Laurentius' Wunder - Irene Matt - E-Book

Laurentius' Wunder E-Book

Irene Matt

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Beschreibung

Giulianos Leben gerät aus den Fugen, als seine Mutter spurlos verschwindet und er Missbrauch durch seinen Ausbilder erleidet. Im Kloster von Assisi findet er Zuflucht. Doch ein mystisches Erlebnis in der Basilika San Francesco und die Intrigen eines Mitbruders führen zu seiner Zwangseinweisung in die Psychiatrie, wo er weiterhin sein Wunder bezeugt und dessen tiefere Bedeutung zu veröffentlichen versucht. Eine unerwartete Wendung führt ihn in den Vatikan. Als Beauftragter der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen offenbaren sich ihm die Abgründe menschlicher Schicksale, bis die Corona-Pandemie ihn zurück ins Kloster zwingt. Unbeirrt und gegen alle Widerstände bleibt er entschlossen, die Geheimnisse der Heiligen zu enthüllen. Dann überstürzen sich die Ereignisse...

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Seitenzahl: 327

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0600-6

ISBN e-book: 978-3-7116-0601-3

Lektorat: Isabella Busch

Umschlagabbildungen: Pixattitude, Skypixel | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Assisi, Italien im Jahr 2012

„Der Leib Christi!“

„Amen!“

„Der Leib Christi!“

In der Kirche herrschte noch Dunkelheit zur Matutin, der ersten Messe des Tages. Die in der kühlen Zugluft flackernden Kerzen warfen wild tanzende Schatten auf die marmorverkleideten Wände. In Laurentius’ Vorstellung schienen die Figuren auf den Gemälden zum Leben zu erwachen, und er konnte sich an ihrem lebhaften Reigen kaum sattsehen. Wenn ihn die Müdigkeit überkam und er kaum die Augen offen halten konnte, verwischten manchmal die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit.

Aus vollem Herzen singend oder im Gebet, an der Seite seiner Ordensbrüder, empfand Laurentius tiefe Geborgenheit. Er war angekommen und das Kloster war in kürzester Zeit zu seinem Zuhause geworden.

Nur Bruder Angelo machte ihm das Leben schwer, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Angelo rechtfertigte sich mit den strengen Regeln des Franziskanerordens, denen zufolge ein Neuling es nicht zu leicht haben sollte, dem Orden beizutreten. Laurentius jedoch hatte den Verdacht, dass Angelos Verhalten auch von persönlichen Motiven geprägt war.

Er versuchte, diese Demütigungen auszublenden und sich ganz auf die heilige Messe zu konzentrieren. Doch das beklemmende Gefühl in seiner Kehle blieb.

„Der Leib Christi!“

Laurentius erschrak. Die Kommunion.

Der Guardian stand dicht vor ihm. Als er ihm die Hostie reichte, vermied Laurentius den Blick und senkte demütig den Kopf.

„Amen.“

Raphael sollte nicht merken, wie gekränkt und wütend er war – vor allem wütend auf sich selbst, weil er gestern erneut nicht verhindern konnte, dass Angelo ihn verletzte und ihm die Freude nahm, wie er es nur allzu gut aus seinen Kindertagen kannte. Laurentius’ Gedanken schweiften ab.

An seinem zwölften Geburtstag hatte er auch einen Gottesdienst besucht. Damals war sein Name noch Giuliano gewesen – Giuliano Ferrari.

***

7 Jahre früher

Giuliano sehnte das Ende des sonntäglichen Gottesdienstes herbei. Als die Gläubigen endlich die Kirche verließen, streifte er hastig sein Messdienergewand ab, verstaute es in dem modrig riechenden Schrank und verabschiedete sich mit einem laut in die Sakristei gerufenen „Arrivederci“ von Monsignore Rossi. Ohne auf die gemächlich nach Hause schlendernden Kirchgänger zu achten, rannte er die schmale Gasse hinauf, sicher, dass seine Mutter zu Hause mit einer Geburtstagstorte auf ihn warten würde. Mit knurrendem Magen und vor Erwartung glänzenden Augen betrat er die Küche. Er konnte sich noch genau an die Torte vom letzten Jahr erinnern: ein Meisterwerk, das die Form eines Drachens hatte, dessen köstlicher Marzipanmantel grünlich glitzerte und schimmerte, während die kandierten Kirsch-Augen des Monsters blutrot leuchteten. Überrascht hielt Giuliano inne. Die Küche war leer. Er strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Wo konnte sie sich versteckt haben? Bestimmt im Speisezimmer. Beschwingt trat er ein – und wich sogleich zurück. Abgestandene Luft und der ekelhafte Gestank kalten Rauchs schlugen ihm entgegen. Enttäuscht und mit hängenden Schultern blieb er im Flur stehen. Was ging hier vor? Langsam verlor er die Geduld. Er war hungrig und hatte keine Lust, noch länger auf seine Geschenke zu warten.

Verärgert presste Giuliano die Lippen zusammen, als er zum Arbeitszimmer seines Vaters ging. Vor der Tür legte er das Ohr an – nichts. Langsam drückte er die Klinke nach unten: abgeschlossen! Wie immer, wenn der Vater ungestört arbeiten wollte.

Plötzlich überkam Giuliano die Ahnung, dass seine Familie im Wohnzimmer auf ihn wartete. Vielleicht war sogar die Oma zu Besuch gekommen?

Übermütig lief er hin, riss die Tür weit auf und rief freudig: „Da bin ich!“

***

Laurentius zuckte zusammen. Der harte Rippenstoß beförderte ihn jäh in die Wirklichkeit.

Hämisch grinsend schob sich Angelo an ihm vorbei und raunte ihm zu: „Ausgeträumt, Freundchen. Du hast Küchendienst.“

Gesenkten Hauptes lenkte Laurentius seine Schritte aus der Kirche. Angelos Kommentar war überflüssig und unverschämt. Außerdem war es noch viel zu früh für die entsprechenden Arbeiten.

Laurentius wollte noch eine Stunde schlafen, doch der Ärger hielt ihn wach. Angelos Verachtung ließ ihn sprachlos zurück, und passende Antworten fielen ihm erst später ein.

Auch in anderen Klöstern war er auf Brüder gestoßen, mit denen es zu Konflikten kam – Neid, Eifersucht und Missgunst gehörten zum Alltag.

