Lebenslänglich Klassenfahrt - Bastian Bielendorfer - E-Book
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Bastian Bielendorfer

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Beschreibung

Immer, wenn dem kleinen Basti die Riemen seines Wanderrucksacks in die speckigen Ärmchen schneiden, wird es lustig – für die anderen. Denn der Spion des Lehrerzimmers ist auch außerhalb des Schulgeländes so beliebt wie ein alter Mettigel. Macht aber nichts, denn nur einer kann so schön allein in Zweierreihen gehen …

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Seitenzahl: 346

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Für Nadine

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-95884-4

© 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlagidee: Nadine Sinschek

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagabbildung: fotolia/imageteam (Koffer)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

»Life is funny.

But not ha, ha funny.

Peculiar I guess.«

Eels, »3 Speed«

Bus Stop Boxer

Als ich Ashley sah, war ich zum ersten Mal richtig verliebt. Was mir an ihr gefiel, kann ich bis heute nicht sagen, vielleicht war es ihr trauriger Anblick. Sie stand allein unter einem blattlosen Baum in der Schulhofmitte, über ihr glänzten ein paar fette Krähen wie schwarze Lampions in der Sonne.

Ashley war ein monochromes Mädchen, ihre Haut war kalkweiß, ihr Haar jedoch war schwarz, ebenso ihre Kleidung, ihre Nägel, ihre Lippen, und selbst ihre nussbraunen Augen wirkten im hellen Gesicht wie schwarze Punkte. Ashley hätte sich bei ihrem Farbgeschmack verlustfrei durch die Welt faxen können, doch sie war auf anderem Wege angereist.

Einige Meter hinter dem blattlosen Baum hatte kurz zuvor ein lila Reisebus englische Schüler und Schülerinnen herausgewürgt: rothaarige Jungen mit Sommersprossen, blonde Mädchen mit Haarbändern und Zahnspangen. Bilaterale Abkommen zwischen Gelsenkirchen und Hastings, einem kleinen Küstenort in Südengland, hatten uns unseren ersten Schüleraustausch beschert, und demzufolge überflutete nun eine Horde englischer Jugendlicher unseren Schulhof wie eine Dose Baked Beans eine Scheibe Frühstückstoast.

Auch die späten Neunzigerjahre hielten für Jugendliche einige modische Entgleisungen parat. Die englischen Mädchen stapften genau wie die deutschen auf absurden Buffalo-Plateauschuhen durch die Gegend und überragten die Jungen nun nicht mehr nur um einen, sondern gleich um zwei Köpfe. Die Jungen versuchten dem skurrilen Anblick ihres Gegenübers durch Adidas-Sporthosen mit seitlich angebrachten Druckknöpfen und aufgeplusterten Helly-Hansen-Jacken zumindest in der Breite etwas zu entsprechen. Hätten sie noch Vokuhilafrisuren und Schnurrbärte getragen, wäre die Menschenmenge auf unserem Schulhof auch gut als Razzia im Puff durchgegangen. Wo Anfang der Neunziger noch Grunge und Metal den Trend diktierten, waren in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Eurodance und Scooter angesagt. Als hätte man all die angenehme Andersartigkeit der ersten Dekade einmal durch den Enddarm von Godzilla geschleust. Farben zum Erblinden, Frisuren zum Verbieten und mittendrin Ashley, ein Schatten auf der Sonne.

Ashley war ein Grufti, eine Gothin oder, wie man in Gelsenkirchen sagte, ein Leichenlappen. In ihrem Outfit wirkte sie zwischen ihren Klassenkameraden wie ein Pinguin, der versucht, sich unter Kamelen zu verstecken. Unsere Blicke trafen sich, mein Herz pochte wie eine Handwerkerkolonne mit Schlagbohrern, entweder ich hatte einen Infarkt, oder ich war verliebt. Gothic war eine Subkultur, mit der ich bisher ähnlich häufig in Berührung gekommen war wie mit dem Gefühl von Erfolg. Gruftis und ihre Welt waren mir fremd, eigentlich wie jede Subkultur, bei der es darum ging, sich vom Mainstream abzuspalten, aus der grauen Masse an gesichtslosen Klonschafen hervorzuragen. Ich wäre damals nur zu gerne ein Klonschaf gewesen, der Median, der Durchschnitt, das farblose Mittel aller Nuancen, doch das klappte natürlich nicht. Ich war nicht New Wave, Emo, Punk oder Gothic. Ich war Basti, das Lehrerkind, die kleinste Subkultur der Welt.

Ich war fünfzehn und hatte mich mit meinem Schicksal arrangiert, mein Körper war ein Minenfeld der Pubertät, und »Freund« war ein Begriff, den ich im Lexikon nachschlagen musste. Ashley hingegen hatte sich ihre Andersartigkeit selbst ausgesucht, sie hatte ihre Person selbst erschaffen und hatte im Gegensatz zu mir nicht einfach den nächstbesten körperlichen Trümmerhaufen bezogen und abgewohnt. Ich winkte ihr unsicher zu, und unmerklich schien ein Lächeln über ihr Gesicht zu huschen, doch dann verschwand sie hinter einer Wand aus Mensch.

»Hey you, Faggot«, brummte mich ein Berg aus Fleisch an. Meine Augen wanderten langsam über eine Platte aus Brustmuskeln hinweg zu einem stoppeligen Hals hinauf, an dessen Ende sich statt eines Kopfs ein roter Ziegelstein mit Augen befand. Das war entweder Taylor, mein Austauschschüler, oder sie vermissten im Zoo einen Gorilla. Taylor war augenscheinlich ein englischer Rugbychampion mit eckigem Schädel und einem Gesichtsausdruck, gegen den selbst Bernd das Brot wie ein Quell der guten Laune wirkte. Vielleicht mischten sich die Engländer Testosteron ins Trinkwasser? Anders war nicht zu erklären, warum Taylor schon die Physis eines kanadischen Holzfällers hatte, während bei mir höchstens die Gesichtshaut an Holzfällersteak erinnerte.

»Fagott?«, dachte ich verwundert, komische Art der Begrüßung, Blasinstrumente zu benennen.

»Hello there, Flöte«, erwiderte ich daher unsicher und grinste verlegen.

Wenn es keinen zweiten ersten Eindruck gab, konnte ich nur noch hoffen, dass es vielleicht einen dritten gab, sonst war das Projekt Schüleraustausch jetzt schon gescheitert. Taylor musterte mich ebenso kritisch wie ich ihn.

»Are you gay?«, beendete er seine Inspektion meines maroden Körpers, der im Gegensatz zum britischen Stahlfleisch wie kurz vor der Zwangsräumung wirkte. Sein Finger zeigte auf mein T-Shirt, auf dem Alf in Badehosen aus einem Cocktailglas trank, ich fand das Motiv irgendwie hip, Taylor nicht.

