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Lyon ist eine vielfach unterschätzte Stadt, denn sie hat bereits in jeder erdenklichen Art und Weise Geschichte geschrieben. Doch gilt sie in vieler Leute Augen als plumpes Industrienest. Römische Kaiser, Revolutionäre, große Mediziner und viele mehr rühmen sich ihrer Herkunft am Zufluss von Rhône und Saône. Liegt es da nicht nahe, dass Lyon seinen ehemaligen Status als antike Größe gar nicht aufgegeben hat? Commissaire Leclerc, sein Name so typisch wie sein gallisches Äußeres, ist Leiter der Mordkommission der städtischen Polizei von Lyon. Als er eines Nachts aus seinem Bett geklingelt wird ahnt er noch nicht, was ihn in den folgenden Tagen erwartet. Der Mord an einem Küster ist nur der Anfang. Irgendjemand versucht ihn mit allen Mitteln bei seinen Ermittlungen zu behindern. Und dieser jemand hat eindeutig zu viel Einfluss…
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Während auf der Rue Mercière die letzten Gäste ihre Cocktails leerten und sich auf den Heimweg vorbereiteten, war unweit von ihnen die alte Kirche St. Nizier bereits seit einigen Stunden geschlossen. Wie viele der Gotteshäuser Lyons war auch sie sehr früh entstanden und sogar schon zu Zeiten Roms existierte hier vermutlich ein Tempel, von dem heute natürlich nichts mehr zu sehen war.
Die lange Geschichte hatte ihre Spuren allzu deutlich hinterlassen. Die Türme waren asymmetrisch; des einen Spitze rostrot durch Backstein, die des anderen strahlend weiß. Auch viele andere Details stimmten nicht miteinander überein. Ein Brand hatte die Basilika vor Jahren entstellt und bei der vor kurzem vorgenommenen Restauration fehlte es wie so oft an finanziellen Mitteln. Diese wurden von Seiten der Kirche in vermeintlich wichtigere Vorhaben investiert oder bedeutendere Bauwerke.
Der Basilika waren mit der Zeit unterschiedlichste Aufgaben zugekommen. In ihrer Entstehungszeit diente sie vermutlich als Attistempel; ob griechisch oder römisch, man nahm es damit nicht so genau. Später wurden dort die städtischen Eldermänner ernannt und die Prostituierten der Stadt okkupierten das alte Gemäuer eine Weile. So gesehen hatte sie viel von dem durchgemacht, was es in zwei Jahrtausenden für eine Kirche zu erleben gab. Vielleicht mehr als andere Kathedralen dieser Welt.
Um den davor befindlichen kleinen Place de Saint-Nizier war es still geworden. Nur entfernt waren die Stimmen der Nachtschwärmer zu hören, ein paar Verliebte schlenderten vorüber, ein Obdachloser verrichtete sein Geschäft und überhaupt schien alles wie an jedem anderen Tag. Kleine Gassen bildeten die Querverstrebungen der größeren Avenues, sofern man eine baumlose Straße eine Allee nennen durfte. Ein paar letzte beleuchtete Fenster zeigten die Projektionen der Fernsehbilder ihrer Besitzer, ansonsten vernahm man lediglich das leise Säuseln des Windes.
Der Küster der relativ kleinen Basilika, Joseph Messier, machte wie jede Nacht gewissenhaft seine letzte Runde durch sein geliebtes Heiligtum und rückte hier und da noch ein paar Gegenstände um wenige Zentimeter zurecht. Ordnung musste sein. Weder im Hauptschiff noch in den alten Kellergewölben war etwas Ungewöhnliches geschehen. Joseph befand sich bereits in der hinter St. Nizier liegenden gleichnamigen Gasse, als plötzlich eines der Hauptportale zuschnappte und einen lauten Knall von sich gab. Erschrocken fuhr der alte Mann zusammen.
»Fünfzig Jahre…, in fünfzig Jahren gewissenhafter Arbeit hab’ ich doch tatsächlich eines der Tore vergessen. Putain!«, brummelte er vor sich her, wobei er letzteres mit einem, »Oh, Herr, vergib mir!«, wieder gut machte.
Ohne zu zögern machte er sich auf den Weg zurück ins Kirchengebäude. Die Türen und ihre Schlösser waren nicht mehr die Jüngsten und schwer zu entriegeln, daher dauerte der Vorgang eine Weile. In Kirchen wie diesen gab es große handgeschmiedete Schlüssel, deren Funktionalität schwer mit neueren mithalten konnte. Doch sie bewahrten eine gewisse Romantik und transportierten einen Hauch von Mittelalter. In Luftlinie war der Weg selbstverständlich alles andere als lang, aber Joseph war genauso in die Jahre gekommen wie sein Arbeitsplatz und brauchte daher Zeit.
Die Böen schlugen unregelmäßig gegen die mächtigen Mauern, während der Resonanzkörper der Basilika ins Schwingen geriet und ein tiefes Wabern von sich gab. So blieb Joseph das leise Fluchen seines ungebetenen Gastes verborgen, der sehr wohl wahrgenommen hatte, dass nach seinem Missgeschick an einer der Hauptpforten Ärger drohen würde. Er hatte nicht ahnen können, dass bei diesem Wetter der Durchzug die mächtigen Tore wie Segel zu blies, ungeachtet ihrer schweren Scharniere und massiven Bauweise, die ein sonst langsames Schließen garantierten.
Eine gewöhnliche Tür war im Verhältnis zu diesen Kolossen doch eher wie ein Polaroidfoto im Vergleich zu einem Poster. Allein was die Materialstärke betraf und die bereits durchstandene Lebensdauer, konnte kaum eine Tür im Wettbewerb der Holzrechtecke mit Scharnier mithalten. Doch Geschehenes ließ sich nicht mehr revidieren und so litten Kirchentore unter Alterserscheinungen.
Während die Schritte des Küsters immer lauter zu hören waren, musste der Eindringling schleunigst ein Versteck finden; ohne Erfolg. Joseph stand bereits mit erhobener Hand neben dem Altar. Für einen Moment waren beide kreidebleich und stumm, der eine am Kircheneingang, der andere am Ende. Sie wussten nicht, wie diese Situation einzuschätzen war und wer den ersten Schritt machen sollte in dieser merkwürdigen Begegnung. Dann brach der Küster die Stille, denn schließlich war es seine Pflicht in diesen Mauern für Ordnung zu sorgen.
