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Joseph Kanon

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Beschreibung

Berlin 1949: Die Stadt liegt immer noch in Trümmern. Der Kalte Krieg hat begonnen, der Westteil der Stadt kann nur noch durch eine Luftbrücke versorgt werden. Im Ostteil formiert sich die DDR als sozialistischer Staat. Schwarzmarkt und Spionage sind an der Tagesordnung. Selbst die Kultur ist zu einem ideologischen Schlachtfeld geworden. Der Schriftsteller Alex Meier war 1933 vor den Nazis in die USA geflohen und hat dort Fuß gefasst. Doch das McCarthy-Regime hat seine politische Vergangenheit durchleuchtet und ihn aus den USA ausgewiesen. Er geht nach Ostberlin, wo sich auch Bertold Brecht, Helene Weigel und Ruth Berlau niedergelassen haben. Die CIA bietet ihm die Chance auf eine Rückkehr in die USA, wenn er seine Schrift stellerkollegen ausspioniert. Doch die Sache läuft aus dem Ruder, als Alex erfährt, dass er die Frau verraten soll, die er einst über alle Maßen geliebt hat und in Deutschland zurücklassen musste …

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Leaving Berlin« bei Simon & Schuster, London.
© Joseph Kanon 2014© der deutschen Ausgabe: 2015 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: buxdesign, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16618-2V002
www.cbertelsmann.de

Für Martha, Gregg und Tess

1LÜTZOWPLATZ

Obwohl sie noch einige Kilometer weit entfernt waren, hörte er die Flugzeuge bereits: ein tiefes, monotones Brummen, das näher kam und sich anhörte, wie sich früher die Bomber angehört haben mussten. Jetzt waren sie mit Lebensmitteln und Kohlensäcken beladen. Hinter Köpenick konnte er ihre Lichter am Himmel ausmachen, die sich im Sinkflug der dunklen Stadt näherten, ein Flugzeug hinter dem anderen; alle dreißig Sekunden, hieß es, entluden sie und starteten wieder – sofern dies möglich war –, ihre Lichter eine Reihe entschwindender Punkte wie Leuchtspurgeschosse.

»Wie können die Leute hier schlafen?«

»Nach einer Weile hört man sie nicht mehr«, erwiderte Martin.

Auf Martin mochte das vielleicht zutreffen, er war neu in Berlin. Aber was war mit den anderen, die sich an zusammengepfercht in Luftschutzkellern verbrachte Nächte erinnerten, wo sie, den Tod vor Augen, auf Triebwerksgeräusche lauschten – wie nah? – und dem Aufjaulen beim Schub, den der Bomber bekam, wenn er seine Ladung losgeworden war und nun irgendwo über ihnen schwebte?

»So viele Maschinen«, sagte Alex, fast im Selbstgespräch. »Wie lange werden sie sie wohl aufrechterhalten können?« Die Luftbrücke, Berlins Rettungsleine, mit kleinen Fallschirmen, an denen fotowirksam Süßigkeiten für die Kinder herabfielen.

»Viel länger nicht mehr«, sagte Martin überzeugt. »Überlegen Sie mal, was das kostet. Und wozu? Man versucht, zwei Städte daraus zu machen. Zwei Bürgermeister, zwei Polizeiverwaltungen. Aber es ist doch eine Stadt. Berlin ist doch immer noch da, wo es ist, in der Sowjetzone. Man kann es nicht verlegen. Sie sollten jetzt verschwinden. Zulassen, dass die Normalität zurückkehrt.«

»Ja, die Normalität«, sagte Alex. Die Flugzeuge wurden lauter, befanden sich jetzt fast über ihnen, Tempelhof lag nur einen Bezirk weiter westlich. »Und werden die Russen dann auch verschwinden?«

»Das denke ich schon«, antwortete Martin, offenbar wohlüberlegt. »Sie bleiben doch wegen der anderen. Die Amerikaner ziehen nicht ab wegen der Russen …« Er unterbrach sich. »Aber es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Das wäre sonst unvernünftig«, ergänzte er. »Warum sollten die Russen bleiben? Wenn Deutschland ein neutrales Land wäre. Und keine Bedrohung mehr.«

»Neutral, aber sozialistisch?«

»Was denn sonst? Nach den Faschisten. Ich denke, das ist das, was alle wollen … Sie etwa nicht?« Er bremste sich. »Verzeihen Sie. Natürlich wollen Sie das. Deshalb sind Sie ja zurückgekommen, für ein sozialistisches Deutschland. Um mit uns die Zukunft zu gestalten. Das war der Traum in Ihrem Buch. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ein großer Bewunderer …«

»Ja, danke.« Alex winkte müde ab.

Martin hatte sich ihm angeschlossen, als er an der tschechischen Grenze den Wagen wechselte – glatt nach hinten frisiertes strohblondes Haar, das Gesicht geschrubbt, mit dienstbeflissener Miene und der strahlenden Überzeugung eines Hitlerjungen im Blick. Er war der erste junge Mann, dem Alex nach seiner Ankunft begegnete, alle anderen lagen unter der Erde oder wurden vermisst. Nach ein paar schleppenden Schritten erkannte Alex auch den Grund dafür: Er hatte einen Klumpfuß wie Goebbels, der ihn vom Kriegsgeschehen ferngehalten hatte. Mit dem Bein und dem glatten Haar erinnerte er sogar ein wenig an Goebbels, allerdings ohne dessen hohle Wangen und den Raubtierblick. Jetzt sprudelte er über vor Begeisterung, und nach seiner anfänglichen förmlichen Zurückhaltung redete er nun unentwegt. Wie viel ihm Der letzte Zaun bedeutet hatte. Wie erfreulich er es fand, dass Alex sich entschlossen hatte, den Osten zu seiner Heimat zu machen, eine »Abstimmung mit den Füßen«. Wie schwer die ersten Jahre gewesen waren, die Kälte, die Hungerrationen, und wie viel besser es jetzt sei, das könne man jeden Tag sehen. Brecht sei gekommen … Hatte Alex in Amerika Kontakt zu ihm gehabt? Zu Thomas Mann? Martin war auch ein großer Bewunderer von Brecht. Vielleicht könne dieser ja Der letzte Zaun von Alex dramatisieren, dieses wichtige antifaschistische Werk könnte ihm gefallen.

»Da müsste er erst mit Jack Warner sprechen«, erwiderte Alex und lächelte dabei in sich hinein. »Die Rechte liegen bei ihm.«

»Der Roman wurde verfilmt? Das wusste ich nicht. Aber amerikanische Filme bekamen wir natürlich niemals zu Gesicht.«

»Nein, er sollte verfilmt werden, aber daraus wurde nichts.«

The Last Fence, wie der Roman in der amerikanischen Übersetzung hieß, wurde zum Book of the Month der Club Selection, es war der glückliche Durchbruch, der ihm die Zeit im Exil finanzierte. Die Warners kauften es, um es mit Cagney zu verfilmen, dann mit Raft, dann mit George Brent, aber dann kam der Krieg, und man wollte Bilder von Kampfhandlungen und keine Flüchtlinge aus Gefangenenlagern sehen und legte das Projekt auf Eis, ein weiteres unter all den möglichen, die es bereits gab. Aber vom Verkauf der Rechte konnte er das Haus in Santa Monica bezahlen, das in der Tat nicht weit von dem Brechts entfernt lag.

»Aber lesen konnten Sie es?«, wollte Alex wissen. »Es gab Exemplare davon in Deutschland?« Die eigentliche Frage dahinter: Wer bist du? Ein Repräsentant des Kulturbunds, der Künstlervereinigung, das ja, aber was noch? Jeder hier hatte jetzt eine Geschichte, die berücksichtigt werden musste.

»In der Schweiz bekam man die Querido-Ausgabe.« Der Emigrantenverlag in Amsterdam. »Und natürlich waren noch viele Exemplare von Der Untergang in Deutschland im Umlauf, auch nachdem der Roman verboten worden war.«

DerUntergang, das Buch, das ihn berühmt gemacht hatte und wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass Deutschland ihn zurückhaben wollte – Brecht und Anna Seghers und Arnold Zweig, sie alle waren in die Heimat zurückgekehrt, und jetzt kam auch der deutsche Exilant Alex Meier zurück. In den Osten, weil selbst die Kultur nun Teil des neuen Kriegs war. Er musste an Brecht denken, den man in Kalifornien gar nicht wahrgenommen hatte, an die in Mexiko-Stadt unsichtbare Anna Seghers, die beide jetzt wieder gefeiert wurden, mit Fotos in den Zeitungen und Willkommensreden von Parteibonzen.

In der ersten Stadt hinter der Grenze war ein Essen für ihn ausgerichtet worden. Um rechtzeitig dort zu sein, waren sie frühmorgens noch bei Dunkelheit von Prag aufgebrochen, die Straßen regenglatt, wie sie das bei Kafka immer zu sein schienen. Dann folgten kilometerweit Stoppelfelder, Bauernhöfe, die einen Anstrich dringend nötig hätten, Enten, die im Schlamm platschten. In der Grenzstadt – wie hieß die noch mal? – war er von Martin mit Blumen begrüßt worden, um dann zusammen mit dem im abgetragenen unförmigen Sonntagsstaat erschienenen Bürgermeister und dem Stadtrat im Rathaus zu Mittag zu essen. Man machte Fotos für Neues Deutschland, Alex schüttelte dem Bürgermeister die Hand – der verlorene Sohn war nach Hause zurückgekehrt. Er wurde gebeten, ein paar Worte zu sagen. Für sein Brot zu singen. Weshalb er hier war, warum man ihm überhaupt ein Aufenthaltsvisum angeboten hatte, um mit ihnen gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

Er hatte eigentlich damit gerechnet, ganz Deutschland in Schutt und Asche vorzufinden, ein Land, das, wenn man nach den Fotos in Life ging, erst aus den Trümmern ausgegraben werden musste, aber die Landschaft, durch die er nach dem Mittagessen fuhr, war eine Fortsetzung dessen, was er am Vormittag gesehen hatte, heruntergekommene Gehöfte und schlechte Straßen, von deren Standstreifen die jahrelang darüber hinwegrollenden Panzer und Schwerlaster nichts übrig gelassen hatten. Es war nicht das Deutschland, das er gekannt hatte, das große Haus am Lützowplatz. Aber dennoch Deutschland. Sein Magen krampfte sich zusammen, es war die vertraute Bangigkeit, das Warten auf das Klopfen an der Tür. Jetzt aber Mittagessen mit dem Bürgermeister, die schlimmen Tage von früher gehörten der Vergangenheit an.

