Leichter Schwindel - Mieko Kanai - E-Book

Leichter Schwindel E-Book

Mieko Kanai

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Beschreibung

Tokio in den Neunzigern, manisch flirrende Weltstadt, und Natsumi steckt fest: Ehe, Mutterschaft, Haushalt, ein sediertes Mittelschichtsleben in ruhiger Randlage. Sicher, sie hat sich ihren Humor bewahrt, den Eigensinn, die Häme, die Begeisterung für Hitchcock-Filme, für die Fotografie. Und »aus innigster Überzeugung« bekocht sie Mann und Söhne, wäscht die Wäsche, geht einkaufen, redet angeregt mit Nachbarinnen.
Wenn sie nachts aber wachliegt und in die Dunkelheit starrt, hat sie neuerdings die Supermarktregale in der korrekten Abfolge vor Augen. Oder rezitiert fehlerfrei ihre seitenlangen To-do-Listen. Ist es nicht beunruhigend, wie sie von der Flut alltäglicher Kleinigkeiten mehr und mehr davongetragen wird? Wie in der Monotonie ihrer Tage zugleich alles und überhaupt gar nichts geschieht? Wie die Welt zusehends unschärfer wird?
Das alles erscheint ihr plötzlich völlig klar – nur eben das nicht: Wo er sie eigentlich hinführt, dieser ständige leichte Schwindel…

Leichter Schwindel ist ein »hypnotisierendes Wunder« (New York Times) und der Urtext neuen weiblichen Schreibens in Japan. Die Kultautorin Mieko Kanai hat das Porträt einer Unsichtbaren geschrieben, einer mitreißend launischen Frau, die sich mit den schwankenden Druckverhältnissen eines äußerlich nicht sonderlich bewegten Lebens zu arrangieren versucht.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Cover

Titel

Mieko Kanai

Leichter Schwindel

Roman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Karui memai bei Kodansha Ltd.,Tokyo.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025

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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-78014-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Wasser aus dem Hahn

