LEMMIN - Cornelia Walter - E-Book

LEMMIN E-Book

Cornelia Walter

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Beschreibung

Er wohnt in einer kleinen Wohnung über der Partymeile der Stadt. Sein Nachbar verkauft Döner, sein Kühlschrank ist immer leer. Als Polizist hat er schon Vielen vor das Schienbein getreten, auch intern. Dass die Gesellschaft versucht, Leute in Schubladen zu stecken geht ihm gegen den Strich. Auch weil er glaubt, dass es für ihn keine passende Schublade gibt. Manche bezeichnen ihn als Querulanten. Wo genau er sich wirklich zu Hause fühlt weiß er nicht. Eine düstere Vergangenheit verfolgt ihn und die Suche nach Gerechtigkeit treibt ihn an. Auch wenn das bedeutet, manchmal due Grenzen weischen richtig und falsch neu zu interpretieren, zu dehnen. Strafversetzt, direkt und unberechenbar. Zacharias Lemmin ist der neue Kollege der Mordkommission Felstadt. Darum geht es im Buch: I. Tiger und Liam sind bloß Opfer einer viel größeren Operation, angeführt von einer Person, die das Morden nicht scheut. II. Top-Down bedeutet, keine Macht zu haben. Esseiden du bist der Chef. Und wenn alle lügen, wem kann man noch glauben? III. Ausnutzbar, hilflos, unscheinbar. Tsunamikinder kommen nicht nach Felstadt. Aber was wenn doch?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2023

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© Cornelia Walter 1. Auflage 2023

Umschlag, Illustration: Cornelia Walter

Lektorat, Korrektorat: Christiane Walter

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

TtreditionGmbH, An der Strusbek 10, 22926, Ahrensburg, Germany

ISBN

Softcover:

978-3-384-08182-7

E-Book:

978-3-384-08184-1

Über die Autorin

Die Autorin, die unter dem Pseudonym N.O.O.C. schreibt, wurde im Jahr 2003 in Heiden geboren. Ihre ersten Geschichten schrieb sie im Alter von sechs Jahren in ein kleines, rotes Notizbuch. Seitdem hat sie viele Kurzgeschichten und Gedichte verfasst. Sie besuchte bis zum Sommer 2022 die Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen, belegte dort den Schwerpunkt Musik. Während ihrer vier Jahre bis zur Matura entstand die Idee eines philosophischen Kriminalromans, der unter die Haut gehen sollte. Der Debütroman „LEMMIN“ ist das Resultat.

Über das Buch

Er wohnt in einer kleinen Wohnung über der Partymeile der Stadt. Sein Nachbar verkauft Döner, sein Kühlschrank ist immer leer. Als Polizist hat er schon Vielen vor das Schienbein getreten, auch intern. Dass die Gesellschaft versucht, Leute in Schubladen zu stecken, geht ihm gegen den Strich. Auch weil er glaubt, dass es für ihn keine passende Schublade gibt. Manche bezeichnen ihn als Querulanten. Wo genau er sich wirklich zu Hause fühlt, weiß er nicht. Eine düstere Vergangenheit verfolgt ihn und die Suche nach Gerechtigkeit treibt ihn an. Auch wenn das bedeutet, manchmal die Grenzen zwischen Richtig und Falsch neu zu interpretieren, zu dehnen. Strafversetzt, direkt und unberechenbar. Zacharias Lemmin ist der neue Kollege der Mordkommission Felstadt.

Enthält die Einzelfälle:

I. Tiger und Liam

II. Top-Down

III. Tsunamikinder

LEMMIN

Ein Kriminalroman

N.O.O.C.

Für all die Menschen, die mir auf meinem Weg begegnet sind und mich inspiriert haben.

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Widmung

I. Tiger und Liam

26. Juli

6 Jahre zuvor

27. Juli

28. Juli

29. Juli

30. Juli

31. Juli

1. August

2. August

6 Jahre zuvor

II. Top Down

4. September

6 Jahre zuvor

5. September

6. September

7. September

8. September

Vier Wochen später

III. Tsunamikinder

27. September

Eine Woche später

28. September

29. September

30. September

1. Oktober

LEMMIN

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Widmung

26. Juli

1. Oktober

LEMMIN

Cover

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I. Tiger und Liam

New beginnings create open ends. New friends create eventual loss.