Laurentius hatte gelernt, sein Umfeld genau zu beobachten und konflikthafte Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Meist gelang es ihm, Streitigkeiten zu umgehen oder sie mit ein paar geschickt gewählten Sätzen zu schlichten. Doch Angelos Feindseligkeit machte ihn hilflos. Seufzend stand er auf und versuchte, die Schatten unter seinen Augen mit kaltem Wasser zu vertreiben. Kurz nachdem er die Klosterküche betreten hatte, holte ihn seine Vergangenheit wieder ein.

***

Auch im Wohnzimmer fand er niemanden. Vielleicht war es ein Versteckspiel, dachte Giuliano, und stellte sich vor, wie erfreut alle sein würden, wenn er sie fand. Er durchsuchte jedes Zimmer, selbst den Keller und den Speicher, bis er sich eingestand, dass tatsächlich niemand da war. Enttäuscht trottete er zurück in die Küche und bekam es mit der Angst zu tun. Vielleicht war etwas Schlimmes passiert? Verschiedene Szenarien kamen ihm in den Sinn. Der Oma konnte etwas zugestoßen sein, weshalb die Eltern sofort zu ihr gefahren waren, oder eine von Papas Schwestern hatte um Hilfe gebeten.

Gegen Mittag legte er sich mit knurrendem Magen ins Bett. Als er ein Poltern hörte, sprang er auf und lief in den Flur. Vor Hunger wurde ihm schwindelig, und er stützte sich an der Wand ab.

Den Geräuschen nach befand sich jemand in der Küche. Eine Schranktür schlug krachend zu, gefolgt von dem dumpfen Aufprall eines Gegenstands auf den Holztisch.

***

Laurentius beeilte sich, die Glut im alten Kaminofen der Klosterküche zu schüren. Behutsam legte er ein paar Späne auf die Kohle, spitzte die Lippen und blies hinein. Sobald die schwachen Flammen aufflackerten, legte er dickere Scheite nach. Zum ersten Mal an diesem Morgen atmete der junge Mönch tief durch.

Die behagliche Wärme des Feuers bildete einen starken Gegensatz zu der eisigen Kälte, die ihn einst in der Küche seiner Kindheit empfing.

Laurentius war ein routinierter Koch. Geschickt schlug er Eier auf, hackte Schnittlauch und genoss den Duft, den die bratenden Rühreier verströmten. Er schnitt das am Vortag gebackene Brot auf und befüllte große Kannen mit frisch gebrühtem Kaffee und Tee. Es machte ihm nichts aus, allein zu sein. Tatsächlich kam er schneller voran, wenn er keine Anweisungen geben musste. In der Klosterküche konnte er seine Fähigkeiten einbringen. Diese praktische Arbeit bot ihm den perfekten Ausgleich zu seinen geistigen Studien und er freute sich, damit der Gemeinschaft dienen zu können.

Die Brüder würden bald zum Frühstück kommen. Angelo würde vermutlich wieder demonstrativ nachwürzen oder seinen Teller missmutig beiseiteschieben. Laurentius spürte die Anspannung in seinem Nacken, die sich immer einstellte, wenn Angelo in der Nähe war.

Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, gestattete er sich, zu seinen Erinnerungen zurückzukehren.

***

Ängstlich schob Giuliano die angelehnte Küchentür auf, um den Raum überblicken zu können. Am Tisch saß sein Vater und griff nach einer Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, aus der er gierig trank.

Mit klopfendem Herzen trat Giuliano ein. Sein Vater musterte ihn mit glasigen Augen.

„Wo ist Mama?“, brachte Giuliano mit heiserer Stimme hervor.

„Weg!“

Dieses eine, kalt dahingeblaffte Wort hing zwischen ihnen wie ein unsichtbares Monster. Sein Vater starrte ihn an, als wäre er ein Fremder.

Giuliano verstand, dass es dieses Jahr keine Torte geben würde. Sein Magen verkrampfte sich, und der Würgereiz ließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund aufsteigen. Unnatürliche Hitze durchströmte seinen Körper, während sich sein Kopf gleichzeitig leer anfühlte.

Sich an der Wand abstützend, zog Giuliano sich in sein Zimmer zurück und schlüpfte ins Bett. Was sollte „weg“ heißen? An seinem Geburtstag? Wohin weg, und für wie lange?

Es musste eine Erklärung geben, doch instinktiv wusste Giuliano, dass er den Vater nicht danach fragen durfte.

Am nächsten Morgen versuchte er sich einzureden, dass er schlecht geträumt hatte, und dass seine Mutter in der Küche auf ihn warten würde. Obwohl sein Magen knurrte, zog er sich langsam an, als ob er die Minuten mit Hoffnung füllen könnte. Doch die Stille im Haus und die verwaiste Küche belehrten ihn eines Besseren.

Er trank ein Glas Milch und starrte auf seine Vesperdose. Seine Mama hatte sie jeden Morgen gefüllt. Jetzt lag sie leer da, wie ein stummer Vorwurf. Giuliano ließ sie liegen – sein Appetit war verflogen.

An manchen Tagen vergaß er, dass seine Mutter fort war, und ertappte sich dabei, wie er nach ihr rief. Die Stille ließ ihn ins Bodenlose fallen. Erschöpft von Angst und Wut suchte er Zuflucht in seinem Bett.

Wie in Trance folgte er seinem täglichen Rhythmus: aufstehen nach dem Wecker, Zähne putzen, zur Schule gehen. Ständig auf der Hut vor der Trauer, die wie ein Raubtier in jeder Sekunde zuschlagen konnte. Wenn sie ihn plötzlich überfiel, hatte er das dringende Bedürfnis, etwas zu zerstören – vorzugsweise etwas, das ihn an seine Mutter erinnerte. Auf die Sofakissen, die sie an den langen Winterabenden mit zierlichen Mustern bestickt hatte, schlug er ein, bis sie völlig zerschlissen waren. Wenn er seinem Zorn freien Lauf ließ, wich die lähmende Ohnmacht, und er fühlte sich zumindest kurzzeitig besser.

Er hoffte, dass seine Mutter zurückkehren würde. Fantasien über ihr Verschwinden quälten ihn. So stellte er sich vor, dass sie auf einem ihrer Spaziergänge gestürzt war und schwer verletzt irgendwo auf Hilfe wartete. Mehrmals durchstreifte er die Umgebung. Er besuchte ihre Lieblingsplätze in der Stadt oder tauchte unangemeldet bei Freunden und Verwandten auf.

