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Einführungspreis für den Pride Month bis zum 30.06.! Lavender House, 1952: Nach dem Tod der Matriarchin Irene Lamontaine, Kopf des Lamontaine-Seifenimperiums, fürchten die Bewohner des Anwesens, dass sich ein Mörder unter ihnen befindet. Irene hütete streng geheime Rezepturen – doch das sind nicht die einzigen Geheimnisse hinter diesen Toren. Irenes Witwe engagiert Evander »Andy« Mills, einen kürzlich entlassenen Polizisten, um die Wahrheit aufzudecken. Andy, nach einer Razzia in einer Schwulenbar ohne Job, nimmt dankbar an und wird schnell in eine Welt gezogen, in der eine queere Familie in Sicherheit und Freiheit lebt. Doch diese Freiheit hat ihre Grenzen, und bald findet Andy sich in einem Netz aus Intrigen, Eifersucht und alten Familiengeheimnissen wieder. Und Irenes Tod war nur der Anfang … Für kurze Zeit zum Einführungspreis!
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2025
LEV AC ROSEN
LAVENDER HOUSE
EIN FALL FÜR EVANDER MILLS
Aus dem Amerikanischen von Jeannette Bauroth
Über das Buch
Lavender House, 1952: Nach dem Tod der Matriarchin Irene Lamontaine, Kopf des Lamontaine-Seifenimperiums, fürchten die Bewohner des Anwesens, dass sich ein Mörder unter ihnen befindet. Irene hütete streng geheime Rezepturen – doch das sind nicht die einzigen Geheimnisse hinter diesen Toren.
Irenes Witwe engagiert Evander »Andy« Mills, einen kürzlich entlassenen Polizisten, um die Wahrheit aufzudecken. Andy, nach einer Razzia in einer Schwulenbar ohne Job, nimmt dankbar an und wird schnell in eine Welt gezogen, in der eine queere Familie in Sicherheit und Freiheit lebt.
Doch diese Freiheit hat ihre Grenzen, und bald findet Andy sich in einem Netz aus Intrigen, Eifersucht und alten Familiengeheimnissen wieder. Und Irenes Tod war nur der Anfang …
Über den Autor
Lev AC Rosen schreibt Bücher für Leser:innen aller Altersgruppen. Er lebt mit seinem Mann und seiner sehr kleinen Katze in New York und ist ein vielfach ausgezeichneter Autor queerer Literatur. Bereits sein Roman Camp wurde international gefeiert, Lavender House wurde für den renommierten Lambda Literary Award nominiert.
Die englische Ausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Lavender House« bei Forge Books.
Deutsche Erstausgabe Juni 2025
© der Originalausgabe 2022: Lev AC Rosen
© für die deutschsprachige Ausgabe 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,
Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
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Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Silke Reutler
Satz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN: 978-3-98906-091-3
ISBN E-Book: 978-3-98906-092-0
www.second-chances-verlag.de
Titel
Über den Autor
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Danksagung
Anmerkung der Übersetzerin
Für Tante Goldy, die mit einem Mord absolut davonkommen könnte. Vielleicht ist sie das schon.
So früh am Tag hätte ich erwartet, den Laden für mich allein zu haben. Wie eine Kirche an einem Dienstag – niemand da außer man selbst und Gott (oder in diesem Fall der Barkeeper). Aber in einer der Nischen hinten sitzen ein Typ und ein Mädchen, vielleicht noch Schüler, jedenfalls höchstens zwanzig. Sie bemühen sich, leise zu sprechen, doch ihm gelingt es nicht. Er wird wütend. Es geht offenbar um Dackel. Schon seltsam, worüber sich die Leute so streiten.
Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, und sie weint leise. Ich seufze und merke, dass ich aufstehen will. Dabei muss ich mich gar nicht mehr einmischen. Verdammt, niemand will, dass ich das noch tue. Deshalb haben sie mich ja auch gefeuert. Aber manche Gewohnheiten legt man nicht so leicht ab. Also kippe ich den Rest meines Martinis runter, gebe dem Barkeeper ein Zeichen, mir noch einen einzuschenken, und gehe in den hinteren Teil des Lokals, wo er ihr Handgelenk festhält. Als sie versucht aufzustehen, biegt sich ihr Arm wie ein Schnürsenkel, aber der Kerl lässt nicht los. An ihrem anderen Handgelenk trägt sie ein Bettelarmband mit ein paar Anhängern: ein Adler, das Maskottchen einer hiesigen Schule, mit »1950« darunter, was heißt, dass sie vor zwei Jahren ihren Abschluss gemacht hat. Ein Buch, also liest sie gerne. Ein Dackel. Ihr Haustier, nehme ich an, und der Grund für den Streit. Und ein Apfel. Sie mag also Äpfel … vielleicht. Ihr kurzes Leben gibt noch nicht genug her für viele Anhänger. Definitiv zu wenige, um den blauen Fleck zu verdecken.
»Ich glaube, die Lady möchte gehen«, sage ich zu ihm. Ich habe genug getrunken, um wie ein mieser Schlägertyp zu klingen. Vielleicht bin ich ja auch ein mieser Schlägertyp.
»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Kumpel«, sagt er. Er redet, als hätte er zu viele Gangsterfilme gesehen. Oder er versucht, genauso hart rüberzukommen wie ich.
»Möchten Sie gehen, Miss?«, frage ich und schaue an ihm vorbei.
»Hey, Mister, ich rede mit dir«, sagt der Junge. Ich sehe weiter das Mädchen an.
Sie nickt, sagt aber nichts. Also packe ich einen seiner Finger, ziehe ihn von ihrem Handgelenk weg und biege ihn so kräftig nach hinten, dass er vor Schmerz aufheult. Sie kann sich losreißen und rennt aus der Bar. Die kleine Glocke an der Tür bimmelt, als sie sich hinter ihr schließt.
»Leute, für so was ist es noch zu früh«, sagt der Barkeeper mit einem langen Seufzer.
»Ich habe nur der Lady geholfen«, erwidere ich, drehe dem Jungen den Rücken zu und gehe zurück zur Bar. Ich weiß, dass er mir hinterherkommen wird, also warte ich, bis ich ihn spüre, wirble herum und fange seine Faust ab, die meine Schulter trifft. Nicht sehr hart. Aber hart genug, dass ich scharf die Luft einziehe, woraufhin er lächelt, als hätte er irgendeinen Preis gewonnen. Ich mag dieses Lächeln nicht. Es erinnert mich zu sehr an mein Spiegelbild. Also packe ich ihn am Handgelenk und drehe ihm den Arm um.
»Hey, Mann«, sagt der Junge, »fick dich.«
Er holt mit der anderen Faust aus, ich fange auch die ab und drehe ihm den Arm auf den Rücken, wo ich jetzt beide festhalte.
»Hey, das dürfen Sie nicht!«, sagt der Junge. Er blickt zum Barkeeper, der nicht von seinen Gläsern aufsieht. Der Junge starrt ihn an, während ich ihn zur Tür bugsiere, dann dreht er sich zu mir um: »Sie trinken Martini? So früh schon? Das ist cool, Mann. Ich gebe Ihnen einen aus, und dann reden wir über die Sache.«
Ich verdrehe die Augen, stoße die Tür mit dem Fuß auf und werfe ihn raus. Er fällt mit dem Gesicht voran auf den Boden, aber ich weiß, dass er sich nur eine Schramme holen wird. Ich habe so was schon oft genug gemacht – früher. Manchmal fühle ich mich besser, wenn ich jemandem helfe, so als hätte ich etwas Gutes zur Welt beigetragen. Aber heute nicht. Vielleicht auch besser so. Sonst überdenke ich womöglich noch meine Pläne.
Die Sonne knallt auf den Asphalt, wo der Junge liegt und mich anstarrt, als würde er drauf warten, dass ich etwas sage.