»No, it’s Alf, the Alien with the long nose, you know?«, versuchte ich den Kulturtransfer und zeigte auf meine Nase, was sich sehr schnell sehr dämlich anfühlte.

»Do you like sports?«, fragte Taylor und beantwortete sich die Frage gleich selbst mit einem Blick auf mein kuscheliges Bäuchlein. Mit meinem Körper wurde man vielleicht Weltmeister im Pfahlsitzen, von Sport konnte nicht die Rede sein. Ich schüttelte den Kopf, die erste Antwort des Tages, die ich mit Bestimmtheit geben konnte. Es stellte sich heraus, dass man mir mit Taylor den Star der Rugbyjugendauswahl seiner Schule geschickt hatte. Rugby, die englische Antwort auf nonverbale Kommunikation, war der so ziemlich härteste Sport der Welt und für jemanden wie mich, der sich schon beim Minigolf beachtliche Fleischwunden zuziehen konnte, nicht gerade die erste Wahl. Na ja, vielleicht wurden wir ja trotzdem Freunde.

»Do you want to shower at my home?«, fragte ich gastfreundlich, fast zwei Tage Busfahrt mussten doch ziemlich anstrengend gewesen sein.

Ruckartig packte mich Taylor am Kragen und zog mich zu sich hinauf. Mein Alf-T-Shirt verrutschte, und unter dem schmerbäuchigen Besucher aus Melmac lugte ein echter irdischer Bauch hervor. Irgendetwas schien im Dialog verloren gegangen zu sein.

»Don’t fuck with me, gayboy«, spuckte mir Taylor ins Gesicht. Okay, mein Austauschschüler war ein Psychopath. Na ja, vielleicht wurden wir auch keine Freunde.

A perfect Family

Als wir in unsere Straße einbogen, warteten meine Eltern schon im Vorgarten unseres Reihenhauses und grinsten wie die Manson-Familie. Mein Vater hatte seinen Arm um meine Mutter gelegt, zur Feier des Tages trug er einen Schlips, auf dem ein Comicpinguin auf eine Leiter kletterte. Auch nicht besser als Alf. Meine Mutter, ebenfalls sehr aufgekratzt, trug ein Sommerkleid und ihre schicksten Pumps. Sie schienen sich richtig auf die Völkerverständigung zu freuen. Wie sie da strahlend vor dem Reihenhaus standen, wirkten sie allerdings ein wenig wie Versuchspuppen für einen Atomwaffentest.

Taylor hatte die gesamte Busfahrt zu uns nach Hause nicht viel von Verständigung gehalten und kein Wort mit mir gesprochen. Auch meine Versuche als Touristenführer durch Gelsenkirchen (»Look over there, that’s the Arbeitsamt, most of the people go there daily« oder »Look, that was once a church, now it’s a porn shop«) hatte er mit ausdrucksloser Miene ertragen, mein Gast hatte anscheinend das Emotionsspektrum einer Zahnbürste.

Mein Dasein gestaltete sich auch ohne Taylor derzeit nicht sonderlich erfolgreich, ich hatte eine Allergie gegen alles entwickelt, was mit meiner Schule zusammenhing. Wo andere von Gräserpollen Ausschlag und Reizhusten bekamen, sträubte sich mein ganzer Körper gegen mein Dasein als Lehrerkind. Ich hatte weniger Freunde als der Mond Einwohner, und die Omnipräsenz meines Vaters in der Schule machte es nicht eben leichter, welche zu finden. Kaum ein Tag, an dem mir kein Puddingbecher an den Kopf flog oder ich mein Deutschbuch nicht aus dem Klo fischen konnte. Ich war ein Außenseiter mit dem Alleinstellungsmerkmal Lehrerkind, nicht mal die klassischen Zufluchtsgruppen aller Jugendlichen, wie Punks, Gothics oder Nerds, wollten mich haben. Zeitweise kam ich mir vor wie der Letzte einer Art, ein Dodo mit Akne und Brustbeutel.

Als Taylor meine Eltern sah, hellte sich seine Miene plötzlich auf. Er rang sich sogar ein Lächeln ab, dann verbeugte er sich steif, als würde es sich bei meinem Vater nicht um einen Deutschlehrer, sondern um den Honorarkonsul von Sambia handeln.

»It’s a pleasure to meet you, sir«, sagte der Modellsoldat förmlich und ging dabei fast in die Knie. Dass mein Vater ihm nicht gleich noch den Handrücken zum Kuss hinhielt, erleichterte mich.

»I hope you had a pleasant journey«, warf mein Vater ein Phrasenschwein zurück. Taylor bejahte förmlich und smalltalkte freundlich, während ich danebenstand wie ein zurückgebliebener Hausmeister und mit meinen Sandalen Muster in den Kiesboden malte.

»Maybe you want to shower?«, fragte meine Mutter und kündigte danach an, dass es selbst gebackenen Erdbeerkuchen geben würde. Selbst bei meinem letzten Geburtstag hatte sie einen Kuchen vom Vortag gekauft und auf ihre Mehlallergie verwiesen. Langsam kam mir der Verdacht, dass dieser Schüleraustausch auch endgültig sein könnte und ich ab nächsten Monat in England leben sollte.

»Sure, Miss, that would be fantastic!«, antwortete Taylor enthusiastisch und warf mir dabei einen mahnenden Blick zu. Es bestand eine nicht geringe Chance, dass mein Haus nun die Zelle eines Schläfers war, dachte ich, während ich Taylor nachsah.

Center of Evil

Taylors Einweisung in mein Jugendzimmer war schnell erledigt, er hatte meine komplette Einrichtung innerhalb weniger Sekunden als »gay« identifiziert, und auch unser kurzer Dialog über seine Schlafstätte hatte nicht im übermäßigen Dissens geendet. Dann schlief ich halt auf der Matratze neben meinem Bett, war bei den sommerlichen Temperaturen im Zweifelsfall eh kühler.

Nicht nur in meinem Kinderzimmer, auch in der sozialen Hackordnung der Schule nahmen ich und Taylor gegensätzliche Positionen ein. Er war so etwas wie der unerreichbare Gipfel der Nahrungskette, der Löwe, der weiße Hai, ein Spitzenjäger, der keine Gefahren fürchten musste. Ich hingegen war eher so etwas wie ein Hühnerküken mit Hüftschaden, im Zweifelsfall verspeiste mich jedes andere Tier, die meisten sogar mit Begeisterung.

Mich Schülern wie Taylor zu erwehren, nahm ohnehin schon einen Großteil meines Tages ein, dass man mir so jemanden nun auch noch in mein Bett gelegt hatte, war natürlich ein ziemlicher Treppenwitz der Geschichte. Taylor und ich arrangierten uns, was bedeutete, dass ich vermied, ihn anzusprechen, und er mich einmal weniger am Tag verprügelte. Das war schon mal ein Kompromiss.

