Einweihung der neuen Klubfahne eher funktionell und rationell.

Die einfachen weißen Konferenztische waren zu kleinen Inseln gruppiert. An jeder Tischgruppe sollte später eine Schachpartie stattfinden.

Zur Feier des Tages konnten sie die beiden Säle zu einem großen Saal zusammenfügen, da der zweite Mieter für diesen Tag verhindert war.

Eine Erkältungswelle hatte den ortsansässigen Dorfverschönerungsverein beinahe komplett ans Bett gefesselt.

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Fünf Tischinseln wurden von den Schachfreunden aufgebaut.

Allerdings waren sie heute auch zu viert und benötigten nur zwei Inseln. Der kleine neunjährige Tobias versuchte verzweifelt gegen seine siebenjährige Schwester Annalena zu bestehen, während Walter einem jungen Mann gegenübersaß, dem man nicht auf dem ersten Blick zutraute, überhaupt unterscheiden zu können, welche Züge die einzelnen Figuren tätigen konnten, ganz zu schweigen von den unzähligen Möglichkeiten eine Schachpartie zu eröffnen.

Gegen seine Gewohnheit wählte Tim heute die italienische Eröffnung: weißer Bauer von F2 auf U4. Er wollte nach dem Springer die Läufer schnell ins Zentrum bringen.

Walter grinste leicht. Tim hatte sich heute wohl vorgenommen, es seinem Lehrer zu zeigen. So offensiv hatte er bislang noch nie eröffnet.