Laurus - Evgenij Vodolazkin - E-Book

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Evgenij Vodolazkin

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Beschreibung

Der Tod seiner großen Liebe, die er nicht zu retten vermag, treibt einen jungen kräuterkundigen Heiler fort aus seinem Dorf, um Vergessen und Vergebung zu finden. Auf seiner Wanderung durch das pestverseuchte Europa des 15. Jahrhunderts bietet er seine Heilkünste an, wo immer sie gebraucht werden. Auf seiner Reise durch Welten und Zeiten begleiten ihn die unterschiedlichsten Weggefährten, und er muss zahlreiche Gefahren bestehen: Er wird von Wegelagerern überfallen, auf dem Balkan gelyncht, geht auf hoher See über Bord und erreicht schließlich Jerusalem. Doch die größte Herausforderung erwartet ihn noch.

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Seitenzahl: 564

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Evgenij Vodolazkin

Laurus

Aus dem Russischenvon Olga Radetzkaja

Roman

Die Originalausgabe »LAVR« erschien 2012 bei AST in MoskauDer Autor drückt dem großen deutschen Arzt Karl Dietrich Heppseine tiefe Dankbarkeit für seine unschätzbare Hilfe aus.Die Übersetzung des vorliegenden Romans wurde großzügigunterstützt vom Institut Perevoda. Der Verlag bedankt sichherzlich hierfür.Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfondsfür die Unterstützung ihrer Arbeit.eBook-Ausgabe 2016Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© 2012 Evgenij Vodolazkin© 2016 Dörlemann Verlag AG, ZürichUmschlaggestaltung: Mike BierwolfSatz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-03820-927-0www.doerlemann.com

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumWidmungProlegomenaBuch der ErkenntnisBuch der EntsagungBuch des WegesBuch der RuheDer (a)historische Paternoster

Für Tatjana

Prolegomena

Zu verschiedenen Zeiten trug er vier verschiedene Namen. Das mag man als Vorteil sehen, denn das Leben des Menschen ist uneinheitlich. Bisweilen haben seine einzelnen Teile wenig gemeinsam. So wenig, dass man glauben könnte, verschiedene Leute hätten sie gelebt. In solchen Fällen kann man sich nur wundern, dass all diese Leute denselben Namen tragen.

Er hatte außerdem zwei verschiedene Beinamen. Der erste – »Rukinez« – bezog sich auf die Klostersiedlung Rukino, den Ort, wo er geboren war. Den meisten Leuten war er aber schlicht als »der Arzt« bekannt, denn eben dies war er für seine Zeitgenossen in erster Linie: ein Arzt. Oder mehr als das: Was er leistete, ging über ärztliches Können weit hinaus.

Das russische Wort für Arzt – wratsch – kommt vermutlich von dem Verb wrati: besprechen, beschwören. Diese Nähe lässt darauf schließen, dass eine wesentliche Rolle im Prozess der Heilung dem gesprochenen Wort zukam. Dem Sprechen als solchem, unabhängig von seiner Bedeutung. Angesichts der begrenzten Auswahl von Medikamenten hatte das Wort im Mittelalter mehr Gewicht als heute. Und gesprochen wurde ziemlich viel.

Es sprachen die Ärzte. Sie kannten Mittel gegen mancherlei Leiden, ließen aber auch die Möglichkeit einer direkten Kontaktaufnahme mit der Krankheit nicht außer Acht. Mit rhythmischen, äußerlich sinnlosen Sätzen besprachen sie sie und redeten ihr zu, den Körper des Patienten zu verlassen. Die Grenze zwischen dem Arzt und dem Gesundbeter war zu jener Zeit fließend.

Es sprachen die Kranken. Da es keine diagnostischen Geräte gab, waren sie gezwungen, genau zu beschreiben, was in ihren leidenden Körpern vorging. Manchmal hatten sie das Gefühl, dass mit den zähen, schmerzgesättigten Worten Schritt für Schritt auch die Krankheit aus ihnen entwich. Den Ärzten konnten sie in aller Ausführlichkeit von ihren Beschwerden erzählen, und dabei wurde ihnen leichter.

Es sprachen die Angehörigen der Kranken. Sie ergänzten und korrigierten deren Aussagen, denn nicht jede Krankheit erlaubte es dem Kranken selbst, zuverlässig zu schildern, was er durchmachte. Seine Verwandten konnten offen ihre Befürchtungen äußern oder (das Mittelalter war eine unsentimentale Zeit) darüber klagen, wie schwierig der Patient im Umgang sei. Davon wurde auch ihnen leichter.