Über Hastings erfuhr ich nicht viel, außer dass es »fucking boring« war und wohl am Meer lag, was ja im Gegensatz zu Gelsenkirchen an der Emscher schon als klarer Standortvorteil erschien. Taylor und ich lebten schon nach zwei Tagen wie ein altes Ehepaar, das sich nach 40 Jahren entzweit und effektiv nichts mehr zu erzählen hatte. Gegenüber meinen Eltern verhielt sich Taylor weiterhin ausnehmend höflich, beim Abendessen würgte er mit Begeisterung die kreativen Kochideen meiner Mutter (»Ravioli und Rührei«) herunter, und auch die Unterhaltungen über seine Heimat waren von jedem Schimpfwort und »Fuck« befreit, selbst die Quizfragen meines Vaters über die englische Monarchie beantwortete Taylor mit einer Engelsruhe.

An unserem ersten gemeinsamen Schultag hatte sich Taylor ebenfalls sehr schnell zurechtgefunden und seinen Platz bei meiner Mobbingbrigade eingenommen. Er war direkt in der ersten Pause zu Gökhan Mutlu und Rene Maurer gegangen und hatte sich wortlos nickend eingereiht. Ablehnung verbindet. Gökhan Mutlu war ein kurzer, stämmiger Junge mit fast schon abstruser Körperbehaarung und der bösartigen Fiepsstimme eines Kastraten. Rene Maurer hatte eine ähnliche Physis wie Taylor, ein zur Höchstleistung gepeitschter Pennälerkörper, bei dem jede Muskelfaser im Tausch gegen eine Gehirnzelle entstanden war.

Während Taylor die Schulterroristen verstärkte, hielt ich Ausschau nach Ashley, die den deutsch-englischen Freundschaftsbeziehungen auch nicht wirklich zugearbeitet hatte. Der Kontakt zu ihrer Gastgeberin Martina Drökelmann schien, gelinde gesagt, eher oberflächlich, die beiden standen auf den genau entgegengesetzten Seiten des Schulhofs und würdigten sich keines Blickes. Martina war die Tochter eines Küsters und ein so bemerkenswert spaßbefreites Wesen, dass selbst ein Skatabend im Altersheim lustiger war als ein Nachmittag mit ihr. Für Martina war bereits bei ihrer Geburt ein Platz als Sachbearbeiterin in einer Behörde reserviert worden, wofür sie schon jetzt im grauen Twinset übte und als Mitglied der Schulbibliotheks-AG für das Mahnwesen zuständig war. Ich hätte gerne das Gesicht von Martinas Musterchristeneltern gesehen, als die tiefschwarze Austauschschülerin aus England das erste Mal am Esstisch Platz nahm und sich den Schleier aus dem Gesicht strich. Wahrscheinlich hatte ihr Vater telefonisch einen Exorzisten beim Vatikan geordert und ihre Mutter mit einem ausgestreckten Holzkreuz in der Hand versucht, den Dämon aus ihrem Esszimmer zu vertreiben.

Mein inständiges Starren schien Erfolg zu haben, denn Ashleys und meine Blicke trafen sich, und einen Augenblick wirkte es, als setzte die Drehung der Erde aus, als würde der Lauf des Trabanten in der unendlichen Tiefe des Raumes für einen Augenblick gestoppt, ein kosmischer Zwischenfall, hervorgerufen durch diese einzigartige Verschmelzung zwischen mir und ihr.

Als Ashley dann auch noch schüchtern lächelte, war es endgültig um mich geschehen. Langsam hob ich meine Hand zum Gruß, meine Finger schnitten durch die dicke Sommerluft wie Messer, gleich würde es zum Erstkontakt kommen. Wie warmes Leder legte sich die freudige Erwartung über mein pickliges Gesicht, ich konnte spüren, wie meine Beine den Halt verloren und weich wurden wie Toastbrot im Ententeich.

Dann gab das warme Leder beim Aufprall einen dumpfen Laut von sich, als hätte man mit einem Pfannenwender auf ein Schnitzel geschlagen.

Kurz bevor ich auf dem dreckigen Schulhofboden aufschlug wie ein Meteor aus Mett, konnte ich noch sehen, wie sich Taylor mit seinen neuen Freunden abklatschte und sie ihm dazu gratulierten, dass er einen Fußball so zielgerichtet über den halben Schulhof genau in mein Gesicht schießen konnte. Das war also das warme Leder der freudigen Erwartung gewesen. Mitten in die Fresse.

Nun war ich mir sicher: Wir würden ganz bestimmt keine Freunde werden.

Ein monochromes Mädchen

»Are you okay?«, flüsterte eine Stimme durch die Dunkelheit meiner Bewusstlosigkeit. Bevor meine Augen sich wieder bereiterklärten, Informationen an mein Gehirn zu senden, war das Schmerzzentrum schon dabei, Alarm zu schlagen. Mein Gesicht fühlte sich pelzig an, wie die Brüste von Pamela Anderson, unecht, nicht zu meinem Körper gehörig. Plötzlich nahm ich ein weißes Licht wahr, aus dessen Mitte mich zwei Augen neugierig betrachteten. Wenn das eine Nahtoderfahrung war, hatten sich die Katholiken und Bibelforscher geirrt. Gott hatte Brüste. Gott war ein Mädchen. Ein ausnehmend hübsches, weiß geschminktes Mädchen.

»Are you okay?«, fragte das Mädchen erneut. Das konnte definitiv nicht Gott sein, mein Befinden hatte den ja zuvor auch nie interessiert.

»Sure«, antwortete ich und ignorierte, dass in meinem Kopf ein besoffener Elefant zu Metallica Polka tanzte. Ich sprang auf, jetzt bloß keine Schwäche zeigen, Haltung bewahren, es war noch nicht alles verloren, auch wenn meine Hose voller Dreck war, an meinem Kopf nasses Laub klebte und ich sabberte wie eine Zuchtdogge. Okay, vielleicht war doch alles verloren.

»My name is Ashley, what’s yours?«, sagte Ashley und schob ihre Hand aus dem schwarzen Umhang heraus, den sie entweder gegen die herbstliche Kälte oder zum Schutz gegen fremde Mächte trug, und hielt sie mir hin. Alles an ihr wirkte zerbrechlich, das schmale Handgelenk ging in einen dünnen Arm über, das Gesicht war weiß wie Elfenbein und so fein und seiden, dass schon eine kleine Windböe eine ernsthafte Gefahr darzustellen schien.

»Basti, I’m Basti«, sagte ich und griff nach ihrer Hand, die sich ganz kalt anfühlte, vielleicht war mein Blut aber auch am Siedepunkt, zum einen vor Scham, zum anderen vor Aufregung.

»There’s a party tomorrow, will you be there, too?«, fragte Ashley, während ich immer noch ihre Hand schüttelte, als wollte ich Wasser an die Erdoberfläche pumpen. Martin Siekmann machte eine Fete in seinem Partykeller. »Sure«, wiederholte ich. Natürlich war ich nicht zu der Party eingeladen, aber mit einer ausreichend großen Menge Alkohol im Gepäck konnte ich mir den Eintritt vielleicht erkaufen.