Um Dresden machten sie einen Bogen. »Es würde Ihnen das Herz brechen«, hatte Martin gemeint. »Diese Schweine. Alles haben sie zerbombt. Völlig grundlos.« Aber welchen Grund hätte es geben sollen? Oder auch für Warschau, Rotterdam, für jede dieser Städte, vielleicht war Martin zu jung, um sich an die Jubelrufe auf den Straßen zu erinnern. Alex sagte nichts, richtete seinen Blick auf die grauen Winterfelder. Wo waren die Menschen? Aber für die Feldarbeit war es zu spät im Jahr, und die Männer waren ohnehin alle weg.

Martin bestand darauf, sich zu ihm auf die Rückbank zu setzen, eine Abgrenzung vom niedrigeren Status des Fahrers, was allerdings zur Folge hatte, dass sie die ganze Fahrt nach Berlin im Gespräch verbrachten.

»Entschuldigen Sie, es macht Ihnen doch nichts aus? Eine solche Gelegenheit. Ich habe mich das immer gefragt. Die Familie in Der Untergang? Waren das reale Leute, die Sie kannten? Vergleichbar den Buddenbrooks?«

»Reale Menschen? Nein«, erwiderte Alex.

Ob sie noch lebten? Irene und Elsbeth und Erich, der alte Fritz, die Menschen, die sein Leben begleitet hatten, aufgesogen vom Krieg, vielleicht nur noch Namen auf einer Flüchtlingsliste, nicht mehr auffindbar und nur noch auf den Seiten von Alex’ Roman existent, was Fritz höchst zuwider gewesen wäre.

»Diese Leute, das sind wir nicht«, hatte er Alex entgegengeschleudert. »Mein Vater hat nie gespielt, nicht so.«

»Das bist du nicht«, hatte Alex ganz ruhig geantwortet.

»Aber alle sagen, dass wir es sind. Sie sagen es im Klub. Du solltest Stolberg hören. ›Nur ein Jude kann solche Dinge schreiben.‹«

»Nun, ein Jude hat es getan«, sagte Alex.

»Ein Halbjude«, blaffte Fritz zurück und ergänzte dann etwas ruhiger: »Außerdem ist dein Vater ein guter Mensch. Stolberg ist wie alle anderen.« Er blickte hoch. »Dann geht es also nicht um uns?«

»Es ist eine beliebige Junkerfamilie. Du weißt doch, wir Schriftsteller machen uns etwas zunutze – einen Blick, einen Manierismus, man benutzt alles, was man kennt.«

»Aha, und jetzt sind wir also Junker. Und den Krieg haben wir wohl auch verloren. Pickelhauben.«

»Lies das Buch!«, hatte Alex geantwortet, wohl wissend, dass Fritz es nie lesen würde.

»Was bedeutet das überhaupt? Untergang. Was passiert mit ihnen? Der Vater ist ein Spieler? Na wenn schon.«

»Sie verlieren ihr Geld«, sagte Alex.

Der alte Fritz drehte sich verlegen um. »Na ja, das ist schließlich nicht schwer. Während der Inflation haben alle was verloren.«

Alex wartete, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Es geht nicht um dich«, wiederholte er.

Und Fritz glaubte ihm.

»Aber das Lager in Der letzte Zaun«, insistierte Martin. »Das ist doch Sachsenhausen, oder? Im Büro hieß es, Sie seien in Sachsenhausen gewesen.«

»In Oranienburg, im ersten Lager. Sachsenhausen wurde erst später errichtet. Man schaffte uns in die alte Brauerei. Mitten im Stadtzentrum. Die Leute konnten durch die Fenster hineinsehen. Also wussten alle Bescheid.«

»Aber es war so, wie Sie es beschrieben haben? Sie wurden gefoltert?« Martin konnte es nicht lassen.

»Nein. Geschlagen wurden alle. Aber die schlimmsten Dinge – ich hatte Glück.« Mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen hingen sie an Stangen, bis der Oberarmkopf aus der Gelenkpfanne gerissen wurde, unter Schreien, die sie nicht unterdrücken konnten, weil der Schmerz so heftig war, dass sie schließlich das Bewusstsein verloren. »Ich war nicht lange genug dort. Jemand holte mich raus. Damals war das noch möglich. 33. Wenn man die richtigen Leute kannte.« Das Einzige, was dem alten Fritz geblieben war – Beziehungen.

»Aber im Buch …«

»Es steht für alle anderen Lager.«

»Es ist doch schön zu wissen, was der Autor sich gedacht hat, was er sieht, finden Sie nicht?«

»Also gut, dann eben Sachsenhausen«, sagte Alex, weil er es leid war. »Die Anlage wurde mir beschrieben, und deshalb wusste ich, wie es dort aussah. Dann erfindet man.«

»33«, sagte Martin und ließ es dabei bewenden. »Als man die Kommunisten zusammentrieb. Dann waren Sie also damals schon in der Partei?«

»Nein, damals nicht«, sagte Alex. »Ich ging ihnen einfach ins Netz. Es reichte schon, Sympathisant zu sein. Kommunistische Freunde zu haben. Sie warfen ihre Netze aus, und schon warst du mit dabei. Man brauchte gar kein Parteibuch.«

»Und jetzt machen es die Amerikaner genauso und bringen Kommunisten ins Gefängnis. Man sagt, das sei der Grund dafür, weshalb Sie weggegangen sind.« Eine Frage. »Sie versuchen, die Partei auszumerzen. Genauso wie die Nazis.« Die einzige Erklärung, die für den Kulturbund einen Sinn ergab.

»Sie schicken keine Leute nach Sachsenhausen«, erwiderte Alex monoton. »Kommunist zu sein, ist nicht illegal.«

»Aber ich dachte …«

»Sie wollen von dir erfahren, wer die anderen sind. Dass du ihnen Namen nennst. Und wenn du das nicht tust – dann ist es illegal. Auf diese Weise kriegen sie dich dran.«

»Und dann ab ins Gefängnis«, zog Martin die logische Schlussfolgerung.

»Manchmal«, sagte Alex vage.

Oder Abschiebung, weil man den zweckdienlichen holländischen Pass, der ihm einmal das Leben gerettet hatte, nun gegen ihn verwendete. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie Gast in diesem Land sind?« Der Kongressabgeordnete mit der kräftigen Nackenmuskulatur, der das Exil vermutlich für bedrohlicher als das Gefängnis hielt. Und zuließ, dass Alex sich davonstahl.

»Und so sind Sie wieder heim nach Deutschland gekommen«, spann Martin die Geschichte weiter.

»Ja, heim«, sagte Alex und sah wieder aus dem Fenster.

»Das ist doch gut«, sagte Martin. Ende der Geschichte.

Jetzt tauchten städtische Gebäude auf, die zerklüfteten Straßengräber, die man aus den Wochenschauen kannte, vermutlich Friedrichshain, wenn man berücksichtigte, aus welcher Richtung sie kamen. Er versuchte, sich den Stadtplan in seinem Kopf vorzustellen – Große Frankfurter Straße? –, und hielt nach einem vertrauten Erkennungszeichen Ausschau, sah aber nur gesichtslose, ausgebombte Gebäude voller Schutt. Er musste an die Trümmerfrauen denken, die den Schutt in Eimern in einer Menschenkette weiterreichten und den Mörtel von den Ziegeln klopften, die man noch verwenden konnte – und jetzt, drei Jahre später, lag der Schutt noch immer da, ganze Berge davon. Wie groß waren sie gewesen? Stehen gebliebene Mauern waren von den Pockennarben des Granatfeuers überzogen und ragten einsam dort auf, wo Gebäude zusammengebrochen und abgetragen worden waren und nun der Wind durch die leeren Schneisen fegte. Wenigstens hatte man die Straßen frei geräumt, doch sie waren gesäumt von Ziegelhaufen, durchsetzt mit Porzellan und verbogenem Metall. Selbst der Geruch der Bombardierung nach verbranntem Holz und dem sauren Kalk geborstenen Zements hing noch in der Luft. Aber vielleicht nahm man das wie die Flugzeuge der Luftbrücke nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr wahr.

»Haben Sie noch Familie in Deutschland?«, wollte Martin wissen.

»Nein. Niemanden«, erwiderte Alex. »Sie haben zu lange gewartet.« Er wandte sich Martin zu, als bedürfte dies einer Erklärung. »Mein Vater besaß das Eiserne Kreuz. Er glaubte, es würde ihn beschützen.«

Aber stimmte das auch? Oder verbarg sich dahinter nur ein Fatalismus, der so bewusst und verzweifelt war, dass man ihn nicht zugeben konnte? Es war fast, als hätte es ihn seine letzten Reserven gekostet, Alex rauszubekommen … Wie viel hatte es gekostet? Genug, um Fritz’ Schulden zu tilgen? Mehr?

