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»Mit dem Muttersein sind zwei Gefühle untrennbar verbunden: die bedingungslose Liebe zu einem Kind und die Angst, es zu verlieren.« Isabel liebt ihre sechs Monate alte Tochter Leonie abgöttisch. So sehr, dass alles andere unwichtig wird. Als Leonie am helllichten Tag spurlos verschwindet, wächst Isabels Angst um sie ins Unermessliche. Auf der Suche nach ihrer Tochter offenbart sich ihr eine Wahrheit, von der sie lieber nichts gewusst hätte. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Lautlos wie dein Verschwinden
Monika Lüthi
Impressum
© 2021 Monika Lüthi
Lautlos wie dein Verschwinden
1. Auflage, September 2021
Alle Rechte vorbehalten
Monika Lüthi
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
Lektorat: Astrid Töpfner www.astrid-topfner.com
Korrektorat: Claudia Heinen www.sks-heinen.de
Covergestaltung: Christin Giessel www.giessel-design.de
Satz: Monika Lüthi www.monika-luethi.com
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Handlungen und alle handelnden Protagonisten sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-96966-787-3
Buchbeschreibung
Mit dem Muttersein sind zwei Gefühle untrennbar verbunden: die bedingungslose Liebe zu einem Kind und die Angst, es zu verlieren.
Isabel liebt ihre sechs Monate alte Tochter Leonie abgöttisch. So sehr, dass alles andere unwichtig wird. Als Leonie am helllichten Tag spurlos verschwindet, wächst Isabels Angst um sie ins Unermessliche. Auf der Suche nach ihrer Tochter offenbart sich ihr eine Wahrheit, von der sie lieber nichts gewusst hätte. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Prolog
Jetzt
Sie sollte nicht hier stehen, hier vor diesem Haus mit dem riesigen Garten. Im Licht der Eingangslampe kann sie jeder sehen, der an ihr vorbeiläuft. Trotzdem geht sie nicht weiter. Wachsam betrachtet sie die Umgebung. Sogar in der Nacht erkennt man, wie viel Zeit und Mühe in dieses Haus gesteckt wurden. Alles ist mit viel Liebe hergerichtet. Die Blumentöpfe neben dem Eingang. Der gepflasterte Gehweg. Die Babyschaukel am Ast der Eiche. Am Gartenzaun hängt eine Geburtstafel, ein Storch mit einem rosaroten Bündel im Schnabel. Leonie, 19. April, steht in Großbuchstaben darunter. Das weiß sie, weil sie nicht das erste Mal hier ist und heute wird auch nicht das letzte Mal sein.
Sie streicht mit den Fingern über das Holz. Es fühlt sich rau an. Da kippt der Storch zur Seite. Wie ein Pendel schwingt er hin und her, bis er zum Stillstand kommt. Ihr Blick schweift vom Zaun zur Eingangstür, dann zum hell erleuchteten Panoramafenster, das sein Licht bis weit in den Garten wirft. Man sieht direkt zum Esstisch, wo Leonie in der Babyschale liegt und mit den Beinchen strampelt. Beim Anblick der Kleinen durchflutet sie eine Welle der Zufriedenheit und ihr rechter Mundwinkel zuckt kaum merklich nach oben. Ein Haus mit Garten, eine Geburtstafel und ein Baby. Bald wird sie all das auch haben.
Kapitel 1
Jetzt
Etwas stimmt nicht, aber ich kann nicht genau ausmachen was. Langsam lasse ich den Blick durch unseren Garten schweifen, den Griff des Kinderwagens fest umklammert. Die Babyschaukel unter der Eiche schwingt in der Brise hin und her. Das Quietschen des Scharniers übertönt das Rascheln der davonfliegenden Blätter. Ich begutachte die Blumentöpfe neben dem Eingang, dann die Fensterläden, entdecke aber nichts Auffälliges. Mechanisch schiebe ich den Kinderwagen vor und zurück. Leonie ist dick eingepackt in eine Wolldecke und schläft, wie so oft in den letzten Tagen. Ein Flaum weißblonder Haare blitzt unter der Mütze hervor. Vorsichtig berühre ich ihren Nacken, um zu überprüfen, ob sie schwitzt. Alles in Ordnung. Ich schaue hinüber in den Nachbarsgarten, ohne zu wissen, wonach ich suche. Bälle, Schaufeln und Sandkastenformen liegen kreuz und quer verteilt im verdorrten Gras. Das Bein eines Plastikstuhls steckt in einem Beet voller Margeriten, die ihre braunen Köpfe hängen lassen. Ich schüttle den Kopf. Da ist nichts.
Bestimmt kommt das flaue Gefühl in meinem Magen von der Sechsmonatskontrolle. Dieses Mal war es besonders schlimm. Weil die Arzthelferin krank war, musste ich Dr. Brunner bei der Blutabnahme assistieren. Mit schweißnassen Händen hielt ich Leonies Kopf fest, während er sich an der Vene direkt unter dem Haaransatz zu schaffen machte. Ein Stich, und Leonies fröhliches Geplapper verwandelte sich sekundenschnell in ein gellendes Schreien. Mein Magen krampfte sich zusammen und meine Finger zitterten. Leonies Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Peinlich. Eine 29-Jährige brach in Tränen aus, nur weil ihrer Tochter Blut abgenommen wurde. Ein Stück des Pflasters, das Dr. Brunner ihr danach auf die Stirn geklebt hat, schaut unter der Mütze hervor. Ich reiße mich von Leonie los, betrachte ein letztes Mal die Umgebung und versichere mir noch einmal, dass da nichts ist. Dann schiebe ich den Kinderwagen auf dem gepflasterten Gehweg ins Haus.
