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Blutige Gier herrscht am Mainufer. Kommissar Bohlan ist mit einem mysteriösen Fall konfrontiert: Ein junger Mann wurde erstochen, mit einem Bündel Geldscheinen im Mund aufgefunden. Was verbirgt sich dahinter? Bohlan und sein Team ermitteln im Morast aus Börsenbriefen, Kryptowährungen und zweifelhaften Geschäften. Aber je näher er der Wahrheit kommt, desto gefährlicher wird es für sie. Die Gier nach Geld scheint in den Hochhausschluchten der Mainmetropole grenzenlos. Kann Bohlan den Fall lösen, bevor er selbst in Gefahr gerät? In seinem neuesten Frankfurt-Krimi dringt Lutz Ullrich tief in die dunklen Tiefen der Finanzwelt ein. Ein neuer Fall für die Frankfurter Mordkommission. Hochspannend und mit viel Lokalkolorid
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein Kriminalroman von Lutz Ullrich
© 2024 Lutz Ullrich
Korrektorat: punkt und komma
LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main
Cover-Foto: adobe stocks
Die Nachtluft entlang des Mains war feucht vom Nieselregen. Ein Nebelschleier lag über der Stadt. Finn Bauernfeind stand am Fuße der Treppe, die zum Eisernen Steg führte. Er war in Schwarz gekleidet, die Kapuze der Daunenjacke so weit über den Kopf gezogen, dass sein Gesicht allenfalls zu erahnen war. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, trug er eine Sonnenbrille. In der Dunkelheit und dem Nebel wirkte er fast unsichtbar.
Nervös schaute er immer wieder auf die Uhr und trat fröstelnd von einem Bein auf das andere. Es war Viertel nach drei in der Nacht. Sein nächtliches Date war längst überfällig, schon über zehn Minuten zu spät. Hatte es sich seine Verabredung etwa anders überlegt? War es aufgehalten worden? Und was würde das bedeuten?
Finns Gedanken trifteten zu einem Thema ab, das ihn seit Wochen beschäftigte. Die Welt glich einem Haifischbecken, einer globalen Treibjagd nach Geld. Die Gier war überall zu greifen. Milliarden Dollar und Euro rasten um den Globus und trieben den Puls der Finanzjongleure bis zum Herzinfarkt. In ihren Augen konnte man die Kurse flimmern sehen. Die Protagonisten spielten an den Börsen der Welt wie in einem Casino – ohne Rücksicht auf Verluste. Sie pokerten mit Aktien, Derivaten, Kryptowährungen, Edelmetallen – selbst mit Nahrungsmitteln. Die Armen dieser Welt hatten nicht einmal genug Brot zum Überleben. Finn hatte dieses Treiben lange verabscheut. Doch irgendwann war er auf den Trichter gekommen, dass das Lamentieren sinnlos war, und hatte beschlossen, sich nicht mehr treiben zu lassen, sondern aktiv zu werden. Warum sollte er sich nicht ein Stück vom Kuchen nehmen, wenn man es ihm nicht freiwillig gab?
Der Staat beschützte sowieso nur die Reichen. Sie spekulierten ohne Sinn und Verstand und standen nicht einmal für ihre Fehler ein. Sie rissen ganze Firmen in die Pleite und zur Belohnung flossen trotzdem Boni. Stand eine Bank vor dem Ruin, griff die öffentliche Hand – vom großen Crash geschockt – rettend ein und verschleuderte Millionen Steuergelder.
Der Reichtum dieser Welt verteilte sich in den Taschen weniger, die reicher und reicher wurden und alles bestimmten. Drei große Investmentfirmen waren an über neunzig Prozent der an der Wall Street gelisteten Aktien beteiligt. Sie waren somit Miteigentümer beinahe aller wichtigen Firmen, inklusive der Medienkonzerne. Die Machtstrukturen entwickelten sich in eine gefährliche Richtung. Aus der amerikanischen Demokratie war längst eine Oligarchie geworden. Nur hatte das kaum einer bemerkt. Jeder musste selbst sehen, wo er blieb. Das trieb viele Menschen in den Egoismus. Beim Kampf um Macht und Geld schreckten sie nicht vor Betrug und Erpressung zurück. Das Spiel an der Börse war hart und man musste bereit sein, alles zu tun, um zu gewinnen.
Finn richtete den Blick nach oben. Auf dem Steg hallten Schritte. Aus der Dunkelheit tauchten die Umrisse einer Gestalt auf, die von der gegenüberliegenden Mainseite aus immer näher kam. Finn kniff die Augen zusammen. Jetzt erreichte die Gestalt die obere Treppe. Finns Anspannung stieg, sein Herz schlug schneller. Adrenalin schoss durch seine Adern.