»Qu’est-ce que vous faites là? Sortez immédiatement ou j’appelle la police!«, der Zorn des sonst so gutmütigen Joseph war unverkennbar. Er musterte den Mann, der aus gut situiertem Hause zu sein schien. Der Fremde trug einen feinen grauen Anzug mit Krawatte und machte eher einen verstörten Eindruck. Welchen machte man überhaupt, wenn man spät in eine Kirche eindrang und dabei überrascht wurde? Josephs Gespür verriet ihm nichts Gutes, wenn es auch zu dieser späten Stunde vernebelt sein mochte.
Binnen Sekunden musste der Fremde eine Entscheidung treffen. Der alte Mann in Gewand, offensichtlich der Custos der Basilika, hatte sein Gesicht gesehen und laut seines Codex hatte er nur eine Wahl. Der Küster musste aus dem Weg geräumt werden, sollte sein lang gehütetes Geheimnis eines bleiben.
Es handelte sich lediglich um eine Interpretation seiner Regeln, denn leider fehlte es ihm an Instruktionen, um die Situation entsprechend einzuschätzen und so sah er diese Möglichkeit als die wirksamste an. Er ließ seine Blicke durch den Raum schweifen, um geeignetes Werkzeug zu suchen, da er völlig unbewaffnet losgezogen war. Hinter all der Abgebrühtheit steckte ein kleines aufgeregt pochendes Herz.
Er schritt - im Wissen seines neu geschmiedeten Plans - auf halbem Weg des Hauptschiffs in Richtung des Küsters und redete mit absichtlich britischem Akzent auf ihn ein, »Calmez-vous, s’il vous plaît! J’ai vu la porte ouverte et j’ai pensé que je pouvais entrer, monsieur le sacristain. J’ai rien fait!«
Misstrauisch blickte Joseph dem Fremden in die Augen, um seine Absichten zu erkennen. Bisher konnte er immer die wahre Seele eines Mannes erblicken, doch die Augen seines Gegenübers schienen undurchdringlich und zu irgendetwas entschlossen.
Sollte an seiner Ausrede etwas dran sein oder spielte er ein falsches Spiel? Wer machte sich denn die Mühe zu später Stunde eine Kirche zu besichtigen? Und warum kam der Typ immer näher?
Noch ein paar Meter und ich habe dich genau da, wo ich es will, alter Mann, dachte der Fremde und redete weiter auf ihn ein, als wäre ein englischer Geschäftsmann auf der Durchreise, »Est-ce que je peux rester un peu parce que mon vol décolle demain matin? C’est ma dernière chance pour visiter l'église.«
Joseph reagierte mit einem klaren Nein, denn die ganze Situation schien ihm unheimlich. Er hätte Besuchsausnahmen gestattet, jedoch unter anderen Umständen. Außerdem näherte sich der Fremde kontinuierlich. Es führte zu solchem Unbehagen, dass er hin und wieder einen Fuß zurücksetzte, als wäre der unerwünschte Besucher ihm schon längst auf die Pelle gerückt. Viel fehlte nicht mehr, nachdem er den weiten Weg das Seitenschiff entlang, vorbei an den kleinen Kapellen, zurückgelegt hatte.
Wenige Schritte trennten die beiden voneinander. Josephs Teint wurde bleicher, als er es ohnehin schon war und die Falten seiner Stirn bildeten tiefe Furchen. Der Fremde bekam eine leichte Röte. Er hegte keinerlei Interesse an den Wandgemälden und Mosaiken. Hätte er sich tatsächlich für die Basilika interessiert wäre doch jeder Moment, der ihm zur Verfügung stand, zu nutzen gewesen. Eine dunkle Gewissheit legte sich über Josephs Vermutungen und die Zeit war abgelaufen.
Ehe er sich versah hatte der Fremde bereits seinen Arm nach einem der massiven vergoldeten Kerzenständer neben ihm ausgestreckt, mit einem Grinsen im Gesicht ihn einen Idioten genannt und in gleicher Bewegung zugeschlagen, zuerst seitlich am Kopf, so dass der alte Mann sofort blutend zu Boden fiel. Wenn in einer Basilika von einem Kerzenständer die Rede war, dann sprach man nicht von einem leichten kleinen Exemplar, sondern von halber Mannshöhe.
Das Letzte, was Joseph sah, war, wie sein Angreifer abermals ausholte, diesmal in Richtung seiner Stirn. Es war still für einen Moment.
Vom Adrenalin durchströmt ließ der Fremde seine Waffe fallen, die mit einem lauten Scheppern auf dem Boden auftraf und einen tiefen Riss im Boden bewirkte. Vor ihm breitete sich eine Pfütze zähfließender schwarz-roter Flüssigkeit aus und hüllte den gekrümmt daliegenden Leichnam des Küsters samten ein.
Das war er nun, der Moment, von dem man meinte er würde nie eintreffen, wenn man in Friedenszeiten geboren wurde und lebte. Der Moment tiefster menschlicher Primitivität. Er stellte fest, dass er die Kontrolle seines Körpers erst langsam wiedererlangte.
In solchen Augenblicken sprang das Notfallsystem zur Steuerung durch die einfachsten Instinkte an. Ein Mensch war nicht mehr Herr seiner selbst.
Das Herz schien dem Fremden in die Schuhe gerutscht zu sein, denn seine Füße pochten gleichmäßig von Innen gegen die gesetzte Grenze. Es war wie der automatische Betrieb des Atems, den man zwar hin und wieder kontrollierte, dennoch die meiste Zeit überhaupt nicht wahrnahm.
Der Fremde war sich noch nicht im Klaren darüber, was er gerade getan hatte. Nach einem tiefen Atemzug in besinnlicher Ruhe machte er sich die Wiederkehr seiner Selbstbeherrschung bewusst. Dann führte er seine Suche fort.
Übersetzung: Allee, Prachtstraße, breite Straße
Putain ist das französische Wort für Hure. Im Sprachgebrauch kommt ihm eher die Bedeutung des deutschen Wortes Scheiße zu. Kein Wunder, dass es immer wieder zu Missverständnissen kam.