Die Frau nebenan

Haare auf dem Kopfkissen

Vogelstimmen

Gute Neuigkeiten

Das Katzendebakel

Die Freundinnen

Brechung und Ethik

Die Präsenz des Lichts

Leichter Schwindel

Nachwort

Informationen zum Buch

Wasser aus dem Hahn

Für die Wohnung mit den großen Balkonen nach Süden und Osten und der geräumigen Wohnküche hatten sie sich nicht etwa deshalb entschieden, weil Natsumi eine passionierte Köchin, und schon gar nicht, weil sie besonders stolz auf ihre Kochkünste gewesen wäre, sondern wegen ihrer Ähnlichkeit mit den von ihr begehrlich bewunderten Interieurs in diversen Hochglanzzeitschriften, wegen der Kochinsel mit Theke, der letzte Schrei und bestimmt praktisch, und vor allem auch, weil die Wohnungstür nicht wie in ihrem bisherigen Living-Dining-Kitchen-Apartment mit zwei Schlafzimmern, kein Neubau, in die Küche führte und der Blick nach rechts direkt auf Spüle, Gasherd und Kühlschrank fiel, weshalb Natsumis Mutter, die noch nie in einer Siedlung oder in einem Apartmenthaus gewohnt hatte, standardmäßig bei jedem Besuch erklärte, es sähe aus wie bei armen Leuten, wenn Flur und Küche nicht getrennt seien, und noch erbärmlicher, wenn sie die Zeile nicht blitzsauber halte, da könne die Hypothek noch so günstig sein, für eine Hausfrau sei eine separate Küche einfacher, sagte sie mit einem kritischen Blick auf Spüle und Gasherd, welche sich naturgemäß nicht in dem angestrebten Idealzustand von Ordnung und Sauberkeit befanden, während die Tür zu ihrem neuen Apartment mit der Kochinsel nicht direkt in die Küche führte, sondern in einen schmalen Flur, den eine weißgerahmte Glastür vom Wohnzimmer trennte, so dass Besucher günstigerweise nicht sofort das Chaos der gesamten Küche vor Augen hatten, außerdem war die Größe des Apartments mit der Wohnküche von zwölf Tatami, dem angrenzenden Wirtschaftsraum von drei Tatami, dem japanischen Schlafzimmer von sechs und den beiden westlichen Zimmern von acht und sieben Tatami für ein Ehepaar mit zwei Kindern im Grundschul- und im Kindergartenalter recht luxuriös, und die Kinder fanden den kleinen Pool im Hof, der sich allerdings eher zum Plantschen als zum Schwimmen eignete, absolut cool und wie bei reichen Leuten, und auch wenn völlig klar war, dass sie zwar im Moment begeistert davon waren, das Plantschbecken aber bald satthaben und darüber spotten würden, ebenso wie sie, sobald sie ins Mittelschulalter kämen, nicht mehr mit ihrem Etagenbett im Sieben-Tatami-Zimmer zufrieden wären und »eigene Zimmer« wollten, so dass ihr Mann, dem das Acht-Tatami-Zimmer im westlichen Stil als Arbeitszimmer diente, darauf verzichten, das hatten sie schon besprochen, und stattdessen den Wirtschaftsraum benutzen würde, in dem Waschmaschine, Trockner und Wäschekorb sowie an der gegenüberliegenden Wand ein weißes wie maßgefertigtes Schrankelement aus dünnem polyesterharzbeschichtetem Sperrholz standen, das sie sich von einem Versandhaus hatten schicken lassen, auch wenn sie in dem Fall nicht wüsste, wohin mit Waschmaschine, Trockner und Schrank, Putz- und Waschmitteln, Kerzen, Lebensmittelvorräten und dem ganzen sonstigen Krempel, außerdem wohin mit den fünf Stahl- und Sperrholzregalen im Arbeitszimmer, dem Schreibtisch, dem Computer und der Videokamera, die ihr Mann für Aufnahmen von der Familie gekauft hatte, ein Vorhaben, das er, vielleicht weil er keine Lust mehr zum Filmen hatte oder von vorneherein keine visuelle Begabung besaß, wieder aufgegeben hatte, jedenfalls waren nicht einmal zehn Stunden zusammengekommen, wobei bei einem größeren Teil der Sequenzen die Köpfe der Aufgenommenen abgeschnitten waren, dazu kam ein Expander aus seiner Studienzeit und ein Sportgerät namens Super Gym DX (Made in Taiwan), das er sich nach dem Umzug, ohne sich mit ihr abzusprechen, zugelegt hatte und das zwar nicht teuer gewesen, aber 30 Kilogramm schwer, 115 Zentimeter breit, 161 Zentimeter tief und 148 Zentimeter hoch war, das jedoch dank des 12-stufig verstellbaren Hydraulikzylinders bei täglicher Anwendung »nie wieder Bewegungsmangel, echte Ergebnisse, Straffung der Figur und Verbesserung körperlicher Fitness« versprach, zu erzielen durch ein »vollwertiges Trainingsprogramm wie im Fitnessstudio, nur bequem und jederzeit in den eigenen vier Wänden«, und während Natsumi überlegte, was sie mit dem Ding anstellen sollte, hätte sie es am liebsten gleich am nächsten Morgen zum Sperrmüll gebracht, obwohl es noch mindestens fünf oder sechs Jahre dauern würde, bis sie sich ernsthaft Gedanken darüber machen musste, woraufhin sie beschloss, sich nicht weiter mit dem Thema zu beschäftigen, ebenso wenig wie mit den Problemen, die entstehen konnten, wenn sich bei der scheinbar einfachen Berechnung des Grundrisses und der Maße der Möbel doch irgendwo ein Fehler eingeschlichen hatte (z. ‌B. wenn sie meinte, endlich alles richtig eingezeichnet zu haben, aber außer Acht gelassen hatte, dass die Türen nach innen aufgingen und nicht nach außen).

Ihr Mann lag mit dem Kopf auf einem Stapel Kissen auf dem Sofa, und als sie sagte, sie würden über alles nachdenken, wenn es so weit war, antwortete er, ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen, genau, wir warten, bis die Zeit reif ist, was sie, obwohl sie der gleichen Ansicht war, irgendwie ärgerte, auch wenn sie sich die ihr auf der Zunge liegende Bemerkung »das sagst du immer« verkniff.

Die saubere, neue Einbauküche aus Emaille und hellem Holz beim Frittieren von Tempura zu beschmutzen, wäre ihr wie Verschwendung vorgekommen. Also erklärte sie ihrem Mann, dass sie, wenn sie zu Hause Tempura zubereiten würde, selbst im besten Fall nicht mit einem Spezialitätenrestaurant konkurrieren könnte. Ich bin nur eine gewöhnliche Hausfrau, sagte sie, und in keinem Feinschmeckerhaushalt aufgewachsen, meine Mutter interessiert sich nicht einmal besonders fürs Kochen, sie war nie eine Tempura-Expertin, und selbst wenn ich es einigermaßen hinbekäme, würden deine Freunde und Kollegen uns für knickrig halten, außerdem wäre es doch peinlich, wenn du vor ihnen wie ein Weichling mit der Tempura deiner Frau angeben würdest.