Es ging los!
Das Klingeln des Telefons riss Tom Bohlan aus dem Schlaf, noch bevor der Wecker eine Chance gehabt hatte, seinen morgendlichen Dienst zu erfüllen. Draußen dämmerte es und im Körper des Kommissars steckte die gleiche Müdigkeit wie am Abend zuvor, als er ins Bett getorkelt war.
»Guten Morgen, Herr Bohlan.«
Obwohl die Stimme aus dem Polizeipräsidium bemüht freundlich klang, schepperte sie blechern wie ein kaputter Verstärker in Bohlans Schädel.
»Es tut mir leid«, schob die Stimme entschuldigend hinterher, »wir haben eine Leiche am Eisernen Steg.«
Der Kommissar hoffte auf einen Traum, tastete mechanisch nach dem Lichtschalter. »Ich habe schon alle organisiert. Also Spusi und die Gerichtsmedizin. Sie müssen nur kommen«, drängte die Stimme.
»Vielen Dank.« Bohlans Stimme klang so kratzig, wie sie sich anfühlte. Erschreckend. Hoffentlich war keine Erkältung im Anflug.
Hastig schob er die Decke zur Seite und bahnte sich den Weg über auf dem Boden liegende Kleidungsstücke in Richtung Bad. Er duschte sich schnell mit kaltem Wasser ab, wickelte sich ein Handtuch um die Lenden und stellte in der Küche den Kaffeekocher auf den Herd. Während er sich anzog, wurde Wasser durch das Sieb nach oben gedrückt, wo es sich als Espresso sammelte.
Der koffeingetränkte Duft lockte Bohlan zurück in die schmale Bordküche. Der Kommissar fand zwei weiche Milchbrötchen und ein Nutella-Glas. Noch im Stehen tippte er eine Whatsapp an Julia Will. Deren Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Seine Kollegin war schon auf dem Weg zum Tatort. Fünf Minuten später saß der Kommissar in seinem VW-Lupo und fuhr Richtung Innenstadt. Während die Frankfurter Skyline auf ihn zuflog, dröhnte ein Popsong aus dem Radio. Bohlans rechter Daumen klopfte den Takt gegen das Lenkrad, ansonsten nahm der Kommissar aber weder Text noch Melodie wahr. Bohlan liebte die Stadt genauso wie seine Arbeit, doch wenn er unausgeschlafen war, fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern.
Seit einiger Zeit zehrte der Job zunehmend an seiner Substanz. Viel Arbeit war es schon immer gewesen. Daran lag es nicht. Aber mit Mitte fünfzig war man nicht mehr so belastbar wie mit dreißig. Das war ein Fakt. Selbst an ihm ging die Zeit nicht spurlos vorbei. Würde die Belastung eine andere werden, wenn er Gerdings Nachfolge angetreten hatte? Er könnte eine ruhigere Kugel schieben, mehr Zeit im Präsidium verbringen und müsste nicht mehr ständig auf der Straße herumschnüffeln wie ein räudiger Straßenkater. Eigentlich war die Entscheidung längst gefallen und er hatte Gerding zugesagt. Doch sie fühlte sich immer noch nicht rund an. Bohlan haderte mit ihr. Entsprach dieses Herumschnüffeln nicht seinem Naturell? Jedenfalls mehr als ein Schreibtischjob im Präsidium? Der Kommissar näherte sich der Innenstadt. Zum Teufel mit den ganzen Gedanken! Er drehte die Musik lauter, versuchte, an seine Freundin Tamara zu denken, und kurvte in Richtung Main.
Am Eisernen Steg angekommen parkte er den Lupo am Straßenrand und stieg aus. Steinbrechers Harley stand nur wenige Meter entfernt. Das Chrome blinkte in der Morgensonne. Das Gelände vor der Treppe war mit blau-weißem Absperrband markiert. Überall standen Uniformierte herum, um Passanten und Gaffer abzuhalten. An den Stufen zum Steg hinauf, der von der Frankfurter Altstadt nach Sachsenhausen führte, entdeckte er Julia Will und Walter Steinbrecher. Sie kehrten ihm den Rücken zu und waren in ein Gespräch vertieft.
Bohlan begrüßte einen der uniformierten Kollegen, der ihn gleich erkannte und mit einem »Morschen!« durchwinkte.
»Schlechter Ort für ’ne Leiche! Ist die Brücke komplett gesperrt?«, brummte der Kommissar.