Die Luft drinnen ist wärmer als die draußen. Vorsichtshalber schließe ich die Tür ab und hänge den Schlüssel ans Brett. Man kann nie wissen. Durch die Fensterfront im Wohnzimmer dringen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Staubkörnchen tanzen in den Lichtkegeln umher. Ich schiebe die Decke zum Fußende und lege Leonies Teddybär in die Ablage unter dem Wagen. Nicht, dass sich Leonie diesen im Schlaf aufs Gesicht zieht und keine Luft mehr bekommt. Das Gesundheitsheft schaut vorwitzig aus der Wickeltasche. Ich greife danach und blättere zum letzten Eintrag. Während ich im Wohnzimmer auf und ab wandere und die Wachstumskurve betrachte, rebelliert mein Magen wieder. Man erkennt auf den ersten Blick, dass Leonies Gewicht von der Kurve abweicht. Nach unten. Schlagwörter aus dem dicken Ratgeber für Kindererziehung wirbeln wild durch meinen Kopf. Mangelndes Gedeihen. Wachstumsverzögerung. Entwicklungsstörung. Mein Atem geht schneller, unregelmäßiger.
»Was stimmt nicht mit ihr?«, fragte ich Dr. Brunner mit zittriger Stimme.
»Es ist alles in bester Ordnung«, beteuerte er und lächelte. Leonie sei zwar kleiner und leichter als die meisten Babys in ihrem Alter, aber sie wachse und das sei die Hauptsache. So richtig überzeugt hatte er mich nicht. Warum schreit sie dann so oft? Warum trinkt sie alle zwei Stunden an der Brust und scheint trotzdem nicht satt zu werden?
Ich sehe Dr. Brunner vor mir mit den grauen Haaren an den Schläfen und den Brillengläsern, hinter denen seine Augen wie winzige Knöpfe wirkten. Er war schon Kinderarzt, als ich noch zur Schule ging, und musste wissen, wovon er sprach. Es ist alles in Ordnung, wiederhole ich wie ein Mantra immer wieder. Wenn ich es doch nur glauben könnte. Ich klappe das Heft zu und lasse mich auf das Sofa fallen. Nun, da ich mich nicht mehr bewege, werden zuerst meine Füße und dann der Rest meines Körpers immer träger. Ich lehne den Kopf an das Polster und schließe die Augen. Nur kurz, dann werde ich das Abendessen vorbereiten.
Ich liege mit geschlossenen Augen da und lausche dem Herzschlag, der mich umgibt wie das Wasser meinen Körper. Babumm. Babumm. Babumm. Das Geräusch beruhigt mich. Ich strecke Arme und Beine aus und versinke tiefer in dieser wohligen Wärme, lasse mich vom regelmäßigen Rhythmus in den Bann ziehen. Es ist fast, als würde ich schweben. Dann, von einem Moment auf den anderen, ist der Herzschlag weg. Stille nimmt den Raum ein. Ich hole Luft und schreie aus Leibeskräften. Wasser dringt in meinen Mund und erstickt meine Stimme.
Ich wache auf, so plötzlich, dass ich nicht weiß, wo ich bin. Alles ist verschwommen, als hätte ich versehentlich Marcs Lesebrille aufgesetzt. Ich blinzle ein paar Mal und reibe mir die Augen. Dann sehe ich das Poster von Leonie als Neugeborenes an der Wand. Ich bin zu Hause und liege auf dem Sofa. Statt die Suppe zu kochen, bin ich eingenickt. Ich schaue an mir herunter. Leonie liegt nicht auf meinem Bauch. Wenn ich auf dem Sofa einschlafe, dann nur nach dem Stillen mit ihr auf dem Arm. Ich schieße hoch vor Schreck. Zu schnell. Alles um mich herum wird schwarz. Ich taste nach der Sofalehne und halte mich daran fest. Als ich wieder klare Gedanken fassen kann, haste ich sofort zum Kinderwagen und schaue hinein. Da liegt sie, hat sich selbstständig zur Seite gedreht.
Die Erläuterungen meiner Mutter zum plötzlichen Kindstod klingen in meinen Ohren nach. Selbst völlig gesunde Kinder können ohne erkennbare Ursache im Schlaf sterben. Für einen Moment bin ich wieder in der Vergangenheit und durchlebe die Panik von damals erneut. Schlägt ihr Herz noch? Schnell drehe ich sie zurück auf den Rücken und lege mein Ohr auf ihre Brust. Da ist er, ihr Herzschlag. Gott sei Dank! Ich halte mich am Griff des Kinderwagens fest und zwinge mich, ruhig zu atmen. Tief ein und wieder aus. Sanft streichle ich über Leonies Strampler. Sie verzieht das Gesicht und dreht sich wieder zur Seite. Ihr Herz schlägt, sie lebt. Ich hätte es nicht noch einmal ertragen, wenn es anders gewesen wäre.
Der Dampfabzug rattert und übertönt alle Geräusche im Raum. Der Schreck von vorhin steckt noch tief in meinen Gliedern und macht meine Bewegungen träge. Wie in Zeitlupe schneide ich Karotten in Stücke und werfe sie in den Topf. Immer wieder blicke ich in den Kinderwagen, um mich zu vergewissern, dass Leonie noch da ist und schläft. Seit sie geboren wurde, lebe ich mit der Angst, ihr könnte etwas zustoßen. Manchmal reicht sogar eine Schlagzeile in der Zeitung, um einen Gedankensturm auszulösen:
Acht Monate altes Baby an Leukämie gestorben.