Eine Fernsehsendung über die Suche nach vermissten Personen bereitete ihm eine schlaflose Nacht. Die Hoffnung, die er daraus schöpfte, belebte ihn, dass er es kaum noch im Bett aushielt. Am nächsten Morgen suchte er den Polizeiposten auf, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Die Beamten hörten sich seinen Wunsch an, tauschten bedeutungsschwere Blicke, gaben ihm eine Tafel Schokolade und baten ihn, seinen Vater zu schicken.

Giuliano wusste, dass es nichts bringen würde, seinen Vater darum zu bitten. Es hatte sich herumgesprochen, dass seine Mutter verschwunden war. Sobald er auftauchte, rief einer höhnisch „Ciao-Ciao-Giuliano“, und sogleich stimmte ein ganzer Chor den Spottnamen an. Giuliano erduldete es schweigend. Mit gesenktem Kopf verließ er den Schulhof, und suchte weiter.

Am meisten quälte ihn die Frage nach seiner Schuld. Was hatte er falsch gemacht, dass sie ausgerechnet an seinem Geburtstag verschwunden war? Es gab niemanden, dem er diese Frage stellen konnte.

Lediglich in der Nähe des Pfarrers fühlte sich Giuliano sicher. Monsignore Rossi unterrichtete Religion. In seiner Gegenwart traute sich keiner, den „Ciao-Ciao“-Gesang anzustimmen.

Als der Pfarrer die Selig- und Heiligsprechung erklärte und die wichtigsten Heiligen des Landes vorstellte, war Giuliano sofort Feuer und Flamme. Monsignore Rossi sparte nicht mit Details, wenn es darum ging, die Wunder der Heiligen zu beschreiben, und erst recht nicht, wenn er von ihren Qualen berichtete.

Da sich in den letzten Jahren öfter Mütter beschwert hatten, die solche Erzählungen nicht für kindgerecht hielten, beendete er den Unterricht mit besten Grüßen an die Eltern und der Legende des heiligen Laurentius. Ansonsten ließ er sich nicht beirren und entgegnete seinen Kritikern, dass sich diese Dinge genauso zugetragen hätten, weswegen er sie nicht anders darstellen könne. Schließlich hänge der Heiland auch nicht kindgerecht am Kreuz.

Giuliano klebte förmlich an den Lippen des Pfarrers, als dieser erzählte, dass die Perseiden „Laurentiustränen“ genannt würden, weil der Märtyrer damals auf einem glühenden Rost zu Tode gefoltert worden war. Dabei habe er Tränen über die Sünden der Menschen vergossen, und die jährlich wiederkehrenden Sternschnuppen sollten als ewige Erinnerung daran dienen.

Von seiner Mutter würde mit Sicherheit keine Beschwerde über den Unterricht kommen. Von ihr kam gar nichts mehr. Bitterkeit stieg in ihm auf, aber zum ersten Mal nach ihrem Verschwinden konnte er an etwas anderes denken. In der Bibliothek lieh er ein dickes Buch über Heilige aus und las darin bis tief in die Nacht. Ihm stockte der Atem angesichts ihrer unvorstellbaren Qualen. Er konnte nicht umhin, sich mit ihnen zu vergleichen. Sein eigener Schmerz mutete im Vergleich lächerlich an. Seine Mutter war verschwunden, und er hatte keine Geburtstagstorte bekommen, aber die Heiligen waren gequält, geschändet und gefoltert worden. Viele mussten für ihren Glauben sterben.

Giuliano begann sich zu hinterfragen. Gläubig war er. Aber eine solche Festigkeit im Glauben, wie die Heiligen, würde er nie erreichen, geschweige denn wäre er fähig, einem Martyrium standzuhalten. Ihm liefen schon die Tränen über die Wangen, wenn er sich an Brennnesseln verbrannte. Er würde vor eventuellen Peinigern jegliches Geständnis ablegen und sofort seinem Glauben abschwören, um keine Qualen erleiden zu müssen. Umso mehr bewunderte er die Hingabe der Heiligen. Vielleicht, dachte er, konnte er auf andere Weise ein guter Christ sein. Vielleicht durch Liebe und Mitgefühl. Doch reichte das?

Laurentius’ Geschichte ließ ihn nicht los. Die Tränen des Heiligen schienen mit seinem eigenen Kummer verknüpft zu sein. Und doch – wenn ein Heiliger solch unvorstellbare Qualen ertragen konnte, musste auch er, Giuliano, seinen Schmerz überwinden.

Er durfte sich nicht länger von der Trauer lähmen lassen. Vielleicht, dachte er, könnte er sich eines Tages so unerschütterlich im Glauben fühlen wie die Märtyrer. Vielleicht war das der Weg, um mit der Leere umzugehen, die seine Mutter hinterlassen hatte.

Sein größtes Mitgefühl galt den Heiligen, die unschuldig gelitten und das Pech gehabt hatten, nur mit einem künftigen Heiligen verwandt oder befreundet zu sein.

Seine Mutter war weg, das war auch Pech, aber sein Pech war verglichen mit ihrem Schicksal überschaubar.

Endlich hatte Giuliano etwas gefunden, mit dem er sich identifizieren konnte. Er fühlte sich nicht mehr allein, weil viele Schlimmeres durchgestanden hatten. An ihrem Beispiel richtete er sich auf.

Von diesem Tag an wichen die Heiligen nicht mehr von seiner Seite. Begierig suchte er mehr über ihre Lebensumstände und ihre Heiligsprechung zu erfahren. Die Wunder, die sie vollbracht hatten – Kranke heilen und Tote erwecken –, beeindruckten ihn tief. Giuliano entdeckte, dass sie außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen: Sie konnten schweben, verschwinden oder an mehreren Orten gleichzeitig sein. Besonders faszinierte ihn das Leben des heiligen Franziskus, der zu den Vögeln sprach und sie als Symbol für Gottes Fürsorge sah. Er schloss sich einer Vogelschutzinitiative an und half, die Jagd auf Singvögel in seiner Heimat zu bekämpfen. Jährlich besuchte er am 4. Oktober, dem Ehrentag des Heiligen Franziskus, dessen Grab in Assisi.