»Nein. Der Tote liegt kurz vor dem oberen Treppenabsatz. Wir haben den Aufzug freigegeben, sonst müssten die Menschen ja bis zur Untermainbrücke laufen.«
»Gut gemacht«, lobte Bohlan und klopfte dem Beamten anerkennend auf die Schulter. Es war immer gut, die Kollegen bei Laune zu halten, vor allem die Streifenpolizisten, die oft genug für die Drecksarbeit zuständig waren und selten ein Lob einfuhren.
Bohlan näherte sich Will und Steinbrecher, die sein Kommen mittlerweile bemerkt hatten und auf der untersten Stufe auf ihn warteten.
»Hallo zusammen.«
»Morgen, Tom. Die Leiche liegt um die Ecke. Der Mörder hat sich was Besonderes einfallen lassen«, sagte Julia geheimnisvoll. »Aber schau selbst.«
Will trug Jeans und eine leichte Daunenjacke. Ihre dunkelbraunen Haare waren wie meist zu einem Zopf gebunden.
Steinbrecher rollte eine Zigarette zu Ende, klebte das Papier zusammen und zündete sie an. Bohlan musste schmunzeln. Schön, dass sich manche Szenen an jedem Tatort wie ein Ritual wiederholten. Das schaffte so etwas wie Vertrautheit, bot ein Muster, in dem man sich bewegen konnte. Steinbrecher war ein altes Schlachtross wie er und würde sich nicht mehr ändern. Mochte auch alle Welt das Rauchen aufgeben oder auf neumodische E-Zigaretten umsteigen, Walter Steinbrecher käme so etwas niemals in den Sinn. Er drehte seine Glimmstängel wie eh und je lieber selbst. Auch an seiner Motorradkleidung würde sich nichts mehr ändern. Nur die früher dunklen, wuseligen Locken waren mittlerweile weiß geworden. Jetzt nahm er genüsslich die erste Ladung Nikotin in sich auf und wirkte dabei glücklich und zufrieden.
Bohlan ging die Stufen hinauf zum ersten Absatz und dann nach rechts. Dort lag, mit dem Rücken gegen die obersten Stufen gelehnt, die Leiche – ein junger Mann, dessen Oberkörper in eine leichte schwarze Daunenjacke gehüllt war. Er trug schwarze Jeans und Sneaker.
Bohlan schätzte den Mann auf Mitte zwanzig. Das Gesicht wies wenig Falten auf, war an Kinn und Wangen mit leichten Bartstoppeln bedeckt. Dunkelblonde Augenbrauen lugten unter einer kantigen Ray-Ban-Sonnenbrille hervor. Irgendwas steckte in seinem Mund. War das die Überraschung, von der Will gesprochen hatte?
Bohlan kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. In letzter Zeit spielten sie nicht mehr so recht mit. Eine altersbedingte Veränderung, die Bohlan nur allzu gern verdrängte. Er stieg zwei, drei weitere Stufen hinauf. Waren das wirklich Geldscheine? Ein ganzes Bündel brauner Fünfziger, akkurat zusammengerollt. Merkwürdig!
»Raubmord können wir wohl ausschließen«, bemerkte Will mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme.
Bohlan nickte. Dass ein Mörder seinem Opfer Geld in den Rachen schob, war eher ungewöhnlich.
Der Blick des Kommissars fiel auf das Messer, das im Brustkorb der Leiche steckte. Unter ihr hatte sich eine Blutlache gebildet, vermutlich bereits angetrocknet.
»Da wird Dr. Spichal einen leichten Job haben. Die Todesursache ist unverkennbar.« Bohlan beugte sich über die Leiche. »Wer hat ihn gefunden?«
»Ein junger Mann, der heute Morgen über den Steg joggte«, berichtete Will.
Bohlan bekam gleich ein schlechtes Gewissen, weil er schon seit über einer Woche nicht mehr laufen war. Diese Nachlässigkeit passierte ihm in der letzten Zeit immer öfter. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass er älter wurde? Überhaupt: Früher war er dauernd auf Achse gewesen – auch nach Dienstschluss. In den letzten Monaten aber war er abends froh, sein Hausboot erreicht zu haben. Erledigt vom Tag ließ er sich meist aufs Sofa fallen, schaute durchs Fenster und beobachtete gedankenverloren, wie das Wasser des Mains flussabwärts floss. Alternativ ließ er sich von der Glotze berieseln. Wenn Tamara ihn aus dem Trott riss und zu einem Event schleifte, amüsierte er sich. Dann war er sogar stolz darauf, aktiv zu sein. Aber von allein schaffte er es nicht, das Sofa zu verlassen. Morgens war es nicht anders. Früher war er gleich nach dem Aufstehen zum Joggen aufgebrochen, hatte danach kalt geduscht und war tatendurstig ins Präsidium gefahren. In den letzten Wochen war daran nicht zu denken gewesen. Wenn der Wecker klingelte, blieb er müde liegen, zögerte die Dusche hinaus und trödelte herum.