Hund beißt Kleinkind (2) tot.
Einjähriges Mädchen stirbt, weil sich Ballonschnur um seinen Hals wickelt.
Ich schlucke leer und unterdrücke die aufsteigenden Tränen. Nie hätte ich erwartet, dass es an manchen Tagen so schwer sein würde. Dass ich mir so viele Sorgen um Leonie machen könnte. Ich kehre meine Gedanken in eine Ecke und versuche, an etwas anderes zu denken. Die Wanduhr verrät, dass Marc längst zu Hause sein müsste. Wahrscheinlich musste er in letzter Minute eine Präsentation beenden, eine E-Mail beantworten oder den neusten Artikel über die stagnierenden Immobilienpreise lesen und hat deswegen wie so oft den Zug verpasst. Ich sehe ihn vor mir, wie er vor dem Bildschirm sitzt, mit der Lesebrille auf der Nase. Marc geht so sehr in seiner Arbeit auf, dass er jegliches Zeitgefühl verliert. Sogar im Zug, auf der überfüllten Strecke zwischen Zürich und Bern gelingt es ihm, konzentriert zu arbeiten. Ich hingegen kann seit Leonies Geburt kaum ein paar Sätze in einem Buch lesen, ohne dass meine Gedanken abschweifen.
Nach zwanzig Minuten Kochzeit steche ich mit dem Messer in ein Stück Karotte. Es ist weich genug zum Pürieren. Ich zerdrücke das Gemüse mit kreisenden Bewegungen. Das Dröhnen des Pürierstabs mischt sich mit dem Surren des Dampfabzuges und lullt mich ein. Da kommt mir in den Sinn, dass ich vergessen habe, Windeln zu kaufen. Ich nehme mir vor, gleich heute Abend eine Bestellung aufzugeben. Die leere Ablage auf dem Wickeltisch, wo sich sonst Leonies Windeln stapeln, wird mich daran erinnern. Aus dem Augenwinkel nehme ich einen Schatten wahr. Ich zucke zusammen und lasse den Pürierstab fallen. Scheppernd fällt er zu Boden. Ich mache einen Schritt zur Seite und atme erleichtert aus, als ich sehe, wer vor mir steht.
»Marc! Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
»Kein Wunder, bei dem Radau, den du da veranstaltest.« Marc legt einen Arm um meine Taille und drückt mir einen verhaltenen Kuss auf die Wange. Seine Lippen sind feucht und fühlen sich ungewohnt an auf meiner Haut. Er löst routiniert den Knoten seiner Krawatte, bevor er sie über den Kopf zieht und auf die Kommode neben der Garderobe legt. »Was hat der Arzt gesagt?«
»Alles sei in Ordnung.«
Er legt den Kopf schief und mustert mich. »Aber?«
»Er hat ihr Blut abgenommen.« Ich trete neben den Kinderwagen und berühre Leonie am Arm.
»Das macht er bei jedem Besuch, um dich zu beruhigen.« Ich schaue nicht auf, höre aber Marcs Lächeln in seiner Stimme.
»Ich weiß.« Ich beschließe, ihm nicht zu erzählen, wie hilflos ich mich während der Blutabnahme gefühlt habe. Am liebsten hätte ich Leonie an mich genommen und die Praxis auf der Stelle verlassen. Sanft streichle ich mit dem Daumen über Leonies Handrücken. »Wenn er sich bis Ende der Woche nicht meldet, war die Blutprobe unauffällig.«
»Das ist sie bestimmt. Du machst dir zu viele Sorgen.« Ich erwidere nichts. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus und schnürt mich ein. In einem Moment war der Herzschlag noch da, im nächsten verschwunden. Die Erinnerung an die qualvollen Sekunden der Stille versucht, sich gewaltsam Zutritt zu meinem Bewusstsein zu schaffen. Mit aller Kraft dränge ich sie zurück. Ich will jetzt nicht daran denken. Marc war nicht dabei gewesen, als es passierte. Wie könnte er da meine Ängste um Leonie verstehen? Tränen steigen in meine Augen. Nicht schon wieder! Ich wende mich von Marc ab und greife nach einem Lappen, um die Suppenspritzer auf dem Boden aufzuwischen.
»Seit wann schläft Leonie?«, fragt er.
»Jetzt sind es knapp eineinhalb Stunden.«
»Dann bleibt uns noch eine Stunde.«
Eine Stunde wofür? Als ich mich erhebe und den Lappen auswasche, weiß ich es. Ich spüre die Wärme seines Körpers an meinem Rücken und verkrampfe mich, noch bevor seine Hände meinen Bauch berühren.
»Marc …« Ich versuche, mich aus seinen Armen zu befreien. Doch er hält mich nur noch fester. Seine Lippen liebkosen meinen Hals und wandern bis zu meinem Ohr. Ich muss lachen, weil es kitzelt. Marc versteht es als Aufforderung. Er schiebt seine Hände unter meinen Pullover, hoch zu meinen Brüsten.
»Marc, bitte. Leonie wollte letzte Nacht alle zwei Stunden an die Brust, ich habe kaum geschlafen.«
»Du wirst bestimmt schnell wieder munter«, murmelt er, dreht mich in seinen Armen zu sich und beugt sich zu mir herunter.
»Mein Tag war wirklich anstrengend«, stoße ich hervor und schiebe seine Hände weg.
Marc starrt mich an. Die Enttäuschung über die erneute Abweisung steht ihm ins Gesicht geschrieben.