Als die Trauer um seine Mutter nachließ, zog es ihn in die Natur. Stundenlang wanderte er, befreite Vögel aus Leimfallen und Schlingen und pflegte verletzte Tiere zu Hause gesund. Sie wurden seine neuen Freunde.

Giuliano war sechzehn, als sein Vater wieder heiratete. Von seiner leiblichen Mutter hatte er nie wieder etwas gehört. Ob es zwischen den Eltern eine Scheidung gegeben oder ob der Vater sie gar für tot erklären lassen hatte, wie eine der Nachbarinnen vermutete, war ihm einerlei. Er wollte nichts davon wissen, und er wollte schon gar nichts mit Signora Stefania, seiner Stiefmutter, zu tun haben. Sie war sogleich zur Stelle gewesen, um sich um den verwaisten Haushalt zu kümmern. Da sie ihren Charme geschickt einsetzte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie seinen Vater um den Finger gewickelt hatte. Nach der Hochzeit verbrachte sie die meiste Zeit des Tages damit, Rezepte zu lesen oder zu kochen, was sich entsprechend auf ihr Gewicht auswirkte. Wenn sie nicht damit beschäftigt war, mischte sie sich ungefragt in Giulianos Angelegenheiten ein.

Sie durchkreuzte seinen Plan, weiter zur Schule zu gehen, um später Theologie zu studieren, indem sie seinem Vater einredete, er sei dafür nicht geeignet. Tatsächlich ging es ihr jedoch darum, ihn so schnell wie möglich aus dem Haus zu bekommen. Nicht zuletzt wegen ihrer Fresssucht musste Giuliano eine Lehre als Koch antreten. Sie fand, er sollte sich nützlich machen können, wenn er zukünftig besuchsweise nach Hause kam.

Signora Stefanias Vetter bewirtschaftete das beste Hotel der Stadt und suchte dringend einen Lehrling. Geschickt arrangierte die Signora ein Treffen der Männer, brachte die offene Ausbildungsstelle zur Sprache, und schon bald wurde der Lehrvertrag geschlossen. Giuliano sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt. Er unterschrieb mit gemischten Gefühlen. Das Elternhaus verlassen zu können hatte auch verlockende Seiten.

Die Stiefmutter wies ihn an, persönliche Sachen, die er nicht mitnehmen konnte, in Kisten zu verstauen, die umgehend in den Keller geräumt wurden. Sein neues Zuhause würde eine Personalunterkunft im Hotel sein.

Mit einem abgewetzten Koffer in der Hand stand er vor seinem Elternhaus und wartete darauf, abgeholt zu werden. Als sein Vater aus der Tür trat und auf ihn zukam, glaubte Giuliano, dass er sich von ihm verabschieden würde. Er wandte sich seinem Vater zu, um ihn zu umarmen. Doch der Vater hatte anderes im Sinn. Zu Giulianos Erstaunen überreichte er ihm einen Brief, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Der ist für dich. Mach’s gut!“ Dann drehte er sich um und ging zurück ins Haus.

Giuliano starrte auf den vergilbten Umschlag. Für Giuliano. Das war die Handschrift seiner Mutter.

Hatte sie ihm einen Brief geschrieben? Warum jetzt? Er begriff, dass dieser Brief schon vor Jahren geschrieben worden war. Sein Vater hatte ihn die ganze Zeit vor ihm verborgen. Unvermittelt brachen die Gefühle von damals wie ein Tsunami erneut über ihn herein. Giuliano krümmte sich, als der alte Schmerz sich in seinem Bauch zurückmeldete.

Es gab einen Brief, der ihm vielleicht hätte helfen können, zu verstehen, der ihm eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden seiner Mutter hätte geben können – und diesen Brief hatte man ihm vorenthalten! Heiße Wut stieg in ihm auf. Mit geballten Fäusten widerstand er dem Impuls, ins Haus zu stürmen und seinem Vater den Hass ins Gesicht zu schreien.

Und er unterdrückte den Drang, den Brief sofort zu öffnen. So viel Zeit war vergangen, in der er nichts kontrollieren konnte. Jetzt war es an ihm, zu entscheiden, wann er den Brief lesen würde. Reglos wie ein geprügelter Hund verharrte er neben seinem Koffer und versteckte den Brief unter seinen Kleidern.

Über eine Stunde nach der vereinbarten Zeit bremste ein Wagen scharf vor ihm ab. Der Fahrer musterte Giuliano und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Sitz neben sich.

„Ciao. Ich bin Pietro.“

Giuliano murmelte seinen Namen, verstaute den Koffer auf dem Rücksitz und stieg ein.

In dem alten Fiat roch es nach Schweiß, Zigaretten und altem Fisch. Kaum hatte Giuliano auf dem Beifahrersitz Platz genommen, krallte sich eine schwielige Hand in seinen Oberschenkel.

„Wenn Du keine Zicken machst, kommen wir gut miteinander aus. Verstanden, Kleiner?“

Giuliano nickte. Ihm war übel. Er wagte es nicht, den Gurt anzulegen, weil er sah, dass Pietro ebenfalls nicht angeschnallt war. Als er seinen Blick senkte, stellte er fest, dass der Fußboden von Unrat übersät war. Um möglichst nichts zu berühren, verschränkte er die Arme vor der Brust und hielt den Blick starr nach vorne gerichtet. Er war nicht erpicht darauf, Details der Hinterlassenschaften im Wageninneren wahrzunehmen. Pietro steuerte den Wagen in halsbrecherischem Tempo durch die schmalen Gassen.

Mit einem Seitenblick auf Giuliano bemerkte er, sie kämen zu spät.

Giuliano wollte entgegnen, dass dies nicht seine Schuld sei, aber er unterließ es.

Endlich hielt Pietro im Hinterhof des Hotelgebäudes.

„Den Koffer kannst du hierlassen, wir holen ihn später“, kommandierte er, sprang aus dem Auto und betrat das Hotel durch den Personaleingang. Giuliano verstand, dass er ihm folgen sollte.

Im nächsten Augenblick befand er sich in einer riesigen Hotelküche, trug eine Schürze und eine Mütze und hatte ein Schälmesser in der Hand. Pietro deutete auf die Kartoffeln, die in einer Ecke auf dem Boden lagen. „Die da schälst du!“

„Alle?“, fragte Giuliano tonlos und musterte den Berg.