»Du bist ihm zu Dank verpflichtet«, war alles, was sein Vater dazu sagen wollte.

»Du solltest auch mitkommen«, hatte Alex erwidert.

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Dafür besteht keine Notwendigkeit. Nicht für mich. Mich schickt man nicht dafür ins Gefängnis, weil ich solche Freunde habe. Der Engel-Junge, der hat schon immer Ärger gemacht. Für wen hält er sich eigentlich – für Liebknecht? In Zeiten wie diesen verhält man sich ruhig.« Er packte Alex an der Schulter. »Du wirst zurückkommen. Wir sind hier doch in Deutschland und nicht in irgendeiner slawischen … Es wird vorübergehen, und du wirst zurückkommen. Nichts ist für ewig. Auch nicht die Nazis. Und ängstige jetzt deine Mutter nicht.«

Aber wie sich herausstellte, blieben die Nazis für ewig, jedenfalls lang genug, um seine Eltern in Asche zu verwandeln, die sich irgendwo in Polen mit der Erde vermischte.

»Da vorn ist der Alexanderplatz«, sagte Martin.

Wegen des Begrüßungsessens und der schlechten Straßen hatte die Fahrt länger gedauert als erwartet; es war bereits spät, und die Scheinwerfer ihres Autos leuchteten heller als die spärlichen Straßenlampen, die blasse Lichtkegel auf den Schutt warfen. Die Seitenstraßen waren überhaupt nicht beleuchtet. Alex beugte sich vor und blickte angestrengt hinaus, erfüllt von einer seltsamen Erregung, nun, da sie endlich hier waren. Berlin. Er konnte das Gerüst einer Baustelle erkennen und dann hinter einem frei geräumten gestaltlosen Platz den dunklen Koloss des Schlosses, rußig versengt, die Kuppel nur noch ein Stahlgerippe, aber es stand noch, das letzte Relikt der Hohenzollern. Die Kathedrale auf der gegenüberliegenden Seite war eine geschwärzte Hülle. Alex hatte damit gerechnet, dass sich im Stadtzentrum, dem unabdingbaren Aushängeschild, inzwischen sichtbare Fortschritte zeigten, aber es sah hier nicht anders aus als in Friedrichshain: Schutt, wohin man blickte, die alten Schinkel-Bauten ausgebrannt und in sich zusammensackend. Die Straße Unter den Linden war dunkel, die Bäume versengte Klumpen. Außer den paar Militärautos, die langsam fuhren, als würden sie die leere Straße patrouillieren, gab es so gut wie keinen Verkehr. An der Kreuzung Friedrichstraße wartete keiner, um sie zu überqueren. Ein Schild in kyrillischer Schrift verwies auf den Bahnhof. Die Stadt war so ruhig wie ein Dorf irgendwo in der Steppe. Berlin.

Auf der Herfahrt hatte Martin unentwegt vom Adlon erzählt, wo Alex wohnen sollte, bis eine Wohnung für ihn gefunden war. Für Martin war das Hotel ein Ort mythischen Glanzes und stand für Premierennächte in der Weimarer Zeit, Lubitsch im Pelzkragenmantel. »Auch Brecht und Weigel sind dort untergebracht, wissen Sie.« Was nicht nur den Status des Hotels zu bestätigen schien, sondern auch den von Alex. Aber jetzt, da sie es fast erreicht hatten, ohne sichtbare Beleuchtung, ohne Markise oder Portiers, die Taxis herbeiwinkten, fing Martin an, sich zu entschuldigen.

»Natürlich ist es nur der Anbau. Sie wissen ja, dass das Hauptgebäude ausgebrannt ist. Aber es soll sehr komfortabel sein. Und der Speisesaal ist fast wie früher.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist schon spät, aber sicherlich wird man für Sie …«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich möchte nur ins Bett. Es war …«

»Natürlich«, warf Martin ein, doch die Enttäuschung, die Alex heraushörte, machte ihm klar, dass er auf ein Abendessen mit ihm gehofft hatte, eine Mahlzeit ohne Lebensmittelkarte. Er überreichte Alex einen Umschlag. »Hier sind alle Papiere drin, die Sie benötigen. Ausweis, Mitgliedskarte für den Kulturbund – das Essen dort ist übrigens ausgezeichnet. Nur für Mitglieder, verstehen Sie.«

»Dann gibt es keine hungerleidenden Künstler?«

Ein Scherz, aber Martin sah ihn verständnislos an.

»Hier hungert keiner. Also morgen gibt es einen Empfang für Sie. Beim Kulturbund. Um vier Uhr. Es ist nicht weit, gleich um die Ecke, ich werde Sie um halb vier abholen.«

»Das ist nicht nötig. Ich kann selbst …«

»Ich mache das gern«, sagte Martin. »Kommen Sie.« Er forderte den Fahrer mit einem Nicken auf, die Koffer reinzutragen.

Der noch funktionsfähige Teil des Adlon lag hinten, am Ende eines Wegs, der durch das ausgeweidete Vordergebäude führte. Das Personal begrüßte ihn mit gestelzter Höflichkeit, indem es sich verneigte, ein surrealer theatralischer Effekt, passend zu ihren Uniformen und Cutaways. Durch eine Tür fiel sein Blick auf das gestärkte Leinen auf den Esstischen. Keiner schien die verkohlten Balken, die verrammelten Fenster zu bemerken.

»Alex?« Eine heisere Frauenstimme. »Mein Gott, dass wir uns hier begegnen.«

Er drehte sich um. »Ruth. Ich dachte, du seist nach New York gegangen.« Nicht nur nach New York gegangen, sondern dort auch ins Krankenhaus eingeliefert worden, des Zusammenbruchs wegen, von dem man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte.

»Ja, aber jetzt bin ich hier. Brecht braucht mich hier, also bin ich gekommen.«

Da hob Martin den Kopf.

»Verzeihung«, sagte Alex und stellte sie einander vor. »Ruth Berlau, Martin …«

»Schramm. Martin Schramm.« Er machte einen Diener.

»Ruth ist Brechts Assistentin«, sagte Alex und lächelte. »Seine rechte Hand. Mitarbeiterin.« Geliebte. Zermürbt von ihrer Hintertreppenliaison, wozu ihm die tränenreichen Nachmittage im Haus der Schauspielerin Salka Viertel an der Mabery Road einfielen.

»Seine Sekretärin«, stellte Ruth Martin gegenüber klar, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt von Alex’ Worten.

»Ich bewundere Herrn Brechts Arbeit sehr«, sagte Martin, und es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte die Hacken zusammengeschlagen, ein Schleimer.

»Er auch«, erwiderte Ruth so trocken, dass Alex nicht wusste, ob er lachen durfte.

Sie wirkte kleiner, zerbrechlicher, als hätte der Krankenhausaufenthalt an ihr gezehrt.

»Du wohnst hier?«, fragte er.

»Ja, gleich den Flur entlang. Neben Bert.«

Ohne Helene Weigel, seine Frau, zu erwähnen, die dort mit ihm wohnte, die Geografie der Untreue. Alex malte sich aus, wie die Frauen einander in der Lobby begegneten und beäugten, was schon Jahre so ging.

»Natürlich in einem kleineren Zimmer. Nicht wie das des großen Künstlers.« Ein ironisches Lächeln, Dienstbotenquartiere waren ihr vertraut. »Man wird ihm ein Theater geben, weißt du. Ist das nicht fantastisch? Für alle seine Stücke, was immer er machen möchte. Als Erstes inszenieren wir Mutter Courage. Am Deutschen Theater. Ihm hat das Theater am Schiffbauerdamm vorgeschwebt, aber das kommt vielleicht später. Doch das Deutsche Theater ist gut, die Akustik …«

»Wer spielt die Courage?«

»Helene«, lautete ihre knappe Antwort. Jetzt außer Brechts Ehefrau auch noch sein Star. Alex dachte an die vergeudeten Jahre im Exil, wo sie ihm den Haushalt führte und über die Geliebte hinwegsah, eine Schauspielerin ohne ihre Sprache. »Du musst ins Theater kommen. Sie freut sich sicher, dich wiederzusehen. Du weißt schon, dass Schulberg hier ist?« Sie wollte plaudern, über ihre gemeinsame Zeit in Kalifornien. Sie riss den Kopf herum. »In der Armee. Drüben im Westen. Ein Glück für uns. Fresspakete aus dem PX – er ist sehr großzügig.« Alex spürte, wie Martin sein Gewicht verlagerte, sich unwohl fühlte. »Natürlich nicht für Bert. Er bekommt alles, was er möchte. Aber die Schauspieler, die sind immer hungrig. Also besorgt Helene Essen für sie. Stell dir vor, was sie sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie Essen für die Weigel einfliegen?« Sie blickte zu ihm hoch, als wäre ihr gerade was durch den Kopf gegangen. »Erzähl mir doch, was vor dem Komitee passiert ist? Hast du ausgesagt?«

»Nein.«

»Aber es gab eine Vorladung?« Eine Frage mit anderer Bedeutung.

Alex nickte.

»Also«, sagte sie und sah versonnen durch die Lobby, nachdem sein Hiersein eine Erklärung gefunden hatte. »Dann kannst du nicht zurück.« Und noch etwas schien ihr einzufallen, denn ihr Blick richtete sich auf den Raum hinter ihm. »Marjorie ist nicht bei dir?«

Alex schüttelte den Kopf. »Sie reicht die Scheidung ein.« Er hob abwehrend die Hand. »Das hätten wir schon vor Jahren tun sollen.«

»Aber was wird aus Peter? Du warst doch so eng mit ihm …«

»Er wird mich besuchen kommen«, sagte Alex, um sie zu stoppen.