»Behandle Frauen in Zukunft gefälligst anständig«, verkünde ich laut genug, dass jemand von der anderen Straßenseite herüberschaut. Was Besseres fällt mir gerade nicht ein. Ich habe Schluckauf. Dann grinse ich, weil ich ziemlich betrunken bin und es trotzdem geschafft habe, ihn rauszuschmeißen. Und weil drinnen der nächste Martini auf mich wartet.
»Du kannst mich mal«, sagt er, als er aufsteht. Er weiß selbst, wie schwach das klingt. Ich drehe mich um und pralle gegen die Glastür der Bar, die hinter mir zugefallen ist. Mein heldenhafter Abgang ist ruiniert. Der Junge lacht. Ich trete einen Schritt zurück, reibe mir über die Nase, öffne die Tür und gehe wieder hinein, während der Junge immer noch lacht.
Nachdem ich mich wieder an die Bar gesetzt habe, kippe ich den frischen Martini in einem Schluck hinunter. Der Barkeeper sieht mich an, als wäre ich der armseligste Anblick in ganz San Francisco, und vielleicht stimmt das sogar, aber ich versuche, mir das nicht anmerken zu lassen. Ich recke das Kinn vor und bestelle noch einen, meine Stimme ist fest und stolz. Ich bin stolz darauf, an einem Montag um zwei Uhr mittags in dieser Bar zu sitzen. Und stolz darauf, einen Jungen rausgeworfen zu haben, auch wenn das nicht mehr mein Job ist. Mann, ich bin sogar stolz darauf, arbeitslos und aus dem Polizeidienst entlassen zu sein. Und ich bin stolz darauf, gerade meinen fünften Drink bestellt zu haben. Wahrscheinlich kann ich niemandem etwas vormachen, aber ich versuche es trotzdem. Der Barkeeper hat mir den Rücken zugewandt, während er meinen Martini mixt, und falls er dabei das Gesicht verzieht, kann ich es nicht sehen. Da die beiden Jugendlichen weg sind, ist auch sonst niemand da, der die Nase über mich rümpfen könnte. Ich trommle langsam mit den Fingern auf die Theke. Ich habe Zeit – mein Plan ist folgender: den ganzen Tag trinken, damit ich, wenn es dunkel ist und niemand was bemerkt, besoffen genug bin, um mich in die Bucht zu stürzen.
Die Bucht ist der richtige Ort dafür. Dort wurde auch Jan Westman gefunden. Ich erinnere mich noch dran, wie ich sie am Stinson Beach habe liegen sehen. Da dachten wir noch, sie sei betrunken in die Bucht gefallen. Sie sah friedlich aus. Hatte höchstens eine Nacht im Wasser gelegen. Ihre Haut war fahl, leicht bläulich. Der alte Mann, der sie entdeckt hatte, hatte ihr die Augen zugedrückt und die örtliche Polizei verständigt, die wiederum uns angerufen hatte, nachdem Ausweispapiere bei ihr gefunden worden waren. Der Alte hatte ihr auch die Arme über der Brust verschränkt. Lou fand es morbide, aber ich war der Meinung, dass sie entspannt aussah, mit dem, was mit ihr passiert war, im Reinen. Ich war tatsächlich überrascht, als man keinen Alkohol in ihrem Blut fand und wir von einem Mord ausgehen mussten, schließlich den Kerl schnappten und herausfanden, was er ihr angetan hatte. Wenn eine Nacht im Wasser Schock und Trauma wegwäscht und Tote so friedlich aussehen lässt, klappt es bei mir ja vielleicht auch.
Als sich die Tür der Bar öffnet, werde ich aus meinen Erinnerungen gerissen und starre wieder auf mein Glas, während Patti Page im Radio mit vom Rauschen gedämpfter Stimme »Tennessee Waltz« singt. Ich habe die Platte zu Hause. Und frage mich, was wohl danach mit ihr geschehen wird, doch schon spült der Martini diesen Gedanken fort.
Ich mache mir nicht mal die Mühe, aufzuschauen, um zu sehen, wer reingekommen ist, bis sich die Frau neben mich setzt. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt. Sie trägt einen gelben, wadenlangen Rock mit einer passenden Jacke, an der eine runde, mit schwarzen Steinen besetzte Brosche steckt. Auf ihrem kurzen dunklen Haar (in ihrem Alter sicher gefärbt) sitzt ein kleiner Hut mit einer Nadel, darauf die Buchstaben WAC für den Women’s Athletic Club. Ihr Stil ist altmodisch, sieht aber nach High Society aus. Ich habe schon viele Frauen wie sie gesehen, die das Geld wie eine Rüstung aus Gold vor dem Wandel schützt, den sie so sehr fürchten.
Sie zündet sich eine Zigarette an, die in einer Spitze steckt, und bestellt einen Manhattan. Ihre tiefe, kräftige Stimme dringt durch den Alkoholdunst in meinem Hirn. Sie wirkt wie aus einem Film entsprungen – als könnte sie mich gleich bitten, ihren Ehemann umzubringen. Als sie sich auf dem Hocker zu mir dreht, spiele ich mit dem Gedanken, ihr zu sagen, dass sie bei mir an der falschen Adresse ist. Warum auch nicht? Doch als ich aufschaue, macht sie mir keine schönen Augen. Sondern sieht mich eher an, als hätte sie Mitleid mit mir – einem kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Ach, die kann mich mal. Ich bin vielleicht am Ende, was das Leben angeht, aber Mitleid brauche ich nicht. Ich habe das alles selbst so geplant.
Ich lächle sie an, in der Hoffnung, dass sie dann aufhört, mich so anzuschauen. Manchmal funktioniert das – ich bin ein gut aussehender Mann, und ein Lächeln wirkt beruhigend auf die Leute. Doch seit vorgestern sitzt mein Lächeln irgendwie schief, auch diesmal, und sie scheint nicht sehr beeindruckt zu sein. Aber ich begreife, dass es nicht an mir liegt. Diese Frau lässt sich nicht so leicht beeindrucken. Also wende ich mich von ihr ab und will sie ignorieren. Doch dann …
»Evander Mills?«, fragt sie, als der Barkeeper den Manhattan vor ihr abstellt. So wie sie es sagt, klingt es, als wäre das eine Frage, auf die sie die Antwort schon kennt. Ich habe den Eindruck, dass sie nur solche Fragen stellt.
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?« Ich muss mich anstrengen, um nicht zu lallen.
Sie nippt an ihrem Drink, fischt die Kirsche heraus, legt sie auf den Tresen und sieht sie an, als hätte sie ihr etwas getan, und nicht, als wäre sie das Einzige, was ihren Drink versüßt.
»Ich weiß, warum Sie bei der Polizei rausgeflogen sind«, sagt sie, wobei sie weiter die Kirsche betrachtet.
Im beißenden Rauch ihrer Zigarette verflüchtigt sich der Alkoholnebel in meinem Hirn, während es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Ich stehe auf, weil ich sonst vom Hocker fallen würde. Ich meide ihren Blick. Krame in meinem Mantel nach dem Portemonnaie, um zu bezahlen, aber sie legt eine behandschuhte Hand auf meinen Arm und drückt ihn.
»Keine Sorge«, sagt sie, »in meinen Augen ist das eine Empfehlung.«
Ich höre auf zu kramen und starre die Hand auf meinem Arm an. Sie lässt los, hebt den Kopf und lächelt mich an. Ein gutes Lächeln. So wie ich manchmal im Black Cat angelächelt werde und selber andere anlächele. Es ist keine Einladung, sondern ein Lächeln, das sagt: »Ich kenne dich. Wir sind hier sicher. Wir sind zu Hause.« Auch wenn es bei mir noch nie den gewünschten Effekt hatte, ich kenne dieses Lächeln.
»Aha«, sage ich.
