Lebenskenntnis - Alfred Adler - E-Book

Lebenskenntnis E-Book

Alfred Adler

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das englischsprachige Original dieses Buches erschien 1929 unter dem Titel ›The Science of Living‹ in den Vereinigten Staaten. In einer einfachen, knappen, dabei doch auch im Original unverwechselbar Adlerschen Sprache geschrieben, kann es als Einführung in die Grundlagen der Individualpsychologie Alfred Adlers dienen. Auch der Leser, der mit Adlers Gedankengängen noch nicht vertraut ist, kann sich über die grundlegenden Theorien des großen Sozialpsychologen informieren, der mit Freud und Jung zu den Gründervätern der Psychotherapie zählt. Auf engstem Raum werden in dem vorliegenden Buch zentrale Begriffe in Adlers Theoriengebäude wie Lebensziel, Leitbild, Minderwertigkeitskomplex, Überlegenheitsstreben und Lebensstil definiert, erläutert und anhand von Fallbeispielen anschaulich gemacht. Hier setzt sich Adler überdies mit so aktuellen Themen wie schulische Erziehung, Eheberatung und sexuelle Freiheit auseinander. Charakteristisch für seinen weitgespannten Interessenhorizont und für seine klare Erkenntnis fundamentaler menschlicher Konflikte sind schließlich auch seine Äußerungen über den gesellschaftlich bedingten Unterschied der Geschlechterrollen sowie seine Lösungsvorschläge.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 256

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alfred Adler

Lebenskenntnis

Aus dem Englischen von Willi Köhler

FISCHER E-Books

Inhalt

Einführung des Herausgebers1. Grundsätze der IndividualpsychologieZielgerichtetheitWahrnehmungsschemaMinderwertigkeitsgefühl und GemeinschaftsgefühlCommon sense und Mangel daranElterliche EinflüsseGefühle und TräumeGeburtenfolge und frühe ErinnerungenSchlußfolgerung2. Die Überwindung von BeschränkungenDie Einheit des IndividuumsDer soziale ZusammenhangEinstellungen gegenüber UnvollkommenheitenAnzeichen starker Minderwertigkeitsgefühle3. Minderwertigkeits- und ÜberlegenheitskomplexAllgemeine ErörterungenEinzelfälle4. Der LebensstilDas Verstehen eines LebensstilsKorrektur eines Lebensstils5. Frühe ErinnerungenErinnerungsweisenGegenstände der ErinnerungErinnerungen verzärtelter und ungeliebter Kinder6. Körperbewegungen und EinstellungenKörperbewegungenStehenSich anlehnenFerne und NäheEinstellungenMut und FurchtsamkeitGlaube an VorbestimmungNeid, männlicher Protest und sexuelle Schwierigkeiten7. Träume und ihre DeutungLebensstil und -zielePrivate LogikUrsachen von TräumenSchlafen, Wachen und Hypnose8. Erziehung und SorgenkinderSchule und soziale IdealeFamilieneinflüsseSorgenkinderBehandlungDiagnose: Geburtenfolge9. Verfehlter Lebensstil: Eine FallgeschichteFrühe KindheitSchulproblemeDie drei LebensfragenVorbeugung und Besserung10. Straffälligkeit und Mangel an GemeinschaftsgefühlAllgemeine FragenFallbeispiele11. Liebe und EheVoraussetzungen der GleichberechtigungVorbereitung auf die EheEheberatung12. Sexualität und sexuelle ProblemeFrühes TrainingAbhängigkeit vom LebensstilAndere FaktorenDie soziale Lösung13. SchlußbemerkungenNamen- und Sachregister

Einführung des Herausgebers

The Science of Living, in dieser deutschen Ausgabe als ›Lebenskenntnis‹ wiedergegeben, ist das erste der Werke ADLERS, für das kein deutscher Urtext und auch kein Hinweis auf einen solchen zu finden ist. Es kann demnach wohl als das erste Werk von ADLER gelten, das von vornherein für englisch sprechende Leser bestimmt war. Seine erste Ausgabe erschien 1929, drei Jahre nach der ersten Vortragsreise ADLERS in die Vereinigten Staaten. Nach der ›Menschenkenntnis‹ von 1927 war es die zweite in einer Reihe von gemeinverständlich gedachten Übersichtsdarstellungen seiner Lehre, die sich fortsetzt mit The Pattern of Life (1930) und What Life Should Mean to You (1931) und die mit ›Der Sinn des Lebens‹ (1933) endet. Da es sich um immer erneute – durchweg als Vortragsreihen entstandene – Versuche einer Gesamtdarstellung der theoretischen Ansätze handelt, ist es nicht verwunderlich, daß sie sich inhaltlich in hohem Maße überschneiden, ja, daß sogar ihre Gliederung weitgehend dieselbe ist. Trotz der zahlreichen Wiederholungen lohnt es sich aber, jedes einzelne dieser Werke kennenzulernen. Denn nicht nur liegen ihre inhaltlichen Schwerpunkte durchaus verschieden, sondern vor allem lernen wir bei diesen Erläuterungsversuchen jedesmal neue Beispielsfälle kennen, die das Gemeinte von einer neuen Seite zeigen und es in neuem Licht erscheinen lassen. Auch gewisse theoretische Entwicklungen deuten sich in ihrer Folge zwischen 1927 und 1933 an, auf die H. L. ANSBACHER in seiner Einführung zur zweiten Ausgabe von 1969 hinweist.