Ja, jetzt wo du es sagst, stimmte ihr Mann ihr sichtlich beeindruckt zu, es sind immer die Schwächlinge, die mit den Kochkünsten ihrer Frauen prahlen, Typen, die in ihrer Jugend nur Haut und Knochen waren, aber in mittlerem Alter immer mehr zunehmen, bis sie am Ende aussehen wie fette alte Wasserschweine und ihr sowieso schon kleiner Penis im Nacktzustand absolut winzig wirkt, und wenn man darüber nachdenkt, ist diese Prahlerei mit den Kochkünsten der eigenen Frau ein untrügliches Zeichen dafür, dass einer die orale Phase nicht überwunden und aus seiner Ehe eine Mutter-Sohn-Beziehung gemacht hat, typisch für japanische Männer, oder? Er nickte von sich überzeugt, während die Kinder sich unverdrossen über die Schnitzel und die Tempura hermachten, die Natsumi fertig aus dem Supermarkt geholt und in der Mikrowelle erhitzt hatte, aber sie wussten natürlich, dass solche Gerichte etwas anderes waren als die, die sie selbst kochte, denn auch Kinder hatten einen feinen Geschmackssinn und waren imstande, gutes von schlechtem Essen zu unterscheiden, und solange sie das beurteilen konnten, durfte sie ruhig ein paar Abstriche machen, auch wenn sie in einer Ernährungszeitschrift gelesen hatte, frittiertes Essen erhöhe den Fettkonsum und aus einer Vorliebe für fettes Essen könne eine Sucht werden, ähnlich wie es bei Zigaretten, Alkohol oder Drogen der Fall war, denn sobald man sich einmal daran gewöhnt habe, würden fettarme Speisen als ungenügend empfunden, aber natürlich wiesen ihr Mann und die Kinder sie nicht auf den Widerspruch hin, wenn sie einerseits verkündete, Frittiertes sei zu fettig und daher ungesund, und trotzdem gelegentlich Schweineschnitzel, Kroketten, Tempura oder Brathähnchen aus dem Supermarkt oder vom Metzger auf den Tisch kamen.