26. Juli

Das große, von Glasfenstern überzogene Gebäude, glitzerte im Sonnenlicht. Es war Mittag, die Sonne brannte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein knallrot angemalter Hotdog Wagen, aus dem ein Mann mit Schürze, wiederholt laut rufend, Kunden anlockte. Eine Schlange krawattentragender Arbeitstiere drängelte sich an den Wagen. Ihre Köfferchen hielten sie sicher in der Hand. Köfferchen, in denen entweder mein Geld oder das meines Nachbarn lagerte. Köfferchen, welche die größten Bankgeheimnisse beinhalteten. Köfferchen, welche den Krieg finanzierten. Und ihre Besitzer trugen alle den abtrünnigen Blick, welcher nicht mehr ausstrahlte, als den Wunsch, nach einem kurzen, schnellen Hotdog schnell damit fortzufahren, mit dem Geld anderer Monopoly zu spielen. Der Verkäufer, welcher, erfreut über den Andrang, strahlte, blickte aus dem Gedränge heraus plötzlich direkt in meine Augen. Ich grinste hinüber, er zurück. Dann wandte ich mich ab und verschwand in dem durchsichtigen Würfel aus Glas. Die Leute hier waren so nackt und ausgesetzt wie das Gebäude selbst. Ihren Haltungen sah man Anspannung und Angst an, Anspannung und Angst vor Querschlägern wie mir. Nachdem ich an die Tür der Internen geklopft hatte, versteckte ich meine schweißnassen Hände in den Taschen meiner dünnen Sommerjacke. Ich wartete auf die Reaktion hinter der Tür, ein Atmen, ein Klacken, Schritte, und blickte solange die Grünpflanzen im Flur an. In ihrer niemals da gewesenen Pracht, verwelkte und braune Blätter hingen zu Boden, flehten sie mich an. Rette mich! War ich nicht der, der gerettet werden musste? Ihren Stolz, ihre Schönheit, welche sie so sehr verdient gehabt hätten, sah man nicht. Sie waren Gefangene. Ihre Traurigkeit zerstörte das Gefühl, welches sie hätten vermitteln sollen. Endlich ging die Tür auf und ein stämmiger Mann im Anzug bat mich hinein. Steif stand ich da, in einem riesigen Büro. Er setzte sich wieder, streckte mir die Hand entgegen, sprach meinen Namen falsch aus und wies mit offener Hand darauf hin, mich ebenso zu setzen. Widerwillig ließ ich mich auf einem absolut ungemütlichen Bürosessel nieder. Seine Worte prasselten auf mich ein, ich erwiderte nichts. In der Ferne landete ein Flugzeug, der Himmel war wolkenlos. Ich nickte nur. Meine Versetzung stand fest. Ich änderte nichts daran.

6 Jahre zuvor

Am 13. Mai

Peter fuhr den Van, wir anderen saßen auf einer nichtfachmännisch eingebauten Rückbank, die ungemütlich war. Die nächtlichen Lichter zogen an uns vorbei. Wir fuhren zu schnell, und doch langsam genug, um im Straßenverkehr nicht aufzufallen. Ich hatte den Kopf an die kalte Karosserie des uralten VW‘s gelehnt, als der Wagen plötzlich abrupt anhielt. Wie ferngesteuert zog sich jeder von uns die Sturmmaske über das Gesicht und griff nach einem Baseballschläger. Peter zog die Schiebetür auf, klopfte uns allen halbherzig auf die Schulter, und stieg wieder in seinen Wagen ein. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sich eine Zigarette anzündete. Er war ein routinierter Fluchtwagenfahrer. Während er in der schummrigen Innenbeleuchtung des Vans versuchte, Zeitung zu lesen, ihn interessierte ohnehin nur der Sportteil, traten wir die Haustür ein, zerschlugen teure Mingvasen, ein Treppengeländer, den Esstisch, eine Vitrine, hinterliessen einen horrenden Schaden und eine Warnung. Wir hörten erst auf damit, als Emmanuel Ricardo gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Einen großen Beutel Kokain und eine Menge gebündelter Scheine. Er lachte laut, spuckte auf ein Familienporträt im Hausflur und wir verschwanden genauso schnell, wie wir aufgetaucht waren. Aufatmen konnte ich erst, als wir wieder im Wagen sassen, die Sturmmasken von unseren Häuptern gezogen hatten, als seien sie ein zweites Gesicht, das man in einer Schublade verstaute, bis man es mal wieder brauchte, und mein Kopf wieder an der kalten Karosserie lehnte. Jaliel sass mir gegenüber. Ichsah in sein Gesicht, und es war, als hätte jemand alles ausradiert, aus ihm. Seine dunklen Locken klebten auf seiner verschwitzten Stirn. Ich schloss die Augen und genoss das Rattern unter mir, und das Rauschen aus Peters Radio. Ich war bloß froh, dass niemand zu Hause gewesen war, denn ich war mir sicher, dass Emmanuel diese Person umgebracht hätte.