Die Einführung von ANSBACHER ist in dieser Ausgabe weggelassen. Sie wendet sich zwar nicht ausdrücklich, aber doch so eindeutig an den englisch sprechenden und besonders an den amerikanischen Leser, daß wir uns im Einvernehmen mit ihrem Verfasser auf die Erörterung der für eine deutschsprachige Leserschaft bedeutsam erscheinenden Stellen beschränkt haben.

Verzichtet haben wir vor allem auf die Mitteilung organisatorischer Erfolge der Individualpsychologie in den Vereinigten Staaten und auf die Wiedergabe der Erörterungen über den Sprachgebrauch des englischen Textes.

Notwendig erscheint uns u. a. eine kurze Bemerkung über den Ausdruck prototype, der nach Ansbachers Angaben von ADLER nur 1929 und damals vornehmlich in diesem Buch gebraucht wurde, und der weder vorher noch nachher bei ihm erscheint. Für die kindliche Vorform des Lebensstils, die ADLER in dem englischen Text von 1929prototype nennt, findet sich in seinen vorausgehenden deutschen Werken das Wort ›Leitbild‹, das für die Kennzeichnung dieser Phase völlig ausreicht und genau das Gemeinte trifft. Daneben gebraucht er gelegentlich das Wort ›Modell‹. In dieser Übersetzung haben wir das Wort prototype daher durchweg durch den Ausdruck ›Leitbild‹ wiedergegeben.[1]

Auch über den Ausdruck ›Lebensstil‹ (life style) scheinen mir einige klärende Bemerkungen von Nutzen zu sein. Folgen wir ANSBACHER, so wird dieser Ausdruck von ADLER erst seit 1926 verwendet und erst in der vorliegenden Schrift »ausdrücklich eingeführt«, und zwar als Ersatz für die früher bevorzugten Ausdrücke ›Leitbild‹, ›Leitlinie‹, und vor allem ›Lebensplan‹. Tatsächlich erscheint das Wort ›Lebensstil‹ schon 1912 im ›Nervösen Charakter‹; neben ›Lebensplan‹, ›Leitbild‹, ›Leitziel‹, ›Leitidee‹, ›Leitpunkt‹, allerdings an Häufigkeit weit übertroffen von den Formeln ›Leitlinie‹ und ›Leitende Fiktion‹, von denen in der vorliegenden Schrift die zweite nicht mehr vorkommt, während die erste als Line of Direction wiederholt neben dem Ausdruck Style of Life erscheint.

Ich glaube nicht, daß ADLER im Jahr 1929 seine Ausführungen von 1912 über den Zusammenhang zwischen der besonderen Art und den besonderen Gründen eines kindlichen Minderwertigkeitsgefühls und der besonderen Art seines Lebensziels oder Persönlichkeitsideals als gegenstandslos betrachtete. Ob dieser Zusammenhang so regelmäßig ist, wie er 1912 vermutet hat, ist eine auch heute noch unbeantwortete Forschungsfrage. Einstweilen sieht es eher so aus, als sei der Wechsel der bevorzugten Bezeichnungen nicht etwa nur als Änderung des Sprachgebrauchs zu verstehen, sondern zeige vielmehr einen Wechsel des Aufmerksamkeitsschwerpunktes an dem höchst komplexen Gegenstand »Menschliche Persönlichkeit« an. Wir sahen schon, daß das Wort ›Leitbild‹ zur Bezeichnung der kindlichen (»unreifen«) Vorform des Lebensstils beibehalten zu werden verdient, und meinen, daß auch das Wort ›Leitlinie‹ nach wie vor zur Kennzeichnung der strukturellen Beziehung zwischen den besonderen Minderwertigkeitserlebnissen und dem besonderen Lebensziel des jeweils gegebenen Menschen nicht entbehrt werden kann, ebensowenig wie das Wort ›Lebensstil‹, das sich auf die diesen strukturellen Verhältnissen zugeordnetete »Gestaltqualität« der Gesamtperson bezieht, die in allem ihrem Verhalten und Erleben sichtbar wird.