Ihre Augen sind blutunterlaufen, nicht vor Übermüdung oder vom Kiffen. Nein, sie hat tagelang geweint. Sie hat Abdeckcreme aufgetragen, aber nichts außer einer Sonnenbrille kann solche Augen verbergen.
Sie schaut zum Barkeeper hinüber, der, da er nichts anderes zu tun hat, uns beobachtet, um zu sehen, wie sich die Sache entwickelt. Dann wendet sie sich wieder mir zu, holt eine Geldklammer aus ihrer schwarzen Handtasche und wirft genug Scheine für uns beide auf den Tresen.
»Kommen Sie. Setzen wir uns da rüber«, sagt sie, nimmt ihr Glas und deutet mit dem Kinn auf die hinterste Nische.
Ich folge ihr mit meinem Drink und setze mich ihr gegenüber. Das billige Leder unter mir quietscht. Es ist dieselbe Nische, in der die Jugendlichen gesessen haben. Es riecht noch nach dem Parfüm des Mädchens – zu süß.
»Ich weiß, dass Sie Arbeit brauchen. Und ich habe vielleicht einen Job für Sie.« Sie sagt es so leise, dass der Barkeeper es nicht hören kann. Diese Art von Job. Unsere Nische ist zwar ganz hinten in der Ecke, aber durch die großen Fenster scheint die Sonne so weit herein, dass ich blinzeln muss. Schwierig, die Frau einzuschätzen, da sie mit dem Rücken zum Licht sitzt.
»Was für eine Art Job?« Ich trinke einen Schluck Martini.
»Die Art, die Sie als Inspector bei der Polizei gemacht haben.« Sie nimmt einen langen Zug von ihrer Zigarette. »Sie waren doch gut in Ihrem Job, oder?«
»Ja«, sage ich. Mir wird ganz warm ums Herz vor Stolz oder Arroganz oder vom Alkohol, wer weiß das schon, und dann wird mir schnell wieder kalt, als mir einfällt, dass dieser Teil meines Lebens vorüber ist. »Aber hören Sie, die Leute sollen nicht denken, dass ich …« Homosexuell bin, hätte ich fast gesagt. Obwohl ich das natürlich bin. Und jeder weiß es jetzt. Oder zumindest jeder bei der Polizei, was ja schon reicht.
»Keiner wird irgendwas denken«, sagt sie energisch. »Und keiner wird etwas sagen. Darum geht’s doch, wenn man einen Privatdetektiv anheuert. Um Privatsphäre. Und außerdem bin ich niemand, den die Leute damit in Verbindung bringen würden.«
Ich nehme einen weiteren Schluck. Ich habe noch nie zuvor freiberuflich gearbeitet, aber das hier könnte etwas Gutes sein. Etwas, wofür es sich lohnt, noch ein wenig durchzuhalten. Geld. Mit einem Knall abtreten – noch ein paar Nächte im Black Cat, vielleicht sogar im Oak Room oder im Ruby, mit Geld um mich werfen, während die Jungs mich umschwärmen, und dann wieder auf den Sonnenuntergang warten, um mich an einer dunklen Stelle der Bucht aus der Welt spülen zu lassen. Plötzlich wird mir klar, dass ich das will. So sehr, dass ich es riechen, ja schmecken kann … Lippen an meinem Hals, ein Hauch von Whiskey im Atem. Eine letzte Nacht. Ein Abschiedskuss.
Und auch die Chance, noch mal jemandem zu helfen. Doch daran denke ich gerade nicht. »Okay. Also gut, worum geht’s?«
Sie schwenkt den Rest ihres Drinks im Glas. »Was hat Sie zu einem guten Inspector gemacht?«
»Ich helfe gerne Menschen.«
Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Das macht Sie ja noch nicht gut in Ihrem Job.«
Ich versuche zu lächeln, spüre aber, dass es traurig aussieht, und lasse es. »Bei Verbrechen geht es um Geheimnisse«, erkläre ich ihr. »Und ich habe sehr viel Erfahrung darin, Geheimnisse zu hüten. Deshalb bin ich auch sehr gut darin, welche aufzudecken.« Ich zögere, dann entfährt mir ein bitteres Lachen. »Zumindest habe ich das geglaubt.«
Sie nickt. »Wieso haben Sie sich erwischen lassen?«, fragt sie. »Wenn Sie so gut darin waren, Geheimnisse zu hüten?«
Ich schaue auf die Tischplatte. Resopal lacht mich an. Lou war krank. Sonst hat er mir immer erzählt, welchen Club sie sich vornehmen wollten – nicht weil er über mich Bescheid wusste, sondern weil ich ihn alle paar Wochen danach fragte und er dachte, wir würden uns einfach nur unterhalten, wie Partner das eben tun. »Ich hatte ein System«, sage ich, »aber es war fehlerhaft.« Fehlerhaft deshalb, weil ich stattdessen Jim fragte und vergaß, wie unfähig er ist, und nicht damit rechnete, dass er sich irren würde. Seit das Gericht entschieden hat, dass Homosexuelle sich versammeln dürfen und bedient werden müssen, sind die Bars nicht mehr illegal, jedenfalls nicht so ganz. Aber wenn »unmoralische« Aktivitäten festgestellt werden, reicht das aus, um sie zu schließen. Unmoralische Aktivitäten wie Küssen, Berühren und … »Und ich wollte wirklich …« Ich werde still. Sie legt ihre Hand auf meine.
»Ich weiß«, sagt sie. »Wir machen alle Fehler, wenn wir etwas wollen.«
»Trotzdem. Ich wünschte, es wäre nicht diese Art von Fehler gewesen.« Ich erinnere mich, wie Jim lachend die Tür zur Toilette auftrat und laut verkündete, er müsse sie auf Sauberkeit kontrollieren. Alle sollten sich unwohl fühlen, das war die Absicht. Als die Tür aufging, kniete ich noch, versuchte aber bereits, mich hochzurappeln. Wir wurden vor aller Augen in Handschellen abgeführt, hatten nicht einmal Zeit, die Reißverschlüsse unserer Hosen zu schließen. Der Barkeeper mimte den Ahnungslosen, der Damenimitator auf der Bühne seufzte laut, und die anderen Gäste warfen uns Blicke zu – mitleidig, verärgert, amüsiert. Die Bar bekam eine Geldstrafe aufgebrummt, aber wenigstens wurde sie nicht dichtgemacht.
»Haben Sie die anderen auch informiert?«, fragt sie.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Adern gefriert. »Worüber?« Ich hebe den Kopf, um sie anzuschauen.
»Die Polizei, wann sie in welche Clubs kommen wollte. Ihr System. Haben Sie auch andere Leute gewarnt?«
Ich zögere zu lange. Lange genug, dass es als Antwort reicht. Also wechsle ich das Thema. »Sie sagten, Sie haben einen Fall?«, frage ich.
Sie zieht ihre Hand zurück. Dann folgt ein Moment, in dem wir uns anschauen, und es ist so still, dass wir einander atmen hören können. Ich weiß, was sie denkt. Aber ich werde die Frage, die in der Luft liegt, nicht beantworten. Warum nicht? Weil mir nur egoistische und arrogante Antworten einfallen: Ich hatte zu viel Angst um mich selbst, um an andere denken zu können. Sie sind selbst schuld, wenn sie nicht auf sich aufpassen. Und überhaupt, ich bin nicht für alle verantwortlich. Die Wahrheit würde ich ihr nicht sagen: dass wir alle allein auf der Welt sind und ich niemals so tun würde, als wäre es anders.