»Aber er bleibt bei ihr«, setzte sie hartnäckig nach.

»Ja, so wie die Dinge liegen …«

»Du als Flüchtling meinst du. Genau das wollen sie – uns alle jagen wie Flüchtlinge. Nur Bert war zu gewitzt für sie. Verstehst du? Keiner hat verstanden, was er sagte. Dummköpfe. Und weißt du was? Sie bedankten sich bei ihm für seine Aussage. Das konnte nur er. Er hat sie übertölpelt.«

»Aber gegangen ist er trotzdem.« Hat auch die Brücken hinter sich abgerissen. »Und jetzt sind wir beide hier«, sagte Alex und sah sie an.

»Wir sind so froh, unsere Schriftsteller wieder hier zu haben«, sagte Martin, ehe sie darauf eingehen konnte. »Eine wunderbare Sache, nicht wahr? Wieder im eigenen Land zu sein. Ihrer eigenen Sprache. Wenn man bedenkt, was das für einen Schriftsteller bedeutet.«

Da hob Ruth den Blick und trat dann den Rückzug an wie ein scheues Tier, das seinen Kopf durchs Gebüsch steckte und kurz darauf vor der Witterung in der Luft davonjagte.

»Ja, und ich rede hier, und du möchtest bestimmt auf dein Zimmer.« Sie legte ihre Hand auf Alex’ Arm. »Besuch uns mal.« Aber wen genau? Brecht und Ruth, oder alle drei? Ein hoffnungsloses Kuddelmuddel. Sie lächelte verlegen. »Er ist glücklich hier, weißt du. Das Theater. Ein deutsches Publikum. Das ist für ihn das Höchste.« Jetzt glänzten ihre Augen ein wenig, die Freude einer Dienerin. Seltsamerweise der gleiche Blick, den er an Martin gesehen hatte, beide verzaubert von einer Idee, die ein Opfer wert zu sein schien.

»Das werde ich tun«, sagte er, dann fiel ihm die Reisetasche zu ihren Füßen auf. »Aber du gehst fort?«

»Nein, nein, nur nach Leipzig. Sie wollen dort Leben des Galilei aufführen. Bert denkt nicht, dass sie es ernst damit meinen, aber jemand muss hinfahren. Für ein, zwei Tage. Das geht in Ordnung, mein Zimmer hier ist mir sicher. So etwas lässt sich nicht per Post regeln. Man muss selbst vorbeischauen.« Also tut es jemand.

In seinem Zimmer im dritten Stock hingen die Verdunkelungsvorhänge noch immer schwer zu Boden, und der Laufbursche, gerade mal im Teenageralter, zog sie mit theatralischer Geste zu und zeigte ihm dann, wo die Lichtschalter und für den Fall eines Stromausfalls die Kerze und die Streichhölzer waren. Er deutete mit dem Kopf auf die Kofferablage mit seinem einen Koffer.

»Erwarten Sie mehr Gepäck?«

»Heute Abend nicht mehr. In ein paar Tagen.« Der Rest seines Lebens, der irgendwo auf einem Abstellgleis stand und darauf wartete, dass die neue Wohnung fertig war. Aber warum war sie das nicht? Nachdem er nun die Stadt gesehen hatte, sagte er sich, dass Wohnungen hier sicherlich von der Partei als Belohnungen vergeben wurden. Sie war nicht fertig, weil sie noch bewohnt war und jemand dort packte, um dann woandershin abgeschoben zu werden, so wie man auch den Juden erklärt hatte, dass sie fortmussten.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?« Eine Flasche aus dem Keller, ein Mädchen, die üblichen nächtlichen Dienste eines Laufburschen, jetzt aber ohne Augenzwinkern angeboten, im Arbeiterstaat waren Laster aus der Mode gekommen, und der Junge war selbst noch zu jung, um den alten Code zu kennen. Vielleicht hatte er zu den Jungs gehört, die die Stadt während der letzten Tage an der Panzerfaust verteidigt hatten. Und wartete jetzt auf ein Trinkgeld.

»Oh«, sagte Alex und griff nach einem der Umschläge von Martin mit seinem Handgeld. Er reichte dem Jungen einen Schein.

»Verzeihung, haben Sie vielleicht Westwährung?« Dann, fast stammelnd: »Ich meine, Sie kommen doch von dort.«

»Tut mir leid. Ich bin über Prag eingereist. Keine Westmark. Nur die hier.«

Der Junge sah ihn an. »Keine Mark. Haben Sie einen Dollar?«

Alex hielt überrascht inne. Die Kontaktzeile, früher als erwartet. Nicht einmal ein Tag zum Eingewöhnen. Der Junge starrte ihn noch immer an. Nun sprach er doch einen Code, ein neues Laster, wofür er nicht zu jung war. Oder bildete Alex sich das alles nur ein?

Er zückte seine Brieftasche und reichte dem Jungen die gefaltete Dollarnote, verfolgte, wie der Junge sie betrachtete und dann zurückgab.

»Sie sind aus Berlin? Von früher?«

Alex nickte.

»Sie haben sicherlich Interesse daran, Ihre alte Wohnung wiederzusehen? Aus Neugier. Das ist oft das Erste, was jemand tun möchte. Jemand, der fort gewesen ist.«

»Lützowplatz«, sagte Alexander und wartete ab.

Jetzt nickte der Junge. »Im Westen«, sagte er und hatte dabei schon eine andere Stadt im Sinn. »Sie können zu Fuß dorthin. Durch den Park. Am Morgen.« Anweisungen. »Zeitig. Vor acht Uhr, wenn Sie da schon wach sind.«

»Gibt es kein Problem beim Übergang?«

Der Junge sah ihn einen Moment lang verdutzt an. »Problem? Wenn man im Tiergarten spazieren geht?«

»Wenn man in den anderen Sektor wechselt.«

Der Junge lächelte fast. »Das ist bloß eine Straße. Manchmal halten sie ein Auto an. Um es auf Ware vom Schwarzmarkt zu kontrollieren. Aber keinen, der im Park spazieren geht.« Nach einer Pause: »Früh«, wiederholte er. »Und jetzt gute Nacht.« Er streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie. Die Ostmark? Da Sie kein Westgeld haben. Vielen Dank«, sagte er, umschloss den Schein mit den Fingern und wich zur Tür zurück, eine einstudierte Bewegung, wie es sich im Adlon gehörte. Aber hatte er auch eine Ahnung davon, was er getan hatte? Nur eine Nachricht übermittelt, ein Trinkgeld eingesteckt, keine Fragen gestellt. Oder steckte mehr dahinter, war er bereits ein Teil davon?

Alex zog seinen Mantel aus und legte sich aufs Bett; zu müde, um sich zu entkleiden, starrte er auf den funzeligen Kronleuchter über ihm. Man hatte ihn instruiert, dass Wanzen sich mit größter Wahrscheinlichkeit in Telefonen und Beleuchtungskörper befanden. Hatte der Kronleuchter sie belauscht? Er ging alles noch mal durch, was der Junge gesagt hatte und wie sich das angehört haben musste. Aber was könnte unschuldiger sein als ein Spaziergang im Park?

In der Stille konnte er die Flugzeuge wieder hören, gedämpft, als würde er sie aus den Tiefen eines der Hotelbunker vernehmen. Mit Sicherheit hatte es Gäste gegeben, die diese im Pelzmantel aufsuchten, aus Sorge, ihr Zimmer könnte verschwunden sein, wenn es Entwarnung gab. Konnte man tatsächlich das Feuer hören, die direkt über einem an den Wänden züngelnden Flammen? Dann wurde aus dem Bunker die Zelle in Oranienburg, nicht die Baracken, die Vernehmungszelle, stickig, der alte Albtraum, und um Atem ringend zwang er sich, die Augen zu öffnen, und trat dann ans Fenster.

Wozu die Verdunkelungsvorhänge, wozu im Dunkeln leben? In Kalifornien konnte man die Fenster offen lassen, fühlte sich nie eingesperrt. Er schob die schweren Vorhänge auseinander und spürte dann den ersten kalten Luftzug, der eindrang. Und doch war das besser, als in einer Gruft zu leben. Alles besser als das.

Man hatte einen Blick hinaus auf den Hof, die Trümmerberge, die früher die Wilhelmstraße gleich zur Linken gewesen waren, vor ihm ein leerer Streifen Brachland, kaum zu erkennen im Mondlicht. Der neue Ausblick vom Adlon. Vielleicht war das der Grund für die Vorhänge. Drinnen eingesponnen konnte man sich noch immer die Ministerien vorstellen, die sich in würdiger Beständigkeit aneinanderreihten, und sah nicht die tatsächlich vorhandene Geisterstadt, ein schwaches Aschgrau im trüben Licht.

Wie es auch am Lützowplatz aussehen würde. Die Welt seiner Kindheit gehörte bereits der Vergangenheit an, den alten Fotografien. Fahrräder am Landwehrkanal, Nachmittage im Park, Tante Lottes betuliche Besuche – man rechnete nicht damit, dass irgendwas davon überlebt hatte. Dinge veränderten sich. Autos auf den Fotos hatten was Komisches. Aber jetzt war die Stadt selbst nicht mehr, die Straßen ebenso wenig, nicht aus dem Gedächtnis getilgt, sondern aus der Zeit, die noch stehenden Ruinen, die zurückgelassenen Knochen, Aas.