»Du bist ständig müde. Und wenn du es nicht bist, dann musst du Leonie stillen, das Bad putzen oder Rechnungen zahlen. Irgendetwas ist immer.«
»Die Diskussion hatten wir schon.« Energisch putze ich die Spritzer auf der Ablage weg.
»Das war keine Diskussion, Isabel. Du hast mich abgewiesen und dachtest, damit sei alles geklärt. Aber das ist es nicht.« Der Ton seiner Stimme wird angriffslustig. »Sag einfach, dass du keine Lust hast, und flüchte dich nicht in Ausreden.«
Wut keimt in mir auf. Wie soll ich Lust auf Sex haben, wenn mein Rücken schmerzt vom Heben und Tragen? Wie soll ich mich ihm hingeben, wenn meine Gedanken ständig bei Leonie sind? Wie soll ich es genießen, wenn ich jede Minute den Impuls verspüre, nach ihr zu sehen? Aber all das würde Marc nicht gelten lassen.
»Na gut.« Ich werfe den Lappen ins Spülbecken. »Ich habe keine Lust. Zufrieden?«
Verletzt schaut er mich an und ich bereue es sofort, ihn so angefahren zu haben. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er im Bürozimmer. Nur noch das Surren des Kühlschrankes erfüllt den Raum und das Licht der Deckenlampe wirkt kalt wie in einem Gefängnis. Ich setze mich aufs Sofa, schlinge die Arme um die Beine und lege den Kopf auf die Knie. Mein Blick fällt auf einen Streifen Fotoautomatenbilder von Marc und mir, die wir im ersten Monat unseres Kennenlernens gemacht haben. Damals gab es nur uns zwei. Seit Leonies Geburt hat sich so viel verändert. Vielleicht zu viel.
Kapitel 2
Ein Jahr zuvor
Marc fokussierte die rote Ampel auf der anderen Straßenseite. Meine Hand lag in seiner, schlaff und regungslos. Die andere ruhte auf meinem Bauch. Von außen sah man mir nichts an und doch war schon alles da. Der Kopf, fast so groß wie der restliche Körper. Hände, Füße und in der Mitte das Herz. Unermüdlich hatte es während der Ultraschalluntersuchung geschlagen, wie ein wummernder Bass, genauso schnell wie mein Herz, als ich Marc von der ungeplanten Schwangerschaft erzählte.
»Wie weit bist du?«, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.
»In der elften Woche.«
»Gut.« Er hatte sich neben mich aufs Sofa gesetzt und mir die Hand aufs Knie gelegt. »Dann ist es noch nicht zu spät für eine Abtreibung.«
Nun trennten uns nur ein paar Hundert Meter vom Eingang der Klinik, ein Betonblock ohne Wesen und ohne Gewissen. Das Gebäude, in dem wir meine Schwangerschaft beenden würden. Autos fuhren an uns vorbei, Abgase verpesteten die Luft und legten sich schwer auf meine Lunge. Die Fahrzeuge bremsten und die Ampel wechselte auf Grün. Wir überquerten die Straße, inmitten zig anderer Passanten, alle auf dem Weg nach Hause. Eine Frau in meinem Alter, mit Bäuchlein und Kinderwagen, wartete auf der anderen Seite, ein weiteres Kind an der Hand. Das Mädchen, ich schätzte sie auf zwei Jahre, weigerte sich, über den Zebrastreifen zu gehen. Die beiden Schwänzchen peitschten in ihr Gesicht, als sie wild den Kopf schüttelte. Ihr Kreischen dröhnte in meinen Ohren. Die Mutter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, redete auf ihr Kind ein und strich ihm übers Haar, bis es ihr schließlich schniefend nachtrottete. Ich schaute zurück, mein Blick glitt von selbst in die Wanne des Kinderwagens. Ein Säugling lag darin, das Gesicht so zerknautscht, als wäre er erst gerade geboren worden. Mein Herz wurde ganz schwer und meine Schritte langsamer.
»Isa?« Marc blieb stehen und musterte mich.
Er war der Einzige, der mich Isa nannte. Für alle anderen war ich Isabel. Isabel, die Fürsorgliche. Isabel, die Ängstliche. Isabel, die immer auf ihr Bauchgefühl hörte, weil es sie nie täuschte. Bei dieser Sache aber gewann der Kopf. Marc hatte mir aus dem Stegreif zig Argumente serviert, die gegen ein Kind sprachen, allen voran unsere beruflichen Ambitionen. Ich hatte einen Master in Soziologie an der Universität Bern und steckte mitten im Doktoratsstudium. Für nächstes Jahr hatte ich die Zusage für eine Stelle an der Universität in Oxford. Marc erklomm die Karriereleiter in der Immobilienbranche und stand kurz vor der Beförderung zum Geschäftsführer. Eine Stelle, auf die er seit Jahren hinarbeitete. Ein Kind passte nicht in unser Leben. Weder jetzt noch in der Zukunft. Eine Familie zu gründen, würde Verzicht bedeuten, der Verlust des eigenen Ich und womöglich würden wir uns als Paar verlieren. Davon war Marc felsenfest überzeugt. Die Bedeutung seiner Worte sickerte langsam in mein Bewusstsein. Marc und ich wären nicht mehr zu zweit. Dieses Kind würde vielleicht einen Keil zwischen uns treiben. Dieser Gedanke war so unerträglich wie schmerzhaft. Marc redete so lange auf mich ein, bis mein Bauchgefühl nicht mehr zu mir durchdrang und ich mechanisch mit dem Kopf nickte. Ja, ja, ja. Er hatte recht.
»Alles in Ordnung?« Marc drückte meine Hand. Auch jetzt nickte ich und drängte die Tränen zurück.