»Mord«, sagt sie plötzlich im selben harten Ton, in dem sie ihren Drink bestellt hat, den sie jetzt mit einem Schluck runterkippt. »Sie haben doch schon Mordfälle gelöst, nicht wahr?«
»Klar«, antworte ich, »jede Menge. Geht es um jemanden, der Ihnen nahestand? Um den Sie geweint haben?«
Sie runzelt die Stirn und berührt mit dem Daumen einen Augenwinkel, zieht ein wenig an der Haut. »Ich dachte, ich hätte das verdeckt.«
Ich schüttle den Kopf. »Mein Beileid.«
»Danke. Es war meine …« Sie schaut auf, an mir vorbei. Ich drehe mich um. Der Barkeeper beobachtet uns immer noch. »Reden wir unterwegs im Auto weiter. Sind Sie an dem Auftrag interessiert?«
»Ja«, sage ich und fahre mir mit der Zunge über die Zähne. »Interessiert schon, aber ich weiß nicht mal, wie Sie heißen.«
Sie lächelt, dann wirft sie mit einem lauten Lachen den Kopf zurück. »Weil ich Ihnen meinen Namen nicht genannt habe.« Sie streckt die Hand aus. »Ich bin Pearl Velez.«
Ihr Griff ist so fest wie ihre Stimme. Sie grinst, als wir uns die Hand schütteln.
»Sie wollten mir doch gerade sagen, wer das Opfer ist.«
»Irene …« Sie schaut wieder zum Barkeeper, steht auf und wirft die Zigarette in ihr leeres Glas. »Aber lassen Sie uns unterwegs weiterreden.«
Ich trinke aus und folge ihr nach draußen, wo eins von diesen neuen Packard-Mayfair-Cabrios wartet. Es ist dunkelrot mit schwarzen Ledersitzen, und das Verdeck ist unten. Sie entriegelt ihre Tür und lässt sich auf den Sitz gleiten. Als ich sie einfach nur anstarre, greift sie rüber und öffnet die Beifahrertür für mich. Ich steige ein, und noch bevor ich die Tür schließen kann, gibt sie schon Gas und greift dabei ins Handschuhfach, um eine Sonnenbrille herauszuholen, während sie den Blick weiter auf die Straße gerichtet hält. Das Radio ist bereits an, Rosemary Clooney singt »Mixed Emotions«. Pearl fährt schnell, selbstbewusst, wild. Sie überholt alle, die sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, und gibt Gas, um über die Hügel nach Westen zu fahren und die Golden Gate Bridge zu überqueren. Über dem Wasser liegt noch ein wenig Nebel, doch die Sonne ist grell genug, dass ich die Augen zusammenkneife und tiefer in meinen Sitz rutsche, wobei ich mich am Türgriff festhalte, damit ich nicht wegfliege. Sobald wir die Brücke hinter uns gelassen haben, tritt sie das Gaspedal durch und fährt so schnell, dass ich spüre, wie mir der Wind gegen Mund und Nase drückt, als würde Wasser durch mein Hirn strömen, um den Alkohol fortzuspülen.
»Wo fahren wir hin, Pearl?« Ich muss schreien, damit sie mich über den Fahrtwind hinweg hört.
»Zu uns nach Hause. Irenes Zuhause. Ihr vollständiger Name war Irene Lamontaine, und sie war meine Frau.«
Der Wind ist so laut, dass ich einen Moment lang glaube, ich hätte sie falsch verstanden.
»Ihre was?«, frage ich.
Sie lächelt, ohne mich anzuschauen, und obwohl ich ihren Gesichtsausdruck hinter der Brille nicht richtig erkennen kann, ist sie offenbar amüsiert, als ob das zu den Dingen gehört, die sie häufig wiederholen muss. »Meine Frau.«
Ich lehne mich zurück. Selbst in den Clubs und Bars nennt keine Frau eine andere Frau so, schon gar nicht so laut wie Pearl. Sie flüstern es oder tun so, als wäre es ein Scherz, oder sagen es abwehrend, um einen Streit anzufangen. Niemand sagt das so wie Pearl gerade, als sei es das Normalste der Welt.
»Kommen Sie, Mr Mills«, sagt sie, immer noch lächelnd. »Sicherlich ist die Tatsache, dass ich eine Frau liebe, nicht genug, um Sie zu schockieren.«
»Nur, dass Sie es so laut verkünden.« Ich bemühe mich um einen lockeren Ton.
»Dort, wo wir hinfahren, sagen wir alles laut«, antwortet sie. Ihre Stimme klingt wie ein Brummen, ähnlich wie der Motor.
»Wofür brauchen Sie dann mich?«, will ich wissen.
Sie antwortet nicht – ich habe keine Ahnung, ob sie mich überhaupt gehört hat. Der Wind zerrt an ihren Haaren, lässt sie flattern, und sie beschleunigt das Auto ein wenig. Um uns herum ist San Francisco in einen Abschnitt des Highways 101 übergegangen. Rechts von uns, hinter einigen weiten Feldern, befindet sich jetzt das Wasser. Das Licht ist klar und gelb.
»Also ist jeder dort …?« Ich lasse die Frage in der Luft hängen.
»Ja«, bestätigt sie. »Wir sind alle queer. Und deshalb wollen wir keine Polizei.«
Ich lehne mich in meinem Sitz zurück. Klar, ich hatte schon öfters mit Homosexuellen zu tun. Im Black Cat, im Beige Room, im Mona’s – es gibt genügend Clubs in der Stadt, und ich bin in den meisten von ihnen gewesen. Doch es sind Orte für die Nächte. Für verstohlene Blicke und Treffen auf der Toilette, manchmal zum Tanzen, zum Flirten und zum Immer-auf-der-Hut-Sein, vor den Cops, vor einem Erpresser, vor etwas, das dich zurück auf die Straße zwingt, in die reale Welt, wo niemand dich mehr so ansehen würde wie zuvor, wenn sie es wüssten. Niemand würde dich mehr einstellen, außer für einen schlecht bezahlten Job als Barkeeper in einem dieser Clubs. Ohne Freunde, abgesehen von denen, die so sind wie du. Ein ganz anderes Leben, das du dir nicht ausgesucht hast – oder die andere Option. Meine Option, bevor sich Pearl neben mich gesetzt hat.
Aber zusammenziehen? Freunde? Familie? Das können wir nicht, nur wenn wir sehr vorsichtig sind oder in der realen Welt nichts mehr zu verlieren haben und bereits ausgestoßen sind. Nicht jemand wie Pearl.
»Sie lächeln«, sagt sie, und ich merke, dass es stimmt. »Warum?«
»Vor zwei Tagen hätte ich Ihnen noch gesagt, Sie sollen wenden und zurückfahren.«
»Und jetzt?«, fragt sie.
»Jetzt …« Ich lache. Keiner der Jungs, mit denen ich in den letzten Jahren zusammengearbeitet habe, die ich als Freunde bezeichnet, von denen ich geglaubt habe, sie würden sich für mich eine Kugel einfangen – keiner von denen hat mich auch nur angesehen, als sie mich aus der Zelle zum Büro des Chefs geführt haben. Und nicht einmal der hat mir in die Augen geschaut, als er mir erklärt hat, dass ich raus sei. Ungebührliches Verhalten, Perversion, unzüchtige Handlungen.
Aber sie haben gesagt, dass sie mich nicht einsperren würden – was ihr einziges Dankeschön für meine Dienstjahre gewesen ist. Sie würden einfach nur alle wissen lassen, was ich sei und wobei sie mich erwischt hätten, und mein Leben in der realen Welt wäre vorbei.
»Und jetzt«, erwidere ich, »habe ich nichts mehr zu verlieren.«
Die Felder werden zu Bäumen, nachdem wir den Highway verlassen haben, immer noch in Richtung Westen. Um uns herum ragen Mammutbäume wie Gefängnisgitter in die Höhe, so dunkel und dicht, dass sie die Sonne verdecken und ich die Abzweigung erst sehe, als Pearl abbiegt. Vor einem modern aussehenden Tor kommen wir abrupt zum Stehen.