Und auch er war gekommen, um sich daran zu weiden, ein guter Fang, bereits erjagt, der Handel, auf den er sich hatte einlassen müssen. Tu, was sie von dir verlangen. Und was wäre das? Doch nicht nur ein Spaziergang im Park. Er lag da, der Raum wurde immer kälter, und er sah Ruths wachsame Augen. Hast du ausgesagt? Im Exil lernte man zurechtzukommen, etwas so Verstiegenes wie Prinzipien konnte man sich da nicht mehr leisten. Es war eine Lektion, die er in all den Jahren gelernt zu haben glaubte, dann aber in einer kopflosen Weigerung über den Haufen geworfen worden war. Hätte es etwas ausgemacht, wenn er ihnen die Namen genannt hätte, die sie ohnehin schon hatten? Wenn er sich für die praktische Lösung entschieden und mit dem Komitee zusammengearbeitet hätte? Aber man hatte ihm keinen Handel angeboten, damals nicht. Und er kannte die Gesichter, in die er blickte, von früher, als sie Nazis gehört hatten, das breite Grinsen, die gleichen herrischen Stimmen, und er konnte es nicht tun. Ein Akt der Geringschätzung, Ursache der Deportation, und dann ein neuer Handel, einer, von dem das Komitee nichts erfahren würde.

»Das ist perfekt«, hatte Don Campbell gemeint, als sie sich in Frankfurt trafen. »Sie haben dem Komitee gesagt, es solle sich verpissen? Das hat nicht mal Brecht gewagt. So viel also zu linken Referenzen. Die Russen würden nie vermuten … Perfekt …«

»Perfekt«, hatte Alex monoton geantwortet.

»Und die wollen Sie. Sie glauben, sie reinzulegen, indem sie Sie drankriegen.«

»Aber ich lege sie rein«, erwiderte Alex ausdruckslos.

Don sah ihm in die Augen. »Richtig. Die Russen werden reingelegt. Und das Komitee wird ebenfalls reingelegt. Arbeiten Sie mit uns, wir sorgen dafür, dass Sie wieder zurückkommen. Neue Papiere der USA.« Er nickte. »Garantiert. Uncle Sam kümmert sich um die Seinen.« Und nach einer Pause. »Und Sie sehen Ihr Kind wieder.«

Das Schlussplädoyer, warum es perfekt war, Alex’ Fesseln.

»Wie lange werde ich das machen müssen?«

»Man wird Ihnen Privilegien einräumen«, erwiderte Don, ohne auf die Frage einzugehen. »Das machen sie bei Schriftstellern. Als wären sie Filmstars. Zusätzliche Vergünstigungen.«

»Was?«

»Essenspakete. Zusätzlich. Sie werden sie auch brauchen.« Er senkte die Stimme. »Warten Sie nur, bis Sie es sehen. Das sozialistische Paradies.«

»Ich bin Sozialist«, entgegnete Alex und verzog den Mund dabei. War es vor fünfzehn Jahren, bevor ihn das Leben völlig aus der Bahn geworfen hatte. »Ich glaube an eine gerechte Gesellschaft.«

Don sah ihn verdutzt an, fing sich dann aber wieder. »Deshalb sind Sie dafür ja auch perfekt geeignet.«

Er tauchte mit geschlossenen Augen, aber noch immer wachem Geist in einen Halbschlaf ein und ließ den langen Tag noch mal Revue passieren, die Begrüßungsrede des Bürgermeisters, das Posieren für Neues Deutschland, und jetzt musste er noch den morgigen Empfang überstehen und dann all die Tage, die darauf folgten. Sein Foto wäre in den Zeitungen. Irene würde erfahren, dass er hier war, sofern sie noch lebte. Aber warum sollte sie? Irgendeiner von ihnen? Sie haben noch immer Familie in Deutschland?, hatte Martin ihn gefragt. Der Tod seiner Eltern war jedenfalls bestätigt worden.

»Wir mussten überprüfen, ob noch jemand von Ihren Leuten übrig ist«, hatte Don ihm erklärt. »Die Russen machen sich das oft zunutze. Sofern die Familie in ihrer Zone lebt.«

»Inwiefern zunutze?«

»Druck. Köder. Eine Vergewisserung, dass man kooperiert.«

»Na so was«, erwiderte Alex.

Don sah ihn an. »Aber das ist hier nicht der Fall. Wir haben die Akten. Sie sind beide tot, Ihre Mutter, Ihr …«

»Das hätte ich Ihnen auch sagen können.«

»Wir gehen gern auf Nummer sicher.«

»Ich hatte eine Tante. Lotte. Sie heiratete in eine nichtjüdische Familie ein und könnte also …«

»Ich würde mir da keine großen Hoffnungen machen.« Er holte einen Stift heraus. »Wie hieß sie nach der Heirat? Ich kann anhand der OMGUS-Akten eine Anfrage stellen.«

»Von Bernuth.«

Don zog eine Braue hoch. »Tatsächlich? Von?«

»Tatsächlich. Den Titel bekamen sie eigenhändig von Friedrich Wilhelm verliehen. Nach der Schlacht von Fehrbellin.« Als er Dons ausdruckslosen Blick sah, ergänzte er: »Es ist ein alter Name.«

»Wie schön. Reiche Verwandte.«

Alex lächelte. »Nicht mehr. Sie haben das ganze Geld durchgebracht. Vermutlich auch das von Lotte.«

»Wo war das? In Berlin?«

Alex nickte. »Und in Pommern. Dort hatten sie Landbesitz.«

Don schüttelte den Kopf. »Die Kommunisten haben die großen Landgüter allesamt zerstört. Wenn sie noch am Leben ist, dürfte sie im Westen sein. Viele von ihnen sind danach weggegangen.«

»Das würde die Suche nach ihr erleichtern.«

»Erleichtern. Versuchen Sie mal, Unterlagen in diesem …«

»Aber falls Sie auf irgendetwas stoßen … auf irgendeinen von ihnen …« Er fing Dons Gesichtsausdruck ein. »Ich kannte die Familie.«

»Aber Sie sind nicht mit ihr verwandt. Nur mit der Tante.«

»Das ist richtig, nur mit der Tante.«

Nicht verwandt. Alles andere schon.

Aber über Lotte war nichts herauszufinden. Der alte Fritz war gestorben, und in Erichs Militärakte stand, dass er in Russland in Kriegsgefangenschaft geraten war, was vermutlich dasselbe besagte. Aber Irene und Elsbeth waren verschwunden. Der endgültige Untergang, selbst den Namen gab es nicht mehr.

Elsbeth war diejenige gewesen, die sich um die Ahnenforschung der Familie gekümmert hatte, in einem großen ledergebundenen Buch, das im Landhaus auf einer Anrichte lag.

»Die Taufurkunden reichen zurück bis ins dreizehnte Jahrhundert«, hatte sie mit dem Stolz der Verwalterin verkündet.

»Aha«, hatte Irene daraufhin gesagt, »und was haben sie getan? Sich besoffen und Rüben gepflanzt. Wozu soll das gut sein?« Sie begleitete ihre Worte mit einer Geste, die auf die flachen, bis zur Ostsee reichenden Felder verwies. »Es bleiben Rüben. Rüben und Rüben. Bauern.«

»Was ist so schlecht an Bauern? Du solltest stolz sein«, sagte der alte Fritz.

»Außerdem erledigen die Polen die ganze Arbeit. Keiner in dieser Familie hat je etwas gearbeitet.«

Und griff dabei träge nach ihrer Limonade und lehnte sich in ihren Liegestuhl zurück, wie um sich selbst als lebenden Beweis zu präsentieren. Es war einer jener Sommernachmittage, an denen die Luft stand und statt des Geruchs des Meeres nur jener der brütenden Felder herangetragen wurde. Irene in kurzen Hosen, das lange Bein aufgestellt, ein Dreieck bildend.

»Nun, jetzt ist deine Chance gekommen, etwas zu tun«, erwiderte der alte Fritz, der bereits beim Bier war. »Anstatt mit dem Pöbel herumzuhängen. Drogenabhängigen. Weichlingen. Jede Nacht unterwegs zu sein.«

Irene rümpfte die Nase, die Klage war alt und hatte keine Antwort verdient. »Aber ich wohne noch immer zu Hause.«

»Natürlich wohnst du zu Hause. Ein Mädchen, das noch nicht verheiratet ist.«

»Was soll ich also tun? Vielleicht Traktor fahren?«

Alex musste lächeln, als er sie sich auf dem hohen Sitz vorstellte, das Haar zur Krone geflochten wie der Inbegriff einer Arbeiterin auf einem russischen Plakat. Frauen mit Schraubenschlüsseln, die Ärmel aufgekrempelt. Nicht lässig damit beschäftigt, sich die Fußnägel zu lackieren, wie sie das vor Kurzem getan hatte, jeder Pinselstrich eine Einladung, wenn sie aufblickte und ihn ansah, selbst der Nagellack nunmehr ein Geheimnis zwischen ihnen.

Dies war der Sommer der Sinnlichkeit gewesen, pollenschwer hatte der Sex in der Luft gehangen. Das erste Mal, bei dem jeder Kerl sich wie ein Eroberer fühlt, wie ein Produzent in Kalifornien ihm einmal erklärt hatte, aber so hatte es sich nicht angefühlt. Eher wie ein heiteres Schwindelgefühl, von dem er befürchtete, dass man es ihm ansah, eine Hitze, die von seiner Haut abstrahlte und sie rötete, wie bei einem Sonnenbrand. Die verstohlene Freude, in ein Geheimnis eingeweiht zu sein, von dem kein anderer zu wissen schien. Die Leute taten einfach das, was sie schon immer getan hatten. Als hätte sich nichts verändert.