„Alle!“

Während Giuliano sich redlich bemühte, die Schalen der schmutzigen Knollen zu entfernen, lehnte Pietro an der Wand und beobachtete ihn. Nach wenigen Minuten nahm er ihm das Schälmesser aus der Hand.

„So sitzt du morgen noch hier. Ich zeige es dir nur einmal, also pass auf.“

Blitzschnell verwandelte sich der graue Klumpen unter seinen Händen in eine goldgelbe Kartoffel.

Mit einem Knurrlaut reichte er Giuliano das Messer und bezog erneut seinen Posten. Giuliano versuchte das Gesehene umzusetzen. Offensichtlich war Pietro damit zufrieden, denn er wandte sich ab und verschwand.

Giulianos Hände schmerzten von der ungewohnten Arbeit. Unterdessen füllte sich die Küche mit Leben. Die Köche und Gehilfen scherzten miteinander, Töpfe klapperten, und der Duft von Speisen breitete sich aus. Von ihm nahm man keine Notiz. Er versuchte sich einige Gesichter einzuprägen, aber leider konnte er es sich nicht leisten, länger aufzublicken, da das Schälmesser äußerst scharf war. Sobald er die letzte Kartoffel geschält hatte, tauchte Pietro auf.

Als Nächstes wurden Möhren geputzt, Zwiebeln geschält und Salat gewaschen, und dann hieß es, Platz zu machen, denn die ersten Bestellungen trafen ein. Giuliano beobachtete, dass Natale, der Chefkoch, Tritte verteilte, wenn man ihm nicht schnell genug aus dem Weg ging. Ein, zwei Schritte mehr bedeuteten für ihn, dass die Butter verbrannte, das Gemüse verkochte oder sonst eine Katastrophe passierte. Giuliano bekam einen Eindruck davon, was es bedeutete, gleichzeitig unzählige Gerichte zuzubereiten und unter welchem enormen Druck Köche standen, um die Speisen auf den Punkt zu garen. So anstrengend hatte er sich das Leben als Koch nicht vorgestellt. In seinen Fantasien drehte sich alles um feine Speisen, herrliche Gewürze und exotische Aromen.

Sein erster Tag in der Küche ging mit Stapeln schmutzigen Geschirrs zu Ende. Pietro wies ihn an, es gemeinsam mit Ego, einem Ghanaer, zu spülen. Als er vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte, standen noch der Herd, die Fritteuse und die Böden zum Schrubben an.

Giuliano spürte, dass Pietro ihn mit merkwürdigen Blicken musterte, bevor er die Lichter löschte.

„Jetzt holen wir deine Habseligkeiten, und dann zeige ich dir deine Bleibe, Kleiner.“

Giuliano war todmüde. Er bekam kaum mit, wohin sie gingen, und wollte nur noch ins Bett. Doch in Pietros Gesellschaft fühlte er sich zunehmend unbehaglich. Am Ende eines langen Flurs stolperte er, als Pietro ihn in eine Kammer stieß. Es passierte so schnell, dass Giuliano sich später fragte, ob es wirklich geschehen war: Pietro griff ihm in den Schritt, presste ihn gegen die Wand und machte sich über ihn her.

Pietro seufzte, tätschelte ihm mit seiner schwieligen Hand den Kopf und ließ ihn los.

„Du bist morgen um halb sieben in der Küche, verstanden? Ciao!“

Krachend schloss sich die Tür. Giuliano war allein. Er musste sich übergeben. Mühsam stützte er sich am Waschbecken ab, über dem ein schäbiger Spiegel hing. Giuliano vermied es, hineinzusehen. Er spülte sich den Mund aus und trank ein paar Schlucke Wasser. Aufstöhnend ließ er sich auf die alte Matratze fallen und sehnte sich nach Schlaf und Vergessen, wie früher. Doch er fand keine Ruhe. Verzweifelt versuchte er sich einzureden, dass nichts passiert war. Jedenfalls nichts, was er jemandem erzählen könnte.

Die Übelkeit kam zurück. Wimmernd setzte er sich auf. In dieser Position fühlte er sich weniger ausgeliefert. Er erkannte, dass er sich in Zukunft vor Pietro in Acht nehmen musste und überlegte, wie er ihm aus dem Weg gehen könnte. Auch die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, zog er in Betracht, doch diesen Gedanken verwarf er. Er wusste nicht, was er seinem Vater sagen sollte, und die Sache mit dem Brief stand zwischen ihnen.

Der harte Arbeitstag und der gemeine Überfall hatten ihn derart erschöpft, dass er gegen die Wand gelehnt im Sitzen einschlief.

Kurz vor Sonnenaufgang schreckte Giuliano auf. Er fror erbärmlich, und für einen Moment war ihm nicht bewusst, wo er sich befand. Mit der Erkenntnis kehrten auch die Schmerzen und die Scham zurück. Schluchzend erkannte er, dass er versuchen musste, den Vorfall zu vergessen. Die bittere Zeit nach dem Verschwinden seiner Mutter fiel ihm wieder ein. Damals waren Schlaf und Ablenkung am besten gewesen. Entschlossen wischte er sich die Tränen von den Wangen. Wenigstens hatte er jetzt einen Plan.

Er schlich, sich wachsam nach allen Seiten umsehend, über den Gang zur Dusche. Mit leerem Blick ließ er heißes Wasser über seinen Körper strömen. Es dauerte lange, bis er sich zumindest körperlich nicht mehr schmutzig fühlte.

Pünktlich um halb sieben betrat er die Hotelküche. Außer Pietro war niemand da. Giulianos Magen krampfte sich schlagartig zusammen, als er ihn erblickte.

„Na, Kleiner! Gut geschlafen?“ Pietro wies auf einen Sitzplatz neben der Tür. Auf dem Regal standen Milch, Getreideflocken, eine Kanne Kaffee und einige Tassen.

„Du kannst hier frühstücken, danach fahren wir zum Markt.“

Pietro benahm sich, als hätte der Vorfall am Abend zuvor nicht stattgefunden. Giuliano hatte keinen Appetit. Die Aussicht, gleich mit seinem Peiniger in ein Auto steigen zu müssen, verursachte ihm noch mehr Übelkeit, doch ihm fiel kein Ausweg ein. Er beschloss, sich neutral und abwartend zu verhalten, aber sich zu wehren, falls es erneut zu einem Übergriff kommen würde.