Übersetzung: »Was machen Sie da? Gehen (verlassen) Sie sofort oder ich rufe die Polizei!«
Übersetzung: »Beruhigen Sie sich bitte! Ich habe die offene Tür gesehen und dachte ich könne eintreten, Herr Küster. Ich habe nichts gemacht!«
Übersetzung: »Kann ich ein bisschen bleiben, da mein Flug morgen früh startet? Es ist meine letzte Möglichkeit, die Kirche zu besichtigen.«
Bisher war es eine ruhige Nacht gewesen. Es war eine Nacht, von der man sich wünschte, sie würde nicht die Ausnahme bilden. Normalerweise gab es diverse brennende Mülltonnen, gelegentlich ein paar brennende Autos. Um die hundert davon gab es in einer französischen Nacht, seitdem man den sozialen Wohnungsbau erfunden und alle unliebsamen Störenfriede hineinverfrachtet hatte.
In Frankreich nannte man diese Satellitenstädte vor den Toren der Stadt schlicht Banlieue: Vorstädte. Wobei der Name wohl eher von Bannmeile stammte und dem eigentlichen Ansehen näher kam. Die Leute dort nutzten ihre Herkunft zwar oft als Ausrede, doch ebenso selten bekam man dort eine Chance. Die brennenden Fahrzeuge beschränkten sich also auf bestimmte Lokalitäten und hier, im ersten Arrondissement der Stadt, bekam man so etwas nie zu sehen, außer ein paar kommunistische Studenten zogen Randalen nach sich.
Abgesehen von einem Zwischenfall mit einem Betrunkenen und ein paar herumlungernden Jugendlichen, der zu einer kleineren Rangelei ausgeartet war, gab es nichts zu beanstanden.
Zum Glück existierte da noch der ein oder andere Laden, in dem man zu später Stunde noch etwas zu essen bekam. Der Tagesablauf eines einfachen Polizisten war nicht der eines normalen Franzosen, denn Letzterer aß pünktlich zu Mittag und zu Abend. Das war einer der Gründe, warum Restaurants und Gaststätten in den Zwischenzeiten geschlossen hatten. Doch bei den Dienstzeiten eines Polizisten gab es andere Probleme als regelmäßige Mähler und alte Traditionen.
Der Peugeot 306 der Police Municipale hatte in der Fußgängerzone der Rue de la République, der Haupteinkaufsmeile der Stadt, gehalten und während einer der beiden Polizisten in einer Bar verschwunden war, um sich mit einem belegten Baguette zu bewaffnen, wartete der andere im Wagen und beobachtete das Treiben.
Das Radio spielte einen alten Hit von Johnny Hallyday, der schon seit vielen Jahrzehnten durch die französischen Sender rockte und den Status eines nationalen Helden genoss. Leise trällerte der junge Polizeibeamte mit und ließ die Ruhe auf sich wirken. Durch einen merkwürdigen Zufall blickte er auf ein Plakat eines Musicals, das sich mit dem Leben des Rockstars auseinandersetzte. Er musste kurz grinsen.
Die modernen Kaufhäuser hatten sich in die alten Gebäude eingeschmiegt, welche von Ruhm und Reichtum der Stadt erzählten, indem sie ihre kleinen Kunstschätze preisgaben. Lyon stand zwar in einem ehemals zentralistischen Land wie Frankreich lange im Schatten von Paris, aber in historischer Bedeutung in vielerlei Hinsicht in nichts nach, was sich in den Gebäuden, sowie in berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt wieder spiegelte. Römische Kaiser, berühmte Künstler und große Wissenschaftler kamen hierher. In der Zeit vor dem Mittelalter war sie die Hauptstadt der Provinz Gallien, des heutigen Frankreich.
Jedes der Häuser hatte seinen individuellen Charme, war meist in schlichtem Weiß gehalten und brachte die Ambitionen seiner Erbauer zum Ausdruck. Man musste kein Kunstliebhaber sein und allen die überaus wichtige Bedeutung der Details im Einzelnen vorhalten, um schlicht und einfach die Schönheit zu genießen.
Diese wurde aus wissenschaftlicher Sicht stets überbewertet mit dem schrecklich blasphemischen Ergebnis, dass Kunstkenner meinten die Schönheit erfunden zu haben. Ursache und Wirkung waren natürlich umgekehrter Natur. Gleicher Fehler entstand auch bei Musik und Literatur, wo dem Autor Absichten untergeschoben wurden, die er vermutlich gar nicht hatte. Man konnte über die Stadt so viel erzählen wie man wollte, doch das änderte nichts an ihrer Schönheit und selbst die empfand jeder auf seine Art.
Überhaupt stellte sich die Frage, warum Architekten versuchten neue, oftmals zeitlich begrenzte Stile zu entwickeln, wenn man bereits zeitlose Schönheit in den Händen hielt?
Die Lage rund um den Zusammenfluss von Rhône und Saône machte Lyon zu einer Metropole der wohlhabenden Händler, Kaufleute und Künstler; führte aber auch zu einer malerischen Szenerie mit der zentralen Halbinsel als heutigen Mittelpunkt des Stadtlebens.
Hier war zu später Stunde noch etwas los, hier bekam man auch auf die Schnelle noch eine Kleinigkeit. Die Leute waren guter Dinge, ein paar hatten über die Stränge geschlagen, doch sie verhielten sich ruhig.
Plötzlich schien ein Funkspruch im Einsatzwagen einzugehen. Der Wartende erschrak, riss die Tür auf und rief seinen Kollegen, »François! François! Dépêche toi!«
Dieser bemerkte erst spät, dass er gerufen wurde und stürzte übereilt aus dem Geschäft. Nachdem er auf die Fahrerseite gesprungen war und seine Position eingenommen hatte, knallte er die Tür zu und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen los, was die Aufmerksamkeit so einiger Schaulustiger auf sich zog. Dann warf er seinem Kollegen das eben gekaufte Baguette auf den Schoss.
»Was ist los?«
»Irgendwas in St. Nizier. Keinerlei weitere Angaben. Wir sollen nach dem Rechten schauen.«, der Jüngere schien äußerst aufgeregt.