Irgendetwas musste sich ändern.
»Tom, alles okay?«
Bohlan schreckte auf. »Ja, natürlich!«
Sie stiegen die Treppen wieder hinunter, erreichten Steinbrecher, der lässig am Geländer lehnte und die letzten Züge der Zigarette genoss.
»Hast du die Personalien von dem Jogger?«, wollte Bohlan wissen.
»Klar, was denkst du. Die des Opfers übrigens auch. Leider kann uns der Jogger aber nicht viel weiterhelfen. Von der Tat selbst hat er nichts mitbekommen.« Steinbrecher blies Zigarettenrauch in Richtung Main.
»Vermutlich wird das mit Zeugen sowieso ein Problem.« Bohlans Blick wanderte zur Häuserzeile auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Wenn da nicht zufällig nachts jemand aus dem Fenster geschaut hat, siehts schlecht aus.«
»Es gäbe da noch die Obdachlosen«, warf Will ein. »Die nächtigen unter den Brücken. Vielleicht hat da jemand was gesehen.«
»Gut möglich«, grummelte Bohlan. »Fragt sich nur, wie auskunftsfreudig die sind.«
»… und ob sie sich nicht des Geldes bemächtigt hätten, das im Mund des Opfers steckt«, bemerkte Steinbrecher. Er ließ den Stummel der Zigarette auf den Asphalt fallen und zertrat die Glut.
Die Wagen der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin fuhren vor.
»Kaffee in der Altstadt?«, fragte Bohlan. »Hier stehen wir eh nur im Weg.«
Es war mehr eine Aufforderung als eine Frage
Bohlan, Will und Steinbrecher betraten das Café im Frankfurter Kunstverein und setzen sich an einen Tisch direkt am Fenster. Draußen, zwischen Römerberg und Altstadt, war noch nicht viel Betrieb. Die Mainmetropole musste erst noch erwachen.
Bohlan kramte sein Notizheft aus dem Mantel und zückte tatendurstig den Kugelschreiber.
Nachdem die Bedienung die Bestellung von drei Cappuccinos aufgenommen hatte, sagte der Kommissar: »Also halten wir fest: Unser Opfer wurde im Laufe der Nacht erstochen. Außer dem Jogger haben wir bislang keine Zeugen. Was wissen wir über das Opfer?«
»Zum Glück hatte er seine Papiere einstecken. Er heißt Finn Bauernfeind, wohnte in der Schäfflestraße, das ist im Riederwald«, sagte Steinbrecher.
»Alter?«
»26.«
Bohlan kritzelte die Infos in sein Heft. »Sonst noch was?«
»Nicht wirklich, außer der Sache mit den Geldscheinen«, warf Steinbrecher ein, während die Bedienung die Tassen auf den Tisch stellte.
»Ja, das ist in der Tat ein merkwürdiges Detail. Ich habe auch noch nie erlebt, dass der Täter sein Opfer bezahlt!« Bohlan nippte an seinem Cappuccino.
»Es könnte ein Hinweis auf sein Tatmotiv sein«, vermutete Will. »Vielleicht war Finn besonders geldgeil, konnte seinen Rachen nicht voll genug bekommen.«
»Ja«, stieß Bohlan aus. »Das war auch meine erste Assoziation. Aber ist dies nicht zu offensichtlich?«
»Nicht jeder Täter will komplizierte Spuren legen. Wenn die Tat aus einer Emotion heraus erfolgt ist, könnte das schon passen«, spekulierte Will.
»Vielleicht hat das Opfer den Täter im Vorfeld geprellt oder betrogen«, spann Steinbrecher den Faden weiter und trank seinen Cappuccino aus.
»Wäre eine Möglichkeit«, stimmte Bohlan zu. »Andererseits würde er ihm dann postum weiteres Geld in den Rachen schieben.«
»Auch wieder wahr«, pflichtete Will ihm nachdenklich bei. »Dann sollten wir uns zunächst in der Wohnung des Opfers umschauen.«
Bohlan sah Will an. »Das machen wir.« An Steinbrecher gewandt fuhr er fort: »Du und Jan, ihr klappert die Umgebung ab. Hört euch in der Obdachlosenszene um. Vielleicht hat doch jemand irgendetwas gesehen. Wo steckt Jan eigentlich?«
Jan Steininger war das vierte Mitglied des Ermittlerteams. Da er in Offenbach wohnte, kam er meistens als letzter zum Tatort.