Keiner hegte einen Verdacht. Nicht Erich, nicht der alte Fritz, nicht mal Elsbeth, die sonst über die kleinsten Veränderungen von Irenes Stimmungslage Bescheid wusste. Das Risiko, erwischt zu werden, gehörte zum Sex dazu. Ihr Zimmer bei Nacht, bemüht, kein Geräusch zu machen, Keuchlaute an seinem Ohr. Auf der Treppe die zufällig erlauschten Schritte eines Dienstmädchens. Ein Außengebäude des Gehöfts, Modergeruch, kratziges Heu. Hinter den Dünen, nackt in der steifen Brise, Erich nur wenige Meter von ihnen entfernt am Ufer, den Wind in den Ohren, sodass er Irenes Keuchen, ihre Erlösung nicht hören konnte. Ihr ihm völlig geöffneter Körper, den er überall mit seinem Mund erforschte und doch nicht genug bekommen konnte. Nicht in jenem Sommer, als sie beide sextrunken waren.

»Tun? Du könntest Karl Stolberg heiraten. Das wäre mal eine Tat. Die Stolbergs haben weit über vierzigtausend Hektar.«

»Oh, warum nicht gleich einen von Arnim? Die haben noch mehr. Das Doppelte.«

»Es gibt keinen von Arnim im passenden Alter«, erwiderte Fritz, ohne auf die Frotzelei einzugehen.

»Dann werde ich eben warten«, sagte Irene.

Fritz entgegnete schnaubend: »Glaubst du etwa, ein Mädchen habe ewig Zeit, um das zu entscheiden?«

»Wer braucht überhaupt mehr Land? Warum bietest du mich nicht auf einer Auktion feil? Um an Geld zu kommen. Gute pommersche Abstammung. Unberührt.« Ein an Alex gerichtetes verschlagenes Lächeln. »Wie viel für eine Brautnacht?«

»Wie kannst du nur so reden, Irene?«, schaltete sich Elsbeth schmallippig ein. »Mit Vater.«

Aber nur die prüde und den Konventionen verhaftete Elsbeth fühlte sich angegriffen, nicht Fritz, der einen Schlagabtausch mit Irene genoss, einer Tochter, die aus demselben groben Holz geschnitzt war wie er.

»Dann wollen wir mal hoffen, dass er keinen Beweis verlangt«, sagte Fritz. »Unberührt.«

»Papa«, tadelte Elsbeth.

»Also das Warten wäre es wert. Auf einen von Arnim«, sagte Irene, die sich in ihrer Rolle gefiel. »Aber – ich weiß nicht – vielleicht auch wieder nicht. Die von Bernuths heiraten nur aus Liebe. Hab ich nicht recht? So wie du und Mama.«

»Das war was anderes.«

»Ja? Wie viele Hektar hat sie mitgebracht?«

»Mach dich nicht lustig über deine Mutter.«

Eine Frau, die Alex immer nur in demselben langen Rock, mit hochgesteckten Haaren, gehalten von einem Schildpattkamm, in Erinnerung hatte, eine wilhelminische Gestalt, deren Lebensinhalt der Haushalt war – ausgedehnte reichhaltige Mahlzeiten, Bohnern und Staubwischen –, als hätte sich vor den schweren Eingangstüren nichts getan und der Kaiser säße noch immer auf seinem Platz, und vor dem wütenden Lärmen auf der Straße verschloss man besser die Ohren – eine vorpolitische Zeit.

»Ich kann auch eine Spurensuche über CROWCASS laufen lassen«, hatte Campbell vorgeschlagen.

»Was ist das denn?«

»Registrierung von Kriegsverbrechern. Überführt. Verdächtigt.«

»Nein. So waren sie nicht.«

»Wenn Sie das sagen. Keiner war das, jetzt nicht mehr. Sie brauchen sie nur zu fragen.«

Alex schüttelte den Kopf. »Sie kennen sie nicht. Sie lebten in ihrer eigenen Welt. Fritz – ich glaube nicht, dass der jemals eine Idee in seinem Kopf gehabt hat. Außer Vögel schießen und den Dienstmädchen hinterherjagen.«

»Vögel schießen?«

»Wildvögel. Und Wild. Jagen. In jenem Teil der Welt ist das eine große Sache. War es jedenfalls.«

Die Hausfeste, lange kalte Tage auf den Feldern, die Treiber vorneweg, dann aufgescheuchte Vögel, die durch die Bäume brachen, gelbe Birken vor dunkelgrünen Fichten. Davor die für die Fotos in Reih und Glied ausgelegte Tagesbeute, Freudenfeuer, Sektflaschen, Dinner, die den ganzen Abend dauerten. Manchmal eine Einladung weiter nach Osten, in die dichten Wälder Ostpreußens, Wildschweine.

»Haben Sie nicht gesagt, dass sie bankrott waren?«

»Gast zu sein, kostet nichts – sie gehörten zu einer der alten Familien. Außerdem hatten sie dafür noch genug.« Er sah Don an. »Ihm war Hitler egal, jedem von ihnen. Über Politik wurde nicht gesprochen.«

Bis es das alles beherrschende Thema war, die vergiftete Luft, die jeder unvermeidlich einatmete, selbst an der Tafel befand man sich im Belagerungszustand.

»Ich dulde das nicht in diesem Haus«, sagte Fritz. »Dieses Gerede. Bolschewiken.«

»Bolschewiken«, widersprach Erich daraufhin, weil man sich über das Gepolter seines Vaters inzwischen allgemein lustig machte. »Wir sind hier nicht in Russland.«

»Was sind sie dann? Randalierer? Vielleicht bevorzugst du Randalierer. Otto Wolff und der Rest von deiner Bande. Sozialisten. Was heißt das überhaupt – Sozialisten? Kurt Engel. Ein Jude …« Er unterbrach sich, weil er wusste, dass Alex weiter unten am Tisch saß. »Straßenkämpfer. Davon hatten wir nach dem Krieg genug. Spartakisten. Diese Frau Luxemburg. Natürlich tot. Wie sollte sie auch sonst enden?«

»Wir kämpfen nicht auf der Straße«, erwiderte Erich mit übertriebener Nachsicht. »Die Nazis kämpfen.«

»Und schlagen Schädel ein. Deinen auch, wenn du nicht aufpasst, und was dann? Politik.« Er spuckte das Wort fast aus. »Ich will keinen Ärger. Nicht in diesem Haus.« Er wollte seine Frau mit dem Schildpattkamm, das gekochte Rindfleisch mit Meerrettichsoße und zum Nachtisch Kaiserschmarrn, das Leben so, wie es gewesen war. Er sah Erich an. »Du hast Verpflichtungen.«

»Dann geh und steck meinen Kopf in den Sand. Wie viel Platz mag da unten wohl sein, wo du deinen hineinsteckst?«

»Bolschewiken. Und wie, glaubst du, wird das enden? Keine Eigentumsrechte mehr, das sag ich dir.«

»Keine Sorge«, warf Irene ein, »bis es so weit ist, werden wir kein Eigentum mehr haben … Was ist da der Unterschied?«

»Quatsch«, erwiderte Fritz nun tatsächlich wütend.

»Nun, wie viel ist noch übrig? Dieses Haus, gut, Berlin, aber das Land? Ich weiß, dass du es verkauft hast. Du glaubst, dass es keiner weiß, aber alle reden darüber. Wie viel ist noch übrig?«

»Genug, um euch durchzufüttern. Wohin, glaubst du, verschwindet das Geld? Denkst du, deine Kleider sind umsonst? Essen?« Seine Hand wischte über den langen Tisch mit den silbernen Tranchiermessern.

»Nein. Also ist es für uns. Nicht für die Kartenspiele. Die Frauen, die du …«

»Irene«, sagte Elsbeth.

»Ach, was macht das schon? Mutter ist tot. Und alle wissen Bescheid.«

»Sprich du mit ihnen, Alex«, sagte Fritz plötzlich verlegen und wurde unruhig. »Wie kann jemand an diesem Tisch aufseiten der Bolschewiken sein? Ergibt das einen Sinn? Sie bringen Leute wie uns um.«

»Aber was ist die Alternative?«, antwortete Alex leise. »Die Nazis? Die werden vorher alle umbringen.«

»Hindenburg wird diesen Mann nie akzeptieren. Von Papen …«

»Hat keinen hinter sich.«

»Ich versichere es euch. Er wird ihn niemals akzeptieren.«

»Oh, und du weißt das?«, sagte Erich. »Von deinen Freunden im Klub?«

»Er muss eine Regierung bilden«, sagte Alex.

»Nicht mit den Kommunisten. Oder den Sozialisten.«

Alex sah ihn an. »Dann hast du deine Wahl schon getroffen.«

»Ich habe keinen von denen gewählt«, erwiderte Fritz erschöpft. »Sie sind alle …« Er wandte sich an Erich. »Du wirst schon sehen. Die sind alle gleich. Halt dich raus. Zieh den Kopf ein.« Das war auch der Rat von Alex’ Vater gewesen, sich einigeln.

Er schlug die Augen auf. Ein Geräusch, dann wieder Stille. Es waren nicht die Flugzeuge, die noch immer in der Ferne brummten. Näher, im Flur. Schritte. Er lauschte, hielt die Luft an. Wo hatten sie angehalten? Direkt vor seiner Tür? So wie er nach Oranienburg auch immer gelauscht hatte, ein Ohr der Tür zugekehrt, selbst wenn er schlief. Es war mitten in der Nacht. Nein, vor dem Fenster draußen wurde es bereits ein wenig hell. Noch nicht Morgen, aber auch nicht mehr Nacht. Dann setzten die Schritte wieder ein, weich, wollten nicht gehört werden. Er stand auf, ging zur Tür und lauschte.