Bevor sie sich gemeinsam zu dem kleinen Transporter begaben, steckte er ein Schälmesser in die Tasche seiner Jeansjacke.

***

„Laurentius?“

Die Stimme von Bruder Raphael holte ihn zurück. Das Schweigen während der Mahlzeiten war beendet.

„Fühlst du dich nicht wohl?“

Laurentius sah auf. „Doch, alles in Ordnung.“

Er lächelte dem Klostervater zu. Raphael hatte seine Aufnahme in den Orden befürwortet und ihm bei der Wahl eines neuen Namens geholfen. Giuliano war froh gewesen, seinen Taufnamen und den Spottnamen „Ciao-Ciao-Giuliano“ hinter sich zu lassen, doch die Entscheidung für einen neuen Namen fiel ihm schwer. Eines Tages, nachdem er den Sonnengesang des heiligen Franziskus vorgetragen hatte, sagte Raphael, er erinnere ihn an Laurentius von Schnüffis, einen berühmten Bruder aus der Renaissance. ‚Laurentius’ gefiel ihm, seit er von den Laurentiustränen gehört hatte, also war der Name gefunden.

Als Laurentius Raphael von seinem Entschluss erzählte, freute dieser sich und fragte, ob die Verbindung zu Laurentius, dem Schutzpatron der Köche, eine Rolle gespielt habe. Doch Giuliano hatte eher Sorge, wegen des Namens gehänselt zu werden.

„Kommst du mit dem Studium voran?“, riss ihn Raphael aus seinen Gedanken.

„Ja, ich habe gute Ergebnisse erzielt“, antwortete Laurentius. Angelo hatte ihm gestern im Seminar eine Falle nach der anderen gestellt und sein Referat zerpflückt, aber das zu erzählen, wäre nicht angebracht. Auch jetzt beobachtete Angelo ihn argwöhnisch, eifersüchtig, dass der Guardian das Wort an ihn gerichtet hatte. Laurentius war sicher, dass er dafür wieder büßen musste. Raphael nickte in die Runde und verließ den Raum, die Mönche folgten ihm, jeder mit seiner Aufgabe im Kopf.

Laurentius räumte das Geschirr ab. So früh am Morgen arbeiteten der Hilfskoch und die Küchenhilfe aus der Stadt noch nicht. Das Kloster besetzte die meisten Stellen intern, und Laurentius war wegen seines Berufs eine gute Wahl. Er verantwortete den Speiseplan, kochte und übernahm die unbeliebten Küchendienste. Sein Anspruch, einfache Gerichte schmackhaft zuzubereiten, wurde geschätzt – von allen, bis auf Angelo, der demonstrativ nachwürzte oder lustlos im Essen herumstocherte.

Als Novize wurde Laurentius streng geprüft, doch Angelo übertrieb. Bald würde er seine Profess ablegen, und selbst Angelo konnte nicht übersehen, wie sehr sich sein Wunsch gefestigt hatte. Leider hatte Laurentius den Fehler begangen, ihm zu erzählen, dass sein Kindheitstraum gewesen war, Theologie zu studieren, und dass er die Ausbildung zum Koch nur wegen seiner Stiefmutter gemacht hatte. Seitdem unterstellte ihm Angelo, nicht aus echter Berufung, sondern wegen des Studiums in den Orden eingetreten zu sein. Egal, wie sehr Laurentius sich bemühte, er konnte Angelos Zweifel nicht zerstreuen. Und Angelo ließ keine Gelegenheit aus, ihn das spüren zu lassen.

Einige Angriffe waren körperlich schmerzhaft, doch Angelo ließ es wie ein Versehen wirken, wenn er Laurentius gegen den Knöchel trat oder ihm ein Bein stellte. Laurentius war ihm gegenüber immer freundlich und gehorsam gewesen und konnte sich nichts vorwerfen. Seine größte Sorge war, dass Angelo von der Sache mit Pietro wusste. Die Vorstellung, dass seine Brüder davon erfahren könnten, war unerträglich. Also ertrug er Angelos Gemeinheiten schweigend, was diesen nur noch mehr anzustacheln schien.

***

Auch der zweite Ausbildungstag war eine endlose Schinderei. Giuliano schleppte Kisten, schälte, putzte und wusch bis in die Nacht. Ego brachte ihm bei, wie man mit den schweren Pfannen und den darin angebrannten, fettigen Resten umging. Giuliano war auf der Hut vor Natales Tritten und Pietros Übergriffen. Er fand heraus, dass Pietro ein Verwandter des Chefs war. Seine Aufgabe war, einzuspringen, wo immer im Hotel eine Kraft fehlte, und das gesamte Personal zu beaufsichtigen. Insofern war er sein direkter Vorgesetzter.

In der Mittagspause musste Giuliano sich bei der Sekretärin melden. Sie ließ ihn eine halbe Stunde warten. Mit hängendem Kopf saß er auf dem harten Stuhl vor ihrem Büro und betrachtete die Blasen, die sich auf seinen Handflächen bildeten. Als er eintrat, bemerkte er, dass sie die Nase rümpfte. Der Küchendunst haftete ihm an. Wortlos händigte sie ihm allerhand Papiere für die Berufsschule aus. Giuliano las sich aufmerksam durch die Informationen über seine Ausbildungsziele und die Positionen, die er in der Küche zu durchlaufen hatte. Die Aussicht auf den Blockunterricht in der Nachbarstadt ließ ihn aufatmen. Immerhin bekam er Gelegenheit, zwei Fremdsprachen zu erlernen.

Nach Feierabend achtete er darauf, die Küche gemeinsam mit Ego zu verlassen und beeilte sich, zu seinem Zimmer zu kommen. Er öffnete leise die Tür und schloss sich umgehend ein. Endlich konnte er sich ausruhen. Sein Körper schmerzte. Auch die Müdigkeit glich einem Schmerz. Ihm war schleierhaft, wie er diese drei Lehrjahre überstehen sollte. Seufzend streifte er Schuhe und Kleider ab und fiel wie ein Stein ins Bett.

Plötzlich spürte er das Gewicht eines Körpers auf sich. Benommen rief er sich ins Bewusstsein, dass er die Tür abgeschlossen hatte, bevor er zu Bett gegangen war.