»Okay, see you there«, sagte Ashley und lächelte mir erneut zu. Wenn das Gesetz der Regelmäßigkeit zutraf, hätte mich innerhalb der nächsten fünf Sekunden der nächste Ball am Kopf treffen müssen. Doch nichts passierte. Ich nahm das mal als gutes Omen: Ab morgen würde ich nicht mehr Single sein, die Klassenfahrt der Engländer würde mir meine erste Freundin bescheren.

Der Pädagogiklehrer
Die Schule ist ein Ort steiler Hierarchien. Der Abstand zwischen Lehrer und Schüler wird bewusst groß gehalten, die Respektsperson Pädagoge hat diese Distanz im Sinne eines Lehrerfolgs zu wahren. Der Lehrer soll Begleiter, Beobachter und Korrektor sein. Das Wichtigste am Lehrberuf ist, sich dieser Distanz jederzeit bewusst zu sein, um das Gefüge zwischen Lehrer und Schüler zu wahren und ein beidseitiges, von Respekt geprägtes Verhältnis zu ermöglichen. So weit die Theorie.
»Guten Morgen, du Arsch!«, brüllte Gökhan Mutlu, als Thomas Kippel zum ersten Mal durch unsere Klassentür trat. Herr Kippel nickte nur freundlich, als wäre das eine angemessene Anrede. Thomas Kippel war unser Pädagogiklehrer, und er war in der Schule ungefähr so gut aufgehoben wie Hansi Hinterseer als Vorband von Marilyn Manson. Herr Kippel galt als vogelfrei. Nicht nur, dass Herr Kippel durch sein naives und nahbares Wesen ohnehin kein besonders geeignetes Pädagogenmaterial abgab, zusätzlich vernachlässigte er von vornherein ein paar der wichtigsten Regeln im Umgang mit Schülern.
Regel Nummer 1: Lass dich nicht duzen.
»Morgen, ich bin der Tommy!«, duzte Herr Kippel in seiner ersten Stunde vergeblich am Humorverständnis der Vollpubertisten vorbei. Damit brach er das Erste Gebot. Schüler wollen Lehrer nicht duzen, die Distanz, die Lehrer für sich beanspruchen, ist durchaus beidseitig gewünscht, anders fällt das Lästern über die Fehler der Lehrer, schlechte Noten und empfundene Unfairness viel zu schwer. Auch der angedeutete »Highfive« mit der ersten Stuhlreihe, der von niemandem erwidert wurde, war peinlicher, als in die Dampfsauna zu kacken. Herr Kippel versuchte dies jedoch umgehend durch eine noch erbärmlichere Geste gutzumachen und zeigte uns das Peace-Zeichen. Das Peace-Zeichen! Herr Kippel war Mitte vierzig, trug einen Haarkranz, Hawaiihemden, kurze Hosen oder ein T-Shirt mit dem ausgeblichenen Logo von Roxette. Er war so nah am Puls der Zeit wie die englische Monarchie. Und jetzt auch noch das »Du«. Was anheimelnd und menschlich wirken sollte, wirkte verzweifelt und unecht.
Regel Nummer 2: Nicht auf jede Diskussion einlassen
Dass Herr Kippel auch noch »Pädagogik« unterrichtete, war der letzte Nagel in seinem Sarg. Ein Fach, das von einem Großteil des Klassenkörpers als »Pussykram« bezeichnet wurde, denn manche Mitschüler vertraten in Erziehungsfragen eher reaktionäre Thesen, was Rene Maurer mal mit der schönen Aussage zusammenfasste: »Immer montags kriegen meine Blagen auffe Schnauze.«
»Aber du hast doch noch gar keine Kinder, oder?«, fragte Herr Kippel und outete sich damit ein zweites Mal, denn in Gelsenkirchen verbot sich diese Frage gegenüber einem Vierzehnjährigen, hier hatten manche in dem Alter schon die zweite Scheidung hinter sich.
»Nö, aber wennse kommen, kriegense montags«, philosophierte Rene weiter gegen jede pädagogische Verantwortung an.
»Und warum gerade montags?«, versuchte Herr Kippel dem großmäuligen Schwachsinn mit Diskurs beizukommen.
»Für alles, wasse inne nächste Woche verbrechen«, argumentierte Rene und lachte.
»Das kannst du doch nicht mit deinem Gewissen verantworten!«, echauffierte sich der Du-Typ Tommy, auf dessen Pädagogenwangen sich erste rote Spannungsflecken bildeten.
»Doch. Besser Vorsorge als nachher Sorgen, ne?«, erwiderte Rene. »Und wennse dann nich hören, halt ich die Fäuste hin und sach: Die Linke riecht nach Krankenhaus, die Rechte riecht nach Friedhof. Dann haltenses Maul, feddisch!«, baute er sein pädagogisches Konzept aus.
»Aber Rene, das würdest du doch nie tun«, versuchte es Tommy abermals mit einer pädagogischen Wunderwaffe. Spätestens hier hätte in der wirklichen Welt jede Diskussion geendet. Nicht aber im Pädagogikunterricht:
»Klar, aufs Maul, sag ich.«
»Ach Quatsch.«
»Ich schwöa, Herr Kippel.«
»Tommy, ich bin der Tommy.«
Regel Nummer 3: Jugendkultur bleibt Jugendkultur
Generationsunterschiede bilden eine natürliche Grenze zwischen den Altersgruppen. Ähnlich wie Erwachsene Kinder nicht ernst nehmen, die versuchen, die Gepflogenheiten der Erwachsenenwelt zu imitieren, und dabei zum Beispiel übertrieben höflich Handküsse verteilen, nehmen Kinder Erwachsene nicht ernst, die mit Hawaiihemden und Roxette-T-Shirts auftrumpfen wollen. Das war unter den Jungs in meinem Alter ungefähr so hip wie Kniestrümpfe oder Dressurreiten.
Auch wenn »Tommy« immer wieder versuchte, unsere Unterrichtsstunden mit aktuellen Themen und Trends zu würzen, vergriff er sich dabei leider im Jahrzehnt. So zum Beispiel, als er der Klasse vorschlug, den Inhalt von Pink Floyds »Another Brick in the Wall« auf pädagogische Konzepte hin zu untersuchen. Dazu zeigte er uns das weltbekannte Video mit der Industrieästhetik und den marschierenden Hämmern.
»Was meint ihr, was das hier ist?«, fragte er, um allen Assoziationen freien Lauf zu lassen.
»Werbung für Hornbach?«, erklang es aus dem Klassenzimmer.
Dass Tommy nach dieser Antwort keinen weiteren Analyseversuch mehr unternahm, verwunderte selbst uns nicht.
»Das ist PINK FLOYD!«, brüllte er stattdessen ungewohnt energisch, was ihm von einem Großteil der Klasse aber nur ein Schulterzucken einbrachte.
»Syd Barret? Roger Waters? ›The Wall‹?«, versuchte er abermals unsere Gehirnzellen zum Klingen zu bringen.
»Walla?«, formulierte Gökhan wohlgewählt.
»›The Wall‹, nicht Walla, Gökhan, kann doch nicht wahr sein, dass ihr das noch nie gehört habt!«, rief er entgeistert und versuchte noch einmal, den Videorekorder in Gang zu setzen.
Doch leider war es wahr, die meisten hatten noch nie davon gehört. Für den Rest der Klasse, die wie ich bereits als Kind vom Vater mit Klassikern der Rockmusik beschallt wurden, war »The Wall« zwar vertraut, aber es wäre reiner Selbstmord gewesen, das offen zuzugeben. Denn das Album erschien 1979, zu einer Zeit, als das Gökhan-Spermium noch andere Spermien vermöbelte und auch der Rest der Klasse noch nicht auf dem Planeten wandelte. Damit lag Tommys Versuch, den Zeitgeist in unser Klassenzimmer zu lassen, nur schlappe zwei Jahrzehnte daneben und war damit so weit von unseren Interessen entfernt wie Chopin oder Schädelvermessung.
Das war selbst für Tommy Kippel zu viel, und kurz bevor er anfing, mit dem Kopf eine Kuhle ins Pult zu hämmern, gab er uns mit dem Worten »Jetzt ist Pause« frei und stürmte aus dem Klassenzimmer in die Wärme eines Frühlingstages.
Gerade als sich die Tür schloss, gab ihm die Endlosschleife des Videorekorders noch den Refrain von »Another Brick in the Wall« mit auf den Weg: »We don’t need no education«, brüllte der Kinderchor.

