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Die siebenjährige Yasmin führt ein glückliches und zufriedenes Leben, auch ohne perfekt zu sein. Sie ist fest davon überzeugt, dass sich daran auch nichts ändern wird. Obwohl ihre Mitmenschen vermehrt von Veränderungen sprechen, will Yasmin nicht einsehen, dass die Umstände nicht mehr dieselben sind. Bis zu dem einen Tag, an dem nichts bleibt, wie es einmal war. Hinzu kommen weitere entscheidende Ereignisse in ihrem Leben, die sie begreifen lassen, dass es so nicht weitergehen kann. Schnell ändert sich alles - und auch Yasmin ist nicht mehr die Gleiche.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2020
© 2020
Autorin: Slafa Kafi
Umschlag: Khaled Abdullah, Nosheen Mohammad
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-02285-0
e-Book
978-3-347-02286-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
mit freundlicher Unterstützung des Förderkreises Gymnasium Lindenberg e.V.
Wann hast du dir das letzte Mal Zeit genommen, um zu realisieren, wie viel du eigentlich besitzt und wie gut es dir geht?
Schau dich mal um und denk für einige Augenblicke über dein Leben nach.
Und jetzt mach deine Augen zu und mach sie dann kurz später wieder auf.
Jetzt ist auf einmal alles anders.
Alles, was du hattest, ist jetzt weg. Dein Leben wurde auf den Kopf gestellt.
Nichts ist mehr so, wie es einmal war.
Nicht nur das.
Du fühlst dich zudem nirgends mehr sicher, nirgends mehr wohl. Alles wird immer schlimmer.
Du kannst nicht mehr.
Du willst, dass alles aufhört. Dass alles wieder so wird, wie es bis vor kurzem war. Du willst dein altes Leben zurück, deshalb versuchst du zu kämpfen.
Aber du wirst nicht gehört.
Selbst dein Schrei wird leise.
FÜR MEINE HEIMAT
Slafa Kafi
LEISERSCHREI
Ich befinde mich in einem sehr dunklen Wald. Die Sonne scheint nicht, es gewittert und donnert sehr stark. Auch der Regen fängt jetzt an. Ich bin umgeben von riesigen Bäumen und bin ganz alleine hier. Keine Menschen, keine Tiere – nur Bäume, riesige Bäume. Ich habe Angst, weil ich das Gefühl habe, dass gleich irgendwas passieren wird. Die Bäume scheinen, als würden sie gleich sprechen und mich erschrecken. Auch die vielen Geräusche hier beängstigen mich. Flugzeuggeräusche. Autogeräusche. Bombengeräusche. Tiergeräusche. Schreie. Weinen. Schritte. Ein Blitz nach dem anderen. Die Geräusche werden im Sekundentakt lauter, bis ich mir die Ohren zuhalten muss, weil alle Geräusche sehr laut gleichzeitig ertönen. „Yasmin!“ Eine laute Stimme erklingt zwischen all den anderen Geräuschen. Es ist Yails Stimme. Er klingt sehr ängstlich, als würde er Hilfe brauchen. Ich schaue mich ebenfalls ängstlich um, sehe aber nichts als die schreckli-chen, riesigen Bäume. „Yasmin!“, diesmal ertönt die Stimme meines Vaters. „Yasmin“, die Stimme meiner Mama, dann Tante Marias, Onkel Phillips und noch Kristinas. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich fange an zu rennen, aber der Wald wird immer größer und das Ende entfernt sich immer mehr. Ich renne immer weiter, bis ich außer Puste bin und das Ende immer noch sehr weit weg ist. Die Geräusche ertönen weiterhin, bis auf einmal alles verstummt. Für zwei Sekunden höre ich gar nichts mehr und dieser grausame Wald kommt mir für einige Augenbli-cke wie ein sehr friedlicher vor. Aber leider nur für einige Augenblicke. Ich höre nämlich hinter mir wieder Geräusche. Ohne mich umzudrehen, erkenne ich, dass das Geräusch von einem Vogel stammt, der in meine Richtung fliegt. Ich drehe mich um und stelle fest, dass ich Recht hatte, aber im selben Moment bereue ich, dass ich mich umgedreht habe, weil ich wieder Angst bekomme. Ein riesiger, schwarzer Vogel mit großen Flügeln fliegt auf mich zu. Es ist ein Rabe. Mein Rabe, nur weitaus größer. Aber er hat etwas im Schnabel. Er hat meine ganze Familie und Yails im Schnabel. „Yasmin!“, schreien alle wieder. „Yasmin!“ Sie schauen sehr verängs-tigt. Ich beginne zu schreien. Der Rabe fliegt mit ihnen weiter auf mich zu, bis der Abstand zwischen uns sehr klein ist, sodass ich ihnen sogar ins Gesicht sehen kann. Ich schreie weiter.
Schrei. Schrei. Schrei.
14 Monate zuvor
Dort,
leben alle glücklich und gemeinsam,
sicher und sorgenfrei,
stolz und vereint.
Gehen durch Dick und Dünn,
Höhen und Tiefen,
gute und schlechte Tage,
werden aufgenommen,
ob mit Kreuz oder Davidstern,
mit Halbmond oder fünffarbigem Stern.
Lachen und weinen,
lieben und werden geliebt,
feiern und glauben,
nehmen in den Arm,
und werden in den Arm genommen,
das alles,
genau dort.
109.09.2010
Heute ist der letzte Ramadantag und ich darf endlich fasten. Für die meisten Kinder ist das erste Mal Fasten eine besondere Erfahrung, auf die sie lange warten müssen. Ich bin sieben Jahre alt, also schon alt genug, um diese Erfahrung machen zu dürfen - finde ich zumindest.