Giuliano konnte kaum atmen, er roch Pietros sauren Gestank. Sein Peiniger war mindestens sieben Jahre älter, mehr als einen Kopf größer und von äußerst kräftiger Statur. Sobald Giuliano realisierte, dass er sich keineswegs in einem Traumgeschehen befand, erinnerte er sich an das Messer in seiner Jacke. Sie hing über der Lehne des Stuhls direkt neben seinem Bett. Er wand sich wie eine Schlange unter Pietro, bis er einen Arm frei bekam.

***

Laurentius begab sich zum Gebet in seine Zelle. Die ursprünglichen, dicht beieinanderliegenden Zellen mit ihren winzigen Lichtschächten, durch die kaum genug Tageslicht drang, um das Kruzifix zu erkennen, dienten nur noch als Attraktion für die Besucher des Klosters. Die Mönche bewohnten inzwischen modern eingerichtete Zimmer, behielten aber untereinander die Bezeichnung „Zelle“ bei. Darin befanden sich Betten statt Pritschen mit Strohmatten, jeweils ein kleiner Schrank, ein Schreibtisch mit Stuhl und ein PC. Lediglich das schlichte Kruzifix, das über den Betten hing, stammte noch aus der Gründungszeit des Klosters. Brüder, die außerhalb des Klosters ihren Pflichten nachgingen, achteten darauf, die Gebetszeiten einzuhalten, und kehrten mehrmals am Tag ins Kloster zurück. Hier, mit sich allein, fühlte sich Laurentius Gott am nächsten. Oft betete er zum heiligen Franziskus. In der Zwiesprache mit dem Heiligen machte er sich bewusst, dass die ihm auferlegten Prüfungen vergleichsweise milde waren. Er ermahnte sich, dass es zu seinem Leben als Mönch gehöre, sie als Geschenke anzunehmen. Danach erhob er sich – bereit und gestärkt für seine nächsten Aufgaben.

Auf dem Regal lag ein an ihn adressierter Brief, der ihn tags zuvor erreicht hatte. Er genoss die Vorfreude auf seinen Inhalt. Die akkurate Handschrift seiner Großmutter entlockte ihm ein Lächeln. Leider hatten sie sich in den letzten Jahren kaum gesehen. Sie lebte allein im Süden Siziliens. Nachdem ihre Tochter die Familie verlassen hatte, hatte sie das Haus seines Vaters gemieden, doch über Monsignore Rossi hielt sie den Kontakt zu Giuliano aufrecht. Als er ihr berichtete, wie herausfordernd die Arbeit in der Küche sei, ermutigte sie ihn, seine Lehre dennoch abzuschließen. Über Pietro schwieg er. Später unterstützte sie seinen Wunsch, in den Orden einzutreten, und machte ihm Mut, bis er sich mit Rossis Unterstützung getraut hatte, einen der Mönche anzusprechen.

Sie hatte es sich auch zur Aufgabe gemacht, jährlich das Polizeirevier aufzusuchen, um sich nach dem Verbleib ihrer Tochter zu erkundigen.

Sie schrieb ihm, wie stolz sie auf ihn sei und dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er seinen Studienabschluss erreiche. Am Ende des Briefes versprach sie, an seinem Geburtstag an ihn zu denken und ihn bald im Kloster zu besuchen.

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Pietro registrierte das Aufblitzen des Metalls. Ein harter Schlag auf Giulianos Handgelenk folgte, und das Messer flog in hohem Bogen gegen die Wand.

„Keine Zicken, habe ich gesagt!“

Wie am Vortag endete der Übergriff abrupt. Nachdem sein Peiniger das Zimmer verlassen hatte, saß Giuliano zitternd auf dem zerwühlten Bett. Übelkeit stieg in ihm auf, und er eilte zum Fenster. Erschöpft stützte er das Kinn auf die Fensterbank. Sein Versuch, sich einzuschließen, hatte nichts genützt – Pietro besaß einen Schlüssel.

Giulianos Blick fiel auf die im Mondlicht schimmernden Mauern des Klosters von Assisi. Der heilige Franziskus kam ihm in den Sinn, und er betete, um seinen Beistand. Verzweifelt erweiterte er sein Gebet zu allen Heiligen, zu Jesus Christus und der Mutter Gottes.

Das Kloster thronte wie ein Bollwerk auf dem Plateau. In seiner Fantasie flüchtete sich Giuliano hinter diese Mauern, um seinem Vorbild zu folgen, zu studieren und sein Leben der Brüderlichkeit und Liebe zu widmen. Dort wäre er vor Pietro sicher. Durch das Gebet schöpfte er Mut, trat ans Waschbecken, wusch sein Gesicht und die Hände mit kaltem Wasser und erschrak, als er in den Spiegel blickte und die Glut in seinen Augen sah. Entschlossen packte er den wurmstichigen Stuhl und verkantete ihn unter der Türklinke. Diese Barriere würde auch Pietro nicht überwinden.

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Leise schlich Laurentius aus seiner Kammer. Wie jedes Jahr am 4. Oktober, dem Gedenktag des Heiligen Franziskus, begab er sich nach Einbruch der Dämmerung in die Basilika San Francesco, zum Grab des Heiligen. Er wollte die Stille nutzen, die nach dem Schließen der Basilika einkehrte. Die tagsüber durch die Hallen strömenden Touristenscharen, die lautstark durch die prächtige Kirche pilgerten, empfand er als respektlos und störend. Vor einigen Jahren war es ihm gelungen, den Riegel des alten Eingangstors zu manipulieren, dass er beim Abschließen nicht mehr vollständig im Rahmen einrastete. Glücklicherweise prüfte der Hausmeister nie, ob die Tür tatsächlich fest verschlossen war.

Laurentius wollte dem Heiligen für das Gute danken, das ihm im vergangenen Jahr widerfahren war, und ihn um seinen Segen für die bevorstehende ewige Profess bitten. In einem samtenen Beutel trug er Kerzen, Weihrauch, Kohle und Zündhölzer. Er öffnete die Tür mit leisem Knarren und warf einen prüfenden Blick umher, bevor er hineinschlüpfte. In der Basilika herrschte eine düstere Atmosphäre, die Laurentius erschauern ließ. Als er die Tür von innen verriegelte, überkam ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Vorsichtig suchte er den Raum ab, doch die langen Bankreihen waren leer. Nach einem kurzen Gebet schritt er die Stufen hinab, die in die Unterkirche führten. Widerholt sah er sich um.