27. Juli

Der alte Golf knatterte, die Pappkiste, in welche ich all meine persönlichen Gegenstände, einen privaten Laptop, ein Foto, eine alte Kassette, ein Duschgel und ein Handtuch gepackt hatte, wackelte und zitterte von der uneben betonierten Straße. Die Kiste war fast leer geblieben. Mit einer Hand am Lenkrad suchte ich nach einer der vielen anderen Kassetten, welche sowohl im Fußraum, als auch auf den Sitzen, dem Armaturenbrett und dem Beifahrersitz lagen. Gefunden, was ich gesucht hatte, steckte ich den Vorläufer der CD in das alte Autoradio und fuhr im gleichen Moment dem Wagen vor meinem auf. Ich kam gewaltvoll zum Stehen. Es dauerte einen Moment, bis ich die Fetzen meiner Realität wieder zusammengesammelt hatte. Der Fahrer des nagelneuen BMW, welcher soeben einen mittelgroßen Schaden erlitten hatte, klopfte leicht besorgt, hauptsächlich aber wütend an mein Fenster. Verwirrt hob ich den Kopf und blickte direkt in diese abtrünnigen Augen, die Augen eines Bankiers. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Sein Jackett gepflegt, es hatte keinen Knick, die Krawatte weit aufgezogen, die oberen zwei Hemdknöpfe offen, starrte er mich mit blutunterlaufenen Augen, Pupillen wie eine Eule, an. Der Straßenverkehr störte sich nicht an unseren beiden liegen gebliebenen Autos. Der BMW stand zwar zur Hälfte auf dem Bürgersteig, die andere ragte jedoch weit auf die Fahrbahn hinaus. Entschlossen stieß ich ihm die Autotür in den Schritt, schubste ihn beiseite, stolperte leicht benommen auf seinen silbergrauen Autotraum zu. Hastig öffnete ich seine Autotür. Es reichte ein Blick, und er packte mich am Arm, sein Griff so kräftig, dass er mir das Blut im Arm abschnürte. Seine Hände waren kalt wie Eis.

„Du kokst.“

„Natürlich nicht.“

„Deine Eulenaugen, das Koks in deinem silbergrauen, penibel gepflegten BMW. Oder willst du mir ernsthaft glauben machen, das sei Zucker?“

Ich zeigte mit der offenen Hand auf das veredelte Armaturenbrett seines Wagens.

„Wie finanzierst du den Scheiß überhaupt?“

„Schau mich an, Penner!“

„Ah, Bankwichser und Arschkriecher vom Dienst. Grad befördert worden, was! Und dann erst mal eine Line ziehen. Versteh ich.“

„Du bist mir aufgefahren!“

„Lass stecken, du weißt, wer Stress kriegt, wenn die Bullerei kommt.“

„Was?“

Ich zeigte erst auf sein Auto, dann auf meins.

„Dein Schaden, mein Schaden, dein Problem, mein Problem.“

Er nickte nur, stieg dann wieder in sein Maschinchen, startete den Motor nicht. Wahrscheinlich beendete er seine Line, oder baute sich eine neue, weil der Schock die Wirkung hatte verpuffen lassen. Ziehen würde er durch einen großen Schein. Dann würde er einfach weiterfahren. Den Schock wegkoksen, falls man das so nennen konnte. Murrend warf ich einen Blick auf die Front meines Golfs, die linke Lampe war zu Bruch gegangen, der Blechschaden hielt sich in Grenzen. Ich torkelte zurück zur Fahrertür und ließ meinen Körper, ganz in Richtung der Schwerkraft, in den Sitz fallen. Meinen Rücken lehnte ich an den kühlen Ledersessel, den Kopf warf ich in den Nacken. Dann blickte ich durch die von Vogelscheiße gesprenkelte Scheibe. In meinem Kopf hämmerte ein Presslufthammer. Nach einem Griff in Richtung meines Hauptes, der Überprüfung halber, dass alles im Lot war, klebte Blut in meiner Hand. Langsam drehte ich den Zündschlüssel um und setzte meine Fahrt fort. Die Kassette, welche ich mit der falschen Seite eingelegt hatte, trällerte vor sich hin. Sie hielt mich wach, während die Rücklichter der Vorderautos verschwammen und Kennzeichen unkenntlich wurden. Nicht fahrtauglich. Nicht das Auto, ich. Aber trotzdem: Auf keinen Fall konnte ich am ersten Tag zu spät erscheinen.