Meine Eltern dagegen sind der Meinung, dass ich noch zu jung bin und es hat sehr lange gedauert, bis ich sie überredet hatte, wenigstens am letzten Ramadantag mit zu fasten. Natürlich musste ich ihnen einiges versprechen. Ich bin nun seit ungefähr zwei Stunden wach und bis zum Fastenbrechen sind es noch knappe acht Stunden.
Die vergangenen zwei Stunden habe ich damit verbracht, meine Spielzeuge, mit denen Yail und ich bis spät in die Nacht gespielt haben, wieder schön ordentlich aufzuräumen. Jetzt sieht mein Zimmer wieder normal aus. Mein Bett ist gemacht, auf meinem Schreibtisch befinden sich keine Spielsachen mehr und auch im Schrank ist alles ordentlicher.
Yail ist übrigens mein bester Freund, eigentlich eher mein Bruder, denn wir kennen uns schon seit unserer Geburt und haben seitdem alle schönen Erlebnisse miteinander geteilt.
Das Praktische ist, dass seine Familie in der Wohnung direkt neben uns wohnt, was es einfacher macht, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Vielleicht erzähle ich später mehr über Yail, denn wir haben auch ein kleines Geheimnis, das nur die Wenigsten kennen.
Irgendwie habe ich mich doch noch nicht ganz an das Fasten gewöhnt, denn ich wollte gerade sagen, dass ich jetzt frühstücken gehe, und das, obwohl ich gar keinen Hunger spüre. Das ist einfach nur eine Angewohnheit, nach dem Aufwachen zu frühstücken. Ich bin froh, dass ich lernen werde, dass es auch ohne geht. Meine Eltern sagen immer, es kann ein Tag kommen, an dem wir nicht dann essen können, wenn wir Hunger haben, sondern mit einer einzigen Mahlzeit am Tag leben müssen. Ich bin zwar Einzelkind, aber nicht so, wie man sich ein Einzelkind vorstellt. Was ich sagen möchte, ist, dass ich nicht alles bekomme, was ich mir wünsche, dass meine Mutter nichts Neues kocht, wenn mir das Essen nicht schmecken sollte, oder es keine Rolle spielt, welche Marken ich trage. Ich bin sehr stolz und dankbar, dass meine Eltern mir das so beigebracht haben.
Es klopft an meiner Zimmertür und einige Sekunden später kommt auch schon mein Vater herein. Ein großer, sympathischer Mann. Zudem ist er sehr hübsch, freundlich und humorvoll und nein, ich sage das nicht nur, weil er mein Vater ist, sondern weil es wirklich so ist. Er setzt sich zu mir aufs Bett und legt seinen Arm auf meine Schulter.
„Yasmin, mein starkes Mädchen, wie geht’s dir?“, fragt er.
Ich lächle ihn an und kuschle mich in seine Arme.
„Mir geht’s sehr gut.“
Seine Augen leuchten und ich erkenne sofort, dass er mit mir über irgendein Thema sprechen möchte. Wir unterhalten uns oft über verschiedene Sachen.
„Schatz, deine Mama und ich sind, wie du weißt, nicht so zufrieden, dass du jetzt schon mit dem Fasten beginnst und haben erst zugestimmt, als du uns versprochen hast, dann sofort zu essen, wenn es dir schlecht geht, stimmt’s?“
Ich nicke. „Okay. Ich möchte mit dir über die Gründe des Ramadans sprechen, denn es ist wichtig zu verstehen, warum wir das tun. Du solltest, wenn du dich später dazu entscheidest, den Ramadan jedes Jahr zu begehen, komplett überzeugt davon sein und es gerne tun, denn erst dann erfüllt es seinen Zweck. Wir haben dir schon mehrmals gesagt, dass wir vielleicht eines Tages finanzielle Probleme haben könnten, so wie jeder andere auch, dass wir mal nicht genug Essen haben, oder wir dir nicht mehr alles, was du brauchst, bieten können. Niemand kann das je ausschließen oder in die Zukunft schauen. Den Schmerz und die Schwierigkeiten der Anderen spürt man erst, wenn man das gleiche mal selbst erlebt und durchgemacht hat, und das ist einer der Gründe für den Ramadan. Wir müssen spüren, wie es ist, hungrig zu sein und nichts zu essen zu haben.“
Ich höre ihm aufmerksam zu und kann jedes Wort, das er sagt, verstehen und nachvollziehen.
Er ändert ein bisschen seine Sitzposition - die alte wurde ihm vermutlich langsam zu unbequem.
„Durch den Ramadan lernen wir außerdem, geduldiger zu sein, den Dingen im Leben ihre Zeit zu lassen. Man kann das, was man besitzt, erst dann wirklich schätzen, wenn es nicht mehr da ist, und das ist auch ein Grund, warum wir fasten. Wir müssen unser Glück spüren, wir müssen es schätzen lernen, denn man sieht häufig nur die negativen Seiten der Dinge im Leben und das ist völlig falsch, das Leben hat auch viel Positives, es ist nur die Perspektive, die es ausmacht. Es gibt viele Sachen, die man im Ramadan machen soll, eine davon ist eben Nachdenken, nämlich über die Dinge, die dich glücklich machen und für die du dankbar bist“, er lächelt.
„Über den Ramadan könnten wir uns stundenlang unterhalten, aber langsam kommen deine Großeltern und der Rest und bis dahin sollten wir bereit sein, sie zu empfangen. Eine wichtige Sache möchte ich dir aber noch sagen.“
Ich ändere jetzt auch meine Sitzposition.