Theoretisch brauchte man mit dem Bus von Shibuya dreißig Minuten bis zu ihrer Wohnung, aber natürlich dauerte es je nach Verkehr länger, also nahmen sie die Odakyu-Linie von Shinjuku nach Chitose Funabashi, stiegen am Bahnhof Chitose Funabashi in einen Bus und fuhren bis zur Haltestelle an der Universität für Agrarwissenschaften, von wo es nur noch vier oder fünf Minuten zu Fuß zu ihrer Wohnung waren, die mit dem nahe gelegenen Campus und dem Reitpark in einer für Kinder sehr geeigneten Gegend lag, dazu war sie preislich sehr günstig, und sie hatten einmal woanders wohnen wollen, auch wenn es noch Tokio war und sie die Wohnung vielleicht eines Tages verkaufen und ein Haus in Mejiro bauen würden, wo Natsumis Eltern wohnten, aber der Vorbesitzer hatte die Wohnung vermutlich wegen finanzieller Schwierigkeiten in aller Eile auf den Markt gebracht, und obwohl sie mit sieben Jahren nicht mehr neu war, wies sie kaum Mängel oder Gebrauchsspuren auf, entweder weil er sie von Anfang an zum Verkauf vorgesehen hatte oder weil er ein sehr reinlicher Mensch war, der gerne putzte und seine Sachen in Ordnung hielt. Da sie die Einbauküche mit den Kunstmarmor-Arbeitsflächen und dem großen Backofen mit integrierter Mikrowelle übernahmen, beschränkte sich die Renovierung darauf, die sechs Tatamielemente des japanischen Zimmers durch einen Laminatboden und den japanischen Wandschrank durch einen Kleiderschrank zu ersetzen, außerdem hatte das Sieben-Tatami-Zimmer eine cremefarbene, rosa, hellblau, orange und braun gemusterte Tapete, die an französisches Rokoko erinnerte, oder wie immer man den Stil mit dem übertrieben romantischen oder klassischen Blumenmuster nennen wollte, und einen dazu passenden Kronleuchter mit zwölf tränenförmigen Ornamenten aus geschliffenem Kristallglas, wenn ihre Kinder Mädchen wären, meinte ihr Mann, würden sie sich vielleicht über das Prinzessinnenzimmer freuen, aber für Jungs wäre es zu schräg, worauf Natsumi erwiderte, selbst wenn sie Töchter hätten, würde sie nicht wollen, dass sie in einem derart geschmacklosen, albernen Zimmer wohnten, so tauschten sie die Tapete gegen eine schlichtere aus, und ihr Ältester, der sich vor dem Schulwechsel gefürchtet hatte, konnte pünktlich und ohne Probleme zu Beginn des neuen Schuljahres im April auf die neue Schule gehen, und auch der Jüngere, der in den Kindergarten kam, gewöhnte sich schnell ein, so verging ein Jahr, und zunächst schien alles gut, der neue Bodenbelag im Kinderzimmer war mühelos zu reinigen und viel hygienischer als ein für Hausstaubmilben so anfälliger Teppichboden, außerdem war Laminat jetzt sehr beliebt, und so war es die naheliegende Wahl gewesen, wobei sie leider nicht bedacht hatten, dass ein Laminatboden Geräusche übertrug, und als neben und unter ihnen Leute einzogen, brachte Natsumi auf Anraten ihrer Mutter, die Reiscracker für besser geeignet als Kekse hielt, da für jedes Alter passend, allen eine Geschenkpackung mit drei verschiedenen Sorten (mit Erdnüssen, so genannte Shinagawa-Röllchen im Algenmantel und solche ohne besonderen Zusatz) zu 1000 Yen (ohne Mehrwertsteuer) vorbei, weshalb eine der Nachbarinnen sie am Müllplatz wiedererkannte – ah, Sie sind's, Sie haben doch die beiden Jungs, nicht wahr? Sie sind so lebhaft! Es heißt ja immer, die Kinder seien heutzutage so sehr mit Lernen und Videospielen beschäftigt, dass sie sich kaum noch bewegen, aber das trifft auf ihre ganz bestimmt nicht zu, sie sind die ganze Zeit in Bewegung – Natsumi entschuldigte sich bei der Dame, aber es beunruhigte sie, dass ihre Kinder im Stockwerk unter ihnen zu hören waren, obwohl sie sie gar nicht besonders laut fand, aber wenn sie trotzdem unter ihnen hörbar waren, lag es womöglich am Gebäude selbst, vielleicht waren die Decke und der Boden zwischen den Stockwerken zu dünn, was ihr das unangenehme Gefühl gab, einen Fehlkauf getätigt zu haben, und als sie zu ihrem Mann sagte, sie hätten vielleicht doch lieber Teppichboden nehmen sollen, der schlucke die Geräusche besser, fragte er, wie alt die Dame denn sei, und sie antwortete, schätzungsweise zwischen siebenundvierzig oder achtundvierzig und fünfundsechzig, worauf er meinte, er verstehe, wenn jemand auf diese Frage mit »so um die fünfzig« antworte, aber der Ausdruck zwischen siebenundvierzig oder achtundvierzig und fünfundsechzig sei schon seltsam, allein deshalb, weil eine Altersspanne von fast zwanzig Jahren für nicht identifizierte Leichen verwendet werde, tatsächlich sei in der heutigen Morgenzeitung eine Tote als etwa 1,58 groß beschrieben worden, mit langen braun gefärbten Haaren, Dauerwelle, bekleidet mit einem rosa Pullover, einem beigefarbenen maßgeschneiderten Bleistiftrock, hochwertigen Sandalen aus beigem und dunkelbraunem Leder und goldenen Ohrringen, und aufgrund ihrer Kleidung, der goldenen Ohrringe usw. gehe man davon aus, dass es sich um eine Frau zwischen zwanzig und vierzig Jahren mit hohem Einkommen handele, in solchen Fällen sei diese Formulierung angebracht, aber eine lebende Person, mit der sie selbst gesprochen hatte, als zwischen siebenundvierzig oder achtundvierzig und fünfundsechzig Jahre alt zu bezeichnen, sei mehr als merkwürdig.