Backstein, dunkelrot, massiv, wohlig, geheimnisvoll. Die ersten Gedanken zu dem Gebäude, welches nun täglich mein Arbeitsplatz sein würde. Die Mauern schienen jedes Geheimnis halten zu können und keines herauszugeben. Schreie würde man nicht hören. Das war zumindest, was das Gebäude ausdrückte. Es gab keine Glastür, durch welche man das Herzstück hätte sehen können, ohne einzutreten. Holz war das Material der Wahl gewesen, undurchsichtig und schwer. So mochte ich Türen. Ich griff mit rechts nach der Klinke und drückte sie hinunter, unterschätzte ihr Gewicht. Schmerzerfüllt ließ ich wieder los, presste anstelle der Hand die Schulter dagegen und trat ein. Es war dunkel, erfrischend kühl und roch muffig. Dort wo normalerweise eine Rezeption auf einen wartete, standen ein paar Fahrräder, Rennräder, Damendrahtesel und ein Mountainbike. Die Decken reichten bis in den Himmel, die Treppen aus massivem Stein leider auch. Fahrstuhl erblickte ich keinen. Erschöpft drückte ich meinen Rücken an die kalten Gemäuer, draußen war es brüllend heiß. Schließlich hob ich die rechte Hand, hielt sie nahe an mein Gesicht. Geschwollen und blau unterlaufen, eine Narbe durchzog den gesamten Handrücken, zitterte und zappelte sie in meinem verschwommenen Sichtfeld. Das monotone Geräusch von Schuhen mit Absätzen, welche eine Treppe langsam hinunterglitten, bugsierte mein Bewusstsein wieder zurück in die Eingangshalle, welche eigentlich eher wie die Eingangshalle eines Mehrfamilienhauses aussah.

„Ich suche die Polizeistation.“

„Geht es Ihnen gut?“

„Polizei, hier, ja oder nein?“

„Jein. Da raus, um die Ecke und auf der anderen Hausseite wieder rein.“

Sie setzte zu erneuter Nachfrage an und wollte mir die Tür öffnen. In ihrem roten Sommerkleid und mit ihrem liebevollen Blick, in dem vor allem Mitleid war, wies sie mich zum Ausgang. So abgebrüht, so gewohnt wie ihre Reaktion, ihre Haltung war, mutmaßte ich, dass wohl öfter Leute, die Opfer von Gewalt geworden waren, in diesem Hausflur landeten. Noch bevor sie ihr aus Weiden geflochtenes Einkaufskörbchen, in welches sie natürlich Biogemüse und Biomilch packen würde, auf den Boden stellen konnte, um mir zur Hand zu gehen, war ich verschwunden. Die Sonne brannte auf den dunkelschwarzen Teer. Der einzige Baum lieferte wenig Schatten. Ich erinnerte mich: einmal um die Ecke, andere Hausseite, gleiche Tür. Anderes Geheimnis dahinter? Eine Rezeption, ein Lift? Schnell wischte ich mir mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht. Sah ich so schlimm aus, wie die Dame im Kleid auf mich reagiert hatte? Falls ja, würde das dem ersten Eindruck bestimmt nicht guttun. Mit der Pappkiste unter dem Arm torkelte ich auf die Tür zu. Ich blickte auf meine Armbanduhr, sie war deutlich wertvoller für mich als nur irgendein Gegenstand in diesem Sammelsurium. Ich war bereits eine halbe Stunde zu spät. Innerlich fluchte ich. Warum gab es auch einen Termin für den ersten Tag? Warum hatte ich nicht einfach zum Dienst erscheinen können? Ich war nicht der pünktlichste Mensch und dazu stand ich eigentlich auch. Jetzt gerade brachte mir das vermutlich aber gar nichts.

„Brauchen Sie Hi…“

„Kriminalabteilung, wo finde ich die?“

„Erster Stock, links.“

Papierchaos, Büromaterial, fahl beleuchteter Eingang. Die Lampen flimmerten rhythmisch, ein Wackelkontakt. So kannte man es und so war es auch. Für Infrastruktur blieb bei der Polizei wenig übrig. Tatsächlich gab es hier eine Rezeption, auch wenn diese einer Hollywood-Folterkammer glich. Ein junger Mann telefonierte hektisch, nahm Anrufe entgegen, gab Informationen weiter und hatte den Schweiß auf der Stirn stehen. Mit einer Hand hangelte ich mich die Stufen ins erste Stockwerk hinauf. Der Rezeptionist verschwendete keinen weiteren Blick in meine Richtung. Die langen, hohen Gänge wirkten wie riesengroße, dunkle Tunnel. Ich entdeckte den allseits bekannten Kaffeeautomaten, kein Kommissar konnte ohne ihn, Toiletten, eine große Tür aus Glas und eine Glaswand, welche frühzeitig Einblick in mein neues Büro ermöglichte. Ich wollte mir nur kurz das Blut abwaschen, dachte ich, öffnete die Tür zu den Klos und sie stand da. Ihre schlanken Beine trugen einen kräftigen Körper. In einem Holster trug sie ihre Dienstwaffe. Die Tür fiel ins Schloss und sie bemerkte mich. Ihre tiefgrünen Augen starrten mich an.