„Was für viele nicht so klar ist, ist, dass man im Ramadan nicht nur auf Essen und Trinken verzichten soll, sondern auch beispielsweise auf eine negative Ausdrucksweise oder einen respektlosen Umgang mit seinen Mitmenschen. Indem du nur auf Essen und Trinken verzichtest, erfüllst du noch lange nicht deine Pflichten im Ramadan. Kurz gesagt ist der Ramadan ein Monat, in dem man Zeit dafür hat, über alles nachzudenken, um alles um sich herum besonders zu schätzen und sich zu einem besseren Menschen zu entwickeln, falls man das so sagen kann.“
Er umarmt mich und, als wäre es geplant, kommt meine Mutter zwei Sekunden später herein. Sie lächelt und strahlt genauso wie mein Vater. Ich kann den Stolz in ihren Augen sehen, als könnten sie es immer noch nicht glauben, dass ihre Tochter so alt ist, dass sie schon fastet. Sie setzt sich neben mich auf die andere Seite des Bettes. Sie erzählt mir auch ähnliche Sachen wie Papa und, als beide dann fertig sind, soll ich sie ins Wohnzim-mer begleiten.
Als wir im Wohnzimmer sind, traue ich meinen Augen nicht. Auf dem Sofa liegt es, mein Geschenk, das ich mir schon so lange gewünscht habe. Yail und ich wollten nämlich seit längerer Zeit eine Dartscheibe haben und endlich besitze ich eine. Ich bin so glücklich gerade und fange schon an, herumzuspringen. Ich würde zwar gerne gleich zu Yail rennen, um ihm mein Ramadan-Geschenk zu präsentieren, aber meine Eltern lehnen das ab, heute wird der Tag mit der engen Familie verbracht.
Meine Mutter hat auch schon alles vorbereitet und es dauert tatsächlich nicht lange bis die ersten Gäste, meine Großeltern mütterlicherseits, eintreffen. Von ihnen erhalte ich auch direkt zu Begrüßung mein Geschenk.
Damit sich keiner fragt, warum ich denn so viele Geschenke bekomme, sage ich es am besten gleich.
Bei uns bekommt derjenige, der zum ersten Mal fastet, immer Geschenke. Beim Geschenk handelt es sich meistens um Geld, da man jetzt alt genug ist, um selbst zu entscheiden, was man sich kaufen möchte. Ich habe auch schon eine Idee, was ich damit machen werde.
Es treffen immer mehr Leute ein, meine anderen Großeltern, meine beiden Tanten und meine beiden Onkel. Das Lustige ist, ich habe mütterlicher- und väterlicherseits jeweils eine Tante und einen Onkel, und das noch Lustigere ist, meine beiden Tanten sind gleich alt und ebenso meine beiden Onkel. Ich bin die einzige und erste Enkelin für beide Seiten. Von den Neuankömmlin-gen habe ich auch mein Geschenk erhalten.
Nachdem alle eingetroffen waren, begannen auch alle zu arbeiten. Jeder hat was Bestimmtes zu tun und in der Zeit habe ich ein bisschen die kleinen Suren aus dem Koran, die ich kenne, gelesen. Bis zum Fastenbrechen sind es noch ganze vier Stunden und ich merke, wie ich langsam Hunger bekomme.
Es ist nicht so, dass es sich anfühlt, als würde ich gleich vor Hunger umkippen, sondern mein Magen knurrt ein bisschen. Ich spüre, dass er essen will, was auch ganz normal ist. Wieder knurrt mein Magen, sodass ich fühlen kann, wie er sich zusammenzieht und wieder auseinander. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals und ich bekomme das Gefühl, dass er nicht aufhören wird, aber er hört auf, in weniger als drei Minuten und alles wird wieder normal, bis auf die Tatsache, dass ich jetzt trotzdem gerne etwas essen würde. Anstatt länger über das Essen nachzudenken, entscheide ich mich dazu, bei den Vorbereitungen mitzuhelfen.
Die Gruppe in der Küche scheint überhaupt nicht weit zu sein, was mir nicht gefällt, denn ich befürchte, dass das Essen nicht rechtzeitig fertig sein wird. Das sind, glaube ich, die normalen Gedanken beim Fasten.
Da ich nichts Nützliches finde, was ich in der Zeit machen könnte, versuche ich, die bleibende Zeit mit Fernsehen zu verbringen, was gut klappt, denn die meisten Serien oder Filme werden für den Ramadan produziert und dadurch gibt es genug, was mich ablenken könnte.
Ich verbringe ungefähr drei Stunden ungestört beim Fernsehen und nein, ich darf nicht immer so lange vor dem TV sitzen, heute ist es eine Ausnahme.
Langsam hört man auch schon die ersten Teller klirren, was bedeutet, dass sich das Ende nähert. Verschiedene, leckere Gerüche verteilen sich im Raum und langsam versammeln sich alle wieder.
Ich schaue auf die Uhr, 19: 13 Uhr, was bedeutet, dass noch 36 Minuten übrig sind. Die restliche Zeit vergeht wie im Flug, bis auf die letzten fünf Minuten, denn da fühlt es sich an, als würde die Zeit stehen bleiben. Vielleicht liegt es daran, dass wir alle schon um den Tisch verteilt sitzen und darauf warten, dass der Gebetsruf ertönt.
Doch auch diese fünf Minuten finden ihr Ende, so wie auch alles andere auf dieser Welt, und jeder nimmt sich kurz Zeit, um am letzten Ramadantag dieses Jahres das Fasten Gott zu widmen.
Nachdem alle mit dem kurzen Gebet fertig sind, fangen wir auch schon zu essen an. Wie und was man isst, ist natürlich jedem selbst überlassen, wir fangen normalerweise mit Wassertrinken an, dann essen wir drei Datteln und anschließend, wenn vorhanden, essen wir Suppe, damit sich der Magen stufenweise auf das Essen vorbereiten kann.
Nach all diesen Schritten kommt die normale Mahlzeit. Heute gibt es Kibbe, nicht nur eine Art, sondern gleich drei verschiedene. Kibbe ist bei uns ein sehr typisches Essen, es besteht aus Bulgur- und Hackfleischbällchen, die mit gewürztem Fleisch und verschiedenen Nüssen befüllt werden. Was man dann damit macht, bleibt jedem selbst überlassen, es gibt sehr viele verschiedene Varianten. Heute zum Beispiel wurden einige frittiert, andere gegrillt und manche in Jogurt gelegt. Ich hatte eigentlich gedacht, ich würde den Tisch vor Hunger leerräumen. Im Endeffekt habe ich doch nur zwei Stück geschafft.