Was die ursächlichen Beziehungen zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Zielbestimmtheit des menschlichen Handelns betrifft, führt ANSBACHER eine Reihe von Gründen für die Annahme auf, daß die Zielbestimmtheit der Grundsachverhalt ist und das Minderwertigkeitsgefühl als das Zeichen einer Störung angesehen werden muß, das einleuchtenderweise nicht unter allen Umständen zu beobachten ist. ADLER scheint seine Ansichten hierüber im Lauf seines Nachdenkens mehr als einmal geändert zu haben. In der – wie ich immer wieder betonen muß – für alles weitere grundlegenden Schrift über den ›Arzt als Erzieher‹ (1904) ist die Bekämpfung der Furcht und die Erhaltung des Mutes eine der Grundaufgaben des Erziehers, und das bleibt so in den nachfolgenden Abhandlungen über Erziehungsfragen. In ihnen fordert ADLER unter anderem, die Beschwerden eines organisch benachteiligten wie auch eines vorübergehend erkrankten Kindes so entschlossen wie möglich zu bekämpfen, damit sich keine Minderwertigkeitskomplexe ausbilden und etwa schon entstehende im Keim ausgeräumt werden können. ADLER fürchtete damals offenbar nicht, daß das Kind durch den »Verlust« eines Minderwertigkeitsgefühles in der Verfolgung sachlicher Ziele gestört werden könne. Dann folgt eine allmähliche Aufwertung, bis zuletzt – und dies noch 1933 – das Minderwertigkeitsgefühl als unentbehrliche und daher begrüßenswerte Voraussetzung des Aufstiegs der Menschheit im Ganzen und jedes einzelnen Menschen besungen wird. Als die Science of Living erschien, hatte ANSBACHER zufolge auch bei ADLER diese Aufwertung der Minderwertigkeitsgefühle schon ihren Höhepunkt überschritten. Auch der deutsche Herausgeber ist von dem Primat der Zielstrebigkeit überzeugt, und er befindet sich damit in Übereinstimmung mit WOLFGANG KÖHLER, einem der drei Gründer der Gestalttheorie, der unter dem Titel The Obsessions of Normal People (Die Besessenheit normaler Menschen) an der Brandeis University 1958 einen Vortrag gehalten hat, in dem die Entscheidung in diesem Sinne in aller Schärfe gefällt ist.[2]

Zum Schluß noch einige Worte zu dem Gegensatz zwischen der Einzigartigkeit des einzelnen Menschen, auf die ADLER immer wieder hinweist, und seinen kaum weniger zahlreichen, von ihm selbst klar allgemeingültig gemeinten Aussagen über die Natur des Menschen überhaupt.

ADLERS Äußerungen schließen einander nicht aus. Wenn er z. B. von dem Menschen überhaupt sagt, er sei ein Ganzes, dessen Eigenart sich in jeder seiner Äußerungen spiegele, so wird damit zwar ausgesagt, daß es gewisse Varianten des Menschlichen nicht gibt, daß es also z. B. keinen Menschen gibt, der kein Ganzes ist und dessen Eigenart (wenn er überhaupt eine hat) sich nicht in seinen einzelnen Äußerungen spiegelt. Damit ist ein Rahmen gesetzt. Aber innerhalb dieses Rahmens gibt es nichts, das verhindern könnte, daß jeder Mensch seine unwiederholbare Besonderheit besitzt. So viel über apodiktische Behauptungen, die die Menschheit allgemein betreffen.

Wie aber steht es mit den speziellen, aber doch allgemeingültigen Gesetzen über menschliches Erleben und Verhalten, mit denen die experimentelle Psychologie sich beschäftigt und die sich z. T. schon jetzt in der Art physikalischer Gesetze auf Formeln bringen lassen? Die Zuversicht, daß die Allgemeingültigkeit solcher Gesetze niemals mit der Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen in Widerspruch geraten werde, verdanken wir den Überlegungen von KURT LEWIN über ›Gesetz und Experiment in der Psychologie‹[3].

Er hat dort darauf hingewiesen, daß allgemeine Gesetze, wie sie in den experimentellen Wissenschaften eine so entscheidende Rolle spielen, niemals konkrete Sachverhalte und Vorgänge, sondern immer nur Bedingungszusammenhänge beschreiben, deren Komplexität sich ausdrückt in der Zahl der Variablen, die in ihnen auftreten. Erst dadurch, daß für die verschiedenen Variablen bestimmte Zahlen eingesetzt werden, erfolgt der Übergang von der Darstellung eines Gesetzes zur Beschreibung eines konkreten Vorgangs oder Zustands. Sinngemäß beschreibt also jedes Naturgesetz unendlich viele verschiedene konkrete Vorgänge oder Zustände, mehrfach unendlich viele, wo mehrere Variablen durch Zahlen zu ersetzen sind. In dieser Mannigfaltigkeit ist für die – von ADLER so sehr betonte – Einzigartigkeit, ja Einmaligkeit der einzelnen Individuen genügend Platz.

The Science of Living ist, wie gesagt, zum ersten Mal im Jahr 1929 erschienen, mit »Vorbemerkungen über den Verfasser und sein Werk« von PHILLIPE MAIRET, der selbst schon ein Jahr zuvor ein kleines Buch The ABC of Adler’s Psychology herausgegeben hatte. Die »Vorbemerkungen« sind eine Auswahl von Sätzen aus diesem Buch, die damals von dem Verlag eigenmächtig dem ADLERSCHEN Text vorausgeschickt wurde. Sie entfällt in dieser Übertragung.

Zum zweitenmal erschien The Science of Living im Jahr 1969, diesmal herausgegeben von H. L. ANSBACHER, Professor der Psychologie an der University of Vermont, Burlington Vt., unter Mitarbeit seiner Frau ROWENA R. ANSBACHER, im Verlag Doubleday, New York. Der Text dieses Buches erfuhr in der Bearbeitung durch R. ANSBACHER folgende Änderungen:

Außer den Kapiteln erhielten auch die Unterabteilungen jedes einzelnen Kapitels Überschriften, die außer im Text auch im Inhaltsverzeichnis erscheinen.