„Kann man dir helfen?“

„Erster Tag, kann hier so nicht auflaufen.“

„Ah, du bist der Neue.“

„Zac, hey. Und danke.“

Ich verschwand im Herrenbereich, grinsend, ich mochte die Frau, die keine Fragen stellte, stützte meine Hände auf einem der blankweißen Waschbecken ab und starrte in den mit einer Staubschicht bedeckten Spiegel. Mit geschlossenen Augen versank alles im Muster der gekachelten Wand. Ich fluchte, meine Hand pochte immer noch und das gefiel mir nicht. Ich inspizierte sie kurz, es war nichts gebrochen, höchstens geprellt, und entschloss mich dann, mich um die zweite Baustelle zu kümmern: mein Gesicht. Ich schüttete mir das kalte Wasser mit den Händen in den Nacken und auf die Stirn. Die mittlerweile verklebte Kruste, welche meine rechte Schläfe überdeckte, brannte. Wasser wirkte wie Jod, die offene Wunde klaffte am Kopf. Obwohl mein Golf keinen Airbag hatte, bereute ich keine Sekunde, dieses wunderschöne Auto gekauft und bereits jahrelang gepflegt zu haben. Mit einer Handvoll Einwegtücher trocknete ich mich schließlich wieder ab. Die hellroten Tücher verschwanden im Papiermüll. Dann starrte ich mich selbst an. So konnte ich mich blicken lassen. Die geschwollene Hand versenkte ich tief in der Jackentasche.

Die Tür fiel ins Schloss, die Kiste unter dem Arm haltend, ließ ich alle Eindrücke, die wie Pfeile auf mich zu donnerten, bei mir ankommen. Eine große Fensterfront erhitzte das Büro wie ein Gewächshaus, als züchtete man hier Pflanzen. Es gab drei Pulte, einen Nebenraum, den ich aus meiner Position nicht einsehen konnte, und ein großes Whiteboard. Hinter mir lag ein großer Konferenzraum, in dem ein runder Tisch stand, an dessen Ende ein weiteres Whiteboard ruhte. An der Wand vor mir hing eine riesige Karte, welche die Stadt abbildete. Die Aussicht begrenzte sich, aus dem ersten Stockwerk gab es nun mal wenig zu sehen. Das Nachbarhaus war ebenso aus Backstein und glich unserem. Kein Wunder war ich zuerst im falschen Gebäude gelandet. Ich erblickte einen freien Schreibtisch, auf dem beinahe schon einladend ein Computer und eine Tastatur auf mich warteten. Er war blitzblank geputzt. Auf ihm lag ein Brief. Ich nahm an, dass es mein Schreibtisch war und ließ die Kiste dort fallen. Die Jacke stülpte ich über den Stuhl. Dann setzte ich mich. Ein älterer Herr, Lackschuhe und Krawatte tragend, er wäre auch als Immobilienmakler durchgegangen, kam auf mich zu. Seine markanten und kantigen Gesichtszüge überwältigten mich. Dass man sich freiwillig in solche Kostümierung zwängen konnte, blieb mir ein Rätsel. Genervt darüber, dass ich zu spät war, streckte er mir seine Hand entgegen, welche ich nicht annahm. Er trug einen Ehering am Finger und wirkte unausgeschlafen. Vielleicht hatte er zu Hause Stress.

„Zacharias Lemmin, unser neuer Kollege bei der Kriminalpolizei. Kommen Sie bitte gleich in mein Büro!“

Der andere Mann, stark und groß, die dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht, war ein Hübscher. Seine Waffe trug er lässig am Gürtel, seine Muskeln wollten aus dem weißen Shirt entfliehen wie Gefangene aus der Untersuchungshaft. Wie ein Hund, der an Bäume pisste, markierte er mit steifer Haltung seine Präsenz. Das war sein Revier. Schwunghaft streckte er mir die Hand entgegen und stellte sich als Wolf vor. Wolf, ein Name, der Stärke und Dominanz ausstrahlte. Er grinste breit und flach. Und ich vermisste sofort eines an dem Typen, seine Tiefe. Ich fand sie nicht und das mochte vielleicht auch daran liegen, dass er sie mit aller Kraft zu verstecken versuchte. Ruhig saß Nava, die Frau aus dem Klo, an ihrem Schreibtisch, der direkt gegenüber meinem stand, und versenkte den Kopf im Bildschirm. Magisch angezogen von einem interessanten Inhalt, ignorierte sie die Welt um sich. Ihre Waffe lag auf dem Tisch, ihre Trainerhose und ihr Hemd in Camouflage passten perfekt zueinander. Sie drückte, ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen, eine unglaubliche Tiefe und eine enorme Selbstsicherheit aus. War sie eine, die Dinge gerne auf ihre Art machte? Ich mochte sie und lächelte ihr zu, doch sie bemerkte es nicht. Und dann war da noch Toni Hendel, das IT-Genie. Sie saß in dem Raum, welchen ich zuerst nicht hatte einsehen können, abgeschottet vom Rest der Meute. Das Einfachste und Simpelste, die menschliche Interaktion, schien ihr Angst zu machen. Sie hätte lieber den ganzen Tag verschämt, und hinter der Fassade der Informatik versteckt, verbracht, als mir die Hand zu schütteln und sich vorzustellen. Aber sie stand auf, verbeugte sich kurz vor mir und setzte sich dann wortlos wieder hin. Ihre Aufmerksamkeit mir gegenüber war, wie das kurze Aufflackern einer Kerze, sofort wieder verschwunden. Mit brennendem Kopf, die schmerzende Hand so gut es ging versteckt, schlich ich auf das Chefbüro zu. Ich hatte keine Lust auf eine Einweihungsrede. Und erst recht nicht, falls es um dreißig Minuten Verspätung ging. Die Tür stand offen.