Pediculus humanus capitis

Um mir Zugang zu Martin Siekmanns Party zu verschaffen, »borgte« ich mir auf Lebenszeit eine Drei-Liter-Flasche Lambrusco in Form einer griechischen Säule, die mein Vater als Entschuldigung von einem Lieferdienst erhalten hatte, weil eine tote Maus in der Bolognese Rückenschwimmen geübt hatte. Da niemand sich traute, den »Chateau Frostschutzmittel« zu vertilgen, entwendete ich ihn unbemerkt aus dem Keller.

Als ich aus meinem Zimmer trat, in dem ich die riesige Flasche deponiert hatte, hörte ich Schmerzensschreie aus dem Badezimmer. Ich rannte hinüber und sah, was auch mir gleich blühen würde: Mein Vater zog an den Haaren meiner Mutter und fuhrwerkte an ihrem Kopf herum, als wollte er eine Autobatterie ausbauen. Ob die Nachbarn wohl auch dieses Mal wieder wortlos an ihren Wohnzimmerfenstern stehen und hinterher behaupten würden, nichts mitbekommen zu haben? Ich ließ mutlos den Kopf hängen und setzte mich neben meine Mutter auf den Badewannenrand. Ich würde der Nächste sein.

Was klingt, als müsste Barbara Salesch besorgt an ihrem Brillenbügel kauen, war bei uns halbjährliche Routine.

Wir litten unter Pediculus humanus capitis. Kopfläusen.

Eine ganze Armee dieser winzigen Biester hatte uns mal wieder zum Club Med der Parasiten auserkoren. Der erste Wirt war wie immer meine Mutter, die als Grundschullehrerin eine perfekte Brutstätte für alle Arten von Krankheiten und Infektionen war, es gab kaum einen Morbus, den ihr nicht irgendein rotznasiges Kind auf Kuschelkurs schon mal zum Abschied geschenkt hatte. Gegen die meisten körperlichen Fisimatenten wie Röteln, Windpocken oder Masern war man immerhin nach einer Infektion oder Impfung immunisiert, dies galt jedoch nicht für die gemeine Kopflaus, die trotz mehrmaliger Auslöschung jedes Lebens auf der Schädelplatte mit fiesester Chemie immer wieder zurückkehrte und sich wahrscheinlich sogar freute, dass ihre Vorgänger noch Kochgeschirr und Teetassen zurückgelassen hatten. Ich stellte mir die Neubesiedlung meines Kopfes immer ein wenig wie eine verspätete Mondmission vor, bei der sich die Astronauten über das zurückgelassene Equipment ihrer Vorgänger freuten. Jetzt fuhr also ein heiterer Erkundungstrupp behelmter Läuse mit dem Mondbuggy durch das dichte Gestrüpp meiner Haare und suchte nach einer schnieken Stelle zur Besiedlung. Wenn die gefunden war, fingen die Läuse an zu pimpern wie die Wollnys, aus den paar Neuankömmlingen waren nach ein paar Tagen ganze Hundertschaften geworden, die gemeinschaftlich Löcher in die Köpfe unserer Familie bohrten, als würden sie darunter Öl vermuten.

Ein chemischer Nebel lag bleischwer in der Luft, der unser Badezimmer zur Kampfmittelräumzone gemacht hatte. Ein Großteil der Tinkturen und Wässerchen, die mein Vater einem angeekelten Apotheker abgekauft hatte, merzte jedoch nicht nur die Läuse aus, sondern trieb auch die Haarwurzeln aus ihren Verankerungen und ließ einen tagelang wie ein Biber in Paarungsstimmung riechen. Von ranzig wie »Butter in der Bodenheizung« bis unerträglich wie »Herbal-Essences-Napalm« waren alle Duftrichtungen dabei. Um sich diese schreckliche Selbstfolter zu ersparen, gab es nur ein Mittel, das kaum besser war: den Nissenkamm.

Diese vom Teufel persönlich entworfene Metallreuse war mit so engen Zacken ausgestattet, dass die Läuse und ihre Eier unweigerlich darin hängen blieben. Leider waren sie nicht die Einzigen. Das Ding war so eng, scharf und hartkantig, dass sich meist auch die Hälfte des Scheitels darin verfing und die heillose Verknotung nur zu lösen war, indem man fester nachzog. An diesem Punkt waren wir gerade. Mein Vater hatte meiner Mutter mithilfe des Nissenkamms einen Seemannsknoten in die Fontanelle geflochten, um den sie die meisten Matrosen beneidet hätten. Jetzt gab es nur noch die Möglichkeit, den Nissenkamm eisenhart durchzuziehen, was meine Mutter mit einer lauten Mischung aus Schmerzensschreien und nicht jugendfreien Beschimpfungen goutierte. Bei mir hatte sich der Nissenkamm bereits vor Jahren schon als falsches Bekämpfungsmittel erwiesen. Meine Mutter hatte damals beim Versuch, mir die Nissen aus den Haaren zu kämmen, fast die Hälfte meiner Naturkrause mitgenommen, weshalb ich jetzt schon mal wortlos den Langhaarschneider holte.