Es war besser so.
Die Eingangstür der Klinik verschluckte uns. Wir folgten der Beschilderung bis zur Gynäkologie und meldeten uns beim Empfang. Eine Ärztin führte uns in einen fensterlosen, dunklen Raum. Nirgends gab es eine Fluchtmöglichkeit, nur die Tür, die sich in dem Moment hinter uns schloss. Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich suchte Blickkontakt zu Marc, nach einer Regung in seinem Gesicht, die mir signalisierte, dass er sich umentschieden hatte und das Baby behalten wollte. Da war nichts. Kein Bedauern, keine Reue, kein Zweifel. Nur Marc und seine ausdruckslose Maske, die er sonst nur bei geschäftlichen Terminen aufsetzte. Nun lag ich da, unten unbekleidet. Eine Spritze ins Rückenmark, ein kurzer Schmerz. Ich wünschte, die Seele würde sich genauso betäuben lassen. Es wäre einfacher, als mir einzureden, dass diese Abtreibung für alle das Beste wäre. Am besten brachte ich das hier so schnell wie möglich hinter mich und vergaß es. Ich musste nach vorn schauen, in meine Zukunft in Oxford. Ich kniff die Augen zusammen, Tränen flossen über meine Wange. Die Schluchzer, die aus mir raus wollten, hielt ich mit aller Kraft zurück.
Die Mutter auf dem Zebrastreifen erschien vor meinem inneren Auge, neben ihr das quengelnde Mädchen und ihr Geschwisterchen im Kinderwagen. Ob wir auch ein Mädchen bekommen hätten? Wäre unser Kind blond geworden wie ich oder eher dunkelhaarig wie Marc? Wessen Gesichtszüge hätte es geerbt? Bei dem Gedanken wurde mein Herz ganz schwer. Wir würden es nie erfahren. Ich horchte in mich hinein, stellte mir vor, wie Marc und mein Leben aussehen würde, wenn wir alt und grau wären. Würde ich in fünfzig Jahren immer noch vor Studenten stehen und Vorlesungen halten wollen? Würde Marc weiterhin Artikel für seine Immobilienstudie schreiben? Würde die Leidenschaft für unsere Arbeit im Verlauf unserer Leben nicht langsam verloren gehen und die Sehnsucht nach etwas anderem an deren Platz treten? In meiner Vorstellung sah ich uns mit unseren erwachsenen Kindern in einem Sessel vor dem Kamin, umgeben von Enkeln und Urenkeln, deren Anblick unsere Herzen erwärmten. Mein Magen rebellierte stärker. Auf einmal erschien mir Oxford so sinnlos. Es war nur ein Job, winzig klein auf der Landkarte des Lebens und nicht von Bedeutung im Vergleich zu dem, was in mir heranwuchs. Ich öffnete blitzschnell die Augen. Auf einmal war alles sonnenklar.
»Hören Sie auf!«, rief ich. Meine Stimme nahm den kleinen Raum vollständig ein. »Ich will das nicht! Ich kann unser Kind nicht wegmachen lassen.«
War es zu spät? Ich lauschte in die Stille. Das Blut pulsierte in meinen Ohren.
»In Ordnung.« Metall klapperte auf dem Tisch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, dass ich rechtzeitig reagiert hatte. Ich atmete auf und schaute in den Lichtspot an der Decke, dann hinüber zu Marc. Er saß mit hängenden Schultern neben mir und sagte kein Wort. Seine Maske bröckelte und beförderte etwas zutage, das ich lieber nicht gesehen hätte: Verärgerung.
Am Abend lagen wir im Bett, den Rücken einander zugekehrt. Zwischen uns klaffte eine Lücke, so groß, dass ich Marc nicht hätte berühren können, obwohl er direkt neben mir lag. Ich hatte mich über seinen Wunsch hinweggesetzt und für uns beide entschieden, das Baby zu behalten. Damit drängte ich ihm ein Leben auf, das er nie gewollt hatte. Ein Leben, in dem wir uns verlieren würden, genau wie er befürchtet hatte. Ich kuschelte mich in die Mulde der Matratze und zog die Decke bis zum Kinn hoch. In diesem Moment schien es tatsächlich so zu sein. Ich brauchte meine gesamte Willenskraft, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Alles würde sich zum Guten wenden. Ich kannte Marc. Er brauchte Zeit, sich an Dinge zu gewöhnen, die er nicht beeinflussen konnte. So wie er akzeptiert hatte, dass er wegen seiner Meniskusverletzung zwar joggen, aber keinen Marathon mehr rennen konnte, würde er einsehen, dass wir zu dritt glücklich sein würden.
Was, wenn nicht?, flüsterte eine penetrante Stimme in meinem Kopf. Was, wenn er wirklich kein Kind will? Was machst du dann, Isabel?
Die Entscheidung für mein Kind bezahlte ich mit Morgenübelkeit, die den ganzen Tag anhielt. Auch lange nach der zwölften Woche wollte sie nicht verschwinden. Unbarmherzig zwang sie mich in die Knie und ich erbrach den gesamten Inhalt meines Magens in die Kloschüssel. Zwischen den Ananasstücken von der Geburtstagstorte schwammen halb verdaute Maiskerne. Bei dem Anblick wurde mir wieder schlecht.
Es war eine dumme Idee gewesen, Marcs dreiunddreißigsten Geburtstag mit unseren beiden Familien nachzufeiern. Dazu noch in unserer winzigen Stadtwohnung. Ständig stolperte man in jemanden hinein und der einzige freie Platz war der neben Marcs Tante Rosalinde mit den Glupschaugen. Da blieben die meisten lieber stehen. Wir würden umziehen müssen, wenn das Baby da war, am besten noch vor der Geburt. Ein Klopfen an die Tür übertönte die dumpfen Klänge von Beethovens Klavierspiel im Wohnzimmer.