»Und warum zum Teufel machst du dann so einen Stress?«
»Na, wer weiß, vielleicht geht ja noch was außer rumsitzen?«
»Anfänger!«, genervt schüttelte der andere den Kopf, »Statt sich zu freuen, dass man seine Ruhe hat.«
»Könnte doch was Wichtiges sein.«
»In einer Kirche, so spät? Du hast doch echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dich sollte man noch mal zurück auf die Schulbank schicken! Womit hab ich das verdient?«
Samt einer feinen Staubwolke, die der Peugeot hinter sich herzog, bog er in die Rue Ferrandiere. Das Einschalten des Blaulichts konnte man noch als Schimmer an den Hauswänden beobachten, bis es von der Dunkelheit der Nacht verschlungen wurde.
Arrondissement ist ein Verwaltungsbegriff und bezeichnet Bezirke in Großstädten.
Der Franzose verunreinigt selten sein Brot mit Belag und Aufstrich.
Übersetzung: »François! François! Beeil dich!«
Er hatte sowohl die beiden Seitenschiffe, als auch sämtliche kleine Kapellen durchsucht und nichts gefunden, was der Beschreibung entsprach. In dem alten Schriftstück, das ihm auf mysteriösem Wege vor zwei Wochen zugespielt wurde, stand geschrieben:
Die Klinge enthüllt
dem Jäger bei Nacht
das Vermächtnis der Vier
durch die Stätten der Macht
auf dem Hügel der Raben moderner Zeit
im Tempel der Helden der Christenheit
Tagelang hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, welchen Ort er aufsuchen musste, um die besagte Klinge zu finden. Durch puren Zufall - ein Gespräch mit einem ausländischen Gast, der neben seinen Geschäften auch touristisch unterwegs gewesen war - erfuhr er, dass der ursprünglich römische Name der Stadt, Lugdunum, „Hügel der Raben“ bedeutete. Er musste laut lachen bei der Feststellung, dass es sich bei dem geheimen Hügel um seine Heimat handelte, die er lediglich für sein Studium in Paris verlassen hatte. Der Gast wiederum verstand nicht, warum ihn diese Situation derart amüsierte. Es war dem Suchenden deutlich anzusehen, dass er die neue Information mit seinem Rätsel verbinden konnte, indem er breit grinste.
Während seiner Zeit in Paris hatte er den Kreis kennen gelernt; eine studentische Verbindung, in der die Mitglieder gerade so viel über ihre Aufgaben und Ziele mitgeteilt bekamen, wie es die gemeinschaftliche Zielsetzung erforderte. Sie hatten nichts gemein mit den anderen Burschenschaften, Freicorps und was es sonst an Verbindungen gab. Es ging auch nicht um den vergeblichen Versuch Freunde zu finden, die sie nicht auch so hatten oder am Wochenende maßlos zu trinken. Dabei waren sie der vermutlich konservativste Haufen, den es im Bereich der Geheimgesellschaften gab; wenn man es von konservieren ableitete. Unter denen, die sich kannten, wurde viel spekuliert, doch keiner wusste, wer letzten Endes in den Kreis der Wissenden aufgenommen wurde.
Der Fremde war nun schon viele Jahre Teil eines Ganzen, das er nicht verstand und wartete auf etwas, das ihm die Ehre zu Teil werden ließ, dazuzugehören. Der Tag, an dem er die Botschaft erhielt, war für ihn womöglich der erste Schritt einer Prüfung zum Aufstieg innerhalb des Kreises. Alles was ihm blieb war die Zeile des Schwurs, den er abgelegt hatte, damals, als er noch in der Blüte seines Lebens stand: »…und auf ewig widme ich mein ganzes Streben und Handeln dem Erbe der Väter unseres Landes.«
Er wusste, dass es um Wichtigeres ging, als das Leben eines einzelnen und um mehr als persönlichen Erfolg oder politische Macht. Der Fremde hatte zwar keine Ahnung, wohin das alles führte und ob seine Aufgabe vielleicht nur ein weiterer Schritt im Spiel war, ohne ihn weiterzubringen, doch er hatte sein Versprechen gegeben alles zu tun, was von ihm verlangt wurde. Jetzt war es an der Zeit, die ihm gegebene Aufgabe erfolgreich zu bewältigen oder seinem Leben ein Ende zu setzen. Es gab keine Grauzone, kein Dazwischen, nur Schwarz und Weiß.
Nachdem er nun herausgefunden hatte, dass er sich am richtigen Ort befand, brauchte er sich bloß fragen, welche Kirche die zu Ehren von Märtyrern erbaute hätte sein können. Schließlich war „Tempel der Helden der Christenheit“ lediglich ein anderer Ausdruck dafür, für seinen Geschmack etwas zu geschwollen. Ebenso konnte dieses Rätsel unmöglich für Experten gestellt worden sein, denn das waren sie alle mit Sicherheit nicht.
Nach ein paar Recherchen war klar, dass es sich eventuell um St. Nizier handeln konnte, da die Basilika den Märtyrern Lyons gewidmet war. Viele andere Kirchen standen nicht mit solch hoher Wahrscheinlichkeit zur Wahl. Wäre nicht der kleine Hinweis „bei Nacht“ in der Botschaft versteckt gewesen, hätte er einfach so hineinspazieren können, um nachzusehen. Doch jetzt klebte Blut an seinen Händen, was er eigentlich hatte vermeiden wollen, allein schon, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
Er fasste innerlich zusammen, was er nun alles für Schwierigkeiten hatte: einen toten Mann Gottes, die Beweislast in Form von Blut überall auf seinem Anzug und keine Klinge, die zu ihm sprach. Die ganze Aktion war gescheitert. Die Mosaiken zu Ehren der Jungfrau Maria zeigten weder Schwerter noch Messer, noch sonst irgendetwas, dass eine Klinge besaß. Die Gemälde, die Gegenstände rund um den Altar, die dunkle Holzvertäfelung, nichts schien zum Hinweis zu passen.
Wo würde man eine Klinge vermuten? Doch mit Sicherheit nicht um den Altar herum. Die einzige Möglichkeit bestand in sonstigen Einrichtungsgegenständen, Fresken und Mauerwerk. So intensiv er auch suchte, keine Schwerter. Er gab gerade den Gedanken auf am richtigen Ort zu sein und begab sich zurück zum Hauptportal der Kirche, als ihm plötzlich zwei Statuen in den Blick fielen, die er durch das unglückliche Zusammentreffen mit dem Küster völlig vergessen hatte.