Nun ist der Ramadan zu Ende und man hört schon verschiedene Moschee-Lieder laufen. Damit ist dann morgen der erste Festtag und ich kann es nicht mehr erwarten, mein neues Kleid anziehen zu können. Auch heute muss ich wie gewohnt früh ins Bett, um neun Uhr liege ich da und wenig später schlafe ich schon, denn ich bekomme gar nichts mehr mit.
210.09.2010
Wie sonst auch wache ich sehr früh auf, doch egal wie früh ich aufwache, meine Eltern sind immer vor mir wach und haben bereits alles vorbereitet. Mama hat schon mein Outfit schön auf meinem Stuhl positioniert und ich mache mich auch schon wie üblich auf den Weg zu meinen Eltern.
Ich finde beide in der Küche beim Kaffeetrinken. Ich laufe zu meinem Vater und gebe ihm einen Handkuss, wie man es bei uns macht.
„Eid Mubarak“ – gesegnetes Fest, sage ich strahlend.
Er kniet sich vor mich und wünscht mir das ebenfalls und den gleichen Vorgang mache ich natürlich auch bei meiner Mama. Beide haben wie sonst auch mein Geschenk vorbereitet. Ich bekomme noch mehr Geld!
Der Ablauf ist eigentlich jedes Jahr gleich. Schon bevor ich aufwache, geht mein Vater zur Moschee zum Festgebet. In dieser Zeit bereitet meine Mama das Frühstück vor und zusätzlich alles, was unsere Gäste dann bekommen werden.
Eigentlich esse ich nicht wirklich was zum Frühstück an dem Tag, denn ich kann das immer nie abwarten, bis ich endlich losgehen darf. Mit losgehen meine ich bei den Nachbarn von Tür zur Tür zu laufen, um ihnen ein schönes Fest zu wünschen. Und das macht man den ganzen Tag. Die Nachbarn schenken den Kindern Süßigkeiten und, falls man sie gut kennt, manchmal auch Geld. Wir zum Beispiel haben dieses Jahr kleine Tütchen mit verschiedenen Süßigkeiten befüllt.
Und so verbringen die Kleinen den ersten Festtag. Meine Eltern dagegen bleiben den ganzen Vor- und Nachmittag zu Hause und empfangen Gäste, die alle Verwandte oder sogar aus der engen Familie sind. Wenn ich abends wieder zu Hause ankomme, machen sich meine Eltern dann bereit, um einige Familien zu besuchen.
So lief es zumindest, seit ich denken kann, immer ab. Der erste Festtag wird also glücklich mit der Familie und natürlich mit viel Essen gefeiert.
311.09.2010
Heute ist der zweite Festtag, aber grundsätzlich läuft es nicht viel anders als am ersten. Der größte Unterschied liegt darin, dass die Kinder nicht herumlaufen. Wir verbringen die Zeit auch zu Hause, empfangen Gäste und besuchen unsere Verwandten.
Heute sind die Gäste nicht nur aus der engen Familie, sondern auch weite Bekannte und Freunde. Außerdem kommt auch die Familie von Yail und bleibt den ganzen Tag bei uns. Auch wenn sie es eigentlich nicht feiern, verbringen sie es trotzdem jedes Jahr mit uns gemeinsam und wir feiern natürlich auch dann mit ihnen Weihnachten zum Beispiel. Yail und ich verbringen den Tag wie üblich mit Spielen.
Da wir jetzt auch endlich eine Dartscheibe haben, besitzen wir mehr Sachen, mit denen wir unsere Zeit vertreiben können. Wir bleiben die ganze Zeit in meinem Zimmer und gehen nur dann raus, wenn wir zum Essen geholt werden, und da es der zweite Festtag ist, passiert das sehr oft.
„Kommt, das Mittagessen ist fertig“, „Kommt, es gibt Gebäck“ oder sowas wie „Kommt, es gibt Süßes“ hören wir gefühlt alle 30 Minuten. Ich meine, nichts gegen Essen, aber wir wollen doch bitte wenigstens eine Runde, ohne unterbrochen zu werden, spielen.
Als wir zum Gebäck essen geholt werden, sitzt nicht nur Yails Familie da, sondern auch meine Tante und mein Onkel.
Vom gestrigen Laufen tun mir meine Füße sehr weh und ich habe, da ich sowieso recht klein bin, auch noch Platz für meine Beine auf dem Sofa. Erleichterung steigt in mir hoch und mal wieder wird mir klar, dass ich zu viel gelaufen bin. Jedes Mal nehme ich mir vor, nicht zu viel zu laufen, um diese Schmerzen zu vermeiden, halte es aber nie ein.
Ich bin zu sehr mit dem Essen beschäftigt, dass ich meine Mutter gar nicht bemerke. Wie es aussieht, versucht sie schon länger, mir irgendwas zu sagen, will aber nicht, dass es irgendwer bemerkt. Sie schaut auf meine Beine, dann zu mir, wieder zu meinen Beinen und anschließend wieder zu mir. Ich verstehe erst gar nichts und kontrolliere meine Beine, finde aber nichts, was stören könnte. Oh ja, jetzt verstehe ich es. Jetzt verstehe ich, was sie mir sagen will.
„Es ist unhöflich, seine Beine irgendwo hochzustellen, wenn Andere und vor allem Ältere dabei sind“, erinnere ich mich.
Stimmt, das hat sie mir vor nicht langer Zeit erzählt. Und ich konnte das damals auch sehr gut nachvollziehen. Warum habe ich das nur vergessen? Langsam nehme ich meine Beine herunter, aber so, dass keiner verstehen kann, warum ich das auf einmal mache. Nachdem ich das getan habe, schaue ich zu meiner Mama und sie lächelt mich an.