Gelegentlich wurde innerhalb eines Kapitels die Satzfolge geändert.

Einige Kapitelüberschriften wurden dem Inhalt des Kapitels besser angepaßt.

Einige Ausdrücke im Text wurden im Sinne des gegenwärtigen Sprachgebrauchs ersetzt.

(Beispiele für die Änderungen 2 bis 4 werden nicht angeführt.)

Ein Namen- und Sachverzeichnis wurde angefügt.

Diese deutsche Übertragung folgt der von R. R. ANSBACHER bearbeiteten englischen Ausgabe von 1969.

Bebenhausen, im November 1977WOLFGANG METZGER

1.Grundsätze der Individualpsychologie

Nach den Worten des großen Philosophen WILLIAM JAMES ist nur eine in unmittelbarem Bezug zum Leben stehende Wissenschaft eine wahre Wissenschaft. Man könnte auch sagen, daß in einer Wissenschaft, die in unmittelbarem Bezug zum Leben steht, Theorie und Praxis eine weitgehend unauflösliche Einheit bilden. Die Wissenschaft vom Leben wird folglich genau deshalb zur Lebenswissenschaft, weil sie in ihrer Ausgestaltung unmittelbar den Lebensbewegungen und -kräften selbst folgt. Diese Überlegungen haben in besonderem Maße Gültigkeit für die Wissenschaft der Individualpsychologie.

Die Individualpsychologie bemüht sich, jedes individuelle Leben als etwas Ganzes zu sehen, als Einheit, und nach ihrer Auffassung ist jede einzelne Reaktion, jede Bewegung und jeder Impuls, ein klar erkennbarer Bestandteil einer individuellen Lebenseinstellung. Eine solche Wissenschaft orientiert sich mit Notwendigkeit an praktischen Fragen, denn mit Hilfe unserer Kenntnisse können wir unsere Einstellungen korrigieren und ändern. Individualpsychologie besitzt damit in doppeltem Sinne prophetischen Charakter: sie sagt nicht nur vorher, was geschehen wird, sondern sagt auch, ähnlich wie der Prophet Jonas, vorher, was geschehen wird, damit es nicht geschieht.

Zielgerichtetheit

Die Wissenschaft der Individualpsychologie entwickelte sich aus dem Bemühen, die geheimnisvolle schöpferische Lebenskraft zu verstehen, jene Kraft, die sich in dem Verlangen nach Entwicklung, Anstrengung und Leistung zum Ausdruck bringt – und selbst noch in dem Wunsch, die Niederlagen auf dem einen Wege durch Streben nach Erfolg auf einem anderen zu kompensieren. Diese Kraft ist zielgerichtet. Sie kommt zum Ausdruck in dem Verfolgen eines Zieles, und in dieses Streben wird jede körperliche und psychische Regung eingespannt. Es ist somit absurd, körperliche Bewegungen und geistige Zustände abstrakt zu erforschen, das heißt ohne Beziehung zu einem individuellen einheitlichen Ganzen. So wäre es beispielsweise absurd zu fordern, wir sollten in der Kriminalpsychologie dem Verbrechen mehr Aufmerksamkeit widmen als dem Verbrecher. Denn auf den Verbrecher kommt es an, nicht auf das Verbrechen, und wie gründlich und eingehend wir die kriminelle Handlung auch betrachten mögen, wir werden das Kriminelle ihres Charakters erst dann richtig begreifen, wenn wir sie als Ereignis im Leben eines bestimmten Individuums verstehen. Die äußerlich gleiche Handlung kann in einem Fall kriminell, in einem anderen nicht kriminell sein. Wichtig ist, den individuellen Zusammenhang, den Handlungsrahmen, zu verstehen – das Lebensziel eines Individuums, das die Richtung aller seiner Handlungen und Bewegungen anzeigt. Aufgrund dieses Zieles vermögen wir den verborgenen Bedeutungsgehalt hinter den verschiedenen Einzelhandlungen zu erkennen, das heißt, sie als Teile eines Ganzen zu sehen. Umgekehrt, wenn wir die Teile untersuchen, vorausgesetzt, wir betrachten sie als Teile eines Ganzen, dann gewinnen wir auch besseres Verständnis und Gespür für das Ganze.

Was den Verfasser dieses Buches betrifft, so entwickelte sich sein Interesse an der Psychologie auf der Grundlage seiner medizinischen Praxis. Diese Tätigkeit sorgte für den teleologischen Blickwinkel und schärfte den Sinn für das Zielgerichtete, der für das Verständnis psychologischer Fakten unumgänglich ist. In der Medizin können wir beobachten, daß alle Organe von dem Bestreben erfüllt sind, sich in Richtung auf bestimmte endgültige Ziele zu entfalten. Im Zustand der Reife, im Erwachsenenalter, nehmen sie klar umrissene Formen an, die sich nicht weiter verändern. Mehr noch, in Fällen organischer Schädigungen stellen wir regelmäßig fest, daß die Natur besondere Anstrengungen unternimmt, die Mängel zu überwinden oder sie zumindest in der Weise zu kompensieren, daß ein anderes Organ nach entsprechender Entwicklung die Funktion des geschädigten Organs mit erfüllen kann. Das Leben strebt stets nach Fortbestand, und die Lebenskraft gibt sich vor äußeren Widrigkeiten und Widerständen niemals ohne vorherigen Kampf geschlagen.