Wenn man geradewegs vom Altar aus den Mittelgang hinunterlief und beinah die Eingangspforten erreicht hatte, standen sie zu beiden Seiten. Die Rechte, das Bildnis eines stattlichen Petrus in majestätisch sitzender Pose, geriet ihm sofort ins Blickfeld. Er ging auf die Statue zu, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Eine kleine Runde um den Koloss und sämtliche Details waren erfasst. Doch dieser hielt nicht ein ganzes Schwert in der linken Hand, bloß Griff und Knauf, die Klinge war verschwunden.
Der Peugeot der Lyoner Polizei hatte sich von Süden aus über die Rue de Brest dem Place de Saint-Nizier gegen die Fahrtrichtung genähert, nachdem ein Nachbar beim nächtlichen Fenstertheater die Stimmen und anschließend verdächtigen Geräusche aus der Église St. Nizier wahrgenommen und kurzerhand den Notruf gewählt hatte. Die französische Polizei hatte, ähnlich den Italienern, einen anderen Status als in nördlicheren Gefilden. Hier machte man das Blaulicht auch mal an, um Kollegen nach Hause zu fahren, auch missachtete man hier und da eine rote Ampel oder Einbahnstraßen.
Genaueres war nicht bekannt, aber der Anwohner hatte ein Gewaltverbrechen vermutet und daher musste das nächste Fahrzeug im Dienst so schnell wie möglich zum Einsatzort, um die Lage zu überprüfen. Aus dem Funkgerät kamen weitere Befehle zu anderen Teilen der Stadt und mischten sich in einem Wirrwarr aus Klickgeräuschen, Rauschen und Stimmen, zu dem sich das Motorengeräusch gesellte.
»Das Ding macht mich noch wahnsinnig! Arnaud, wollen wir’s nicht einfach aus dem Fenster schmeißen?«, fragte François Perrin seinen Kollegen entnervt, während sein linker Arm aus dem Fenster hing, ihn den Fahrtwind spüren ließ und sein rechter am Steuer blieb.
»Mach dich nicht lächerlich, wie willst du dein Leben mit dem Job verbringen, wenn du noch nicht einmal das erträgst?«, der Jüngere blickte ihn von der Beifahrerseite an und zog eine Augenbraue hoch, »Ich sag’ dir wie das läuft. Wir haben eine ruhige Nacht und schauen gleich nach ob alles in Ordnung ist. Dem Pfarrer ist bestimmt bloß bei Selbstgesprächen was aus der Hand gefallen und Schwups, ein besorgter Bürger weniger in der Stadt und wir haben wieder eine ruhige Nacht. Ist doch einfach oder?«
»Ja, ja, Arnaud. Du hast ja Recht, du Jungspund. Vermutlich bin ich nur gereizt, weil wir wegen so eines Mists los mussten. Außerdem bringt mich mein Magen noch um.«, der Fahrer schaute kurz zu seinem Kollegen, »Was führst du dich hier eigentlich wie der Erfahrene auf? Halt den Ball mal schön flach.«
Sein Bauch protestierte lautstark. Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Straße Richtung St. Nizier, als jemand in ruhigem Schritttempo die Basilika vor ihnen verließ.
»He, François, was zum Teufel hat der Typ um die Zeit da zu suchen? Den sollten wir uns mal genauer anschauen!«, sagte der Unerfahrene, der auf den Schatten vor ihnen verwies und die Sprechanlage in Betrieb nahm. Angestachelt durch die Aufregung seines Kollegen lenkte François nicht ein, um der übertriebenen Reaktion entgegenzuwirken.
»Monsieur, arrêtez-vous! Police municipale! Je répète, arrêtez-vous!«, rief Arnaud mit näselnder Stimme durch den Lautsprecher auf dem Dach des Peugeot, als der Fremde schlagartig zu laufen begann.
»Hinterher François, der Typ haut ab!«, rief der Beifahrer während sein Kollege das Gaspedal durchtrat, den Wagen durch die enge Straße führte und rief, »Lass uns bloß hoffen, dass um diese Zeit keiner unterwegs ist! Hol Verstärkung! Sag, der Verdächtige läuft Richtung Pont Maréchal Juin!«
»Wieso bist du dir da so sicher?«, fragte Arnaud überrascht.
»Na, weil er Richtung Fluss läuft und die Rue Mercière nehmen wird, wenn er verhindern möchte, dass wir ihn mit dem Auto verfolgen können. Nun mach schon!«, rief François während er versuchte, sich auf die Verfolgung zu konzentrieren. Aus langjähriger Erfahrung konnte er viele Schritte voraussehen und kannte jeden Winkel der Stadt wie seine Westentasche. Sein Kollege hatte gerade den Funkspruch abgesetzt und seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann vor ihnen gewidmet, da erreichten sie den Eingang der Rue Mercière, eine äußerst enge Straße voll Restaurants und Bars, die dicht an dicht beieinander standen und durch die man höchstens mit Gewalt durchfahren konnte, wenn Tische draußen standen.
»Los, Arnaud, lauf du zu Fuß, während ich versuche, den Typ vom Quai aus zu erwischen!«, rief der Fahrer seinem Kollegen zu, bremste scharf ab um ihn abzusetzen, worauf er seinen Weg geradeaus fortsetzte.
Arnaud Poquelin rannte mit aller Kraft dem Fremden nach, während er zur Drohgebärde den Halfter an seinem Gürtel öffnete, um seine Pistole ziehen zu können. Natürlich war noch nicht klar, was der Mann angestellt hatte, doch eine Flucht vor der Polizei war keinesfalls akzeptabel und erlaubte gewisse Maßnahmen, zumal durch die Terrorgefahren der letzten Zeit immer mehr Vorsicht eingetrichtert wurde. Arnaud kam gerade frisch von der Polizeischule und dies war seine erste Verfolgungsjagd und dann auch noch durch eine Straße wie die Rue Mercière.