»Ist auf dem Weg«, sagte Steinbrecher. »Ich warte hier auf ihn.«
Bohlan und Will fuhren schweigend im Lupo durch die Frankfurter City. Immer wieder blieben sie im Verkehr stecken, mussten an zahllosen Ampeln warten. Nach der Abbiegung hinter der Eissporthalle schlängelte sich die Blechlawine einem Lindwurm gleich endlos langsam Richtung Riederwald.
Das Haus, in dem Finn gewohnt hatte, lag unmittelbar hinter einem durch ein Haus gebildeten Torbogen, der die Siedlung von der Borsigallee abschirmte. Auf der anderen Seite der viel befahrenen Straße lagen die Sportstätten des FSV und der Eintracht in trauter Nachbarschaft.
Bohlan parkte den Wagen am Straßenrand, während Will eine Nachricht ins Handy tippte. Er ließ seinen Blick über die Häuserzeilen der Schäfflestraße schweifen, die wie an einer Kette aufgezogen hinter einer Platanenreihe standen. Die Häuser waren zweigeschossig, die Fassaden mit Klappläden bestückt. Die Siedlung war im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts als Arbeitersiedlung erbaut worden, gleichzeitig mit dem Bau des Osthafens.
»Komm schon!«, sagte Bohlan.
Will steckte das Handy ein und folgte ihm zum Eingang des Wohnhauses. Bohlan kramte etwas umständlich den Schlüssel aus der Jackentasche, den Steinbrecher Finns Jacke entnommen hatte. Die beiden betraten das Treppenhaus. Bohlan fühlte sich wie auf einer Zeitreise. Das Gebäude war in den letzten vierzig Jahren nicht renoviert worden. Die Holztreppen waren abgelaufen, von den Wänden bröckelte die Farbe. Zudem herrschte eine unnatürliche Stille. Alle Bewohner schienen ausgeflogen zu sein. Vor Finns Wohnungstür versicherte sich der Kommissar am Klingelschild nochmals, dass sie die richtige Wohnung vor sich hatten. »Finn Bauernfeind« stand dort auf einem gelben Band, das einem Etikettendrucker entstammte. Bohlan steckte den Schlüssel ins Schloss. Nach zwei Umdrehungen öffnete sich die Tür. Kurz darauf standen sie im engen Flur einer Drei-Zimmer-Wohnung.
Sonnenstrahlen fielen durch das schmutzige Wohnzimmerfenster. Gardinen oder Jalousien waren keine angebracht. Überall lagen Zeitungen und Zeitschriften herum, im Regal stapelten sich Bücher über Bankgeschäfte. Davor stand eine prall gefüllte Aktentasche.
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte Will, nachdem sie sich einen kurzen Überblick über die Wohnung verschafft hatten.
»Kümmere dich ums Arbeitszimmer«, antwortete Bohlan und ging selbst in Richtung Schlafzimmer, das eine Tür weiter lag.
Er öffnete vorsichtig einen Schrank und fand einige Herrenanzüge und Hemden in verschiedenen Farben. T-Shirts und Pullover waren ordentlich gefaltet. Aber außer Kleidungsstücken konnte er nichts finden. Er drehte sich um, stiefelte wieder durch den Flur. Will wühlte sich inzwischen durch allerlei Papierkram.
»Und, was Interessantes?«, fragte Bohlan leise.
»Ja«, gab Will grimmig zurück, »er war bei der Bankakademie eingeschrieben, zuvor hat er offenbar eine Banklehre absolviert.«
Das erklärte die für einen jungen Kerl recht altmodische Kleidung, dachte Bohlan. Er lugte Will über die Schulter und entdeckte ein Foto an der Pinnwand.
»Das könnte seine Freundin sein«, sagte er knapp. »Und hier ist eine Adresse auf einem Briefumschlag: Petra und Michael Bauernfeind. Vielleicht seine Eltern?«
Will nickte. Bohlan scannte das Regal ab, in dem weitere Aktenordner und Bücher standen.
»Den Computer nehmen wir mit«, sagte Bohlan unvermittelt.
Will zögerte kurz. »Im Flur stehen ein paar Plastikboxen, da können wir alles reinpacken. Hier ist übrigens noch ein Adressbuch mit einigen Namen drin!«
Bohlan holte die Boxen und verstaute Aktenordner und Computer.
Nach einem abschließenden Rundgang verließen sie die Wohnung wieder.
Im Auto wählte Bohlan Steinbrechers Nummer und fragte nach dem Stand der Ermittlungen am Main. Die Stones hatten die Anwohnerschaft abgeklappert und sich ein wenig in der Obdachlosenszene umgehört – bislang ohne zielführende Ergebnisse. Niemand schien etwas von dem Mord mitbekommen zu haben. Der Leichenfund selbst war allerdings mittlerweile Gesprächsthema in der Stadt und gab Anlass für allerhand Spekulationen.