Das sagst du nur, entgegnete Natsumi, weil du die Frau unter uns noch nicht gesehen hast, jeder andere würde dasselbe sagen wie ich, und wenn sie wie um die fünfzig aussähe, hätte ich das gesagt, sagen wollte ich aber, dass sie eine sonderbare Person ist, von trügerisch ungewissem Alter, aber so kommen wir vom Thema ab, Geräusche aus dem Stockwerk über einem sind nie ganz unhörbar, es ist normal, dass man etwas hört, wenn jemand über einem wohnt, die Toilettenspülung mitten in der Nacht, das Rauschen der Wasserleitungen, die durchs Haus gehen, den Gasboiler auf dem Balkon, der mindestens acht Jahre alt sein muss und der, wie die Kinder sagen, wie ein feuriges, brüllendes Ungeheuer klingt, oder gelegentliches Schlurfen von Hausschuhen oder Türenschlagen, die Kinder von denen über uns, ein Junge und ein Mädchen, gehen in die Oberschule, und weil die Wohnung klein ist, zanken sie sich wegen jeder Kleinigkeit, unsere toben und springen sicher auch mal herum, aber selbst wenn, hört man das unten wirklich so laut, dass man sich gleich beschweren muss?, worauf ihr Mann antwortete, deshalb habe ich ja nach dem Alter der Dame gefragt, Frauen in den Wechseljahren sollen doch zu hysterischen Reaktionen neigen, und wenn du sie das nächste Mal siehst, sagst du einfach, es täte uns leid, dass wir sie gestört haben, und fertig, erklärte er in einem Ton, als wäre das selbstverständlich ihre Aufgabe, da sie den ganzen Tag zu Hause war.

Dann steht sie an der emaillierten Spüle, um das schmutzige Frühstücksgeschirr abzuwaschen, nimmt die Teller aus der weißen Plastikwanne, in der Butter und Salatöl Fettaugen bilden, wäscht sie mit Spülmittel, spült den Schaum unter fließendem Wasser ab, ertappt sich dabei, wie sie, einen Teller in der Hand, auf das fließende Wasser starrt. Das durch das Fenster fallende Morgenlicht bricht sich glitzernd in dem Strahl aus dem Hahn, Wasser spritzt und wird in den Abfluss gesaugt, fließt unaufhörlich, nicht laut, aber Wasser und Luft erzeugen ein leichtes Echo in den Rohren, während das über den Rand der Plastikwanne schwappende Wasser leise plätschert.

Es ist echt nichts Besonderes, aber passiert dir das nicht auch manchmal? Nein? Klar, du spülst ja auch nie Geschirr, aber hast du dich schon einmal dabei ertappt, wie du zum Beispiel beim Zähneputzen zuschaust, wie das Wasser in den Abfluss läuft? Es fühlt sich irgendwie gut an, nicht so, als würdest du träumen, aber dann kommst du mit einem Ruck zu dir, weil du Wasser verschwendest, du verstehst das wahrscheinlich nicht, vor allem, weil du kaum Hausarbeit machst, sagte Natsumi zu ihrem Mann, der leicht verärgert, aber auch ein wenig beunruhigt die Augenbrauen hochzog, wie um zu fragen, was sie ihm nun eigentlich damit sagen wolle, natürlich kannte sie diesen Ausdruck nur zu gut, aber als sie ihm, ohne sich über irgendetwas beschweren zu wollen, das wohltuende Gefühl von Erleichterung und Leere erklären wollte, das sie empfand, während sie gedankenverloren auf das aus dem Hahn fließende Wasser starrte, konnte sie sich eines gewissen Ärgers über seine unbehagliche Miene nicht erwehren. Obwohl es nichts zu spülen gab, keinen Kessel zu füllen, weder Hände noch Gesicht zu waschen, drehte sie den Wasserhahn auf, und der Wasserstrahl, der glitzernd herausschoss, wirkte wie ein Strang durchsichtiger Fäden oder eher wie eine Schlange, vielleicht schrieb man deshalb das japanische Wort für Wasserhahn mit den Zeichen für Schlange und Maul, »Schlangenmaul«, dachte sie, jedenfalls hatte das fließende Wasser nichts Geheimnisvolles an sich, absolut nichts, es war selbstverständlich, und doch fiel sie beim bloßen Hinschauen in eine Art Trance.