An ihrem Eingang standen vor einer Bar bereits die ersten Tische und luden auf einen Drink ein. Solange es die Temperaturen noch erlaubten, war es hier derart voll, dass man beträchtliche Zeit warten musste, um einen Platz zu ergattern. Das führte auch zwischen den Lokalen zu regem Verkehr und angeregten Gesprächen. Man musste also nicht warten, um den Abend gebührend zu beginnen. Nicht unbedingt jedermanns Sache, wenn einem eine Gruppe Fremder beim Essen über die Schulter blickte.
Die Leute waren nun zwar nicht mehr hier, um sich ein Mahl zu genehmigen, eine gewisse Fülle stand Jäger und Gejagtem trotz alledem im Weg.
Der Verfolgte rannte derweil zwischen den Terrassenplätzen der Restaurants entlang, indem er Kellner samt Tabletts und Gäste umstieß, was dem jungen Polizisten Zeit verschaffte, die er durch das Aussteigen aus dem Auto verloren hatte. Leute schrieen empört auf und riefen ihre kleinen Verwünschungen. Im Laufen bemerkte Arnaud, dass er unmöglich unter so vielen Anwesenden seine Waffe ziehen konnte, da sonst Panik entstünde und ihm vermutlich der Weg versperrt würde.
Arnaud rannte weiterhin so schnell es ging, bis der Gejagte und er sich in dem ruhigeren Teil der Straße befanden, wo er kurzerhand seine Pistole zog und seiner Pflicht genüge tat, indem er seinen ersten Warnruf von sich gab, »Arrêtez-vous ou je tire!«
Schließlich gehörte es zu jedem ordentlichen Vorgang polizeilicher oder militärischer Natur, dass man die Regeln befolgte. Die Regel für die Benutzung der Pistole war, außer im Falle einer direkten Bedrohung durch Waffen, nur durch drei Warnungen zu rechtfertigen. Dies musste strengen Nachforschungen standhalten können, wenn Zeugen befragt und Spuren gesichert wurden. Nachdem auch der dritte Warnruf ausgesprochen, jedes Risiko akzeptabel war und der Fremde nicht reagierte, gab er seinen ersten Warnschuss vor dessen Füße ab.
Ein kurzes Pfeifen links neben dem Flüchtigen und ein Stück herausspringender Asphalt brachten diesen nicht zum Halten, als er hinter der nächsten Straßenecke verschwand. Der junge Polizist griff nach seinem Funkgerät und rief seinen Kollegen im Streifenwagen, »François! Hörst du mich? Wir sind bereits an der ersten Brücke vorbei, er müsste weiter unten zu sehen sein! Er nimmt die Passerelle du Palais de Justice! Nicht Maréchal Juin, ich wiederhole, die Passerelle!«
Arnaud nahm die Verfolgung wieder auf, während sein Kollege noch nicht auf den Ruf geantwortet hatte und der Flüchtling wieder an Distanz gewonnen hatte. Als der Fremde die Rue de la Monnaie, eine Diagonale in Richtung Saône, genommen hatte, wurde Arnaud klar, dass er einen Fehler gemacht hatte, seinem Kollegen nicht vorher weitere Anweisungen gegeben zu haben. Doch es war noch nichts verloren.
Arnaud näherte sich der Grenze seiner Kraft, als seitlich aus der Rue David, einer Querstraße zum Flussufer, der Peugeot 306 geschossen kam und ihn rechtzeitig einsammeln konnte. Im Scheinwerferkegel war zu erkennen, dass der Mann Blut am Anzug zu haben schien.
»Ich weiß nicht, ob ich ihn getroffen habe, aber da ist Blut. Vielleicht macht er es nicht mehr lange!«, sagte Arnaud völlig atemlos und überschritt dabei gewisse Grenzen, da er weder wusste was der Fremde angestellt hatte, noch leichtfertig auf jemanden schießen durfte.
»Wir können uns nicht darauf verlassen! Du hast doch außerdem nicht in der Rue Mercière rumgeballert? Bist du des Wahnsinns? Vielleicht machst du es nicht mehr lange, du Idiot!«, den Rest der Moralpredigt sparte sich der Dienstältere für später auf.
Als sie das Flussufer erreichten, hatten sie den Tatverdächtigen bis zur Fußgängerbrücke vor dem Justizpalast verfolgt, doch auch hier wählte er den richtigen Fluchtweg, der den beiden Polizisten die Verfolgung erschwerte. Während am anderen Ufer weitere Blaulichter auftauchten, sprang er mit einem Satz über die Brüstung und verschwand in der Saône.
Gegenüber stiegen weitere Beamte aus Streifenwagen aus und ließen das Fernlicht brennen. Die Polizisten beider Seiten trafen auf der Brücke zusammen und leuchteten den Fluss mit Taschenlampen ab, jedoch ohne Erfolg. Nichts und niemand war zu sehen außer die Wellen der sanft treibenden Strömung im Mondlicht und des orangefarbenen Leuchtens der Stadt.
»Arnaud! Warum zum Teufel hast du mir nicht früher bescheid gesagt, dann hätte ich an der Brücke gewartet?«, schnauzte François ihn an, »Dass ihr Neulinge auch immer alles alleine machen wollt! Wir sind hier nicht in irgendeinem Kinofilm!«
»Aber ich musste doch am Ball bleiben und nach Vorschrift vorgehen.«, der junge Polizist wurde ganz rot im Gesicht.
»Natürlich sollst du das, aber wenn dies verhindert, dass wir den Kerl kriegen, bist du auf der falschen Spur! Benutz deinen hübschen Schädel doch mal für was besseres als Klugscheißen!«
»Aber ich…«
»Nichts aber, du hast es vermasselt! Merk dir das ein für allemal. Dein Kollege muss fließend mit Informationen versorgt werden, sonst kann ich auch einen Kaffee trinken gehen, während du durch die Gegend rennst und auf Verdächtige schießt! Willst du diesen Job machen, ja oder nein?«
»Na klar.«, Arnaud war völlig beschämt.
»Dann benutz dein hübsches Köpfchen!«
Während die für Arnaud peinliche Szene ihren Lauf nahm und ein paar der älteren Polizisten sich darüber amüsierten, verschwand die Spur des Flüchtlings allmählich im Nirgendwo und die Nacht war wieder so ruhig wie zuvor.