Die Bewegung der Psyche ähnelt der des organischen Lebens. Jeder Geist besitzt die Vorstellung eines Ziels oder Ideals, um mit seiner Hilfe über den gegenwärtigen Zustand hinauszuwachsen und die gegenwärtigen Mängel und Schwierigkeiten durch Setzung eines konkreten Ziels für die Zukunft zu überwinden. Mittels dieses konkreten Ziels oder Zwecks kann sich das Individuum gedanklich und gefühlsmäßig über die Schwierigkeiten der Gegenwart erheben und sich überlegen fühlen, weil es seine zukünftigen Erfolge vor Augen hat. Ohne Vorstellung eines Ziels würde die individuelle Tätigkeit jeglichen Sinn verlieren.

Alle Anhaltspunkte deuten darauf hin, daß dieses Ziel zu Beginn des Lebens, während der Entwicklungszeit der frühen Kindheit, festgelegt wird und seine konkrete Form erhält. Zu jener Zeit beginnt sich eine Art Leitbild oder Modell der erwachsenen Persönlichkeit herauszubilden. Wir können uns vorstellen, wie dieser Prozeß abläuft. Ein Kind, das ja immer verhältnismäßig schwach ist, fühlt sich unterlegen und sieht sich in einer Situation gefangen, die es nicht bewältigen kann. Fortan strebt es danach, sich fortzuentwickeln, und es bemüht sich, dies in einer Weise zu tun, daß seine Entwicklung längs einer Leitlinie verläuft, die dem von ihm erwählten Ziel entspricht. Das in dieser Phase benutzte Entwicklungsmaterial ist weniger wichtig als das Ziel, das die Entwicklungslinie bestimmt. Es ist schwer zu sagen, wie dieses Ziel festgelegt wird, doch es ist offenkundig, daß ein solches Ziel besteht und daß es jede Bewegung des Kindes beherrscht. Tatsächlich verstehen wir noch wenig von den in dieser frühen Phase wirksamen Kräften, Impulsen, Gründen, Fähigkeiten oder Unfähigkeiten. Bislang fehlt in der Tat noch jeder Schlüssel zum Verständnis dieser Vorgänge, denn die Richtung wird erst dann endgültig festgelegt, wenn das Kind sein Ziel ins Auge gefaßt hat. Erst wenn wir die Richtung erkennen, die ein Leben nimmt, können wir mit einiger Sicherheit vermuten, welche Schritte das Kind künftig tun wird.

Es ist keine Frage, daß der Leser bei der Erwähnung des Wortes »Ziel« nur eine recht unklare Vorstellung haben kann. Der Begriff bedarf der Konkretisierung. Ein Ziel haben bedeutet letzten Endes, daß man danach trachtet, wie Gott zu sein. Freilich, wie Gott zu sein, ist das letzte Ziel – sozusagen das Ziel der Ziele. Erzieher sollten sorgsam darauf achten, daß sie sich selbst und ihre Kinder nicht dahin zu bringen versuchen, wie Gott zu sein. Tatsächlich können wir nämlich feststellen, daß das Kind im Verlauf seiner Entwicklung an die Stelle des letzten Ziels ein konkreteres, näher gelegenes Ziel setzt. Kinder halten nach dem stärksten Menschen in ihrer Umwelt Ausschau und machen ihn zu ihrem Vorbild oder Ziel. Das kann der Vater sein oder möglicherweise auch die Mutter, das heißt, wir beobachten, daß auch ein Junge unter dem Eindruck stehen kann, er solle seine Mutter nachahmen, wenn sie stärker als der Vater zu sein scheint. Späterhin wollen sie vielleicht Lastwagenfahrer werden, weil sie der Meinung sind, solche Männer seien die stärksten.

Wenn Kinder zum erstenmal ein solches Ziel ins Auge fassen, dann handeln, fühlen und kleiden sie sich wie Lastwagenfahrer und nehmen all die Merkmale an, die mit dem Ziel in Einklang stehen. Aber wehe, wenn der Polizeibeamte die Hand hebt, dann schrumpft der Lastwagenfahrer zu einem Nichts zusammen …

Noch später mag der Arzt oder der Lehrer zum Idealbild werden. Denn der Lehrer beispielsweise kann das Kind bestrafen und auf diese Weise bei ihm den Respekt heischenden Eindruck erwecken, er sei ein starker Mensch.

Das Kind kann sich bei der Wahl seines Zieles verschiedener konkreter Symbole bedienen, und wir stellen fest, daß das Ziel, das es sich erwählt, im Grunde ein Kennzeichen seiner Sozialgesinnung ist. Ein Junge erklärte auf die Frage, was er später werden wolle: »Ich möchte Henker werden.« In dieser Antwort äußert sich ein Mangel an Sozialgesinnung. Der Junge wollte Herr über Leben und Tod sein – eine Rolle, die allein Gott zusteht. Er wollte mächtiger sein als die Gesellschaft, und damit steuerte er einem unnützlichen Leben zu. Auch das Ziel des Arztberufes kreist um den Wunsch, wie Gott Herr über Leben und Tod zu sein, doch in diesem Fall wird das Ziel auf dem Wege über den Dienst an der Gemeinschaft verwirklicht.