Auch dieser Tag geht vorbei und langsam nähert sich der erste Schultag. Ich weiß nicht, ob ich mich freue oder nicht. Einerseits schon, denn ich bin gerne in der Schule, aber andererseits habe ich absolut keine Lust auf dieselben Probleme, mit denen ich zu kämpfen haben werde, genauso wie im gesamten vergangenen Jahr.
413.09.2010
Heute ist der erste Schultag nach den Sommerferien und endlich kann ich meine Freunde wiedersehen, die ich teilweise seit drei Monaten nicht gesehen habe, also seit dem Anfang der Ferien. Lange Zeit haben wir nicht zum Reden, denn es geht schnell weiter. Wir schaffen es gerade so, uns über unsere Ferien zu unterhalten, aber dann müssen wir uns schon zur Tahiat Al Alam, wo wir uns versammeln, um die Nationalhymne zu singen, aufstellen. So wie letztes Jahr stellen wir uns klassenweise in Reihen nebeneinander auf und warten, bis alle ruhig sind, um dann anfangen zu können. Da ich alles trage, was ein Schüler eigentlich tragen sollte, werde ich immer nach vorne geschickt, für den Fall, dass die Direktorin vorbei-schaut. Ich trage wie immer natürlich meine blaue Schuluniform und meine Schülerkrawatte, die mit einem knopfartigen Bobbel festgemacht wird.
Für jede Jahrgangsstufe gibt es eine jeweilige Krawattenfarbe. Von der ersten bis zur dritten Klasse ist es die Farbe Orange und in der vierten ist sie dann dunkelblau.
Ab der fünften Jahrgangstufe ändert sich dann die gesamte Schuluniform. Meine Krawatte ist dieses Jahr zum zweiten Mal orange, was bedeutet, dass alles noch so ist wie letztes Jahr, außer, dass wir jetzt auch endlich die Nationalhymne mitsingen dürfen.
Letztes Jahr durfte ich nicht mitsingen, da den Erstklässlern unterstellt wird, sie können die Hymne nicht und würden so die anderen durcheinander bringen. Die jetzigen Erstklässler tun mir leid, denn ich weiß wie uncool es ist, nicht mitsingen zu dürfen, obwohl man die Hymne kann.
Nach der Tahiat Al Alam werden wir auch schon in unsere Klassen eingeteilt. Ich komme in die Klasse 2a und Yail ebenso. Wie letztes Jahr auch setzen wir uns nebeneinander und ich ahne schon, was als Nächstes kommen wird: „Seid ihr verliebt?“. Das ist uns letztes Jahr so auf die Nerven gegangen, dass wir mehrmals kurz davor waren, unser Geheimnis zu lüften, um endlich Ruhe zu haben.
Im Endeffekt haben wir uns doch noch rechtzeitig beruhigt und haben dann geschwiegen. Vielleicht sind die Zweitklässler ein bisschen schlauer und sind nicht so blöd wie letztes Jahr, auch wenn ich das nicht wirklich glaube, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
Erst erfolgt die Büchervergabe. Nacheinander werden wir nach vorne geholt, um unsere Bücher zu nehmen, die alle vorne gestapelt sind. Nachdem alle endlich ihre Materialien haben, erfolgt anschließend die Klassensprecherwahl. Mehrere Namen stehen jetzt auf der Tafel, unter anderem auch meiner.
Die Klassensprecherwahl nimmt einige Zeit in Anspruch, bis endlich der Klassensprecher feststeht. Ehrlich gesagt, kann ich es nicht glauben. Es war wirklich unerwartet. Ich bin die Klassensprecherin. Dadurch, dass ich so überrascht bin, dass ich zur Klassensprecherin gewählt wurde, komme ich wahrscheinlich so rüber, als hätte ich überhaupt keine Freunde und wäre so ziemlich die Unbeliebteste in der Klasse, aber nein, es ist eigentlich gar nicht so.
Klar, ich muss mir in vielen Situationen Kommentare anhören und manchmal treiben mich diese auch in den Wahnsinn, trotzdem bin ich eigentlich mit allen in meiner Klasse befreundet, auch wenn befreundet schon übertrieben ist, ich komme mit allen zurecht.
Damit ist der erste Schultag auch schon zu Ende und wir müssen uns auf den Nachhauseweg begeben. Ich finde es wirklich schön, dass es dieses Jahr keine großartige Umstellung gibt.
So wie letztes Jahr laufen Yail und ich zusammen nach Hause. Wir haben es ziemlich gut, denn wir können erstens immer gemeinsam heimlaufen und zweitens ist unser Schulweg extrem kurz und schön. Unsere Schule ist nur zwei Straßen hinter unserem Haus, was bedeutet, dass wir zu Fuß nicht mehr als fünf Minuten brauchen.
Als wir vor unserem Haus stehen, empfangen uns Yails Eltern vor der Tür. Immer wieder fällt mir auf, wie sehr Yail seinem Vater ähnelt. Er hat nämlich exakt den gleichen kleinen Mund, die großen, dunkelbraunen Augen und die mittelgroße Nase, die ziemlich rund ist. Beide haben braune Haare und sogar die gleiche Frisur. Also prinzipiell ist Yail Onkel Phillip, nur eben in klein. Seine Schwester Kristina ist genau wie ihre Mutter, sie hat auch das gleiche Gesicht und die gleichen Haare. Bei uns aber ist es ziemlich fair verteilt.
Ich sehe teilweise aus wie meine Mutter und teilweise wie mein Vater. Meine schwarzen, langen Locken habe ich von ihr, aber ihre sieht man nicht, da sie ein Kopftuch trägt. Meine dunkelbraunen Augen habe ich aber von meinem Vater und ebenso haben wir einen ähnlichen Mund. Wie bereits gesagt, sehe ich insgesamt wie eine Mischung aus den beiden aus, was ich ja auch bin.