Die Besonderheit des Mannes, von dem hier die Rede ist, bestand darin, dass er sehr wenig sprach. Er gedachte der Devise Arsenius’ des Großen: Viele Male habe ich die Worte bereut, die über meine Lippen kamen, aber niemals mein Schweigen. Meist sah er den Kranken nur stumm an. Manchmal sagte er ihm: Dein Körper wird dir noch dienen. Oder er sagte: Dein Körper ist nicht mehr zu gebrauchen, mach dich bereit, ihn zu verlassen; wisse, er ist ein gebrechlich gefesz.

Sein Ruhm war groß. Die gesamte bewohnte Welt hallte davon wider, er konnte sich nirgends verstecken. Wo er erschien, versammelte sich das Volk. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden wandern, und sein Schweigen übertrug sich auf sie. Die Menge stand still. Aus Hunderten offenen Mündern kam kein Wort, nur kleine Dampfwölkchen. Er sah zu, wie sie sich in der frostigen Luft auflösten. Man hörte den Januarschnee unter seinen Füßen knirschen. Oder das Septemberlaub rascheln. Die Umstehenden warteten auf ein Wunder, über ihre Gesichter rann der Schweiß der Erwartung. Geräuschvoll fielen die salzigen Tropfen zu Boden. Die Menge machte Platz und ließ ihn durch zu dem, dessentwegen er gekommen war.

Er legte dem Kranken die Hand auf die Stirn. Oder er berührte seine Wunde. Viele glaubten, seine Berührung wirke heilend. Der von seinem Geburtsort abgeleitete Beiname »Rukinez«, bekam so eine zusätzliche Bedeutung, denn ruka heißt Hand. Seine Heilkunst vervollkommnete sich von Jahr zu Jahr, und auf dem Zenit seines Lebens erreichte sie scheinbar übermenschliche Höhen.

Es hieß, er besitze das Elixier der Unsterblichkeit. Hier und da begegnet man sogar der Auffassung, er, der Heilung spendete, habe nicht wie jeder andere Mensch sterben können. Diese Vorstellung beruht darauf, dass sein Körper nach seinem Tod keinerlei Spuren der Verwesung aufwies. Er lag tagelang unter freiem Himmel, ohne dass sein Aussehen sich veränderte. Dann verschwand er plötzlich, als hätte sein Besitzer das Herumliegen sattgehabt, als wäre er aufgestanden und gegangen. Die das glauben, vergessen jedoch, dass es seit Erschaffung der Welt nur zwei Menschen gab, die die Erde lebend verlassen haben: Henoch, den der Herr erwählt hat, um den Antichrist zu entlarven, und Elia, der im feurigen Wagen zum Himmel auffuhr. Von einem russischen Arzt dagegen ist in der Überlieferung nirgends die Rede.

Seinen spärlichen Auskünften nach zu schließen, hatte er nicht die Absicht, seinen Körper in alle Ewigkeit zu bewohnen – und sei es nur, weil er sich mit dem Körper als solchem schon sein ganzes Leben beschäftigt hatte. Auch ein Unsterblichkeitselixier besaß er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Zu dem, was wir über ihn wissen, passen derlei Dinge einfach nicht. Es kann folglich als gesichert gelten, dass er gegenwärtig nicht mehr unter uns weilt. Wobei man hinzufügen muss, dass er selbst nicht immer genau wusste, welche Zeit eigentlich als Gegenwart zu betrachten sei.

Buch der Erkenntnis

Er kam zur Welt in der Siedlung Rukino beim Kloster des Heiligen Kirill. Dies geschah am 8. Mai des Jahres 6948 seit Erschaffung der Welt, im 1440. Jahr seit der Geburt unseres Erlösers Jesus Christus, am Tag des Heiligen Arsenius des Großen. Sieben Tage später wurde er auf den Namen Arseni getauft. In diesen sieben Tagen aß seine Mutter kein Fleisch, um den Neugeborenen auf die erste Kommunion vorzubereiten. Die ersten vierzig Tag nach der Geburt blieb sie der Kirche fern, sie wartete, bis ihr Leib sich gereinigt hatte. Als es so weit war, ging sie zum Frühgottesdienst. In der Vorhalle der Kirche warf sie sich nieder und betete auf dem Bauch liegend mehrere Stunden lang nur um eines für ihren Säugling: Leben. Arseni war ihr drittes Kind. Die vor ihm Geborenen hatten das erste Jahr nicht überlebt.