»Isa? Alles in Ordnung?«
»Ja, ich komme gleich.« Ich würgte nochmals, nichts kam mehr hoch. Nachdem ich mir den Mund gespült hatte, öffnete ich. Marc lehnte an der Wand und richtete sich auf, als ich aus dem Bad trat.
»Endlich, ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Du müsstest dir eher Sorgen machen, wenn ich plötzlich nicht mehr brechen würde.«
Er strich mir eine Strähne aus dem schweißnassen Gesicht. »Ruh dich aus. Ich sorge dafür, dass niemand ins Schlafzimmer kommt.«
»Es geht schon, danke.« Meine Antwort war ruppiger als beabsichtigt, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, ihm nicht zu zeigen, wie verletzt ich immer noch war, weil er unser Kind nicht gewollt hatte. Mehr als einmal hatte er beteuert, dass er meinen Entscheid akzeptierte. Er sei überfordert gewesen und eine Abtreibung war ihm bequem erschienen. Zurück zum Normalzustand, als hätte das Thema nie im Raum gestanden. Aber einen Reset-Knopf gab es für Schwangerschaften nicht. Entweder wiegte man nach vierzig Wochen ein Neugeborenes im Arm oder man musste für den Rest seines Lebens damit klarkommen, dass man sich damals dagegen entschieden hatte.
»Ich mache es wieder gut«, hatte Marc gesagt und meine Hand festgehalten. »Das verspreche ich dir.«
Die Luft im Wohnzimmer erdrückte mich. Ich quetschte mich zwischen Tanten und Onkel hindurch, um zum Fenster zu gelangen. Marcs Mutter saß am Esstisch, blond und zierlich. Fast wie eine Fee, wären die strengen Züge in ihrem Gesicht nicht gewesen. Ihr böser Blick spießte mich auf. Da fiel es mir siedend heiß ein: Das Seidentuch, das sie mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Es lag in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes. Damals hatte sie sich noch nicht entschieden gehabt, ob sie mich mögen oder hassen sollte. Dafür wusste sie es jetzt umso besser. Trotzdem versuchte ich ständig, es ihr recht zu machen, schließlich war sie Marcs Mutter. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, wickelte ich das Stück Stoff um den Hals, nur damit sie erhobenen Hauptes die Lippen aufeinanderpressen konnte. An diesem Tag hatte ich es vergessen. Die Hitze staute sich in meinem Kopf und ich wandte mich ab.
Mal abgesehen von Tante Rosalinde war der Rest von Marcs Familie pflegeleicht, vor allem Marcs Bruder. Er stand neben dem gekippten Fenster und redete auf Marc ein. Wenn ich die beiden zusammen sah, erschrak ich regelmäßig über ihre Ähnlichkeit. Sie hatten die gleichen Augen, die gleiche Nase und das gleiche Kinn. Sogar der Bartwuchs zeigte sich an den gleichen Stellen. Marcs matter Blick und das regelmäßige Kopfnicken verrieten mir, dass er nicht ganz bei der Sache war. Wahrscheinlich schwärmte sein Bruder gerade von seiner letzten Reise in die Karibik oder von anderen Aktivitäten, die für uns während der nächsten Monate, vielleicht sogar Jahre, nicht infrage kamen. Als sein Bruder mich entdeckte, zupfte er an Marcs Poloshirt. Seine Lippen formten: »Da ist sie.«
Marc schnappte sich eine Gabel und schlug damit gegen das Weinglas in seiner Hand. Die Gespräche verstummten.
»Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid, um meinen Geburtstag mit mir zu feiern.« Marc stellte das Glas auf die Fensterbank und straffte die Schultern.
Mein Mund wurde ganz trocken. Warum schaute er mich so an? Erwartete er, dass ich eine Geburtstagsrede für ihn hielt? Ich knetete meine Hände. Es war eine Sache, vor Studenten über Lohnungleichheit zu sprechen, da war ich sattelfest. Ich wusste, dass Frauen durchschnittlich zwanzig Prozent weniger verdienten als Männer und sich rund ein Drittel davon nicht durch Faktoren wie Bildung, Berufserfahrung oder Produktivität erklären ließ. Etwas zu improvisieren gehörte hingegen nicht zu meinen Stärken.
»Wir haben mindestens zwei weitere Gründe zum Feiern. Den ersten kennt ihr bereits.« Er deutete auf meinen leicht gewölbten Bauch und ich atmete auf. Doch keine Rede. »Den zweiten noch nicht.« Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog er eine Schachtel aus der Hosentasche. Der Überzug schimmerte weich im Licht der Stehlampe. Er klappte den Deckel auf und ein Raunen ging durch die Menge. Ich starrte den Ring an. Drei Edelsteine funkelten um die Wette, fast kitschiger als die Tatsache, dass Marc soeben vor mir auf die Knie fiel. Meine Finger kribbelten. Das Gefühl setzte sich fort und flutete meinen ganzen Körper. Kurz glaubte ich, mich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Jemand schniefte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Tante Rosalinde ein Taschentuch vor den Mund presste.
»Isa.« Marc räusperte sich. »Möchtest du meine Frau werden?«
Angespannte Stille. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was gerade geschah. Marc machte mir einen Antrag. Sah so seine Wiedergutmachung aus? War das seine Art, mir zu sagen, dass er zu mir und dem Kind stand? Die Familienmitglieder hingen an meinen Lippen, warteten darauf, dass sie das eine Wort formten, das alle hören wollten.