Viel mache ich an dem Tag nicht mehr. Ich gehe auch recht früh ins Bett, ich bin viel zu müde, obwohl es erst der erste Schultag war.
14.09.2010 - 28.10.2010
519.09.2010
Seitdem die Schule angefangen hat, laufen die Tage sehr ähnlich ab. Und auch heute ist ein Tag von vielen. Meine Mutter weckt mich wie sonst auch um viertel nach sieben. Als ich aus dem Bad komme, liegen meine Schuluniform und meine Hose bereits auf dem Bett. Ich schlüpfe schnell hinein und ziehe meine Krawatte an.
Als ich fertig bin, kommt meine Mutter auch schon mit dem Kamm in der Hand. Eigentlich liebe ich es, meine Haare offen zu tragen, da wir das aber in der Schule nicht dürfen, muss mir meine Mutter jeden Tag eine Frisur machen.
Danach muss ich frühstücken, und ja, ich muss. Ich habe nämlich nie, wirklich nie Hunger und muss trotzdem immer essen, da das Frühstück eine wichtige Mahlzeit ist, was mir schon bewusst ist, aber was kann ich dafür, wenn ich keinen Hunger habe? Heute gibt es Ful, kleine Saubohnen in Joghurt Soße. Das ist bei uns sehr beliebt, vor allem zum Frühstück.
Auch wenn ich absolut keinen Hunger habe, kann ich mich gegen Ful nicht wehren, also esse ich ein bisschen.
Als ich vor der Haustür meine Schuhe anziehe, kommt Yail schon heraus. Er zieht auch schnell seine Schuhe an und wir laufen los. Da wir ein bisschen zu früh sind, lassen wir uns besonders viel Zeit und unterhalten uns über alle möglichen Themen. Vielleicht habe ich es schon erwähnt, aber ich liebe es, mich mit Yail über alles zu unterhalten. Ich liebe es so sehr, dass wir über alles miteinander reden können, dass wir uns immer alles erzählen können.
Der heutige Tag zieht sich sehr und irgendwie interessiert mich nichts von dem, was die Lehrer erzählen. Ich schaue zu Yail herüber. Ihm geht’s anscheinend genauso wie mir.
„Ich will nach Hause“, flüstert er mir zu.
Ich nicke ihm zu und dann bin ich schon wieder weg, in meinen Gedanken versunken. Ich bin zu sehr versunken, denn ich bekomme erst gar nicht mit, dass mich unsere Lehrerin anspricht. Erst als mich Yail anstupst, komme ich zurück in die reale Welt. Ich werde direkt rot. Ich werde immer rot, wenn irgendwas ist und manchmal auch wenn nichts ist, so wie gerade eben. Ich starre die Lehrerin an und sie starrt zurück.
Erst verstehe ich nicht mal, was sie möchte, aber dann begreife ich. Sie möchte eine Antwort auf ihre Frage und natürlich habe ich keine Ahnung, welche Frage.
Als ich nach einer Weile immer noch stumm da sitze, höre ich ein Mädchen in der vorderen Reihe einen ziemlich dummen Satz sagen. Und ab diesem Moment bin ich fest überzeugt, dass dieses Schuljahr nicht anders verlaufen wird als das letzte.
„Sie ist wegen Yail abgelenkt!“, flüstert sie.
Es war zwar ein Flüstern, aber jeder in der Klasse hat es genau gehört und verstanden. Manche fangen auch schon an zu kichern, allerdings mischt sich unsere Lehrerin schnell ein, sodass ich das nicht länger ertragen muss, und ich glaube, Yail ist auch sehr froh darüber.
Die letzten zwei Stunden sind auch endlich angekommen, aber Yail und ich müssen sie getrennt überstehen. Wir haben Religionsunterricht. Doch auch diese zwei Stunden finden ihr Ende und wir machen uns auf den Weg zurück nach Hause. Ich merke, dass er mir etwas sagen möchte, aber nicht weiß, wie er es formulieren soll. Ich mache ihm den Weg einfacher und beginne selbst.
„Yail? Findest du auch, wir sollten der blöden Geschichte ein Ende setzen? Ich meine, wir können uns doch nicht ständig sowas anhören“, sage ich ganz ruhig.
Er überlegt kurz und nickt dann.
Als ich nichts sage, fängt er an zu reden: „Natürlich möchte ich das. Aber du weißt, was unsere Eltern davon halten. Wir haben ja mehrmals versucht, sie zu überreden, sind aber gescheitert. Sie behaupten ja immer, dass es dadurch nicht besser wird. Sie werden zwar nicht mehr über das jetzige Thema weitersprechen, dafür haben sie dann aber ein neues Thema.“
Ich nicke. Natürlich wird das so sein, das ist mir bewusst, aber was ist denn besser? Bei welchem Thema kann ich es eher akzeptieren, ständige Kommentare zu hören? Als ich Yail diese Frage stelle, muss er nachdenken, um mir eine Antwort geben zu können. Ich erkenne an seinen Augen, was ihm lieber ist.
„Ich bin genau deiner Meinung und wenn wieder irgendeine Situation vorkommt, die uns stört, werden wir das Problem überwinden“, sage ich lächelnd.
Er lächelt zurück und nickt. Wir waren die ganze Zeit am Reden, sodass wir gar nicht bemerkt haben, dass wir vor unserem Haus stehen. Wir verabschieden uns und jeder geht in seine Wohnung.
Nach dem Essen muss ich meine Hausaufgaben erledigen und darf erst danach hinaus zum Spielen. Ich brauche zum Essen eine halbe Stunde und für die Hausaufgaben etwa fünfzehn Minuten.
Als ich fertig bin, rufe ich bei Yail an. Er ist zum Glück auch schon fertig und wir können uns treffen.