„Sie können stehen bleiben, Herr Lemmin.“

„Super.“

„Haben Sie sich schon vorgestellt beim Team?“

„Ja kurz.“

„So wie Ihre Antworten, was?"

Er stellte sich mir nicht vor. Soweit ich wusste, war sein Name Verlach, Vorname Robert. Er grinste und es war weder ein nettes noch ein böses Grinsen. Es war ein überlegenes Grinsen, welches an mir einfach abprallte.

„Wir sind hier pünktlich, verstehen Sie das? Und zwar immer dann, wenn es wichtig ist, verstehen Sie das?“

„Natürlich.“

„Und Sie halten den ersten Eindruck nicht für wichtig?“

„Ich bin doch hier.“

„Warum sind Sie zu spät, Herr Lemmin?“

„Ich hab mich verlaufen. Die Häuser hier sehen alle so gleich…“

„Verkaufen Sie mich nicht für dumm! Ich bin nicht blind!“

„Deswegen bin ich aber nicht zu spät.“

Ich grinste zurück. Weder böse, noch nett, nicht überlegen. Ich grinste, um ihm eins auszuwischen.

„Packen Sie Ihre Sachen aus, das ist ihre Dienstwaffe, ihr neuer Dienstausweis, Abgang.“

Die wenigen privaten Gegenstände stapelte ich in die dritte Schublade meines Pultes, die Schreibtischoberfläche blieb leer. Ich nahm mir vor, eine Zimmerpflanze zu besorgen, um diesem toten Raum etwas Leben einzuhauchen. Ich öffnete den Brief, der das Login, die Passwörter und einen Gruß mit einer Unterschrift am Schluss, von einer Person, welche mich nicht kannte und höchstwahrscheinlich auch nie kennenlernen würde, beinhaltete. Die Passwörter gemerkt, zückte ich ein Feuerzeug aus der Jackentasche und setzte den Brief, unpersönlich und unwichtig, in Brand. Wütende Blicke, wie Katzenaugen aus der düsteren Nacht heraus, starrten mich an. Auch Navas Augen funkelten jetzt interessiert in meine Richtung. Das Feuer brannte sich durch das Papier, löschte die geheimen Informationen, schwärzte sie und ließ Staub und Asche zurück. Wie eine Schnecke durch ein Salatblatt fraß es sich bis an meine Fingerspitzen hoch durch, dann erlosch es.

Der Schlüssel drehte im Schloss, es klackte, die Tür fiel auf und ließ das kühle Licht aus dem Treppenhaus in meine Wohnung fallen. Schnell streifte ich meine Jacke ab, die Schuhe ließ ich im Flur liegen, müde tastete ich nach dem Lichtschalter. Die Sonne stand bereits tief am Abendhimmel. Ein alter Fall hatte das Team beschäftigt, eine Menge Schreibkram und noch viel mehr Formalitäten wollten geklärt sein. Der Tag hatte mich überrollt. Schlimmer als Stau in der Innenstadt, schlimmer als ein Gespräch mit einem unzufriedenen Chef und schlimmer als Bürokratie, waren diese drei Dinge zusammen an einem Tag. Der Tag klassifizierte sich als wahrer Scheißtag. Wobei diese zum Leben gehörten, denn ohne sie wüsste man die tollen Tage gar nicht zu schätzen. Abwechslung und Variation machten das Leben spannend, aber manchmal auch unangenehm. So unangenehm, wie die überwältigende Übelkeit, die mich schlagartig überkam. Wahrscheinlich hatte ich mir bei dem morgendlichen Zusammenprall mit dem Lenkrad doch eine Gehirnerschütterung zugezogen. Benommen stolperte ich ins Badezimmer, ließ mich auf den Klodeckel fallen, angelte in meinem Spiegelschrank nach Pflastern und Verband. In dem kleinen Raum stand eine Badewanne und ein alter, vom Eisen im Wasser orange verfärbter Duschvorhang mit gelben Quietscheentchen darauf, hing von der Decke. Ich besaß eine Zahnbürste aus Holz, eine fast leere Tube scharfer Pfefferminzzahnpasta, einen Rasierer, weil ich Dreitagebart hasste, und eine Menge Staub, weil ich auch putzen hasste. Vorsichtig beugte ich mein Handgelenk, es schmerzte. Ich schmierte ein wenig Salbe darauf und wickelte es dann in einen Verband. Ohne Essen, nur mit einer Kopfschmerzbrausetablette im Magen, ließ ich mich vielleicht zwei Stunden später ins Bett sinken. Ich dachte an nichts, nicht an die neue Stelle, nicht an die neuen Kollegen, nicht an den koksenden Autofahrer. Bestimmt würde er morgen wieder Geld aus seinem Köfferchen verschwinden lassen und den Besitzern mit mitleidiger Miene den Konkurs auftischen. Ich dachte an nichts und eben doch an alles.