»Ja«, sagte ich.
Er strahlte, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste meine Lippen, meine Nase, meine Stirn. Unzählige Male, bis ich laut loslachte. Ich lachte, bis meine Wangen schmerzten. Alle um uns herum klatschten, alle gratulierten. Nur Marcs Mutter nicht.
Kapitel 3
Jetzt
Ich höre die Nachbarskinder schon auf der Straße, bevor ich die Haustür öffne und mit dem Kinderwagen nach draußen trete. Eine Mischung aus Lachen und Kreischen, bei der ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Leonie lässt sich dadurch nicht stören, sie schläft weiterhin tief und fest. Diese Eigenschaft hat sie eindeutig von Marc geerbt. Ich glaubte, ein Kind brauche weniger Schlaf, je älter es wird. Nicht so bei Leonie. Wahrscheinlich ist der gestiegene Bedarf auf einen Entwicklungsschub zurückzuführen und kein Grund, mir Sorgen zu machen. Um die eigene Achse drehen, krabbeln, laufen. All diese Meilensteine brauchen Energie. Vielleicht hat Leonie deswegen so wenig zugenommen, obwohl sie so oft an der Brust trinkt.
Die Zwillinge springen über die Straße, nur eine Haaresbreite am Kinderwagen vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. Ihr jüngerer Bruder malt mit Kreide wirre Muster auf den schwarzen Asphalt. Ich spähe in den Nachbargarten auf der anderen Straßenseite und schaue mich nach ihrer Mutter um. Das Sandkastenspielzeug liegt immer noch kreuz und quer herum, aber von Natalia keine Spur. Wahrscheinlich sitzt sie im Haus und stillt ihren Säugling, während die anderen Kinder mitten auf der Straße spielen. Das jüngste davon ist erst zwei! Aber das passt zu ihr, diese Fahrlässigkeit. Auch wenn wir am Ende der Quartierstraße wohnen, würde ich Leonie, wenn sie älter ist, nie unbeaufsichtigt hier spielen lassen. Zu ihrem Schutz haben wir direkt nach dem Kauf des Hauses einen Zaun rund um unser Grundstück montiert. Ich betrachte das noch jungfräulich aussehende Holz. Da fällt mir auf, dass Leonies Geburtstafel schräg hängt. Bestimmt haben Natalias Kinder sie mit einem Ball getroffen. Ich richte den Storch gerade aus, sodass Leonies Name wieder horizontal steht.
»Hallo, Frau Isabel.« Frau Kocher im Garten nebenan winkt mich zu sich. Sie spricht mich mit Vornamen an, was sie aber nicht davon abhält, mich zu siezen.
»Guten Tag, Frau Kocher.«
Ein Dutzend Lockenwickler stecken in ihrem grau melierten Haar. Ich bleibe vor dem Zaun stehen und warte geduldig ab, welchen Dorftratsch sie dieses Mal loswerden möchte.
»Wann haben Sie Frau Natalia das letzte Mal gesehen?«
Ich überlege kurz. Mein Blick schweift zur Hausfassade gegenüber. Es ist, als würde sie mir seit unserem ersten und einzigen Treffen aus dem Weg gehen.
»Das ist schon länger her«, sage ich schließlich. »Warum fragen Sie?«
»Ihre Bengel werfen ständig ihren Ball in meinen Garten und zerstören so meine Blumen. Wenn ihre Mutter nicht draußen ist, machen sie, was sie wollen.« Sie hält mir eine geknickte Margerite vor die Nase.
Das tun sie ohnehin, erwidere ich in Gedanken.
»Schauen Sie bloß, dass Sie Ihre Tochter anständig erziehen.« Sie lugt in den Kinderwagen und streckt eine Hand aus, um Leonies Wange zu tätscheln.
»Vorsicht, sie beißt!«
Als hätte Leonie sie tatsächlich gebissen, zuckt die Nachbarin zusammen und zieht die Hand zurück. Ich grinse in mich hinein. »Bis bald, Frau Kocher.«
Keine Antwort. Ich spüre ihren Blick auf meinem Rücken. Verwunderung und Ärger zugleich.
Ich atme die frische Luft ein und genieße die Brise, die übers Feld weht. Die Büsche am Straßenrand sind farblos und kahl, doch die Bäume leuchten in allen möglichen Rot- und Gelbtönen. In diesem Dorf, unweit von Bern, bin ich selbst und auch schon meine Eltern aufgewachsen. Hier reiht sich ein Einfamilienhaus ans nächste. Sogar die neuen Doppeleinfamilienhäuser fügen sich übergangslos ins Gesamtbild ein. Es gibt weder Plattenbauten noch Flachdächer, nur zweistöckige Häuser mit eingezäunten Gärten wie unseres, mit Rutschbahn, Trampolin oder Schaukel.
So idyllisch, wie sich das Ortsbild gibt, verhalten sich auch die Bewohner. Wenn man sich auf der Straße begegnet, grüßt man. Wenn man sich kennt, bleibt man kurz stehen und tauscht Neuigkeiten aus. Unser Dorf war vor zwei Jahren sogar als Ort mit der schweizweit niedrigsten Kriminalitätsrate ausgezeichnet worden. Hier fühle ich mich sicher. Schon immer. Und ich will, dass Leonie genauso behütet aufwächst wie ich damals.