Wir sind gerade dabei, unsere Schuhe anzuziehen, als unsere Väter aus den jeweiligen Wohnungen kommen und auch ihre Schuhe anziehen, um dann zur Arbeit zu fahren. Ich glaube, ich habe nicht erwähnt, was beide arbeiten. Unsere beiden Familien haben ein gemeinsames Restaurant hier in Damaskus.
Als wir draußen ankommen, sind ein paar unserer Freunde schon da und warten auf uns. Sie haben einen Ball dabei, also werden wir vermutlich 7 Hijar spielen. Das ist ein Spiel, bei dem es zwei Mannschaften gibt, ein Team versucht die Spieler des anderen Teams mit dem Ball abzuwerfen und dadurch nicht zuzulassen, dass das andere Team die sieben Steine aufeinander aufbauen kann. Das Ziel des anderen Teams ist es, die Steine stabil aufeinander stapeln zu können. Das Team, das sein Ziel als erstes erreicht hat, hat selbstverständlich gewonnen.
Wir teilen uns in zwei sechser Teams auf und beginnen zu spielen. Yail und ich machen selten etwas getrennt, aber bei diesem Spiel sind wir immer in unterschiedlichen Teams - das hängt davon ab, dass ich nicht rennen darf und deshalb immer bei dem Team spiele, das gerade nicht viel rennen muss. Über den Grund rede ich nicht so gerne, aber irgendwann werde ich es sagen, versprochen.
Wir verbringen den ganzen Tag beim Spielen und gehen erst wieder ins Haus, als unsere Eltern uns rufen.
Ich wusste ja, dass wir schon länger draußen waren, aber dass es fünf Stunden gewesen sind, hätte ich nicht gedacht.
Als ich hereinkomme, schickt mich meine Mutter direkt in die Dusche, und als ich fertig bin, sitzen meine Eltern um den Tisch und warten auf mich.
Das Abendessen steht auch bereits.
Ich setze mich dazu und beginne direkt zu essen. Ich bin so unglaublich müde, dass ich nicht viele Wörter aus mir herausbringe. Ich beantworte die Fragen, die mir meine Eltern stellen, ziemlich knapp und versuche, so schnell wie möglich zu essen, um endlich ins Bett zu können. Die Fragen, die mir gestellt werden, sind über meinen Schultag und ob alles in Ordnung ist. Ich erwähne nicht, dass wir wieder mit dem einen Problem zu kämpfen haben. Eine Weile herrscht Stille, doch dann kommt die Frage, die ich jetzt nicht hören wollte. „Yasmin? Nerven euch eure Mitschüler immer noch wie letztes Jahr?“, fragt meine Mutter.
Toll, was soll ich jetzt sagen? Yail und ich haben noch nicht besprochen, was wir auf diese Frage antworten sollen. Nach einer Weile entscheide ich mich, die Wahrheit zu sagen.
„Es ist alles wie letztes Jahr. Yail und ich haben heute darüber gesprochen, wir werden es nicht länger aushalten können. Sollte wieder irgendeine blöde Situation vorkommen, werden wir es beenden. Das reicht uns langsam, die übertreiben es voll. Wir haben außerdem nichts Falsches oder Verbotenes gemacht, oder? Es ist nur ein bisschen ungewohnt, mehr nicht. Die werden sich schnell daran gewöhnen“, ich versuche ruhig zu bleiben, während ich auf eine Reaktion warte.
Anstatt mir zu widersprechen, nicken beide nur und lächeln mich an.
Nach ein paar Minuten stehe ich auf, um mich bettfertig zu machen.
Als ich im Bett liege, atme ich erleichtert auf. Es ist schön zu wissen, dass wir uns keine Sorgen mehr wegen ihrer Reaktionen machen müssen. Jetzt können wir das Problem mit gutem Gewissen lösen. Ich lege mich hin und mache meine Augen zu.
620.09.2010
Ich beeile mich heute extra, um so früh wie möglich Yail zu treffen, damit ich ihm endlich von den Neuigkeiten erzählen kann. Im Endeffekt schaffe ich es doch nicht früher als sonst.
Als wir vor unseren Haustüren unsere Schuhe anziehen, stehen unsere Mütter auch dabei, deshalb muss ich mich noch weiter gedulden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mir auch etwas sagen möchte.
Endlich laufen wir aus unserer Eingangstür heraus. Ich möchte gerade beginnen, aber er fällt mir ins Wort. Wir schauen uns an und müssen direkt anfangen zu lachen.
Als wir uns wieder beruhigt haben, nicke ich ihm zu, er solle anfangen. „Meine Eltern haben mich gestern gefragt, ob das eine Problem vom letzten Jahr immer noch existiert“, beginnt er.
Als ich wieder anfange zu lachen, schaut er mich irritiert an, deshalb beschließe ich, selber weiterzureden.
„Und du wusstest erst nicht, was du antworten sollst, weil wir es ja nicht besprochen hatten. Ja und dann hast du einfach die Wahrheit erzählt und ebenso von unserem Plan berichtet. Anstatt eines Widerspruchs von deinen Eltern, was du erwartet hättest, haben sie dir zugestimmt, stimmt’s?“, ich zwinkere ihm zu.
Es ist irgendwie lustig, ihm dabei zuzuschauen, wie er verwirrt versucht herauszufinden, warum ich das alles weiß. Er braucht eine Weile und während dieser Zeit laufen wir nebeneinander, er schweigend und ich lachend. Dann bleibt er stehen und fängt an zu lachen. Den verbliebenen kurzen Weg verbringen wir mit Lachen.
Der Schultag heute verlief eigentlich ziemlich schnell und problemlos ab. Wir haben aber leider viele Hausaufgaben, was bedeutet, dass wir uns wahrscheinlich nicht treffen können. Ich gehe in unsere Wohnung und werde von einem sehr leckeren Duft empfangen. Ich erkenne natürlich sofort, worum es sich handelt: Mahschi, gefüllte Auberginen, Zucchini oder Paprika oder alles zusammen. Heute gibt es zusätzlich auch mit Reis gefüllte Weinblätter. Meine Mutter kommt mir entgegen und nimmt mir meinen Schulranzen ab.