28. Juli

Ich stakste die Stufen hinauf. Die Morgensonne warf ihr noch zartes Licht in die düstere Rezeptionshalle. Noch bevor ich oben angekommen war, kamen mir Wolf, Nava und der Chef mit schnellen Schritten entgegen.

„Was ist los?“

„Sie können gerade umdrehen, Leiche im Kentucky Club.“

„Mein Wagen?“

„Fahr bei mir mit.“

Ein Benz, schwarz, eindeutig Dienstwagen, stand, von der Morgensonne bereits aufgeheizt, auf dem Revierparkplatz. Nava Kunze riss die Fahrertür auf, sie würde fahren, und so ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Der Gurt war heiß von der Sonne, trotzdem schnallte ich mich an. Das tat ich sonst nur selten. Das Autoradio lief, Hitparade, Songs von sogenannten Talenten, welche ihre Lieder weder selber schrieben, noch ohne Autotune live performen konnten. Und entfernte man den Gesang, so blieb ein einfacher Beat, vier Akkorde, mehr nicht. Ich drehte die Lautstärke herunter. Die Sonne stand noch flach hinter den Wolkenkratzern der Innenstadt. Wenige Leute nur waren unterwegs, die meisten mit Einkäufen oder auf dem Weg, ihren alltäglichen Pflichten nachzugehen. Manche trugen noch Pullover, welche sie aber spätestens zur Mittagssonne ausziehen und um schwungvolle Hüften binden würden.

„Weiß man schon was, Nava?“

„Nicht mehr als du, Zac.“

„Pop-Fan?“

„Nee, ich höre eigentlich lieber Punk, Hardrock oder so.“

Alles andere hätte mich auch gewundert.

Im Schaufenster reihten sich Shishas an noch mehr Shishas. Die Verzierungen waren edel und glänzten. Verschiedenste Modelle kämpften um den liebevollsten Blick. Rote Vorhänge schmückten die Szenerie aus, alles glitzerte. Zwanzig Prozent Rabatt an Samstagen erklärte ein Schriftzug, welcher quer über die Glasscheiben geklebt war. Innen war es dunkel, die Bar war leer, man konnte die Schatten der hochgestellten Barstühle erkennen. Rund um den Eingang standen Streifenwagen, mit Absperrband wurde für größte Aufmerksamkeit gesorgt. Viele junge und alte Menschen gafften, wären gerne näher gekommen, drängelten sich direkt hinter der Abgrenzung, welche, wenn man sie weggelassen hätte, auch keine Menschen zurückhalten hätte müssen. Flink schlüpfte ich unten drunter durch, mein Gesicht wandte ich von der Menge ab. Fotografen schossen mit ihren Kameras Fotos und ich kam mir vor, als stünde ich unter Beschuss. Schnell presste ich meinen Körper ins Innere der Bar. Es roch nach Tod, eine junge Frau lag im Bardress auf dem Boden, in ihrem eigenen Blut. Noch bevor ich einen weiteren Blick auf die Situation werfen konnte, bekamen wir Schutzkleidung in die Hände gedrückt, welche wir anziehen sollten, um keine Spuren zu verwischen. Rasch stülpte ich mir das weiße Gewand über. Erst dann gingen wir näher heran.