»Sind Sie so gut?«, fragt Pearl und nickt in Richtung des Tors. »Schieben Sie es einfach auf und wieder zu. Ich schicke später jemanden her, der es abschließt.«
Ich steige aus und gehe zum Tor. Meine Beine sind immer noch ein wenig wacklig vom Alkohol. Wir haben seit der Brücke nicht viel gesprochen, der Wind war so laut, dass ich mir die Mühe gespart habe, Fragen zu stellen, die ich unweigerlich hätte wiederholen müssen. Stattdessen habe ich mir ausgemalt, was mich wohl erwarten würde. Ich dachte an eine kleine Farm oder vielleicht ein kleines Apartment in einer der Städte hier oben. Pearl verströmt die Aura einer reichen Frau, doch ich habe sie unterschätzt, denn das hier ist nicht, was ich erwartet habe. Das schmiedeeiserne Tor ist mindestens doppelt so groß wie ich, und das imposante vergoldete »L« darauf kommt mir bekannt vor. Die Torflügel wirken schwer, lassen sich aber leicht öffnen.
Es liegt ein bestimmter Duft in der Luft, stelle ich fest. Es sind nicht allein die Bäume, die ihn verströmen, sondern auch Kräuter und Blumen, allerdings mehr als nur ein paar Wildblumen oder ein Kübel mit Tulpen. Hinter dem Tor sind noch mehr Bäume und ein Hügel, sodass ich nicht viel sehen kann. Nachdem Pearl durchgefahren ist, schließe ich das Tor und steige wieder ins Auto.
»Was ist das für ein Geruch?«, frage ich.
»Von den Blumen«, erklärt sie. »Irene hat immer gern alle möglichen Blumen um sich gehabt, um neue Düfte zu entdecken. Lavendel mochte sie allerdings am liebsten, daher bauen wir den hier überall an. Deshalb nennen wir diesen Ort auch Lavender House.« Sie fährt weiter und lacht tief und kehlig. »Und natürlich aus dem anderen Grund.«
Dem anderen Grund – ein Lavendelhaus voller Lavendelehen.
Wir fahren über den Hügel, und plötzlich geben die Bäume den Blick auf das Anwesen frei – ein riesiges Stück Land, komplett von einer Mauer umgeben, an der entlang Mammutbäume aufgereiht stehen wie Soldaten. Völlig abgeschottet und versteckt. Im Zentrum des Ganzen steht ein großes Art-déco-Haus mit einem Kuppeldach in der Mitte und zwei Flügeln, die sich um eine weiß gekieste Auffahrt winden, die wiederum um einen Springbrunnen geschwungen ist. Um die Villa herum erstrecken sich Blumenfelder. Pink, weiß, hellblau, gelb, grün, aber Lavendel entdecke ich am meisten. Er säumt die Wege und zieht sich wie Adern zwischen den anderen Pflanzen hindurch. Alle Blüten stehen hoch und wiegen sich ein wenig im Wind, weich und blass, und sie scheinen beinahe zu rauschen, wie Wellen, die sich vom Haupthaus wegbewegen.
»Düfte«, sage ich. »Lamontaine – wie die Seife?«
»Genau.«
Ich stoße einen leisen Pfiff aus. Wir reden hier also über sehr viel Geld. In der Radiowerbung bezeichnen sie sich als ein Familienunternehmen. Vermutlich würde es sie ruinieren, wenn irgendjemand wüsste, was für eine Familie sie sind.
Wir fahren weiter, und sie parkt in der Auffahrt hinter drei anderen Autos verschiedener Marken und Farben. Auf beiden Seiten des Hauses stehen schlanke Bäume mit großen pinkfarbenen Blüten. Der Springbrunnen in der Mitte ist oben schwarz verbrannt, fällt mir auf, aber noch funktionsfähig. Wasser ergießt sich wie ein wankender Schatten über die dunkle Stelle.
Ich betrachte das Haus jetzt genauer. Seine Mauern sind weiß, aber alle Metall-Elemente sind hellviolett. Es hat drei Stockwerke plus das Kuppeldach und riesige geschwungene Fenster, die mich ein wenig an Blumen erinnern. Im obersten Stock des Westflügels wird ein Vorhang zur Seite gezogen, und ein Schatten starrt auf uns herab. Ich frage mich, wie wohl mein Empfang hier aussehen wird. Hat Pearl mich in Eigeninitiative hierhergebracht, oder war das eine gemeinschaftliche Entscheidung?
»Elsie ist offenbar nicht hier«, sagt Pearl mit einem Blick auf die Autos. Sie stellt den Motor ab, steigt aus und streckt dehnend die Arme über den Kopf. »Sie werden später mit ihr reden müssen.«
Sie geht auf das Haus zu, bleibt jedoch nach einigen Schritten stehen, schaut sich zu mir um, weil ich immer noch im Auto sitze. »Kommen Sie?«
»Zuerst habe ich ein paar Fragen.« Langsam öffne ich die Tür und steige aus. Pearl stützt die Hände in die Hüften und nickt mir knapp zu. Sie ist ungeduldig, aber sie braucht mich. »Irene Lamontaine ist also tot, und Sie sind Ihre Frau?«
»Das habe ich Ihnen doch bereits erzählt.«
»Wann ist sie gestorben?«
»Vor ungefähr drei Wochen«, erwidert Pearl. Sie schaut zu einem der Fenster im Erdgeschoss. Dort bewegt sich der Vorhang ein wenig. Mich hierherzuholen, war definitiv nur Pearls Idee.
»Und warum heuern Sie mich erst jetzt an?«, will ich wissen.
»Bis vorgestern waren Sie noch nicht verfügbar, und ich habe erst heute Morgen davon erfahren, dass sich das geändert hat«, sagt Pearl und verschränkt die Arme vor der Brust. »Bis dahin habe ich nach jemandem gesucht, dem wir vertrauen können. Sie sind so jemand.«
Ich nicke. »Okay. Aber bevor wir reingehen, müssen Sie mir die Lage schildern. Wer wohnt hier?«
Sie geht auf die Haustür zu, und ich folge ihr. »Ich und Irene. Unser Sohn Henry – genau genommen ist er Irenes Sohn, aber wir haben ihn gemeinsam großgezogen. Wir haben Glück, dass auch er eher weniger traditionelle Neigungen hat.«
»Glück?«, frage ich. Das Wort fühlt sich an wie eine Ohrfeige. »So würde ich das nicht nennen.«
Pearl nickt und runzelt ein wenig die Stirn. »Vielleicht war es egoistisch, aber wir waren glücklich. Er hat einen langjährigen Gefährten, Cliff, der auch hier lebt und sich bei Bedarf als sein Privatsekretär ausgibt. Als Henry die Leitung der Seifenfirma übernommen hat, hat Irene darauf bestanden, dass er heiratet. Lamontaine Soap ist ein Familienunternehmen. Wir verkaufen unsere Produkte an glückliche Hausfrauen und … Junggesellen machen Hausfrauen nervös. Also haben wir eine Frau für ihn gesucht, Margo. Sie hat Freundinnen, weiß aber, wie wichtig es ist, den Schein zu wahren. Momentan trifft sie sich mit einer Frau namens Elsie. Außerhalb des Hauses sind natürlich alle sehr diskret.« Sie hält kurz inne. »Oh, und Margos Mutter lebt auch bei uns. Alice. Sie ist die Einzige … die nicht so ist wie wir.«
Pearl ist gerade fertig mit ihren Ausführungen, als wir die Tür erreichen. Sie wirft einen schnellen Blick nach oben zum Fenster im zweiten Stock, wo ich unseren Beobachter entdeckt hatte.
»Aber sie weiß Bescheid«, sage ich.