Aber warum sollten sie ihn um diese Stunde aushorchen? Welchen Verdacht hatten sie? Wir wollen nur Informationen, hatte Don gesagt. Jemand, der die Ohren offen hält. Für Sie besteht keine Gefahr. Wenn Sie Vorsicht walten lassen. Sich absichern. Vorsicht wovor? Vor Leuten, die an Türen lauschen. Im Flur war es still. Alex drehte den Türknauf und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Ein trübes Nachtlicht, der Korridor leer. Aber jemand war dort gewesen. Dann sah er die Schuhe vor der Tür nebenan, frisch geputzt, der Service des Adlon, selbst in den Ruinen. Er lehnte sich an den Türpfosten und kam sich albern vor. Aber es hätte auch jemand anderer gewesen sein können.

Und jetzt war er auf, ruhelos, der Raum engte ihn wieder ein. Wenn er sich hinlegte, kämen die Träume zurück, die eigentlich keine waren, eher Bruchstücke seines Lebens, die hier noch in der Luft schwebten. Er könnte sich umziehen, ein Bad nehmen, aber er wollte jetzt kein Wasser laufen lassen und riskieren, dass die Rohre schepperten und jeder wusste, dass er auf war. Wenn er sich eins wünschte, und sei es nur für eine Weile, dann unsichtbar sein, jemand, den keiner sehen konnte. Ein Geist unter vielen.

Er schlüpfte in seinen Mantel und ging den Flur entlang, so leise wie der Schuhputzjunge, immer auf dem Teppichläufer. Die Lobby war verwaist, bis auf den Nachtportier, der halb schlief und auf dessen überraschten Blick Alex reagieren musste, bevor er für ihn die Tür entriegelte.

»Ich konnte nicht schlafen. Ich werde einen Spaziergang machen.«

»Einen Spaziergang«, sagte der Portier. »Das ist nachts nicht sicher. Wegen der Flüchtlinge. Ich weiß, sie haben schwere Zeiten hinter sich, aber dennoch …«

Alex warf einen Blick auf die verlassene Straße. »Es wird bald hell sein.«

»Die Jugendlichen sind schlimmer. Man denkt, Kinder, und schon stürzen sie sich auf einen. Mich haben sie ausgeraubt. Mich.«

Alex nickte und schielte auf das Türschloss.

»Die Friedrichstraße dürfte sicher sein. Die Polizeiwache ist besetzt, deshalb halten die Banden sich fern. Aber in den Park sollten Sie um diese Uhrzeit nicht gehen.« Die Hand noch an der Tür, wartend. Besorgt um Alex’ Sicherheit, oder ging es um etwas, was er später in einen Bericht schrieb? Der Nachtportier im Adlon sah Dinge, war eine nützliche Quelle. Alex schaute ihn an. Also wohin? Und plötzlich wusste er es.

»Ich möchte nachsehen, ob noch etwas übrig geblieben ist.«

Draußen warf er einen Blick über den Platz auf das eingerüstete Brandenburger Tor ohne Quadriga und bog dann rechts ab Richtung Wilhelmstraße. Straßen, die er selbst im Dunkeln wiederfinden würde. Er könnte geradeaus zu Hitlers Reichskanzlei laufen und dort kurz schadenfroh verweilen. Du hast nicht gewonnen, am Ende nicht. Aber wer hat das? Jetzt, wo alles in Schutt und Asche lag.

Stattdessen lief er in östlicher Richtung über die Französische Straße zum Gendarmenmarkt, wo beide Kirchen nur noch Ruinen waren, das Konzerthaus zerstört, und nur ein frei geräumter Pfad durch den Trümmerhaufen führte. Angesichts dessen fragte er sich, wie das Haus das hatte überstehen können. Aber er ging jetzt schneller, denn vielleicht hatte es das ja. Immer wieder war ein Gebäude verschont geblieben, als hätten die Flammen es einfach übersprungen. Das Postamt an der Französischen Straße hatte es überlebt. Warum nicht auch ein Stadthaus, das versteckt in einer Seitenstraße lag und dessen pompöse Architektur wenigstens solide war, gebaut für die Ewigkeit. Aber als er den Hausvogteiplatz erreichte, verließ ihn die Zuversicht. Jedes Gebäude an diesem Platz schien getroffen worden zu sein, der kleine Park in der Mitte war nun ein riesiges gähnendes Loch. Dort, wo die U-Bahn-Station gewesen war. Er trat an den Rand, ohne auf die Warnschilder zu achten, die im morgendlichen Dämmerlicht sichtbar waren. Warum hatte man diese offene Wunde nicht wenigstens zugedeckt? Leute könnten reinfallen. Die geringste ihrer Sorgen. Weg vom Platz, der eigentlich ein Dreieck war, dann in die Kleine Jägerstraße, nur einen Katzensprung von der Niederwallstraße entfernt, nicht mal einen ganzen Häuserblock lang, ein paar alte Häuser und das Haus der von Bernuths. Noch immer da.

Er drang weiter vor in die kleine Straße. Nicht mehr alles. Das Dach fehlte, und fast das ganze Innere war ausgeweidet, aber die großen alten Eingangstüren waren intakt, und durch einen weggesprengten Teil der Fassade konnte er die große Treppe sehen, die von ihrer Stützmauer herabhing und nirgendwo mehr hinführte, denn der zweite Stock lag unter freiem Himmel. Die einst mit Gas betriebenen Leuchter entlang der Wand im Treppenhaus waren noch an ihrem Platz, auch versengte Fetzen Tapete mit dem vertrauten Muster, das nun den Blicken der Straße ausgesetzt war, bar aller Privatheit, eine Frau, der man die Kleider vom Leib gerissen hatte.

Alex starrte minutenlang darauf und begab sich dann zu dem Trümmerhaufen auf der anderen Straßenseite, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Das Haus der von Bernuths. Keine dicken Teppiche und kein Mahagonischnitzwerk mehr, vermutlich zu Asche zerfallen. Ob sie das Silber oder eins der Gemälde von Caspar David Friedrich in ihren alten Goldrahmen retten konnten? Oder war das schon alles weggebracht worden, bevor die Luftangriffe begannen?

Das Haus hatte immer im falschen Teil der Stadt gestanden. Schon zu Zeiten von Fritzens Großvater hatte man die großen Stadthäuser in der Nähe des Tiergartens gebaut, in der Vossstraße und sogar noch weiter westlich. Aber der alte Friedrich, der mit glücklicher Hand auf Eisenbahnaktien gesetzt hatte, die das Haus ermöglichten, kannte Berlin nicht gut – ihm sagten die Atmosphäre am Hausvogteiplatz und der Schnäppchenpreis für das Grundstück zu. Als sich dann die Kleiderfabriken ansiedelten und die neuen Bürogebäude kamen, war es zu spät. Die von Bernuths hatten ein Haus inmitten eines Gewerbeviertels. Doch sah man dabei weniger das Stigma, sondern amüsierte sich darüber – ein Scherz über den alten Friedrich, eine weitere Familiengeschichte.

Alex kannte sie alle. Wie Friedrich in eine erfolglose Eisenbahngesellschaft nach der anderen investierte und dabei hoffte, auf die Goldader einer weiteren Berlin-Anhaltischen zu stoßen. Wie Fritzens Vater versehentlich einen der Pächter anschoss und ihm daraufhin einen der Bauernhöfe vermachte, nachdem er genesen war. Wie die Notiz an eine Geliebte in einen falschen Umschlag geriet. Die sonnigen, elegant herausgeputzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Er kannte die Geschichten, weil Irene und Elsbeth sie ihm erzählten. Es machte den Charme der von Bernuths aus, dass sie ihre Familiengeschichte als Komödie betrachteten, als eine Folge unglückseliger Missgeschicke. Und als ihm dann die echten Geschichten ausgingen, erfand er neue dazu, ein ganzes Buch davon.

»Du hast uns interessanter gemacht, als wir sind«, hatte Irene gemeint.

»Dich nicht.«

Nachts gab es in der Kleinen Jägerstraße nur wenige Lichter, weshalb das Haus nur umso heller zu leuchten schien, Licht ergoss sich durch die Fenster nach draußen, die Türlampen waren wie Leuchtfeuer, die auf Gäste warteten. Es war immer Leben im Haus, die Freundinnen der Mädchen blieben über Nacht, als sie älter waren, wurden Feste gefeiert. Elsbeth war die Hübsche, zart und blass wie eine Puppe aus Meißner Porzellan, aber die Leute kamen wegen Irene, wegen ihrer witzigen Art und sorglosen Sinnlichkeit, der vollen Unterlippe, dem Gewirr blonder Haare, die nie in Form blieben. Und nach den Festen, wenn das Haus wieder geputzt und gelüftet war, gab es die Sonntagsessen am langen Tisch mit gestärkten Servietten, einen üppigen Gang nach dem anderen, in Fett schwimmend, die Platten fast zu schwer für die Dienstmädchen. Rehrücken und Rotkohl und Spätzle oder mit Pflaumen gefülltes Schweinefleisch, Suppen angedickt mit Sahne, Kalbsbrust, Kartoffeln Anna, einen ganzen Nachmittag lang nur essen. Seine Tante Lotte, die Fritz’ Bruder Rudolf geheiratet hatte, hatte ihn gewarnt. »Es gibt immer noch einen Gang, also nimm am besten nur ganz wenig, sonst hältst du nicht durch bis zum Ende.« Und kichernd ergänzte Lotte: »Anschließend müssen sich alle hinlegen. Sie können sich nicht mehr rühren.« Desserts. Gekochtes Obst und raffinierte Kuchen, eine Spanische Windtorte. Ein Sonntagsessen aus dem vergangenen Jahrhundert, bevor das Geld immer weniger wurde.

Er rauchte die Zigarette zu Ende und erhob sich, wischte sich den Staub vom Mantel. Am Hausvogteiplatz machten sich ein paar Leute auf den Weg zur Arbeit, am Himmel kündigte sich der Tag an. Er konnte jetzt Details erkennen, nicht nur schemenhafte Formen. Der Messingtürklopfer war verschwunden, ein Wertstoff, das Innenleben war schon längst geplündert. Er drückte gegen die Tür.