Übersetzung: »Monsieur, bleiben Sie stehen! Städtische Polizei! Ich wiederhole, bleiben Sie stehen!«
In Frankreich gibt es u.a. die Police Nationale (für das Innenministerium), die Police Municipale (für die Kommunen) und die Gendarmerie (für das Verteidigungsministerium).
Übersetzung: »Bleiben Sie stehen oder ich schieße!«
Eine Passerelle ist schlicht und ergreifend eine Fußgängerbrücke.
Das Telefon wollte einfach nicht aufhören zu klingeln und nachdem er einen Blick auf den Wecker geworfen hatte, der gerade mal drei Uhr dreißig anzeigte, wollte er gar nicht erst dran gehen. Nach der Feststellung, dass ihm seine Schlaftrunkenheit einen Streich spielte und er seinen beruflichen Pflichten nachkommen musste, hob er widerwillig ab.
»Leclerc?«, sagte er mit verkratzter Stimme.
»Commissaire Leclerc, Lieutenant Favre hier! Entschuldigen sie, wenn ich sie um diese Zeit störe, aber wir haben hier die Leiche eines Küsters in der Église Saint-Nizier und einen entflohenen Tatverdächtigen!«, schrie der Polizist auf der anderen Seite in den Hörer wie ein aufgescheuchtes Huhn, da der Umgebungslärm ziemlich hoch zu sein schien. Ein Grund mehr, schlecht gelaunt an die Sache heran zu gehen.
»Favre, jetzt hol mal Luft! Ist die Spurensicherung schon vor Ort?«, er war offensichtlich genervt.
»Ja, es gibt aber weder Spuren eines Raubes noch eine ersichtliche Absicht, den Küster zu töten, Commissaire. Der Täter benutzte keine Waffe, sondern einen hiesigen Kerzenständer.«, der junge Offizier war immer noch völlig konfus.
»Favre, hörst du eigentlich schlecht? Wenn die Spurensicherung da ist, dann hab ich doch sicherlich noch ein Weilchen Zeit, auf meine Schicht zu warten, oder?«, er war kurz davor, einfach aufzulegen.
»Aber Commissaire, es gibt Grund zur Annahme, dass der Täter lediglich etwas gesucht hat und wenn wir der Sache nicht nachgehen, könnten dem Opfer weitere folgen. Ich würde Sie schon in Ruhe lassen, wenn es nicht dringend wäre.«, ein wenig stolz auf seine Schlussfolgerung beruhigte er sich.
»Okay, Favre, aber hör auf, dich aufzuführen, als würde die Welt untergehen, das ist ja grauenhaft! Bin in spätestens einer halben Stunde da, bis dahin hast du noch ein wenig Zeit.«, der Kommissar nahm den Hörer und knallte ihn auf die Gabel.
Durch ein paar Mal reiben im Gesicht wurden die Gedanken klarer. Er kämpfte sich durch den Wust der letzten Woche; Kleidung überall auf dem Boden verteilt, überquellende leere Bierflaschen im Flur und Berge von Papier hier und da.
Leclerc genoss zwar sämtliche Vorzüge eines Beamten und gehörte nicht zur schlechtesten Steuerklasse, doch seine Wohnung blieb recht bescheiden. Sie war keine dieser Innenstadtpaläste, die früher sogar Platz für Bedienstete boten. Viel mehr lebte er in seiner kleinen Rockerbude. Nachdem er sich den Weg zum Badezimmer erkämpft hatte, ließ er träge seine Unterwäsche zu Boden fallen und stieg in seine Duschkabine. Vermutlich blieb sie da bis zum nächsten Waschtag, in ein paar Wochen, auch liegen.
Unter dem kühlen Nass begann er bereits über die Situation nachzudenken und alle Möglichkeiten auszuloten, doch ihm konnte nicht im Geringsten klar sein, was auf ihn zu kommen sollte.
• Eine knappe Stunde später erreichte er den Place Saint-Nizier, wo Lieutenant Favre ein paar Polizisten die Anweisung zu verdeutlichen versuchte, dass die schaulustigen Anwohner den Platz räumen sollten, damit sie die Arbeit nicht behinderten. Mehrere Streifenwagen standen quer auf den Zufahrtsstraßen, während einige Herren in weißen Overalls die Kirche verließen.
Commissaire Leclerc zeigte sich unbeeindruckt, überhaupt schien er äußerst locker gekleidet im Vergleich zu seinen Kollegen; enge Jeans, weiße Sportschuhe, die aus den siebziger Jahren hätten stammen können und ein weißes T-Shirt. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht rasiert, das volle Haar war durchwühlt, ein Hallodri, wie er im Buche steht. Die Gesichtszüge wie die eines Jean Reno hätten nicht besser zu einem französischen Kommissar von seinem Format passen können.
Er nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette und schlappte gezielt auf den jungen Lieutenant zu. Dieser war ganz im Gegenteil ein häuslicher Typ. Um bei den Filmbeispielen zu bleiben, hätte Favre wahrscheinlich ein völlig verpeilter Gérard Jugnot sein können, dessen Hauptaufgabe darin bestand Kaffee zu trinken und durch die Gegend zu huschen.
»He Favre, lassen Sie ihre Leute ihre Arbeit machen und zeigen sie mir was sie haben!«, maulte er ihn von der Seite an. Favre zuckte zusammen, da er überhaupt nicht bemerkt hatte, dass Leclerc bereits angekommen war.
»Oh Commissaire, Sie sind ja schon da.«, bemerkte er verwundert.
»Ja, ich weiß, dass man sich an diese neue Situation erst einmal gewöhnen muss.«, bemerkte Leclerc gelassen, »Spaß beiseite, wollen sie mir jetzt ihren Toten zeigen?«
»Aber klar, der Tote…Sie da…sofort. Perrin!«, rief er zu einem der Polizisten, der mit dem Verweisen der Schaulustigen beschäftigt war, »Kümmern Sie sich weiterhin um die Leute. Ich führe mit dem Commissaire eine Tatortbegehung durch.«
Beide Beamte begaben sich in die Kirche. Die Spurensicherung hatte bereits die Schrittfolgen anhand der Schuhabdrücke sichtbar gemacht und der Leichnam des Küsters war entfernt worden. Favre führte den Kommissar in Richtung Altar, um ihm das Mordwerkzeug zu zeigen, welches wie viele andere Gegenstände in der kleinen Basilika bereits in Plastik verpackt und beschriftet worden war.