»Natürlich.« Pearl dreht den Knauf und öffnet die Tür. »Das ist ja der Sinn unseres Hauses. Keine Geheimnisse.«
Ich versuche, nicht darüber zu lachen. »Was ist mit den Hausangestellten?«
»Wir haben drei.« Sie bleibt stehen, geht noch nicht hinein.
»Wie halten Sie die vom Tratschen ab, wenn es keine Geheimnisse gibt?«
»Unsere Angestellten werden sehr gut bezahlt. Sie würden ihre Jobs nicht für schnelles Geld von einem Klatschmagazin riskieren.«
»Das ist eine gewagte Annahme. Lamontaine ist ein großes Unternehmen.«
»Sie sind froh, einen Ort zu haben, an dem sie auch sie selbst sein können. Unsere Gärtnerin Judy teilt sich ein Zimmer mit unserer Köchin Dot. Und unser Butler Mr Kelly war derjenige, der mir von Ihnen erzählt hat. Er geht an seinen freien Abenden gern in die Clubs. Wir sind sehr vorsichtig damit, wen wir durch das Tor hereinlassen.«
Ich nicke, Pearl geht ins Haus, und ich folge ihr. Jetzt stehen wir im Foyer: weißer Marmorboden, Stufen, über die sich ein dunkelvioletter Läufer spannt und die zu einem Treppenabsatz hinaufführen, wo sie sich dann teilen und sich in beide Richtungen über uns weiter nach oben winden. Am Treppenabsatz hängt ein riesiges Frauenporträt, und wenn man darunter steht, fühlt es sich an, wie im Schatten eines Berges zu stehen, als würde es den gesamten Horizont einnehmen.
Die Frau auf dem Bild ist etwa fünfzig Jahre alt und hat feuerrotes Haar, das ihr in sanften Wellen auf die Schultern fällt. An ihrem Gesichtsausdruck kann man erkennen, dass der Maler sie liebenswürdig erscheinen lassen wollte, sie das aber nicht zugelassen hat. Stattdessen haben sie sich auf einen Kompromiss geeinigt: Sie sieht streng, doch amüsiert aus. Überlegen, bereit, einem in die Augen zu schauen, solange man weiß, dass man sofort den Blick abwenden muss. Ihr schwarzes Satinkleid entblößt ihre Schlüsselbeine, bevor es an den Schultern mit plissierten, fledermausartigen Ärmeln ausladender wird. Nach unten hin schmiegt es sich an ihren Oberkörper und hängt danach gerade herab. An ihren Ohren funkeln Diamanten, die zu ihrem Ring und ihrem Armband passen. Alles in allem sieht sie nicht wie eine Frau aus, die sich mit Blumen umgeben würde, doch wie um mir das Gegenteil zu beweisen, stehen im ansonsten schwarzen Hintergrund Körbe voller Blumen – Rosen, Lavendel, Veilchen, Sonnenblumen und andere, deren Namen ich nicht kenne, alle geschnitten und ausgelegt wie in einem viktorianischen Blumenstand.
»Das ist Irene«, erklärt Pearl mit einem leichten Zittern in der Stimme.
»Darauf sieht sie aus wie eine Hexe, nicht wahr?«, fragt ein junger Mann, der unmittelbar unter dem Porträt auf dem Treppenabsatz sitzt. Ich hatte ihn zuvor nicht bemerkt – das Gemälde dominierte alles –, doch jetzt betrachte ich ihn: Mitte zwanzig, breite Schultern, schmale Taille und kräftige Beine. Er trägt ein pfirsichfarbenes Hemd ohne Krawatte oder Jackett. Seine dunklen Haare sind seitlich gescheitelt, doch das bändigt seine Locken nicht. Er sieht gut aus, und als er mich anlächelt, spüre ich ein vertrautes Ziehen. Und er merkt, dass ich es fühle, denn jetzt lächelt er mich an, auf eine Weise, die ich kenne. Er steht auf, langsam, den Blick auf mich gerichtet. Da wird mir bewusst, was er gerade gesagt hat, und ich schaue hinüber zu Pearl, in der Erwartung, dass sie wütend wird, doch sie starrt nur auf ihre Hände und zieht sich die Handschuhe aus.
»Bitte sprich nicht so über sie, Cliff«, sagt sie, bereits erschöpft von dem Gespräch, das sie offensichtlich schon viele Male geführt haben. Beim Klang ihrer Stimme wendet sich Cliff von ihr ab, sein Lächeln verwandelt sich wieder in einen gelangweilten Blick.
»Ich meine das nicht böse«, sagt er und kommt langsam die Treppe herunter. »Ich meine nur das Gemälde. Darauf sieht sie aus, als ob sie Zaubertränke brauen würde und nicht Seife verkaufen.« Er hat den Fuß der Treppe erreicht und tritt nah an mich heran, sodass ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren und den Gin darin riechen kann. »Sie sind also der Privatschnüffler?«
»Evander Mills.« Ich strecke die Hand aus und versuche, die Provokation zu ignorieren. Lächelnd ergreift er sie, wobei er seine Finger auf meiner Handinnenfläche kreisen lässt, als wir uns die Hände schütteln. Es ist, als wäre ich wieder in einer der Bars. Das Flirten, der Gin. Als hätte er das Ambiente des Black Cat in diese Villa im Wald gebracht. Es ist beruhigend, dieses Ambiente, und zugleich erregend. Oder womöglich ist nur er das.
»Cliff Carbury«, sagt er und wendet sich ab. »Ich bin der …« Er lässt den Satz unvollendet.
»Er ist Henrys Freund. Unser Schwiegersohn sozusagen«, erklärt Pearl.
»Sozusagen«, wiederholt Cliff mit leichtem Spott. Falls es Pearl auffällt, lässt sie es sich nicht anmerken.
Zu beiden Seiten des Foyers befinden sich große Türen, von denen Cliff eine aufstößt. Der Raum dahinter scheint ein Wohnzimmer zu sein, modern eingerichtet, beinahe ausschließlich in Weiß gehalten. Pearl folgt ihm, und ich folge ihr. Das Zimmer ist hell, ein Glastisch steht in der Mitte, und hellgraue Sofas und Sessel sind auf dem weißen Teppich zu einer Sitzgruppe arrangiert. In der Mitte des Tisches steht eine schwarze Vase mit Lavendel. An der Wand entdecke ich einen großen Plattenspieler und ein Radio. Ein Admiral, es kann höchstens ein oder zwei Jahre alt sein. Ein Luxusgerät, wie ich es gerne haben würde, mir aber nie leisten könnte. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein neuer Fernseher mit einigen Sesseln davor. Das Zimmer fühlt sich an wie ein Museum, doch ohne ausgestellte Kunstwerke, als würde etwas fehlen oder als würde man noch auf etwas warten.
In einem der Sessel vor dem Fernseher sitzt eine blonde Frau, vielleicht Anfang dreißig, und telefoniert. Eine Ausgabe der Vogue liegt aufgeschlagen in ihrem Schoß.
»Ja«, sagt sie beinahe flüsternd. »Ich sage dir, sie hat es getan. Er ist hier. Du solltest lieber schnell herkommen.« Sie hält inne. »Nein.« Eine weitere Pause, ein Seufzer. »Na schön. Vor dem Abendessen.«
Während sie spricht, setzt sich Cliff auf eins der Sofas und lehnt den Kopf zurück, um an die Decke zu schauen. Dann fischt er ein Zigarettenetui aus der Hosentasche, nimmt eine Zigarette heraus und steckt sie sich zwischen die Lippen. Als er das Etui zuklappt, schaut er mich an. »Sie haben nicht zufällig Feuer, oder?« Seine Stimme ist leicht gedämpft, weil er mit den Lippen die Zigarette umklammert hält.