Denn es blieb im Zweifelsfall nur der komplette Kahlschlag. Nach einem prüfenden Blick auf meine Kopfhaut griff meine Mutter daher wortlos nach der surrenden Schermaschine. Ein solches Gerät sollte man Grundschullehrerinnen eigentlich zum Staatsexamen dazuschenken, dachte ich, während sie sich ans Werk machte. Das wäre dann schon das dritte Mal in meiner Schulzeit, dass ich wie ein aufgedunsener Feldwebel ohne Haare zum Unterricht erschien. Eigentlich hatte ich mich ja schon daran gewöhnt, dass meine Physis mich immer wieder auf die Probe stellte, doch diesmal waren die Umstände anders. Heute Abend war schließlich die Party bei Martin Siekmann, und ich war ein einziges pubertäres Gefühlsbündel, eine Supernova kindischer Verliebtheit. Ich konnte Ashley nicht als pickeliger Buddha gegenübertreten, da trug ich lieber für die nächsten zwei Wochen der Austauschs eine Mütze.

Taylor betrachtete das Schauspiel um die Köpfe meiner Familie mit einigem Abstand, sein Drei-Millimeter-Kurzhaarschnitt hatte ihn vor der Invasion der Blutsauger bewahrt. Hoffentlich erzählte er seinem Begleitungslehrer nicht, dass in seiner Gastfamilie die Läuse grassierten, sonst kam wahrscheinlich noch das Gesundheitsamt und räucherte unser Wohnzimmer aus.

»Du musst schon still halten«, motzte meine Mutter und schob meinen Kopf vor dem Spiegel wieder zurecht. Auch ihre Laune hatte unter den jährlichen Angriffen der Kopfparasiten sichtlich gelitten, wahrscheinlich trug sie in der Schule jetzt zur Abwehr immer eine Badekappe. Und schon fielen die kümmerlichen Reste meiner Frisur dem Rasierer zum Opfer, links und rechts meines Sichtfelds regnete es Haare. Keine fünf Minuten später sah ich mit meiner gereizten Gesichtshaut und der runden Schädelplatte wie ein Streichholz aus.

»Komm schon, die wachsen ja nach«, versuchte meine Mutter vergeblich, mich aufzumuntern. Mit gesenktem Kopf wankte ich aus der Tür, noch schlechter konnte ich mich kaum fühlen.

»Hey, Kojak, got cancer?«, schleuderte es mir aus Taylors Richtung noch fester an den Kopf als jeder Fußball, als ich an ihm vorbei in mein Zimmer ging.

Ich hatte mich geirrt, noch schlechter ging immer.

Der Partykeller

Mit noch immer juckender Fleischmütze unter einem faltbaren orangefarbenem Jägermeistercowboyhut stand ich wenig später vor der verschlossenen Kellertür von Martin Siekmann. Von innen drangen die dumpfen Bässe plumper Eurodance-Musik durch das Schlüsselloch, und Disconebel schob sich unter dem Türspalt hindurch, wie in einem schlechten Horrorfilm. Obwohl hinter dieser Tür kein irrer Axtmörder auf mich wartete, sondern nur ein Haufen Teenager mit Gesichtskirmes und unfertigen Körpern, war ich aufgeregt, wie damals, als beim Vorsingen mit dem Schulchor mein Stimmbruch einsetzte.

Ich schaute an mir hinab und war einigermaßen zufrieden damit, was ich aus der schwachen Ausgangslage herausgeholt hatte. Das Einzige, was meiner konischen Körperform und dem pickeligen Gesicht so richtig geschmeichelt hätte, wäre zwar eine Burka gewesen, doch in Ermangelung dessen hatte ich auf die partykompatibelste Kleidung zurückgegriffen, die ich in meinem Schrank finden konnte. So trug ich nun ein schwarzes Polyesterhemd mit chinesischen Schriftzeichen und eine Krawatte mit einem grünen Feuer speienden Drachen. Kombiniert mit einer Dreiviertelkakihose und Doc Martens, sah ich nun dezent pflegebedürftig aus. Auch die Vermutung, ich hätte mit einem Rudel Psychiatrie-Insassen einen KIK-Textildiskont geplündert, war bei meinem Anblick nicht ganz unbegründet. Auch olfaktorisch hatte ich vorgesorgt und mir eine komplette Dose AXE-Moschusdeodorant über den Körper verteilt. Schweißflecken waren somit zwar ausgeschlossen, allerdings hatte unser Hund direkt nach meinem Bad im Deo versucht, sich mit meinem Bein zu paaren.

Ich hatte meine Dreiliterflasche Lambrusco in der Armbeuge. Ein feiner Tropfen, der sehr wahrscheinlich nach Motorenöl schmeckte und zu Erblindung führte, aber immerhin war die Flasche schön.

Ein letztes Mal einatmen, Haltung annehmen, Bauch einziehen. Klopfen.

Ein junger Mann öffnete und schielte mich durch den Türspalt an, anscheinend war der Billig-Lambrusco hier bereits verkostet worden.

»Was is?«, seiberte Martin Siekmann, bei dem mein Kommen keine besondere Freude hervorzurufen schien.

»Ich muss Taylor, meinem Austauschschüler, was sagen. Außerdem hab ich jede Menge Fusel dabei«, biederte ich mich an. »Na dann, komm mal rein. Du siehst aus wie das hässliche Kind von Jürgen von der Lippe und Hella von Sinnen«, textete mir der Gastgeber kreativ entgegen und traf mein Outfit damit wohl recht gut. Egal, ich musste da rein, irgendwo da drinnen war Ashley, das Mädchen meines Herzens, der warme Punkt im Universum.

»Ja, du siehst auch scheiße aus, du Sackspaten«, murmelte ich und drückte Martin die Flaschen in die Hand, Bezahlung für meinen Aufenthalt, die er gerne annahm.

Als ich den Keller betrat, tat sich das klassische Panorama einer Neunzigerjahre-Kellerparty unter Minderjährigen auf. Überall lagen und standen Pärchen herum, die sich gegenseitig die Lungenflügel mit den Zungen massierten, während ein unterdimensionierter CD-Player den Raum mit dem Brei einer »Kuschelrock«-CD beschallte, was dem Ganzen den Charme einer tschechischen Partnertauschbörse bescherte.

Mit 15 glaubt man, Küssen bedeutet, dass sich zwei Partner gegenseitig darin überbieten, das größte Vakuum in der Mundhöhle des anderen zu erzeugen. Da wurde gesaugt, gezogen und gepümpelt, als gelte es, einen verstopften Abfluss zu befreien. Das größte Zeichen von Leidenschaft war das Markieren des Partners mit einer Art persönlichem Emblem. Ähnlich wie beim Branding texanischer Kuhherden wurden absurde Blutungen in den Hals des Gegenübers gesaugt, die dann als Knutschflecke Zeichen der Reife darstellen sollten. Gefürchtet war dabei ganz besonders Robert Zinker oder »Der Sauger«, wie man ihn auch nannte. Robert Zinker war vom lieben Gott mit einem besonders breiten Mund ausgestattet worden, den er vornehmlich dazu benutzte, sich wie ein Egel an dem Hals seiner Auserwählten festzusaugen. Warum sich Mädchen dieser Tortur unterzogen, war nicht ganz klar, auch jetzt hatte Robert Zinker schon wieder ein Opfer gefunden. Er lag neben Martina Drökelmann auf einer speckigen Matratze und vakuumisierte ihr fast das Gehirn heraus.