Ab dem ersten Moment in der Kirche beobachtete Leclerc jeden einzelnen Winkel und erfasste dabei die meisten Details, Anzahl der Objekte und ihren Zweck. Diese Fähigkeit hatte er derart trainiert, dass er sogar - und für viele Männer stellt dies bekanntermaßen eine Schwierigkeit dar - zuhören und gleichzeitig etwas anderes tun konnte. Doch in den ersten Augenblicken waren nur wenige Schlussfolgerungen möglich.
»So, das ist also die verwendete Waffe.«, bemerkte Leclerc mit einem kritischen Blick auf den verpackten Kerzenständer in seinen Händen, »Ganz schönes Kaliber. Wenn das mal nicht auf Anhieb tödlich war. Sonst irgendwelche Fingerabdrücke?«
Favre antwortete verlegen, »Nun ja, es gibt keinerlei Fingerabdrücke. Da aber sonst auch nichts zu fehlen scheint, gehe ich davon aus, dass der Täter ohnehin nicht viel angefasst hat. Natürlich hat er Handschuhe getragen. Ich vermute er suchte etwas bestimmtes.«
»So, Antoine, du vermutest also?«, der Kommissar behielt seine kritische Miene und begann seinen Kollegen zu duzen, wie sie es taten, wenn keiner zuhörte, »Was hältst du davon, wenn du das Denken mir überlasst? Auch wenn deine Überlegung nicht grundlegend falsch sein muss.«
Blöder Kerl, dachte der jüngere Lieutenant, für wen hält der sich eigentlich?
Leclercs Miene lockerte sich schlagartig zu einem Lächeln, »Ach Favre, jetzt steh nicht da wie ein begossener Pudel! Du kennst das doch. Du bist ein ausgezeichneter Polizist mit einem hervorragenden Spürsinn. Der Tag wird kommen, da bist du der mit den dummen Sprüchen, doch momentan ist das mein Job.«
»Haha, Chef, ja ich weiß.«, Favre blieb verärgert und zynisch, »Als wäre ich so ein blöder Hilfsbulle aus dem Fernsehen.«
Man musste zugeben, im Vergleich zu Leclerc sah er tatsächlich so aus. Er trug einen recht ordentlich gebügelten Anzug, wenn auch nicht mehr den jüngsten, die Farbe war ebenfalls nicht die modernste. Seine Hose stand hoch wie in den Achtzigern und legte seine weißen Socken frei. Zu allem Überfluss unterstützte eine Brille mit runden Gläsern das Klischee und machte Favre zum perfekten Schreibtischtäter.
»Du hast es ja doch verstanden, Bravo!«, meldete sich der Kommissar verschmitzt und fuhr mit seiner Untersuchung fort, »Also, der Typ kommt rein, gut gekleidet, die Fußspuren machen den Eindruck…«, da unterbrach ihn Favre kurzerhand.
»Ach ja, das dürfte dich noch interessieren. Perrin und sein neuer Kollege haben den Tatverdächtigen noch verfolgen können. Er konnte leider entkommen und bisher haben wir auch keine weiteren Anhaltspunkte. Perrin hat jedoch berichtet, dass der Täter einen Anzug mit Blutspuren trug. Ich gehe doch mal davon aus, dass es sich um das Blut des Küsters handelt.«
»Sag ich doch Favre, die Schuhe haben keinerlei Profil. Wäre der Typ hier im Jogginganzug aufgetaucht, hätte hier überall die Marke der Schuhe Werbung von sich gemacht. Was das Blut angeht, so will ich diesen Anzug haben, vielleicht hat er sich dessen entledigt.«, fuhr Leclerc den Lieutenant an, »Nur was hat er hier bloß gesucht? Hast du schon irgendwelche Nachforschungen über die Kunstgegenstände in der Kirche angestellt?«
»Nicht wirklich, ich war mir nicht im Klaren darüber, was er gesucht haben könnte. Außerdem bin ich gerade mal eine Stunde länger hier als du. Schon mal auf die Uhr geguckt? Wir wissen auch nicht sicher, ob er irgendwas hat mitgehen lassen. Es gab leider noch keine Möglichkeit mit dem Gemeindevorsteher zu sprechen.«, Favre wartete auf eine Reaktion des Kommissars, welcher sich bereits die nächste Zigarette angezündet hatte; in einer Kirche. Empört blickte ihn sein Kollege an.
»Matthieu, du kannst hier nicht rauchen! Ich darf doch sehr bitten.«
»Die pumpen selbst die Luft mit Weihrauch voll, da werd ich doch mal…«, er brach seinen Satz ab, nahm die Empörung zur Kenntnis und fuhr mit dem eigentlichen Thema fort, »Nun, er ist nicht direkt hinter dem Altar gewesen, also gab es dort offensichtlich nichts von Interesse. Siehst du?«, er deutete auf die eingefärbten Fußspurreste am Boden, »Er ging geradewegs durch den Mittelgang auf die beiden Statuen zu. Was, wenn er selbst nicht genau wusste, wonach er gesucht hat, was meinst du?«
Überrascht lenkte Favre ein, »Ich, ähm, ich würde vermuten, er hatte nur eine vage Idee, so wie der hier herumgelaufen ist. Da ist meines Erachtens kein Plan ersichtlich.«
»Das denke ich auch. Besorg mir alles, was du über die beiden Statuen herausfinden kannst; Herstellung, Künstler und was sie darstellen. Hol mir auch jemanden von der Gemeinde her, ich fahre in mein Büro und stelle ein paar Nachforschungen an.«
»Jawohl, Monsieur le Commissaire. Ich kümmere mich darum.«, antwortete Lieutenant Favre, als zwei Beamte die Kirche betraten und zögerte nicht, sich auf den Weg nach draußen zu machen. Leclerc tat es ihm gleich und warf dabei noch einen Blick in die Kirche, um sich zu vergewissern, dass er auch nichts vergessen hatte. Er kämpfte sich durch die mittlerweile beachtliche Menschenmenge auf dem nächtlichen kleinen Platz zu seinem Wagen.
Für alle Skeptiker: Auch Franzosen trinken Bier!