Die Blondine beendet ihr Gespräch, steht auf, legt die Zeitschrift auf den Tisch und lächelt uns auf so geübte Weise an, als würde sie für Fotos posieren. Wahrscheinlich tut sie das auch, für die Society-Seiten. Ich glaube, ich habe sogar schon mal ein paar Bilder von ihr gesehen. Ihr Kleid ist weiß, aber mit rosa und gelben Blumen bestickt und sehr modisch geschnitten, mit freien Schultern, enger Taille und einem Rock, der unterhalb der Knie endet. Sie trägt einen dieser breiten Gürtel, die derzeit alle wohlhabenden Damen tragen, in zartem Rosa. Ihre Haare reichen ihr bis zum Kinn und sind so gelockt, dass sie mühelos süß aussieht, doch die Locken lösen sich allmählich auf, weil sie immer wieder leicht daran zieht, um sich die Strähnen hinters Ohr zu schieben, wie sie es gerade in diesem Moment tut.
»Du hast Streichhölzer in deinem Etui, Cliff«, sagt sie, ohne ihn anzuschauen. »Hallo. Ich bin Margo Lamontaine.« Sie streckt die Hand aus. »Und Sie sind?«
»Evander Mills«, erwidere ich, als ich ihre Hand schüttele.
»Ich habe Evander gebeten, den Mord an Irene zu untersuchen«, sagt Pearl.
Margo nickt mit zusammengekniffenen Lippen. »Pearl, ich weiß, wie schwer das für dich ist …«
»Fang nicht damit an«, unterbricht Pearl sie. »Ich habe ihn angeheuert und ihm bereits alles erzählt.«
Vom Sofa aus lacht Cliff bellend. Margos Gesichtsausdruck wechselt von »einladend« zu »prüfend«. Sie zieht eine Braue hoch, und der Blick aus ihren grünen Augen wird scharf.
»Alles?«, fragt sie. Ihre Stimme klingt, als wäre sie bereit, davonzulaufen. Oder zu kämpfen.
»Keine Sorge, Liebes.« Pearl legt ihr eine Hand auf den Arm. »Er ist einer von uns.«
»Das hätte ich dir auch sagen können«, wirft Cliff ein. Er hat seine Streichhölzer hervorgeholt und zündet sich seine Zigarette an. Der schwache blumige Duft, an den ich mich bereits so gewöhnt habe, dass ich ihn gar nicht mehr wahrnehme, wird wieder deutlich, als er sich mit dem Tabak vermischt.
»›Einer von uns‹ bedeutet nicht, dass er die Geschichte nicht trotzdem an die Zeitungen verkauft«, sagt Margo und lässt ihr freundliches Lächeln und den Versuch einer einladenden Miene fallen. Ohne diese Maske löst sich das ohnehin schon an den Rändern ausgefranste Bild der perfekten Ehefrau und Gastgeberin auf, und sie wirkt plötzlich seltsam in dem Kleid und mit der Frisur – einer Verkleidung, die sie nach einem langen Abend auf der Bühne abzustreifen versucht. Ich habe den Eindruck, dass Margo, die echte Margo, nie im Leben ein Blumenkleid tragen würde. Sie geht hinüber zu Cliff und streckt eine Hand aus. Seufzend reicht er ihr seine Zigarette und zündet sich eine neue an. Margo inhaliert tief und bläst dann mit geschlossenen Augen den Rauch aus der Nase. Dieser Widerspruch bringt mich zum Grinsen – die perfekte High-Society-Ehefrau auf Abwegen –, aber ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen. »Wirklich, Pearl, wir haben darüber gesprochen und es für eine schlechte Idee gehalten.«
»Du«, erwidert Pearl. »Du hast es für eine schlechte Idee gehalten. Aber Irene war …« Sie nimmt ihren Hut ab, starrt darauf, während sie ihn in ihren Händen kreisen lässt. »Ich weiß, dass sie sich dir gegenüber manchmal wie ein Drachen verhalten hat. Aber sie war meine Frau, Margo. Sie war mein Ein und Alles. Das verstehst du doch, oder?«
»Nicht wirklich«, erwidert Margo. »Ich habe einen Ehemann.« Das letzte Wort zischt sie beinahe. Damit sind jetzt schon zwei Personen unglücklich über diese arrangierte Ehe. Merkwürdig, wenn sie lediglich zum Schein besteht.
»Jetzt nur theoretisch«, erwidert Pearl. »Stell dir vor, Elsie wäre über ein Geländer gestoßen und zum Sterben zurückgelassen worden. Würdest du nicht wollen, dass ihr Mörder zur Rechenschaft gezogen wird?«
Margos Blick huscht bei der Erwähnung des Namens Elsie zu mir, dann wieder zu Pearl. »Du hast ihm also wirklich alles erzählt.«
Sie inhaliert noch einmal, dann hält sie die Zigarette vom Mund weg und mustert mich von Kopf bis Fuß. Den freien Arm hat sie quer über ihre Brust gelegt. Sie wirkt unbeeindruckt von allem, was sie umgibt, wie jemand, der dachte, er würde auf einen Haufen Gold klettern, und sich dann eines Tages umsieht und feststellt, dass alles nur Müll ist.
»Also, Evander Mills«, sagt sie und bläst Rauch in die Luft. »Wie sieht Ihr Lebenslauf aus? Oder hat sich Pearl lediglich die am wenigsten betrunkene Schwuchtel von den Docks ausgesucht?«
»Ich war bis vor zwei Tagen Inspector beim San Francisco Police Department«, erkläre ich und recke das Kinn vor. Darauf bin ich stolz. War ich stolz.
Sie legt den Kopf ein wenig schief und wirkt leicht beeindruckt. »Was ist vor zwei Tagen passiert?«
»Ich wurde auf der Toilette im Black Cat erwischt«, antworte ich.
»Erwischt?«, fragt Cliff und lächelt mich an. »Wobei?«
»Bei etwas, das Männer auf der Toilette im Black Cat tun.«
Er grinst, als wollte er mich nach weiteren Einzelheiten fragen, doch Margo spricht zuerst, und ich reiße meinen Blick von seinen Lippen los.
»Sie hätten ins Ruby gehen sollen«, sagt sie. »Dort gibt es keine Polizei.«
»Ich werde mir das fürs nächste Mal merken.«
»Und wie lange sind Sie schon Inspector?«, fragt sie weiter und mustert mich von oben bis unten. »Sie können nicht älter als dreißig sein.«
»Zweiunddreißig. Inspector bin ich seit drei Jahren. Davor war ich drei Jahre lang Streifenpolizist.« Mein Ton bleibt neutral. Das hier ist ein Vorstellungsgespräch.
»Seit fünfundvierzig. Sie kamen also direkt vom Militär?«, will sie wissen.
»Navy. Ich war hier auf einem Minensuchboot stationiert, das Schiffe von und nach Pearl Harbor eskortiert hat.«
»Ich wette, Sie sahen gut aus in Uniform«, wirft Cliff ein.
»Angeworben oder eingezogen?« Margo ignoriert ihn und fragt weiter.
»Angeworben.«
»Und davor?«
»Hab ich für meinen Vater in L. A. gearbeitet.«
»Als was?« Sie schnippt die Asche ihrer Zigarette über dem Aschenbecher ab.
»Er war Schadensermittler für eine Versicherung.«
»Und warum arbeiten Sie nicht wieder für ihn?«
»Er ist tot. Und mir hat es hier eigentlich gefallen.«
»Wegen des pulsierenden Nachtlebens?«, fragt Cliff.
»So in der Art.« Eher wegen seiner Vielfalt – mehr Clubs zur Auswahl zu haben, bedeutete, dass ich jeden Abend in einen anderen gehen konnte und so die Wahrscheinlichkeit, bei einer Razzia erwischt zu werden, geringer war.