Der Partykeller war eigentlich nur ein Souterrain mit vergitterten Fenstern und einer Kiefernholzdecke, ausgestattet mit Ohrensesseln und einer Minibar. Normalerweise feierten hier Martin Siekmanns Beamteneltern mit ihren spaßfreien Freunden. An Samstagabenden tanzten hier vom Alkohol enthemmte Sparkassenfilialleiter mit dünnen Haupthaar und hochgestellten Hemdkragen zu »My Generation« von The Who und versuchten sich mit Pommesgabel und Headbangen an der Wiederbelebung einer wilden Jugend, die sie bei genauer Betrachtung nie gehabt hatten. Doch da Martins Eltern sich für zwei Wochen mit ihrem Campingwagen im Harz langweilten, hatte er sturmfrei und den Keller für diese Zeit zu einer Paarungsstätte für Pubertisten ernannt. Wenn sie gewusst hätten, dass ihr Kind und seine Freunde sich während ihrer Abwesenheit mit widerlichen Drinks der Marke Batida de Coco und Kirschsaft oder Blue Curaçao und O-Saft den IQ dezimierten, wären sie wahrscheinlich zu Hause geblieben und hätten ihren Thronfolger an der Heizung festgekettet.

In der Mitte des Kellers hing schlaff ein Scheinwerfer, der den Raum abwechselnd in drei Farben hüllte, und ein kleiner Nebelautomat hustete unregelmäßig Qualm in den Raum. Es roch nach Bier, Schweiß und Käse. Romantisch wie eine Hornhautentfernung, aber mit genug Alkohol bekam selbst dieses Interieur ein ansprechendes Flair.

Dann sah ich sie. Hinter einer Wand aus Nebel stand Ashley, wie immer schwarz wie Sonja Zietlows Seele. Sie trug Lederstiefel mit riesigem Absatz, unter den Löchern der Netzstrümpfe glänzte milchweiße Haut. Wie auf einem Laufband rollte ich in Ashleys Richtung, meine Füße meldeten die Schritte nicht ans Hirn, ich schwebte durch den Raum und stand plötzlich vor ihr.

»Hi«, sagte sie und lächelte mich tatsächlich an.

Jetzt wurde es schwierig, nun musste ich etwas Geistreiches sagen, am besten etwas mit Mehrwert, etwas Witziges, etwas, das Ashley spontan von meinen Qualitäten überzeugte, das ihr zeigte, dass ich der Richtige für sie war.

»Hi«, sagte ich und winkte mit meiner Hand in der klammen Kellerluft hin und her wie ein Verkehrspolizist. Um mich endgültig lächerlich zu machen, konnte ich ja noch ein bisschen meinen Namen tanzen.

Als hätte Ashley meine Gedanken gelesen, fragte sie: »Do you want to dance?« und traf damit zielsicher meine größte Schwachstelle. Denn neben meiner Minderbegabung für Sport jeder Art konnte ich auch überhaupt nicht tanzen. Natürlich behauptet jeder Mann von sich, nicht tanzen zu können, in meinem Fall war diese dahingeworfene Floskel allerdings wörtlich zu verstehen. Meine Eltern hatten mich bereits nach der ersten Stunde wieder in der Tanzschule abgemeldet, weil ich meiner Tanzpartnerin einen Mittelfußbruch in den Schuh gestampft hatte. Angeblich sollen meine Verwandten auf der Hochzeit meiner Cousine in Erwägung gezogen haben, einen Notarzt zu rufen, weil sie meine Verrenkungen für Schüttelkrämpfe oder einen epileptischen Anfall hielten.

Ich nickte schicksalsergeben, vielleicht hatte ich sie ja auch falsch verstanden und sie wollte nur etwas trinken. Leider nicht. Ashley nahm mich an der Hand und zog mich auf die Tanzfläche.

Der CD-Player schepperte »Wish you were here« von Rednex in den Raum, das war Waterboarding für die Ohren. Stocksteif wie ein Bügelbrett wippte ich von einem Fuß zum anderen, während ich meine Hände brav an Ashleys Hüfte tackerte. Bisher lief das doch ganz gut, Ashley brauchte immerhin noch keine ärztliche Hilfe, dachte ich und machte einen mutigen Ausfallschritt.

Dann zog mich meine Tanzpartnerin plötzlich zu sich heran, sodass mein Kopf auf ihrer Schulter auflag. Ashley roch ein wenig wie frisch exhumiert, nach Patschuli, dem Parfüm aller Gruftis. Ich mit meiner Jahresration Moschus war anscheinend nicht nur für brünftige Elche attraktiv, denn Ashley flüsterte wahrhaftig »You are so sweet« in mein Ohr. Ich schaute ihr tief in die Augen und begriff, dass meine Chance jetzt gekommen war. Auch wenn ich in meiner Kleidung aussah, als bräuchte ich dringend eine Delfintherapie, nahm ich in diesem Moment all meinen Mut zusammen und küsste Ashley inbrünstig. Beherzt schaltete ich den oralen Traktorstahl ein und zog Ashley noch enger an mich. Meine Zunge schoss hervor wie eine halbgare Fleischwurst und landete direkt in Ashleys Rachen.

Das also war Romantik. Endlich wusste ich es. Romantik schmeckte nach Gyros und Kaugummi.

Klassenfahrten - Die Hierarchie der Hölle

So wie es bei Lehrerkindern unterschiedlich starke Ausprägungen des sozialisationsbedingten Schadens gibt, können auch Klassenfahrten in drei Stufen der Monstrosität eingeteilt werden. Je nachdem, welche Stellung man innerhalb der schulischen Hackordnung bekleidet, kann die staatlich subventionierte Freizeitbereicherung von Stufe 1 (super, einen Tag schulfrei!) bis hin zu Stufe 3 (Guantanamo) reichen.

Die Kenntnis der Eskalationsstufen einer Klassenfahrt hilft Eltern, Lehrern und Schülern dabei, sich vor der Abreise zügig in Sicherheit zu bringen. Die Ursprünge dieser Erkenntnisse entstammen übrigens dem überlieferten Sagenschatz wandernder Gemeinschaften wie Wikingern, Raubrittern oder Aushilfslehrern.

Klassenfahrt Stufe 1

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Merkmale

Kurze Ausflüge zu kulturell bedeutsamen Stätten im Umkreis von 400 Kilometern, Dauer meist nicht länger als zwei bis drei Tage, was aber auch schon reicht, damit manche Pädagogen danach die häusliche Tagespflege beantragen und sich bis 2019 krankschreiben lassen.