»Was wollen Sie hier?« Ein alter Mann mit einer Arbeitermütze.

»Nichts.« Er zögerte. »Ich kannte die Familie. Die Eigentümer.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Welche Eigentümer? Es gehört der Bank«, sagte er und zeigte auf das große Bürogebäude auf der Kurstraße, das neu für Alex war. »Die Reichsbank.« Der Stolz in seiner Stimme überraschte ihn, es war nicht einfach irgendeine Bank.

»Nun, es hat jedenfalls einmal eine Familie hier gewohnt.«

Der Mann nickte. »Ich habe Sie hier sitzen sehen. Dann suchen Sie also nach ihnen? Das ist jetzt lange her. Seit jemand hier wohnte. Die Bank wollte das Haus abreißen. Um ein neues Gebäude zu errichten. Das war der Plan. Aber dann begann der Krieg, und das war das Ende davon.«

»Dann stand es einfach ungenutzt da?«

»Man hat es als Lager benutzt. Akten, solche Dinge. Aber das Gebäude wurde getroffen, und alles ging hoch. Die Leute dachten, es seien Safes im Haus. Für das Gold, wissen Sie. Aber das haben wir nie ausgelagert.«

»Wir?«

»Ich war Nachtwächter. Bei der Bank. Ich hab es gesehen, wissen Sie. Das Gold. In Barren. Aber es wurde nie hierhergebracht. Ich dachte, Sie seien hier, um zu sehen, ob noch was zu holen ist. Aber da ist nichts. Hier, sehen Sie!« Er drückte die Tür auf. »Nichts.«

Nicht einmal kaputt geschlagenes Mobiliar, alles war als Feuerholz geplündert worden, nur Ziegel und Verputz. Sein Blick wanderte über die ehemalige Diele zu dem herabhängenden Stück Treppe. Der Einbauschrank darunter, Abstellfläche für Schirme, Koffer und Stiefel, war abgetrennt worden, durch die Explosion chirurgisch entfernt. Auch der Treppenpfosten war weggerissen worden. Wo sie früher immer den Weihnachtsbaum aufgestellt hatten, das Erste, was man beim Reinkommen sah, drapiert mit elektrischen Lichterketten.

»Passen Sie auf das Glas auf«, sagte der alte Mann.

Alex machte einen Schritt und blieb dann stehen. Wozu das alles? »Ist schon gut«, sagte er. »Ich wollte nur sehen, ob das Haus noch steht.«

Der Mann schloss hinter ihnen die Tür, Instinkt eines Wachmanns.

»Tausend Jahre, hat Adolf gesagt. Und jetzt sehen Sie sich das an.« Er wandte sich an Alex. »Wie kommt es, dass Sie nichts davon wussten? Vom Haus. Waren Sie in der Armee?«

»Nein. Ich war weg.« Ausweichend.

»Weg«, sagte der Mann und zog einen anderen Schluss. »Nicht viele kommen davon zurück. Wenn man die Geschichten hört …« Er wollte die von Alex hören, wie es im Lager war, und es war jetzt zu spät, ihn zu korrigieren, zu viele beschämende Schichten. Als Alex schwieg, seufzte der Mann und wandte sich ab. »Nun, ein Picknick war es auch hier nicht«, sagte er und zeigte dabei auf die Straße. »Nacht für Nacht. Tausend Jahre. Was für ein Lügner. Und jetzt haben wir die Russen. Die hat er uns stattdessen eingebrockt. Die Russen. Auch für tausend Jahre.« Ein rascher Seitenblick auf Alex, um zu sehen, wie er darauf reagierte. »Ich hätte nie gedacht, das zu erleben. Russen in Berlin.« Er zögerte, wusste nicht recht, wie er fragen sollte. »Sie sind Jude?«

»Halbjude«, sagte Alex.

»Halb. Das hat für die nicht gezählt oder?«

»Nein.«

»Schweine. Und jetzt geben sie uns die Schuld. Die Deutschen waren es. Wer? Ich? Nein, diese Lügner. Sie sagen, die Juden hätten es sich selbst zuzuschreiben, aber dem stimme ich nicht zu. Sie waren es. Sie haben es zu weit getrieben.« Eine linkische Pause, die Leichtigkeit dahin. Er tippte sich an die Kappe. »Also dann.«

Alex sah ihm hinterher, laut hallten seine Schuhe auf dem Pflaster. Die Kleine Jägerstraße war immer ein hallender Raum gewesen, wo die Geräusche zwischen den Gebäuden hin- und hergeworfen wurden. In jener Nacht hatten sie erst Schreie, dann schnelle Schritte, dann schwere Stiefel gehört, die direkt vor der Tür anhielten, unsicher, wohin sie sich wenden sollten, eine Anspannung, die fast durch die Tür zu spüren war. Erich war ihnen nur um Sekunden zuvorgekommen, gerade noch rechtzeitig, um durch die Seitentür hineinzuschlüpfen, bevor das Dienstmädchen den Riegel vorschob, die Augen groß vor Angst. Kurt Engel blutete aus einer Kopfwunde, Erich stützte ihn, das eigene Gesicht blutig von einer eingeschlagenen Nase. Fritz und die Mädchen waren aus dem Wohnzimmer herbeigeeilt, konnten einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken, das ganze Haus in heller Aufregung. Dann noch mehr Schreie von der Straße.

Alex spähte durch die Vorhänge. »SA«, sagte er. »Haben sie euch reinkommen sehen?«

»Wen kümmert’s, was sie gesehen haben?«, sagte Fritz. »Ruft die Polizei.«

»Die Polizei wird nichts unternehmen«, meinte Erich.

»Was ist das denn? Blut?«, fragte Fritz. »Bist du verletzt? Hol Wasser, Ilse …«

Das Mädchen rannte los, blieb aber stehen, als der Messingtüröffner gegen die Tür schlug.

»Aufmachen! Dreckskerl!«

Alex spürte, wie alle im Raum die Luft anhielten, der Beginn einer Panik. Elsbeth schluckte, ihre Blicke wanderten nervös umher.

»Ruft die Polizei«, sagte Fritz.

»Papa«, sagte Erich. »Sie werden uns töten.«

»In meinem Haus?«, entgegnete Fritz.

»Aufmachen!« Erneutes Klopfen, das selbst diese schwere Tür erschütterte.

»Hier hinein«, sagte Irene und öffnete die Schranktür unter der Treppe. »Schnell.«

Erich legte einen Arm um Kurts Taille und schleifte ihn mehr oder weniger hinter den Weihnachtsbaum.

»Schalt die Baumbeleuchtung ein«, befahl Irene dem Mädchen.

»Aufmachen!«

»Du musst reagieren«, sagte Alex zu Fritz und verfolgte, wie Irene die Schranktür schloss und zwei eingepackte Geschenke davorschob, Teil dessen, was unter dem Baum ausgebreitet lag.

»Wer ist da?«, schrie Fritz. »Was wollen Sie?«

»Aufmachen!«

Alex nickte Fritz zu, der mit einem Blick in die Runde Anweisung gab, sich ruhig zu verhalten, und dann zur Tür ging, um sie zu öffnen.

»Was soll das? Was wollen Sie? Sie sollten sich schämen. Sind Sie betrunken?«

Der Anführer, ein stämmiger Mann in den Zwanzigern, preschte vor, blieb dann aber stehen, weil er nicht mit der Beleuchtung, nicht mit den Mädchen in ihren Kleidern gerechnet hatte.

»Sie sind hier reingekommen. Es gibt keine andere …«

»Wer? Wovon sprechen Sie?«

»Jüdischer Abschaum. Kommunisten.«

»Hier? Machen Sie sich nicht lächerlich.«

»Nun, wir werden uns selbst überzeugen«, sagte er und betrat die Diele.

Fritz stellte sich vor ihn, eine theatralische Geste. »Wie können Sie es wagen? Uns in diesem Haus Ärger zu machen? Um diese Zeit im Jahr?«, sagte er mit Blick auf den Baum. »Glauben Sie etwa, wir sind hier in einem Bierkeller? Noch ein Schritt, und ich rufe die Polizei, dann werden Sie schon sehen, wo Sie sind.«

»Aus dem Weg«, sagte der Mann und rempelte mit neuem Mut Fritzens Schulter an, die Männer nun in seinem Schlepptau.

»Lassen Sie das«, sagte Alex und griff nach der Hand des Manns.

Dieser scherte aus und bedrängte stattdessen Alex. »Ach ja?« Ein weiterer Schubs Richtung Baum. »Was ist mit Ihnen? Waren Sie auch auf dem Treffen? Vielleicht noch ein Jude. Sie sehen …« Er beäugte ihn konzentriert, sodass Alex sich für den Bruchteil einer Sekunde fragte, ob es nicht tatsächlich einen verräterischen semitischen Geruch gab.

»Das ist mein Sohn«, sagte Fritz. »Lassen Sie die Finger von ihm.« Mit eisiger Stimme, die Autorität von Generationen. Alex sah ihn an. Ohne ein Zögern.

Der SA-Mann wich zurück. »Wenn Sie die verstecken …« Er bedeutete seinen Männern auszuschwärmen.

»Was berechtigt Sie zu glauben, Sie dürften das? Welches Recht haben Sie?«

»Welches Recht?«, wiederholte der SA-Mann höhnisch.

»Ruf die Polizei, Effie«, sagte Fritz zu einem anderen Mädchen.

»Nur zu, rufen Sie sie«, sagte der SA-Mann. »Die suchen auch. Sollen die ruhig mal die Drecksarbeit machen.«