»Ich war während des Krieges nicht hier«, sagt Cliff. »Aber ich wette, es war ein Vergnügen. Mit den Soldaten überall war praktisch jede Nacht eine Orgie. Dazu noch die ganzen Zivilisten in der Stadt …« Er grinst. »Ich selbst war bei der USO, der Truppenbetreuung. Als Tänzer bei den Shows.« Er wirft im Sitzen ein Bein in die Höhe.
»Ehrlich, du bist wie eine rollige Katze«, entgegnet Margo.
»Ich hab das Haus seit Wochen nicht verlassen«, entgegnet Cliff rasch. »Gönn einer Schwester doch ein wenig Spaß.«
»Reicht das?«, fragt Pearl und hebt die Hände, um das Ganze zu beenden. »Entspricht er deinen Anforderungen, Margo?«
Margo setzt sich auf die Armlehne des Sofas und zieht an ihrer Zigarette, dann bläst sie den Rauch in einem perfekten Ring, der ihr Gesicht wie ein Medaillon umrahmt, zu mir hin. »Sagen Sie mir eins, Inspector Mills. Die Leiche wurde weggebracht. Pearl hat den Tatort abgeschlossen und nichts dort angerührt, seit die Polizei fort ist, doch die Leiche ist weg. Wir haben sie vor zwei Wochen beerdigt. Werden Sie sie ausgraben, um sie zu untersuchen?«
»Natürlich nicht«, entgegnet Pearl. »Er wird den Bericht des Gerichtsmediziners von der Polizei bekommen.«
»Aaah.« Margo wedelt mit ihrer Zigarette. »Ist das so, Inspector?«
Ich senke den Blick auf meine Füße. »Ich kann sie danach fragen.«
»Und werden sie mit Ihnen reden? Nachdem Sie bei dem erwischt wurden … was Männer in der Toilette vom Black Cat so machen?«
Pearl dreht sich zu mir um, und ich spüre, wie mir der Auftrag entgleitet. »Ich habe ein paar Freunde, die mir helfen können«, lüge ich.
»Aber die wissen, wer Sie sind«, sagt Margo und inhaliert erneut. »Sie wissen, was Sie sind, und sie werden wissen, dass Sie an unserem Fall arbeiten, und sich dann womöglich fragen, warum wir jemanden wie Sie einstellen sollten.« Sie atmet den Rauch ein, stößt einen weiteren Ring aus, diesmal in Pearls Richtung. Die Art, wie sie »wie Sie« gesagt hat, jagt mir einen Schauer über den Rücken, doch ich kann es verbergen. »Sie sehen das Problem?«
»Ach, das ist kein Problem«, erwidert Pearl. »Ich sage einfach, dass er ein Freund der Familie ist – wir unterstützen ihn, aus Anstand, irgend so was in der Art. Wie lautet der Name Ihrer Mutter, Evander?«
»Mary.«
Cliff auf dem Sofa lacht schnaubend.
»Gut, also Mary und ich sind alte Freundinnen. Aus L. A., richtig? Dann waren wir Brieffreundinnen. Haben uns während einer Reise kennengelernt. Ich habe ihr versprochen, ein Auge auf Sie zu haben, wenn Sie hierherziehen. Sie waren betrunken, vielleicht standen Sie unter Drogen – Sie wissen ja, wie diese Leute sind.«
»Wir sind diese Leute«, wirft Cliff ein.
»Und es ist so eine Schande, was passiert ist«, fährt Pearl fort und ignoriert ihn. Sie neigt den Kopf, und ihr Gesicht nimmt einen entschlossenen Ausdruck an – als würde sie gerade jemandem eine Geschichte erzählen, um irgendetwas zu vertuschen. Darin ist sie geübt, das merke ich – vermutlich macht sie das oft. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar Ihren Job wiederbeschaffen.«
Ich reibe mir den Nacken. Ich weiß nicht, ob es dazu kommen wird, aber hier zu sein, bei diesen Menschen, ein letzter Abend, bevor ich mich ins Wasser stürze, die Art, wie Cliff mich ansieht – all das will ich. Ich möchte nicht, dass es vorbei ist, noch nicht. »Das könnte funktionieren«, gebe ich zu.
»Na also, Margo.« Pearl reckt triumphierend das Kinn vor. »Du siehst nur Probleme. Ich sehe Lösungen.«
Margo schenkt Pearl ein Lächeln, das böser ist als die meisten Blicke. »Wie du meinst, Pearl.« Sie steht auf und verlässt den Raum.
Pearl wendet sich an mich. »Sie hat ein wenig Angst davor, dass die Wahrheit über uns bekannt wird. Die haben wir alle. Aber ich weiß, dass wir Ihnen vertrauen können, nicht wahr, Evander?«
»Natürlich.« Ich habe keine Ahnung, was ich noch sagen kann.
»Cliff, kannst du Mr Kelly bitten, das Gästezimmer für Evander herzurichten? Ich werde ihm die Bibliothek zeigen.«
»Klar«, sagt Cliff und rührt sich nicht.
»Ich weiß nicht, ob ich hier übernachten muss«, wende ich ein. Falls es Mord war, scheint es mir der schnellste Weg zu sein, das nächste Opfer zu werden, wenn ich die Nacht im selben Haus verbringe wie der Mörder, den ich zu fassen versuche.
»Doch, das müssen Sie«, erwidert Pearl und durchquert bereits das Wohnzimmer. Ich folge ihr. »Henry kommt erst nach der Arbeit nach Hause, und wer weiß, wann Elsie auftaucht?«
»Trotzdem …«, beginne ich, weil ich das Gefühl habe, protestieren zu müssen.
»Wo wollen Sie denn hingehen, Evander?«, fragt Pearl mit einem verlegenen Glucksen, als hätte ich sie gezwungen, mich das nun zu fragen. »Als ich nach Ihnen gesucht habe, habe ich es zuerst bei Ihrem Apartment probiert. Ihr Vermieter hat Sie rausgeworfen, nachdem Ihre ehemaligen Kollegen ihn über Sie informiert haben. Wo wohnen Sie jetzt? In einem Hotel?«
Ich nicke und spüre, wie meine Haut heiß wird.
»Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste«, sagt sie. »Aber wir sind billiger als ein Hotel, und es wird Ihnen bei dem Fall helfen. Machen Sie kein Aufheben. Außerdem habe ich Sie hergebracht und werde Sie nicht vor morgen zurückfahren. Falls Sie das dann überhaupt wollen.« Sie hält inne, schaut auf den Boden und dann wieder zu mir hoch. »Ich versuche, unsereins zu unterstützen, wo ich kann. Wenn das alles hier vorbei ist, kann ich Ihnen vielleicht wirklich dabei helfen, eine neue Stelle zu finden. Wir benötigen eventuell jemanden für die Sicherheit auf dem Anwesen … Aber darüber können wir uns später Gedanken machen.«
Lächelnd öffnet sie die Tür auf der anderen Seite des Raumes. Dahinter liegt ein weiterer marmorgefliester Flur. Ich folge ihr und versuche herauszufinden, wo wir sind. Im Westflügel, glaube ich, obwohl ich mir nach einigen Abzweigungen nicht mehr sicher bin. Wir gehen eine schmale Treppe hinunter, und sie holt einen Schlüssel aus der Tasche und schließt damit die Tür am unteren Ende auf.
»Sie haben die Leiche weggebracht«, erklärt sie, ohne die Tür zu öffnen. »Alles andere habe ich so gelassen, wie es war.« Sie zieht die Tür auf und macht einen Schritt beiseite. »Ich möchte nicht hineingehen. Das verstehen Sie sicher. Der Lichtschalter ist gleich rechts.«
»Natürlich.« Im Türrahmen bleibe ich stehen und drehe mich zu ihr um. Sie wirkt nervös. »Sie sind nicht so, wie ich es von einer Witwe erwartet hätte.«
»Wie bitte?«, fragt sie, ohne aufzublicken. Ihre Stimme zittert.