„Zieh dich schnell um, Papa und der Rest kommen bald“, sagt sie.
Ich mache mich auf den Weg in mein Zimmer, stoppe dann aber.
Wer ist der Rest?
Ich drehe mich nochmal um, aber meine Mutter ist schon wieder in der Küche verschwunden, deshalb gehe ich doch erst in mein Zimmer und ziehe mich um. Bevor ich wieder rausgehe, lege ich meine Hefte auf meinen Schreibtisch, um nach dem Essen direkt anfangen zu können.
Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, wo übrigens auch unser Esstisch steht, sehe ich wer der Rest ist: Yail und seine Familie. Hätte ich mir eigentlich denken können. Ich lächele sie an und setze mich dazu.
Alle scheinen ziemlich hungrig zu sein, deshalb beginnen wir auch direkt.
Ich sitze in meinem Zimmer und mache mich an meine Hausaufgaben. Trotz so vieler Versuche, unsere Eltern zu überreden, dass Yail und ich zusammen die Hausaufgaben machen könnten, sind wir gescheitert. Also sitze ich alleine an meinem Schreibtisch und versuche, alles zu lösen.
Unsere ersten Prüfungen nähern sich schon und keiner von den Schülern hat Lust darauf. Dabei handelt es sich um Prüfungen, die zeigen sollen, welches Wissen vom letzten Schuljahr noch vorhanden ist. Ich denke, man versteht, was ich meine.
Es ist schon Abend, als mein Vater nach Hause kommt. Meine Mama und ich sitzen auf der Couch vorm Fernseher. Er setzt sich für ein paar Minuten dazu und geht dann in die Dusche. Ich finde es ziemlich blöd, dass ich ihn nicht so oft sehen kann.
Nachdem er aus der Dusche herausgekommen ist und einige Minuten in seinem Zimmer geblieben ist, beschließe ich, nach ihm zu schauen.
Ich hatte erwartet, dass er schläft, aber er sitzt auf dem Gebetsteppich und betet. Damit ich es noch schaffe, mit ihm gemeinsam zu beten, schlüpfe ich ganz schnell in die Gebetsbekleidung meiner Mama, die ich glücklicher-weise direkt auf dem Bett finde, und stelle mich neben ihn und beginne, das selbe zu tun, was er tut. Ich kann soweit alle Bewegungen, die Texte aber beherrsche ich noch nicht ganz.
Als er fertig ist, strahlt er mich an und ich bitte ihn, mir auch die Texte beizubringen, was er natürlich auch sofort macht.
„Können wir ab jetzt jeden Abend gemeinsam beten?“, frage ich ihn, als er fertig ist.
„Klar können wir das“, sagt er glücklich.
707.10.2010
Die meisten Schüler freuen sich auf den heutigen Tag. Es handelt sich nämlich um einen Donnerstag, den letzten Schultag dieser Woche. Für mich ist jeder Donnerstag in diesem Schuljahr der größte Horror, denn wir haben Sport, ganze zwei Stunden hintereinander.
Das klingt bestimmt komisch, weil sich die meisten Schüler immer riesig auf den Sportunterricht freuen.
Damit man mich besser versteht, verrate ich etwas, worüber ich überhaupt nicht gerne spreche. Gut, es sind zwei Sachen.
Die erste Sache ist, dass ich nicht die Dünnste bin. Das ist ziemlich offensichtlich, also kein Geheimnis. Ich bin nicht wirklich übergewichtig, durch meine kleine Größe sehe ich einfach ziemlich rund aus.
Die zweite Sache ist eher das Geheimnis, wovon viele nicht wissen, vor allem nicht meine Mittschüler. Ich weiß nicht warum, aber ich spreche sehr ungern darüber und hasse es, daran erinnert zu werden.
Ich habe Asthma, seitdem ich drei Jahre alt bin. Es ist bei mir zwar nicht so, dass ich regelmäßige Asthmaanfälle bekomme, dafür aber bei jeder kleinen oder großen Anstrengung.
Jetzt kann man bestimmt auch verstehen, warum ich immer und bei jedem Spiel in dem Team bin, das nicht so viel Anstrengendes machen muss. Meine Freunde akzeptieren das und sprechen das Thema nicht mal mehr an, im Gegenteil, sie passen auf mich auf und achten darauf, dass ich nichts Anstrengendes mache.
Von meinen Schulfreunden kann ich das leider nicht behaupten. Ich weiß auch nicht, ob es anders wäre, wenn sie von meiner Krankheit wissen würden. Sie denken nämlich, ich kann nicht so gut mitmachen, weil ich dick bin, das ist aber nicht der wahre Grund.
Es ist so weit, die dritte Unterrichtsstunde ist gekommen. Der Sportlehrer der Jungs ist nicht da, also haben wir alle zusammen Sport, auch Yail und ich. Die Lehrerin berichtet uns, dass wir heute nur spielen werden, mehr nicht. Es ist gutes Wetter und wir sind eine große Gruppe, deshalb beschließt die Lehrerin, mit uns auf den Hof zu gehen.
Für das erste Spiel teilt sie uns in zwei Gruppen. Die Hälfte der jeweiligen Gruppen stellt sich auf die eine Seite vom Hof und die andere Hälfte auf die andere Seite.
Ich habe keine Ahnung, wie das Spiel heißt, deshalb erkläre ich es so ausführlich. Ein Spieler von jedem Team rennt los und muss bei dem anderen Teil des Teams bei einem Spieler abschlagen, damit er losrennen kann. Gewonnen hat natürlich das Team, das zuerst mit allen Spielern durch ist. Da die Lehrerin es uns ein bisschen schwerer machen will, sollen wir den gesamten Vorgang drei Mal wiederholen.