Bohlan diktierte Steinbrecher die Adresse der vermutlichen Eltern und bat die Kollegen darum, diesen einen Besuch abzustatten. Steinbrecher war wenig erfreut über die neue Aufgabe, fügte sich aber in sein Schicksal.
Am späten Nachmittag herrschte im Kommissariat eine gespannte Atmosphäre. Bohlan und Will wälzten seit ihrer Rückkehr Finns Aktenordner und Kontoauszüge – eine Arbeit, die Bohlan hasste und gern delegierte. Doch die Stones waren unterwegs und weiteres Personal zurzeit nicht verfügbar. Umso erfreuter war er, als Steininger und Steinbrecher eintrafen.
»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er seine Kollegen überschwänglich.
»Und wir haben Kuchen mitgebracht!«, rief Steinbrecher triumphierend aus und jonglierte eine große Bäckertüte durch den Raum, um sie behänd auf dem Tisch zu platzieren. Die beiden entledigten sich ihrer Jacken. Will holte Kaffee, Teller und Tassen und stellte alles auf den Tisch.
»Mhmm, lecker Streuselkuchen«, bemerkte Bohlan, nachdem er die Tüte geöffnet und die Stücke verteilt hatte.
»Ist endlich wieder im Sortiment«, berichtete Steinbrecher stolz.
»Hat dein ständiges Meckern also doch geholfen!?«, sagte Will belustigt.
Nachdem die Bäckereikette vor wenigen Wochen den Butterstreusel kurzerhand aus dem Sortiment verbannt hatte, waren Steinbrecher und Bohlan ständig schlechter Laune gewesen.
»Ich war bei Weitem nicht der Einzige«, grunzte Steinbrecher. »Die Verkäuferin war genervt von den permanenten Nachfragen.«
Bohlan schob sich das erste Stück Streusel in den Mund. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Mhmm, wie ich den vermisst habe!«
»Es ist wirklich einer der besten der Stadt«, murmelte Steinbrecher mit vollem Mund. »Ich kann immer noch nicht nachvollziehen, wie man auch nur auf die Idee kommen kann, den aus dem Sortiment zu nehmen.«
Bohlan berichtete im Anschluss über Finns Wohnung und schloss mit den Worten: »Also alles in allem keine besonderen Dinge. Scheint ’ne ganz normale Studentenbude zu sein.«
Der Kommissar trank einen Schluck Kaffee. »Was gibts bei euch?«
»Nicht viel.« Steinbrechers Stimme klang frustriert. »Die Nachfragerei in der Stadt hätten wir uns sparen können!«
»Wir haben bestimmt vierzig Wohnungen abgeklappert. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Und bei den Obdachlosen unter den Brücken herrschte auch Flaute. Keiner hat etwas mitbekommen«, ergänzte Steininger.
»Tja, nachts scheint in Frankfurt tote Hose zu sein. Von wegen aufregendes Nachtleben und so«, bemerkte Will und wechselte das Thema. »Und Finns Eltern?«
»Nicht schön«, murmelte Steinbrecher mürrisch: »Die waren von der Situation völlig überfordert. Konnten es nicht fassen, dass ihr Sohn tot ist. Natürlich haben sie keine Ahnung, warum man ihn ermordet haben könnte.«
Ein kurzes Schweigen folgte auf diese Aussage.
»Finn hat immer hart gearbeitet – aber nicht nur in seinem Job oder im Studium!« Steinbrechers Blick wanderte von einem zum anderen. »Er hat auch spekuliert ... an der Börse.«
Einen Moment lang herrschte Stille im Raum, dann fragte Will: »Könnte es sein, dass er sich dabei Feinde gemacht hat?«
Steinbrecher nickte nachdenklich. »Möglich. Erfolg weckt viele Neider. Andererseits schadest du niemandem, wenn deine Aktien steigen oder fallen. Ich denke, wir sollten den Fokus auf sein privates Umfeld legen.«
Bohlan zog die Augenbrauen hoch und fragte: »Wie meinst du das?«
»Finn wechselte öfters die Freundinnen«, erklärte Steinbrecher. »Eifersucht ist, wie wir wissen, ein gutes Motiv ...«
Bohlan stand unvermittelt auf, um in den Unterlagen zu kramen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Dann zog er ein Foto hervor und reichte es seinen Kollegen.
»Hier, seht ihr? Das ist von Finns Pinnwand. Vielleicht war das seine aktuelle Freundin?«
Die Stones warfen einen Blick auf das Foto.