Arseni überlebte. Am 8. Mai 1441 richtete seine Familie im Kirillkloster einen Dankgottesdienst aus. Nach dem Gottesdienst verneigten sie sich vor den Reliquien des Heiligen Mönchs Kirill, dann kehrten Arseni und seine Eltern nach Hause zurück, sein Großvater Christofor aber blieb im Kloster. Tags darauf sollte sein siebtes Jahrzehnt sich vollenden, und er wollte den Ehrwürdigen Nikander fragen, wie er weiter vorgehen solle.

Im Grunde, antwortete der Starez, habe ich dir nichts zu sagen. Höchstens eines: Wohne nah am Friedhof, mein Freund! Einen Riesen wie dich will man nicht weit tragen müssen. Und noch eins: Wohne allein.

So sprach der Starez Nikander.

Christofor zog zu einem der nahe gelegenen Friedhöfe. Ein Stück weit von Rukino fand er ein leeres Haus direkt am Friedhofszaun. Die Besitzer hatten die letzte Pestwelle nicht überstanden. Damals gab es in manchem Jahr mehr Häuser als Menschen. Das stabile, geräumige Holzhaus war herrenlos gelieben, niemand hatte sich entschließen können, es zu übernehmen. Erst recht, da es unmittelbar neben einem Friedhof voller Pesttoter stand. Christofor aber entschloss sich.

Schon damals soll er eine klare Vorstellung vom weiteren Schicksal dieses Orts gehabt haben. So wusste er angeblich, dass im Jahr 1495 an der Stelle seines Hauses eine Friedhofskirche gebaut werden würde. Zum Dank für den glücklichen Ausgang des Jahres 1492, des siebentausendsten seit Erschaffung der Welt. Der erwartete Weltuntergang blieb in diesem Jahr aus, stattdessen entdeckte ein Namensvetter Christofors überraschend für sich und die Welt Amerika (was die Welt damals aber wenig interessierte).

Im Jahr 1609, wusste Christofor, wird die Kirche von den Polen zerstört werden. Der Friedhof verwildert, an seiner Stelle wächst ein Kiefernwald. Pilzsammler werden dort gelegentlich von Geistern angesprochen. 1817 kauft ein Händler namens Koslow den Wald, zwecks Holzgewinnung. Zwei Jahre darauf wird auf dem gerodeten Gelände ein Armenspital gebaut. Genau hundert Jahre später bezieht die örtliche Tscheka in dem Gebäude Quartier. Sie nutzt das Grundstück, in Übereinstimmung mit seinem ursprünglichen Verwendungszweck, für Massenbegräbnisse. 1942 macht der deutsche Pilot Heinrich von Einsiedel das Gebäude mit einem gezielten Treffer dem Erdboden gleich. 1947 wird das Gelände in einen Truppenübungsplatz umgewandelt und der 7. Panzerbrigade »K. E. Woroschilow« übergeben. Ab 1991 gehört es dem Gartenbaubetrieb »Weiße Nächte«. Neben Kartoffeln graben die Mitarbeiter auch große Mengen Knochen und Munition aus, mit einer Beschwerde beim Gemeindevorsteher haben sie es aber nicht eilig. Ihnen ist klar, dass man ihnen ohnehin kein anderes Grundstück zur Verfügung stellen wird.

So ist nun mal unsere Erde, sagen sie, auf der müssen wir leben.

Dank dieser detaillierten Vorausschau wusste Christofor, dass das Grundstück zu seinen Lebzeiten nicht angetastet würde und dass das Haus, das er ausgesucht hatte, die nächsten vierundfünfzig Jahre lang erhalten bliebe. Ihm war klar, dass vierundfünfzig Jahre nicht wenig war für ein Land mit turbulenter Geschichte.

Das Haus hatte fünf Wände: vier Außenwände aus Baumstämmen, eine fünfte im Inneren. Sie teilte das Blockhaus in zwei Zimmer – ein warmes (wo der Ofen stand) und ein kaltes.

Bei seinem Einzug vergewisserte Christofor sich, dass keine Ritzen zwischen den Rundhölzern waren, und bespannte die Fenster neu mit Rinderblasen. Er nahm Sojabohnen und Wacholderbeeren und mischte sie mit Wacholderspänen und Weihrauch. Dazu Eichenlaub und Rautenblätter. Das alles zerrieb er fein, legte es auf Kohlen und räucherte einen Tag lang. Christofor wusste, dass die Seuche mit der Zeit von selbst aus den Häusern verschwand, dennoch schien ihm diese Vorsichtsmaßnahme nicht übertrieben. Er sorgte sich um seine Verwandten, die ihn womöglich besuchen würden. Und um die Kranken, die er behandelte. Christofor war ein Kräuterheiler, zu ihm kamen ständig die verschiedensten Leute.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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