Die Frau nebenan

Apropos Gewichtszunahme, bei Natsumis Mann bildeten sich schon seit einiger Zeit Fettpölsterchen, natürlich fehlte es ihm an Bewegung, er hatte zwar während seines Studiums ein wenig Tennis gespielt, aber gesehen hatte sie ihn dabei nie, und das Super Gym DX, das er sich aus dem Katalog bestellt hatte, um seinem Bewegungsmangel entgegenzuwirken, habe er auch nur drei Tage benutzt, spottete sie, worauf er heftig widersprach, er trainiere schon seit drei Monaten sehr hart, was aber nichts daran änderte, dass er eigentlich gar nichts tat, weshalb es ihr noch lange nicht zustand, die Fitness fremder Ehemänner zu kritisieren, aber es musste Ende September gewesen sein, denn es wurde allmählich kühl, als sie an einem Samstagnachmittag auf dem Heimweg vom Einkaufen einen Mann mittleren Alters joggen sah, dessen Anblick sie über alle Maßen anwiderte, obwohl er ihr in einem Anzug gar nicht aufgefallen wäre oder wenigstens nicht in einer dieser teuren Strickjacken mit eingesticktem Emblem, Hemd und weiter Hose ohne Gürtel, die zu der in Preis und Design verblüffend ähnlichen Freizeitkleidung, die alle Büroangestellten mittleren Alters im mittleren Management an ihren freien Tagen trugen.

Vermutlich hielt er sich für mittelgroß, Natsumi schätzte ihn auf höchstens 1,64, und obwohl er sich seines Übergewichts bewusst war, hätte er nie zugegeben, dass er dick oder fettleibig war, aber aufgrund der Ergebnisse des jährlichen Gesundheitschecks in seiner Firma hatte man ihm geraten, abzunehmen, und zum ersten Mal hatte er sich eingestehen müssen, dass er mehr als nur ein wenig rundlich war und damit zu einem unter Männern mittleren Alters weit verbreiteten Typus gehörte.

Das Fett an Armen, Oberschenkeln, Bauch und Rücken, das aus dem ärmellosen Laufshirt und der Jogginghose quoll, wabbelte wie frisch aus der Form gelöste weiße Mandelsulz, an seinen behaarten Armen und Beinen, es war nicht die Spur eines Muskels zu erkennen, und während er die Arme langsam hin- und herbewegte, sah man die aus seinen Achselhöhlen sprießenden Haarbüschel, so dass die Nachbarin aus Natsumis Haus, mit der sie sich auf dem gemeinsamen Heimweg vom Supermarkt unterhielt, spöttisch sagte, na, der strengt sich aber an, der Mann von Frau Okuno, ich habe gehört, er arbeitet bei einem privaten Fernsehsender, aber bei so einem gebleichten Nilpferd hilft ein bisschen Joggen auch nicht mehr, und Natsumi kicherte, weil sie den Ausdruck gebleichtes Nilpferd so treffend und witzig fand, woraufhin die Nachbarin wie ein junges Mädchen die Zunge herausstreckte und lachte, oje, was habe ich da wieder gesagt, hätten Sie Lust auf einen Tee bei mir? Wir sind erst vor zwei Monaten hergezogen, und ich kenne noch niemanden, deshalb fühle ich mich ein bisschen einsam, obwohl es Natsumi nicht so vorkam, als wäre sie wirklich einsam oder traurig, eher so, als hätte sie zu viel Zeit und langweilte sich, aber da die Wohnungen unterschiedlich geschnitten waren und sie sich sehr für die Einrichtung der Nachbarn interessierte, antwortete sie liebenswürdig, ja, würde ich gerne, wenn ich nicht störe, worauf die andere lächelte, bitte natürlich, Sie sind herzlich eingeladen, und Natsumi dachte, obwohl sie behauptete, nicht viele Leute zu kennen und sich einsam zu fühlen, wusste sie immerhin, wo Frau Okunos Mann arbeitete, aber wahrscheinlich hatte sie eine einnehmende Art und sehnte sich nach Gesellschaft, also folgte Natsumi ihr in ihre Wohnung in der dritten Etage, wo es, wie Frau Asakura sich ausdrückte, aussehe wie im Schweinestall, weil sie noch nicht richtig ausgepackt habe, ihr aber Tee und Eiscreme servierte, während sie erzählte, sie sei dreiunddreißig und kinderlos, ihr Mann arbeite in der Computerbranche, sie selbst sei momentan nicht berufstätig, wenngleich sie bis vor kurzem im Kulturzentrum an einem Kurs über das Schreiben von Drehbüchern teilgenommen habe (sie hatte auch einen Kurs über kreatives Schreiben belegt, aber der Dozent hatte die ganze Zeit davon geredet, wie entscheidend es sei, alle möglichen Beschreibungen von Dingen einzubauen, bis sie das Gefühl bekam, Drehbücher, in denen sich die Geschichte vor allem aus den Dialogen zwischen den Figuren entwickelte, seien das geeignetere Medium für sie), und nebenbei erfuhr Natsumi auch, warum die Asakuras in diese Wohnung gezogen waren.