Marc hingegen kann mit dem Dorfleben nicht viel anfangen. Er liebt es, am Puls der Stadt zu sein und sich mit dem Laptop ins nächste Café zu setzen und dort weiter an seinen Projekten zu arbeiten, wenn ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Er wollte nie hierher ziehen. Genau genommen wollte Marc vieles nicht. Mir zuliebe hat er es trotzdem getan.
Ich nähere mich dem ersten Haus einer Siedlung. Eine Frau bückt sich vor der Haustür und kramt in ihrer Tasche. Ich erkenne sie sofort. Meine Schritte werden langsamer. Noch hat sie mich nicht gesehen. Vielleicht schaffe ich es, lautlos an ihr vorbeizuschleichen. Sie zieht den Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und schaut auf. Zu spät, sie hat mich entdeckt. Sie blinzelt, als würde das Licht sie blenden, und schlingt die Arme um ihren schlanken Körper. »Isabel?«
»Hallo Anna.« Ich trete näher und bleibe vor dem Gartenzaun stehen. Es ist bestimmt fünf Monate her, seit ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Damals waren Marc und ich gerade erst in unser Haus eingezogen und Leonie noch keinen Monat alt. Zuerst mustert sie mich, danach den Kinderwagen.
»Wie geht es dir?«, frage ich, obwohl die Antwort offensichtlich ist. Ihre Haare kleben schlaff am Kopf, Augenringe haben sich tief in ihr Gesicht gegraben.
»Gut.« Sie versucht es mit einem Lächeln, das ihr aber misslingt. »Na ja, geht so.«
»Deine Mutter? Oder die Arbeit?«, frage ich.
»Ausnahmsweise nichts von beidem.«
Jetzt, wo sie vor mir steht, so verloren, erfasst mich die Welle des schlechten Gewissens. Nach der Geburt hat sie sich ein paar Mal bei mir gemeldet und sich erkundigt, wie es mir geht. Aber ich war so von Leonie absorbiert gewesen, dass ich nur halbherzig oder manchmal auch gar nicht geantwortet habe. Ich habe mir zwar vorgenommen, sie anzurufen oder bei ihr zu klingeln, schließlich wohnt sie nur rund einen halben Kilometer entfernt. Getan habe ich es nie. Irgendwann habe ich es vergessen. Vergesslichkeit ist genauso wie die fehlende Konzentration eine Charaktereigenschaft, die sich nach der Geburt bei mir eingeschlichen hat. Ich vergesse, den Käse für die Lasagne einzukaufen, ich vergesse zu kontrollieren, ob ich die Tür abgeschlossen habe, und ich vergesse, mich bei den Menschen zu melden, die mir am meisten bedeuten. Spätestens nachdem ich erfahren habe, dass sie Marc um einen Job angebettelt hat, hätte ich reagieren sollen. Ich hätte fragen sollen, warum sie sich nicht vertrauensvoll an mich gewandt hat, wo ich doch ihre beste Freundin bin und sie Marc nicht ausstehen kann. Ich habe es nicht getan.
»Möchtest du darüber reden?«, frage ich, als könnte ich mit meinem Angebot das Versäumnis der letzten Monate wieder gutmachen. Anna mustert mich abschätzend und einen Moment lang glaube ich, sie würde ablehnen. Ein Hund bellt beim Vorbeigehen. Ich drehe den Kopf in seine Richtung. Sein Herrchen zieht ihn an der Leine zurück und zischt ihm zu, er solle ruhig sein. Dann wende ich mich wieder Anna zu. Ihr Gesichtsausdruck hat sich aufgehellt. Zu meiner Überraschung sagt sie: »Nächste Woche zum Mittagessen?«
»Wie wäre es mit einem Spaziergang und anschließend Kaffee bei mir? Ich esse nicht gern auswärts mit Leonie.«
»In Ordnung.«
»Treffen wir uns hier? Nächsten Samstag um zwei?«
»Ich freue mich.« Sie lächelt, aber in ihrem Blick liegt eine Traurigkeit, die ich noch nie zuvor an ihr gesehen habe. Ich erwidere ihr Lächeln, steuere den Kinderwagen auf den Weg zurück und biege in den Feldweg ein. Als ich über meine Schulter blicke, steht Anna immer noch vor dem Haus und schaut mir nach.
Kapitel 4
Acht Monate zuvor
Am Tag unserer Hochzeit hingen die Leitungen der Trams wie Spinnennetze über der Straße und der Gehweg war am Rand bis auf Kniehöhe mit sulzigem braunem Schnee bedeckt. Menschen eilten vorbei, das Gesicht tief in den Krägen der Jacken vergraben. Nur von Marc war weit und breit nichts zu sehen. Meine gefühlt tausend Anrufe blieben unbeantwortet.
»Es dauert nicht lange«, hatte er mir versichert, als ich schlaftrunken im Bett gelegen hatte, mein Körper ganz warm von der Nacht. »Dieser Termin stellt die Weichen für meine Zukunft. Er kann nicht ohne mich stattfinden.« Ich hatte verständnisvoll genickt. Er hatte mir einen Kuss auf den Mund gedrückt und versprochen, rechtzeitig wieder zurück zu sein.
Nun stand ich doch allein im weißen Kleid im Standesamt. Ich umfasste meine nackten Arme und bohrte die Fingernägel hinein. Immer wieder setzte ich mich hin, um wenige Minuten später wieder aufzuspringen, aus dem Fenster zu schauen und in der Menschenmasse nach einem vertrauten Gesicht zu suchen. Meine Zehen pochten in den viel zu engen Schuhen. Marc konnte heute unmöglich zu spät kommen. Nicht am Tag unserer Hochzeit!
Nicht aufregen, dachte ich und streichelte über meinen mittlerweile stark gewölbten Bauch.