Wahrnehmungsschema

Wenn das Leitbild, jene das Ziel verkörpernde Persönlichkeit der frühen Kindheit, ausgeformt ist, liegt die Leitlinie fest, und das Individuum findet seine endgültige Orientierung. Genau aufgrund dieser Tatsache sind wir imstande vorauszusagen, was im späteren Leben geschehen wird. Von jenem Zeitpunkt an folgen die Wahrnehmungen des Individuums zwangsläufig einer von der Lebenslinie festgelegten Spur. Das Kind wird fortan gegebene Situationen nicht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich auftreten, sondern nach einem persönlichen Wahrnehmungsschema, mit anderen Worten, es wird Situationen voreingenommen, nach Maßgabe seiner eigenen Interessen wahrnehmen.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß sich herausgestellt hat, daß Kinder mit einem Organschaden alle ihre Erfahrungen mit der Funktion des geschädigten Organs in Verbindung bringen. So läßt beispielsweise ein Kind mit Magenbeschwerden ein abnormes Interesse am Essen erkennen, während ein Kind mit einem Sehfehler stärker von sichtbaren Dingen in Anspruch genommen wird. Diese Inanspruchnahme steht in Einklang mit dem persönlichen Wahrnehmungsschema, das, wie wir festgestellt haben, alle Menschen charakterisiert. Folglich kann man sagen, daß wir uns nur Klarheit darüber verschaffen müssen, welches Organ eines Kindes geschädigt ist, um herausfinden zu können, wo seine Interessen liegen. Freilich verhält es sich in Wirklichkeit nicht ganz so simpel. Das Kind erlebt die Tatsache einer Organminderwertigkeit nicht so, wie jemand sie von außen sieht, sondern gleichsam gefiltert durch sein eigenes Wahrnehmungsschema. Also gibt die von außen erfolgende Beobachtung einer Organminderwertigkeit nicht notwendigerweise Aufschluß über das Wahrnehmungsschema des betroffenen Kindes, auch wenn die Tatsache seiner Beeinträchtigung sich in seinem Wahrnehmungsschema niederschlägt.

Die Wahrnehmung des Kindes ist eingebettet in ein Schema von Beziehungen, und in dieser Hinsicht besteht zwischen ihm und uns kein Unterschied, denn niemand ist mit der Kenntnis der absoluten Wahrheit ausgestattet. Nicht einmal unsere Wissenschaften sind mit der absoluten Wahrheit gesegnet. Sie beruhen auf common sense, das heißt, sie sind in einem steten Wandel begriffen und müssen sich damit begnügen, große Fehler allmählich durch kleinere zu ersetzen. Wir alle machen Fehler, doch entscheidend ist, daß wir sie korrigieren können. Solche Korrekturen lassen sich während der Bildung des Leitbildes leichter ausführen, und wenn wir die Fehler nicht zu jener Zeit korrigieren, dann können wir das später nur dann tun, wenn wir die Gesamtsituation jener Zeit wiedererstehen lassen. Wenn wir also vor der Aufgabe stehen, einen neurotischen Patienten zu behandeln, dann stellt sich uns das Problem, die grundlegenden Fehler zu entdecken, die er bei dem Aufbau seines Leitbildes zu Beginn seines Lebens gemacht hat, und nicht jene gewöhnlichen Fehler, die ihm in seinem späteren Leben unterlaufen sind. Wenn wir diese grundlegenden Fehler ausfindig machen, können wir sie durch entsprechende Behandlung korrigieren.

Im Licht der Individualpsychologie verliert mithin das Vererbungsproblem an Wichtigkeit. Wichtig ist nicht, was dem Menschen vererbt worden ist, sondern was er mit diesem Erbe in den frühen Jahren gemacht hat, das heißt, es kommt auf das Leitbild an, das er in seiner Kindheit aufgebaut hat. Natürlich ist Vererbung für vererbte organische Mängel verantwortlich, doch unsere Aufgabe besteht hier lediglich darin, die jeweils besondere Schwierigkeit zu mildern und das Kind in eine günstigere Situation zu versetzen. Tatsächlich kommt uns dabei sogar ein großer Vorteil zustatten, insofern wir wissen, wie wir zu handeln haben, wenn wir den Defekt erkennen. Nicht selten ist ein Kind ohne Erbschäden aufgrund von fehlerhafter Ernährung oder irgendeines der vielen anderen Erziehungsfehler schlechter dran als ein Kind mit solchen Schäden.

Lassen Sie uns nun das Programm in Augenschein nehmen, das die Individualpsychologie für die Erziehung und das Training neurotischer Menschen anzubieten hat – von neurotischen Kindern, von Kriminellen und von Menschen, die sich der Trunksucht hingeben und sich auf solche Weise von der nützlichen Seite des Lebens abwenden wollen.