Mögliche Ziele

Deutschland und seine Anrainerstaaten bieten ein unendliches Repertoire an Zielen mit kulturhistorischer Bedeutung, beispielsweise Xanten oder Trier. Dort lassen sich kulturelle Entwicklungen sehr schön nachvollziehen – außerdem liegt Trier bei Bitburg, in Bitburg gibt es Bier und mit der Bierverkostung einer Brauereiführung reißt man noch den faulsten Schüler aus der Lethargie.

Nötiges Budget

Die Kosten sind recht überschaubar, sie fallen eigentlich nur für Bus und Unterbringung an, die meist irgendwo zwischen Schweinestall und dem Verlies vom Phantom der Oper angesiedelt ist. Vorsicht bei der Berechnung der Buskosten. Sollten die zu fahrenden Kilometer nicht exakt kalkuliert worden sein, macht der Busfahrer entweder so lange Pause, bis die Lehrer ihm ihre Uhren, Portemonnaies und Ringe aushändigen – oder man hat zu viel einkalkuliert und eiert dann stundenlang durch die hinterletzte Pampa, während der Lehrer jede Fahrbahnmarkierung kommentiert (»In dem Wald links von euch gibt es die größte Population von Hühnerhabichten in Westdeutschland, rechts seht ihr einen stillgelegten Braunkohletagebau«), bis bei manchen Schülern vor Langeweile der Puls aussetzt.

Problemfaktor

Für vom Aussterben bedrohte Tierarten und stillgelegte Braunkohletagebauanlagen interessieren sich Schüler im Normalfall so sehr wie für Klöppelkurse und Frischkäsezubereitung. Das heißt, dass der Pädagoge sehr wahrscheinlich drei Tage eine Gruppe lahmender Pickelgesichter durch Ruinen treiben muss, die die ganze Zeit damit beschäftigt ist, heimlich besoffen zu werden oder aus Not anfängt, aufgeklaubtes Laub vom Boden zu rauchen.

Schlechte Vorzeichen

Wenn die Schüler schon im Bus einstimmig »WIA FAHRN IN PUFF NACH BATZELOOOONA« anstimmen und sich an der Raststätte statt eines überteuerten Schnitzels mit Pommes lieber Tequila und Zitronen kaufen, heißt es: Obacht, liebe Pädagogen.

Klassenfahrt Stufe 2

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Merkmale

Hier wird es schon ernster. Nicht, dass sich die Ziele dieser Fahrten zwingend durch eine größere Distanz zum Heimatort auszeichnen, aber sie bergen dennoch ein höheres Potential, in der totalen Katastrophe zu enden. Grund dafür ist der immer lobenswerte Gedanke der Lehrer, den Schülern Erlebnisse fern des Alltags zu bieten. Dabei schwingt immer die Gefahr mit, dass der Lehrer danach nur einen Teil des Klassenkörpers wieder mit nach Hause bringt – die Unsportlichen, Völkerballopfer und Bilderbuchausmaler bleiben meist auf der Strecke.

Mögliche Ziele

Der Klassiker ist hier natürlich die Fahrt zum Reiterhof, die meist in der Unterstufe durchgeführt wird und den Stadtkindern nicht nur die Schönheit der Natur vermitteln will, sondern auch Physis und Koordination trainieren soll. Alternativ werden zu diesem Zweck auch Zooausflüge oder Fahrten ins Naturschutzgebiet unternommen. Der Reiterhof wird ein zweigeteiltes Echo im Klassenverband hervorrufen, das ungefähr so aussieht:

Mädchen: »Reiterhof? Jaa! Juchuu!« (gekrönt von Tränen und Freudentänzen).

Jungen: »Reiterhof? Nein! Bloß nicht!« (auch gekrönt von Tränen, aber ohne Freudentänze).

Nötiges Budget

Gehobene Budgetklasse. Die Pflege und Unterbringung der Tiere erzeugt ja einiges an Kosten. Die der Klassenfahrer eher weniger, da sowohl die sehr übersichtlichen Hygieneeinrichtungen (eine Dusche und ein Klo für alle) und die Zimmer (oder »Löcher« wie sie spätestens nach einer Nacht heißen) an der Grenze des Unzumutbaren sind. Bei Beschwerden über die Verpflegung mit Erbsensuppe, die wie ein Badezimmerteppich schmeckt, werden die Zimmer immerhin mit einem Salzleckstein ausgestattet, zumindest bei Pferden hilft das immer. Auch können nach so einer Fahrt ganz schöne Kosten für einen Chiropraktiker auf die Schule zukommen. Na ja, wenn das Pony überhaupt noch zu retten ist, nachdem ein zwei Zentner schwerer Pommesbomber namens Pascal eine Falte hinein gesessen hat.

Problemfaktor

Hoch. Wo mehr erlebt wird, da muss auch mehr überlebt werden. Erstens denken die meisten Stadtkinder, Pferde seien einfach sehr große Hunde, zweitens schlägt sich der zivilisationsbedingte Mangel an Bewegung stark in der mangelnden Reitfähigkeit nieder.

Da wird versehentlich der Hintern statt des Kopfes gestreichelt oder konstant geschrien, noch bevor das Tier überhaupt losgetrabt ist. Wenn es sich dann in Bewegung setzt, fällt spätestens nach zwei Metern der Erste runter, bleibt im Steigbügel hängen und wird so lange mit der Fresse über die Sägespäne geschleift, bis man ihn nur noch »das Gesichtsparfait« nennen kann.

Schlechte Vorzeichen

Wenn im Bus ein Best Of von »Fury in the Slaugterhouse« läuft und ein Großteil der Schüler einen dreistelligen Body-Mass-Index hat, sollte man sich als Pädagoge darauf vorbereiten, dem Reiterhof einige Tiere ersetzen zu müssen und das nächste halbe Jahr in der Schulkantine Lasagne essen zu müssen.

Klassenfahrt Stufe 3

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Merkmale

In Stufe drei wird es jetzt härter als die Lache eines Nussknackers. Solche Touren, oder Torturen, sind nur für die abgebrühtesten Pädagogen geeignet, die physisch sowie psychisch am absoluten Limit der Leistungsfähigkeit agieren. Bei Klassenfahrten der Stufe 3 wird nicht nur eine beachtliche Distanz überwunden, es werden auch die körperlichen Leistungsgrenzen aller Beteiligten abgefragt. Sesselschoner, Bärchenwurstesser und Ingwerteenipper müssen hier gar nicht erst antreten, sie werden es nicht überstehen. Klassenfahrten der Stufe 3 konfrontieren die Lehrer und Schüler immer mit der größten Kraft unseres Planeten: der Natur, die sich auch von einer Dose Ungezieferspray und einem Thermoschlafsack nicht aufhalten lässt.

Mögliche Ziele

Ende der Leseprobe