»Also Geschmack hatte er jedenfalls«, blaffte Steininger.
»Dann müssen wir nur noch herausbekommen, wer die Dame ist und wie wir sie erreichen können«, sagte Bohlan. »Leider ist Finns Handy ja verschwunden.«
»Möglicherweise könnte uns da tatsächlich Finns Mutter weiterhelfen. Sie hat mir die Telefonnummer einer gewissen Esther Herder gegeben. Sie war angeblich Finns aktuelle Freundin.« Steinbrecher kramte umständlich in seiner Hosentasche. Nach einiger Zeit zog er einen Zettel hervor und strich ihn auseinander.
»Dann gibt es da noch einen Janos. Finns Kumpel. An den sollten wir uns auch unbedingt wenden«, bemerkte Steininger. »Die beiden waren seit Jahren richtig dicke –« Ein lautes Klingeln unterbrach ihn jäh – alle Ermittler zuckten zusammen.
»Verdammt!«, fluchte Steinbrecher lautstark in die Stille hinein, weil er sein Handy nicht finden konnte. Erst nachdem das Klingeln verstummt war, zog er es aus der Jackentasche. Es war sein Sohn Julian, der sich mit ihm verabreden wollte.
Tobias Westenbergs Penthouse lag unweit der Frankfurter City direkt am Main. Der Börsenguru stand zusammen mit Patricia Simon am Wohnzimmerfenster. Die beiden genossen den atemberaubenden Ausblick über die Skyline. Westenberg hatte in den letzten Jahren mehrere Börsenbriefe erfolgreich am Markt etabliert, tingelte mit Finanzshows durchs Land und hatte sogar eine eigene Fernsehshow, die wöchentlich auf einem privaten Nachrichtenkanal ausgestrahlt wurde. Überall promotete er Aktien und gab Tipps, in welche man am besten investieren sollte. Er war groß gewachsen und schlank. Die schwarzen Haare kämmte er meist mit Gel nach hinten. Die Wohnung hatte er vor zwei Jahren gekauft. Der Notar hatte bei der Beurkundung des Kaufvertrages mehrfach gefragt, ob er wirklich keine Finanzierungsvollmacht in den Vertrag aufnehmen sollte. Und Tobias hatte dies mit einem Lächeln verneint und den Kaufpreis aus seinen Ersparnissen beglichen.
Patricia hatte er kurz darauf auf einer Party kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie war klein, beinahe zierlich. An der einen oder anderen Stelle hatte der Schönheitschirurg ein wenig nachgeholfen und optimiert. Aber wen störte das schon. Wenn sie die Straße entlanglief und die blonden Haare im Rhythmus ihres Schrittes auf den Schultern tanzten, drehten sich die Männer reihenweise nach ihr um.
Sie war ähnlich erfolgreich wie er, betrieb ein Internetbusiness und nebenbei einen Influencer-Kanal, auf dem sie vor allem schöne, manchmal aufreizende Bilder veröffentlichte – ein durchaus lukratives Geschäft. Für diesen Kanal war sie viel unterwegs und postete die Orte mit der besten Instagramability. Erst am Nachmittag war sie von einem Trip nach Frankfurt zurückgekehrt.
Die beiden standen in dem großen, modern eingerichteten Wohnzimmer. Tobias hielt eine Sektflasche in der einen und zwei Gläser in der anderen Hand. Patricia trug ein elegantes Kleid. Am liebsten würde er sie auf der Stelle vernaschen, aber sie waren zu einer großen Party eingeladen und hatten nicht mehr allzu viel Zeit. Tobias bewunderte Patricia. Sie hatte ein ausgeprägtes Selbstvertrauen und eine einnehmende Ausstrahlung. Jetzt lächelte sie Tobias an – ein Lächeln, das alles versprach.
»Auf uns!«, sagte sie leise und hob ihr Glas. Tobias stieß mit ihr an, bevor er das Glas Sekt in einem Zug leerte.
Walter Steinbrecher musterte Esther Herder mit einem prüfenden Blick. Die junge Frau war schlank, hatte braune, kurz geschnittene Haare und grüne Augen. Sie trat im Türrahmen stehend nervös von einem Bein auf das andere und ließ den Kommissar – nachdem dieser seinen Dienstausweis gezückt hatte – herein. Die Wohnung war gemütlich eingerichtet, in warmes Licht getaucht und wirkte aufgeräumt und gepflegt. Da Steinbrecher am späteren Abend in Sachsenhausen verabredet war, lag der Abstecher zum Schweizer Platz auf seinem Weg.
»Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte der Kommissar höflich und nahm auf einem roten Samtsofa Platz.
»Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Es geht um Finn ...«, setzte der Kommissar an. Er war bereits zum zweiten Mal an diesem Tag der Überbringer einer Todesnachricht. »Finn ist tot, er wurde ermordet.«
Esther schluckte hörbar, setzte sich und sah den Kommissar mit leeren Augen an. Ihre Arme zitterten.
»Ich habe schon davon gehört ...«, presste sie zwischen den Zähnen leise hervor.
»Von wem?«
»Seine Mutter hat mich heute Mittag angerufen.«
Hätte ich mir denken können, dachte Steinbrecher und musterte Esther.
»Haben Sie vielleicht eine Zigarette?«, fragte diese. Steinbrecher nickte und zog seine Vorratspackung aus der Lederjacke.
»Ist aber selbst gedreht und ohne Filter.«
Esther griff nach der Zigarette.
»Normalerweise rauche ich nicht, nur gelegentlich«, sagte sie tonlos. Steinbrecher zückte sein Feuerzeug. Esther hielt die Zigarette in die Flamme. Nach zwei, drei Zügen fragte sie: »Was soll ich dazu sagen?«
»Sie waren Finns Freundin!«
»Nicht mehr. Ich habe vor ein paar Wochen Schluss gemacht«, sagte sie zögernd, »weil er mich hintergangen hat.«
Steinbrechers Augenbrauen hoben sich überrascht.
»Was ist passiert?«
»Es ist … kompliziert.«
Der Kommissar sagte geduldig. »Ich verstehe …«
Mit komplizierten Beziehungen kannte er sich aus. Julians Mutter und er hatten sich getrennt, als dieser noch klein gewesen war. Jahrelang hatte Steinbrecher keinen Kontakt zu seinem Sohn gehabt. Erst nach dessen achtzehntem Geburtstag war dieser plötzlich in Frankfurt aufgetaucht und hatte sich bei der Polizei beworben.
»Finn konnte sehr charmant sein«, fuhr Esther nach einer Zeit des Schweigens fort, »er hatte so eine Art, Frauen um den Finger zu wickeln – aber er war auch triebgesteuert, hatte viele Affären.«
»Wie hat er darauf reagiert?«, fragte Steinbrecher.
Sie zögerte einen Augenblick lang. Dann seufzte sie schwer. »Er hat versucht, mich umzustimmen. Hat mir Dinge versprochen ... Aber ich konnte ihm nicht mehr vertrauen.«
»Wie lange waren Sie denn mit ihm zusammen?«
»Ein knappes Jahr.«
Gar nicht einmal so lange, dachte Steinbrecher. Immerhin hatten Finns Eltern Esthers Nummer und waren über die Trennung offensichtlich gar nicht informiert worden.
»Hatten Sie in letzter Zeit noch Kontakt zu ihm?«
»Nur per Whatsapp«, gestand Esther leise.
Der Kommissar lehnte sich zurück und beobachtete sie genau. »Können Sie sich vorstellen, wer Finn ermordet haben könnte?«
Esther blickte ihn verwirrt an. »Keine Ahnung ... nein, beim besten Willen nicht!«
Steinbrecher zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Ich darf doch, oder?«
»Natürlich.«
Er sog an dem Glimmstängel und blies eine Rauchwolke in den Raum.
»Hatte er mit jemandem Ärger? Oder Feinde?«
Esther zog die Stirn in Falten.
»Nicht, dass ich wüsste!«
»Was haben Sie denn gestern Nacht gemacht?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich muss das fragen, das ist mein Job.«
»Ich habe mich von ihm getrennt, ja – aber deshalb bringe ich ihn doch nicht um!«
Steinbrechers Miene blieb unverändert. »Das beantwortet nicht meine Frage.«
Esther sprang auf und lief energisch durch den Raum. »Ich habe mit ihm abgeschlossen! Ich würde niemals ... Was denken Sie denn von mir?«
»Ich muss jede Möglichkeit ausschließen«, erklärte Steinbrecher kühl. »Und wenn das bedeutet, dass ich Ihnen kritische Fragen stellen muss, dann tue ich das.«
Esther Herder stand jetzt vor dem Fenster, den Rücken zu Steinbrecher gedreht. Sie öffnete das Fenster. »Ich war mit Freunden unterwegs. Erst im Kino, dann in einer Bar.«
Genug Zeit, um auf dem Nachhauseweg einen Abstecher über den Eisernen Steg zu machen, dachte Steinbrecher, behielt diesen Gedanken aber einstweilen für sich. Momentan konnte er sich nicht vorstellen, dass Esther tatsächlich ihren Ex ermordet hatte.
»Können Sie mir die Daten der Personen geben, mit denen Sie unterwegs waren?«