Um leicht und schnell herauszufinden, was verkehrt gelaufen ist, beginnen wir mit der Frage, in welcher Zeit das Problem entstanden ist. Gewöhnlich wird die Schuld daran irgendeiner neuen Situation zugeschoben. Das ist eine Fehleinschätzung, denn unser Patient war vor dem aktuellen Ereignis auf die neue Situation nicht sonderlich gut vorbereitet, wie unsere Nachforschungen ergeben dürften. Solange er sich in einer günstigen Situation befand, waren die Fehler seines Leitbildes nicht sichtbar, denn jede neue Situation ist ihrem Wesen nach ein Experiment, auf das der Mensch gemäß dem von seinem Leitbild gebildeten Wahrnehmungsschema reagiert. Seine Handlungen sind nicht bloße Reaktionen, sie sind vielmehr schöpferische Handlungen, die in Einklang mit seinem das ganze Leben beherrschenden Ziel stehen. Unsere Untersuchungen zur Individualpsychologie haben uns schon früh gelehrt, daß wir die Bedeutung von Erbfaktoren wie auch die Bedeutung eines isolierten Teils als gering veranschlagen können. Wir stellen fest, daß das Leitbild auf die Lebenserfahrungen in Übereinstimmung mit seinem Wahrnehmungsschema reagiert. Und auf dieses Wahrnehmungsschema müssen wir einwirken, wenn wir irgendwelche Ergebnisse erzielen wollen.

Minderwertigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl

Wenn Kinder mit unvollkommenen Organen zur Welt kommen, ist allein diese psychologische Situation ausschlaggebend. Da diese Kinder sich in einer schwierigeren Situation als andere befinden, lassen sie deutliche Zeichen eines übertriebenen Minderwertigkeitsgefühls erkennen. Zu einer Zeit, in der das Leitbild geprägt wird, sind sie bereits mehr an sich als an anderen Menschen interessiert, und es besteht die Gefahr, daß sie diese Haltung auch in ihrem späteren Leben beibehalten. Organminderwertigkeit ist nicht der einzige Grund für Fehler des Leitbildes, auch andere Umstände können die gleichen Fehler zur Folge haben – zum Beispiel die Lebensbedingungen von verzärtelten und abgelehnten Kindern. Wir werden später Gelegenheit nehmen, diese Situationen gründlicher zu beschreiben und mit Hilfe von Fallgeschichten die drei Situationen zu veranschaulichen, die besonders ungünstig sind, nämlich die von Kindern mit unvollkommenen Organen, die von verzärtelten Kindern und schließlich die von abgelehnten Kindern. Vorerst genügt es anzumerken, daß diese Kinder unter erschwerenden Bedingungen aufwachsen und daß sie in ständiger Furcht vor Angriffen leben, da sie in eine Umwelt hineingestellt sind, in der sie niemals gelernt haben, unabhängig zu sein.

 

Es ist notwendig, sich von Anfang an über das Gemeinschaftsgefühl klar zu werden, denn es ist der wichtigste Bestandteil unserer Erziehung, unserer Behandlung und der von uns angestrebten Heilung. Nur Menschen, die mutig, selbstsicher und in der Welt daheim sind, können gleichermaßen aus den Schwierigkeiten wie aus den Vorzügen des Lebens ihren Nutzen ziehen. Sie sind niemals ängstlich. Zwar wissen sie, daß es Schwierigkeiten gibt, doch sie wissen auch, daß sie damit fertig werden können, denn sie sind auf alle Lebensprobleme, die immer auch soziale Probleme sind, von früh an vorbereitet. Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, ist es unumgänglich, auf soziales Verhalten vorbereitet zu sein. Die drei von uns erwähnten Typen von Kindern entwickeln ein Leitbild mit einem geringeren Maß an Gemeinschaftsgefühl. Ihnen fehlt es an der geistigen Haltung, die zur Erfüllung der Lebenserfordernisse und zur Lösung von Lebensschwierigkeiten nützlich ist. Das Leitbild des im Gefühl des Scheiterns Befangenen vermittelt eine fehlerhafte Einstellung gegenüber den Lebensproblemen und führt leicht dazu, daß die Persönlichkeit sich zur unnützlichen Seite des Lebens hin entwickelt. Unsere Aufgabe bei der Behandlung solcher Patienten besteht darin, im Gegensatz dazu ein der nützlichen Seite zuneigendes Verhalten zu fördern und eine allgemein nützliche Einstellung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft zu begründen.

Mangel an Gemeinschaftsgefühl ist gleichbedeutend mit Ausrichtung zur unnützlichen Seite des Lebens. Aus den Menschen, denen es an Gemeinschaftsgefühl fehlt, rekrutieren sich die Gruppen der Sorgenkinder, der Kriminellen, der Geistesgestörten und der Alkoholiker. In solchen Fällen stehen wir vor dem Problem, Mittel und Wege zu finden, um sie dahingehend zu beeinflussen, daß sie zur nützlichen Seite des Lebens zurückkehren und für andere Menschen Interesse aufbringen. In diesem Sinne kann man durchaus sagen, daß unsere sogenannte Individualpsychologie in Wahrheit eine Sozialpsychologie ist.