Auf einem länglichen, rechteckigen Schild aus Kunststoff und Edelstahl an der Wand neben der Tür stand die Wohnungsnummer – 404 –, die Benutzernummer des Wasserversorgers und ein NHK-Abonnentenlogo, was bedeutete, dass die Wohnung Satellitenfernsehen empfing, und in einer durchsichtigen Plastikhülle, in die man ein Stück Papier schieben konnte, steckte ein postkartengroßer Zettel mit den Namen:

isamu asakura

megumi asakura

So erfuhr Natsumi, dass die Frau von der anderen Etage Megumi Asakura hieß, und fand außerdem heraus, dass von den sechs Wohnungstypen A bis F, die ihre Nachbarin Frau Tanabe ihr beschrieben hatte, Frau Asakuras Wohnung mit ihren zwei Schlafzimmern zum Typ B gehörte, der in der Anlage am häufigsten vorkam. Frau Tanabe hatte ihr die sechs Grundrisstypen, deren Größe sich nicht auf die Anzahl der Zimmer, sondern auf die Fläche in Quadratmetern bezog, in einem Ton erklärt, der darauf schließen ließ, dass diese Information etwas bedeutete, nämlich dass die Wohnungen vom Typ B und A mit einem Schlafzimmer vor allem im dritten und vierten Stock zu finden, während die Grundrisse D und E mit drei Schlafzimmern und einem Wirtschaftsraum zwar identisch geschnitten waren, sich aber in der Gesamtfläche unterschieden, weil die Balkone, je nachdem, ob es sich um eine Eckwohnung handelte, unterschiedlich groß waren, und Natsumi hatte geahnt, dass Frau Tanabe ihr nicht nur andeuten, sondern deutlich machen wollte, dass diese Unterschiede die Preise der Wohnungen widerspiegelten, und nun erfuhr sie von Frau Asakura, dass Frau Tanabes Wohnung Nr. 605, eine nach Südosten ausgerichtete Eckwohnung des Typs F mit drei Schlafzimmern und einem Hauswirtschaftsraum, tatsächlich die beste Wohnung des Blocks und Frau Tanabe darum zu beneiden war.

Frau Asakura trug ihr langes, volles, gefärbtes und dauergewelltes Haar offen, dazu eine schwarze Brille im Boston-Stil, ein graues, eng anliegendes T-Shirt, weite, sojabohnengrüne Baumwollhosen und eine olivgrüne Kanvas-Tragetasche von Ichizawa aus Kyoto, braune Ledersandalen mit niedrigen Absätzen und Strümpfe, wodurch ihre Kleidung vielleicht ein wenig zusammengewürfelt wirkte, wohingegen ihre Wohnung so aufgeräumt war, dass ihre Bemerkung, es sehe aus wie in einem Schweinestall, fast nach Hohn klang, denn das Einzige, was auch nur im Entferntesten an einen Schweinestall erinnern konnte, war der rustikale italienische Designertisch mit dicken Beinen aus Edelstahlrohren (die dazugehörigen Stühle hatten helle Lederpolster und helle Beine), auf dessen heller Platte eine mit Früchten bemalte Teetasse von Ginori 1735, eine gläserne Zuckerdose und ein voller Aschenbecher – mexikanisches Kunsthandwerk – standen, während über einer Stuhllehne eine grüne Baumwollstrickjacke hing, auf dem beigefarbenen Ledersofa und dem Teetisch eine Handtasche und einige Zeitschriften lagen, so dass sie sich vielleicht auch auf die weißen, muschelförmigen Blüten mit bräunlich verwelkenden Rändern und langen sellerieähnlichen Stielen auf dem Teetisch bezog, selbst wenn die Wohnung insgesamt auf Natsumi wie eine Musterwohnung wirkte, menschenleer und ohne den Geruch von Leben, also sagte sie, wir