Er betrat die Krypta und bekreuzigte sich. Sein Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich. Wie üblich brannten drei Kerzen auf dem Altar vor dem Grab des Heiligen Franziskus, neben dem ewigen Licht. Er beeilte sich, seine Kerzen anzuzünden und war dankbar für das zusätzliche Licht. Mit einem beruhigten Atemzug ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen – niemand war zu sehen. Dann zündete er die Kohle an, auf die er mehrere bernsteinfarbene Weihrauchkörner legte. Der Raum füllte sich mit dem aromatischen Duft. Laurentius bekreuzigte sich, kniete nieder und versank in seine Gebete.

Ein knirschendes Geräusch ließ ihn aufschrecken. Irritiert starrte er in die Dunkelheit, um seine Herkunft zu lokalisieren. Es hatte geklungen, als würden Steine mit großer Gewalt bewegt. Dann hob und senkte sich der Boden, als würde eine Welle hindurchlaufen – das ist ein Erdbeben, schoss es ihm durch den Kopf. Doch bevor er aufspringen und sich unter einem Torbogen in Sicherheit bringen konnte, ertönte erneut ein Knirschen, begleitet von einem metallischen Kreischen – diesmal viel lauter und eindeutig aus Richtung des Altars kommend. Laurentius sah die schweren Metallgitter des Sarges bersten. Die Steinblöcke darunter verschoben sich. Der Schock lähmte seine Glieder. Grelle Blitze schlugen aus dem Grab und tauchten die Basilika im Sekundentakt in gespenstisches Licht. Ein fürchterliches Stöhnen hallte durch den Raum. Laurentius wusste nicht, ob es aus seiner eigenen oder einer fremden Kehle stammte. Beißender Rauch brannte in seinen Bronchien, und der Weihrauchnebel trübte seine Sicht. Die Umrisse einer Gestalt erhoben sich aus dem steinernen Sarg. Als diese sich ihm zuwandte, hielt Laurentius vor Schreck den Atem an. Es war das Antlitz des heiligen Franziskus. Fassungslos beobachtete Laurentius, wie sich die Gestalt aus der Krypta entfernte.

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Giuliano wusste, dass er sich selbst helfen musste. Über Pietro konnte er sich weder beschweren, noch konnte er jemandem anvertrauen, was geschehen war. Um sich zu schützen, galt es vor allem, Situationen zu vermeiden, in denen er mit Pietro allein war. Er durfte sich nicht in die Position bringen, sich verteidigen zu müssen, da er ihm körperlich unterlegen war. Stattdessen musste er schneller und klüger sein. Indem er nachts die Tür verbarrikadierte, fühlte er sich zumindest in seinem Zimmer sicher. Das größere Problem war, Pietro tagsüber auszuweichen und unbeschadet in und aus seinem Zimmer zu kommen.

Pietro lauerte ihm ständig auf oder stellte ihm nach. Mehrmals drängte er Giuliano in die Ecke des Kellers, bis Giuliano laut nach Ego rief, dem Tellerwäscher, der ihm unbewusst aus der Klemme half. Sobald jemand auftauchte, ließ Pietro von ihm ab. Giuliano gab dann vor, Ego brauche seine Hilfe beim Tragen schwerer Kisten. Manchmal entkam er auch durch einen schnellen Sprint. Vermutete er, dass Pietro im Keller wartete, fand er Ausreden, um nicht hinuntergehen zu müssen.

Nie sprachen sie darüber. Pietro schien es gleichgültig, wenn Giuliano ihm entwischte. Er wartete einfach auf die nächste Gelegenheit. Während ihrer gemeinsamen Autofahrten redeten sie ganz normal über Politik, Sport und Alltägliches. Pietro erklärte, wo man das frischeste Gemüse auf dem Markt fand, wie Metzger minderwertiges Fleisch verkauften und woran man frischen Fisch erkannte.

Mit großer Vorfreude erwartete Giuliano den Blockunterricht. Er war erleichtert, das Hotel für eine Weile verlassen zu können, um mit Abstand über Strategien zu seinem Schutz nachzudenken. Die Schule brachte Herausforderungen mit sich, aber zumindest war er dort sicher vor Pietro. Die Lehrer wunderten sich über seine zurückhaltende Art und darüber, dass er sich den anderen Schülern nicht anschloss. Da er jedoch im Unterricht gut zurechtkam, ließen sie ihn gewähren.

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Laurentius erwachte zitternd in unheimlicher Stille. Seine Wange schmerzte vom harten Boden. Eine letzte Kerze flackerte schwach. Schwer atmend setzte er sich auf, zu verängstigt, um zu fliehen. Als das Licht der Kerze endgültig zu erlöschen drohte, fand er Kraft aufzustehen. Die letzten Stufen ertastete er in völliger Dunkelheit. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, rannte er so schnell er konnte los. Er musste seinen Brüdern sofort berichten, was in der Basilika geschehen war. Zwölf Glockenschläge vom Kirchturm signalisierten, dass es Mitternacht war. Die Brüder würden schlafen, doch das hielt ihn nicht auf. Laut rufend „Kommt heraus!“, lief er den Flur entlang und hämmerte gegen die Türen, bis eine nach der anderen aufging.

„Brennt es?“, fragte Gironimo, der vorsorglich seine Habe in einen Kopfkissenbezug gestopft hatte. „Was ist los?“, polterte Angelo. Andere schauten ihm erstaunt nach. Endlich erschien Rafael. Mit überschlagender Stimme rief Laurentius: „Ein Wunder! Ein Wunder hat sich ereignet!“ Die Mönche blickten ihn fragend an.

Laurentius erkannte, wie verrückt er auf die anderen wirkte. Plötzlich erschien ihm seine Aufgabe überwältigend. Ihm wurde schwindelig, seine Knie gaben nach, und er sank sich an der Wand abstützend zu Boden. Er wollte von Anfang an erzählen, doch unter Angelos strengem Blick stockte er schon beim ersten Satz. Schließlich brachte er heraus: „Ihr m-m-müsst in die Basilika San Francesco, a-alle! J-jetzt sofort!“ Raphael beugte sich zu ihm und sagte: „Laurentius, beruhige dich. Wir sind bereit, dir zuzuhören.“

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