Common sense und Mangel daran

Wenn wir Familien mit schwer entwicklungsgestörten Kindern beobachten und nach Symptomen und deren Äußerungsformen Ausschau halten, werden wir in der Regel feststellen, daß die Kinder, bei aller Intelligenz, die sie zu besitzen scheinen (in dem Sinne, daß sie auf eine Frage die richtige Antwort geben), unter einem starken Minderwertigkeitsgefühl leiden. Intelligenz ist natürlich nicht unbedingt common sense. Die Kinder haben eine vollkommen persönliche – wir könnten auch sagen: private – psychische Einstellung der Art, wie wir sie auch bei neurotischen Menschen antreffen. Bei einer Zwangsneurose zum Beispiel ist dem Patienten durchaus klar, daß es völlig sinnlos ist, ständig Fenster zu zählen, doch er kann nicht damit aufhören. Ein Mensch mit Sinn für nützliche Dinge würde niemals ein solches Verhalten zeigen. Privatverständnis und -sprache sind ebenfalls ein Merkmal psychisch gestörter Menschen. Geisteskranke bedienen sich niemals der Sprache des common sense, die dem höchsten Grad an Gemeinschaftsgefühl entspricht.

Halten wir das Urteil des common sense gegen das private Urteil, stellen wir fest, daß das erstere gewöhnlich weitgehend richtig ist. Mit Hilfe des common sense unterscheiden wir zwischen gut und böse, und die Fehler, die wir gewöhnlich in einer komplizierten Situation machen, korrigieren sich mittels der Denkvorgänge des common sense von selbst. Doch Menschen, die stets nur ihre eigenen privaten Interessen im Auge haben, können nicht so gut wie andere zwischen richtig und falsch unterscheiden. Tatsächlich stellen sie ihre Unfähigkeit sogar zur Schau, insofern der Beobachter alle ihre Regungen und Bewegungen mühelos durchschaut.

Betrachten wir zum Beispiel das Begehen von Verbrechen. Wenn wir die Intelligenz, das Auffassungsvermögen und die Motive eines Kriminellen untersuchen, werden wir in der Regel feststellen, daß er seine Verbrechen sowohl für klug durchdacht wie für heroisch hält. Er glaubt, daß er einen bestimmten Grad von Überlegenheit erreicht hat, das heißt, er meint schlauer zu sein als die Polizei und andere Menschen übers Ohr hauen zu können. In seinen eigenen Augen ist er folglich ein Held, und er merkt nicht, daß seine Handlungen etwas ganz anderes erkennen lassen, etwas, das weit entfernt ist von Heldenhaftigkeit. Sein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, durch den seine Tätigkeit auf die unnützliche Seite des Lebens gerät, ist verbunden mit einem Mangel an Mut, mit Feigheit, was er allerdings nicht weiß. Menschen, die der unnützlichen Seite der Dinge zuneigen, haben häufig Angst vor Dunkelheit und Alleinsein; sie möchten mit anderen zusammen sein. Das ist Feigheit und sollte auch als solche bezeichnet werden. Tatsächlich bestände das beste Mittel, Verbrechen zu verhindern, darin, daß man jedermann davon überzeugte, daß Verbrechen nichts anderes ist als ein Ausdruck von Feigheit.

Es ist wohlbekannt, daß manche Kriminelle, sobald sie sich dem Alter von dreißig Jahren nähern, eine Arbeit annehmen, heiraten und in ihrem künftigen Leben gute Bürger werden. Was ist da geschehen? Nehmen wir einen Einbrecher. Wie kann sich ein dreißigjähriger Einbrecher mit einem zwanzigjährigen messen? Der letztere ist gerissener und stärker. Mehr noch, der Kriminelle im Alter von dreißig sieht sich genötigt, ja gezwungen, ein anderes Leben als früher zu führen. Als Folge davon macht sich das Verbrechen für ihn nicht mehr bezahlt, und er sieht ein, daß es besser für ihn ist, sich zurückzuziehen.

Im Zusammenhang mit Verbrechen und Verbrechern muß man sich noch eine andere Tatsache vergegenwärtigen: Wenn man die Strafen verschärft, schreckt man den einzelnen Verbrecher überhaupt nicht ab, sondern stärkt ihn nur in seinem Glauben, daß er ein Held ist. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß der Kriminelle in einer egozentrischen Welt lebt, in einer Welt, in der man vergebens nach echtem Mut sucht, nach Selbstvertrauen, Gemeinschaftssinn oder Gespür für gemeinschaftliche Werte. Ein solcher Mensch ist nicht in der Lage, sich einer Gemeinschaft anzuschließen. Neurotiker gründen nur selten einen Klub, und von Menschen, die an einer Platzkrankheit leiden, oder für Geistesgestörte ist das auch zuviel verlangt. Sorgenkinder oder Menschen, die an Selbsttötung denken, schließen niemals Freundschaften, eine Tatsache, für die niemals ein Grund angegeben wird. Doch es gibt einen Grund: Solche Menschen schließen keine Freundschaften, weil ihr frühes Leben eine egozentrische Richtung eingeschlagen hat. Ihre Leitbilder richteten sich nach falschen Zielen aus und folgten Leitlinien, die zur unnützlichen Seite des Lebens führen.

Elterliche Einflüsse