„Guten Morgen Sylvia, was hast du für uns.“

„Morgen Nava. Zwei Schüsse in die Brust. Neun Millimeter, die Projektile sind schon auf dem Weg in die KTU.“

„Todeszeitpunkt?“

„Ich kann mich noch nicht festlegen, aber so ungefähr zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens.“

„Abwehrspuren? Anzeichen für einen Kampf?“

„Du bist dann wohl der Neue. Gleiche Regeln wie immer junger Mann. Mehr Infos nach der Obduktion.“

Die Bar war fein säuberlich abgewischt worden, die Gläser waren alle frisch gespült, die Bar hatte also wahrscheinlich zum Tatzeitpunkt schon geschlossen. Oder der Täter hatte, neben dem Morden, einen Putzfimmel. Die Hinterzimmer, welche man durch einen langen Gang, der dunkelblau gestrichen war und nach Pisse stank, erreichte, waren alle verschlossen. Hier übermannte mich ein unbehagliches Engegefühl. Die einzige offenstehende Tür entpuppte sich als Klotür. In der Dunkelheit und Enge des Flurs kniete Wolf vor den verschlossenen Türen. Er war damit beschäftigt, die Schlösser zu knacken. Er klebte mit dem Gesicht förmlich an den Beschlägen. In nur wenigen Minuten hatte er sie alle geöffnet. Hinter ihnen versteckten sich Aufenthaltsräume, ein Schlafzimmer und ein komplett leerer Raum, in dem es kein Licht, keine Möbel, nicht einmal einen Teppich gab. Es roch nach Bleiche.

Die KTU untersuchte den Raum, während Wolf versuchte, mit mir die Wette abzuschließen, dass er recht hatte und die Frau in diesem Zimmer gestorben war. Ich lehnte dankend ab. Makaber über den Todesort eines Menschen zu wetten, war das seine Art, damit umzugehen? Ich wollte ihn loswerden, was mir allerdings nicht gelang. Wir sollten zusammen die Nachbaren im Haus gegenüber befragen. Nava und der Chef kümmerten sich derweil um den Hausmeister, der die Frau gefunden hatte. Dieser kannte aber weder das Personal, noch wusste er, wer die Frau gewesen war.

Ein Mehrfamilienhaus, zehn Mieter, die ersten zwei öffneten nicht. Die nächsten zwei, beides Familien, was man aufgrund der Schuhmenge im Flur bereits wusste, bevor sich die Tür öffnete und gebannte Kinderaugen einem entgegen strahlten, hatten nichts mitbekommen und wirkten frustriert, da es wohl öfter schon zu Lärmbelästigung gekommen war, um die sich die Polizei nie gekümmert hatte. In Wohnung Nummer sechs öffnete zuerst niemand und Wolf wandte sich kurz angebunden und genervt ab, um die Stufen ins nächste Stockwerk zu erklimmen, als es klackte. Das Schloss drehte sich, die Tür öffnete sich. Ein älterer Herr, in Unterhose und Unterhemd, lugte durch den Türspalt. Er stank nach billigem Fusel. Er war unrasiert.

„Guten Tag, Kriminalpolizei, können wir hereinkommen?“

„L…L…Lieber nicht.“

„Alles gut, Herr….Fischer. Hast du gestern zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens etwas gehört?“

„N..Nein.“

„Sicher!“

Plötzlich stand Wolf hinter mir, drückte die Tür gewaltvoll auf und eröffnete damit den Blick in eine verwüstete und von Pizzakartons vollgestellte Wohnung. Staub, leere Glasflaschen und Zigarettenstummel ergänzten das Bild passend. Mittendrin stand der in die Jahre gekommene Herr Fischer. Er war überrumpelt und hatte Angst.

„Spinnst du!“

„Alkoholiker, lieber zweimal nachsehen.“

„Das ist ein ganz normaler Mensch, Wolf!“

„Ein Alkoholiker.“

Ich packte ihn, presste ihn an die Wand, griff nach seinen Schultern. Seine Augen glühten wie heiße Kohlen. Wie ein Irrer starrte er mich an. Und ich ihn wahrscheinlich auch.

Ermahnend ließ ich ihn wieder los. Aber er sprang auf den Mann zu, stellte sich Macht demonstrierend in die Tür, mit breiter Brust und feurigen Augen. Seine Venen entflohen seiner Haut. Wie besessen vom Bösen, seine Moral davon geschwemmt, sein Hass angespült, starrte er dem Mann in Unterhose direkt ins Gesicht. Ich verstand nicht, woher dieser Sinneswandel gekommen war. Welchen Trigger hatte dieser Mann in Wolf ausgelöst? Und welche anderen gab es da sonst noch?

„Du gehst doch bestimmt jeden Tag da drüben saufen, oder?“

„Mm…mmh…“

„Ich versteh dich nicht, sprich klar!“

Meine Wut kochte über, ich brodelte wie ein Dampfkochtopf kurz vor der Explosion. Ich schämte mich für das Verhalten meines Kollegen, seine herablassende Art, seine Ausnutzung des Polizeistatus. Mit beiden Händen packte ich ihn entschlossen am Kragen, zog ihn aus der Tür, bugsierte ihn ins Treppenhaus und fuhr ihn an.

„Es reicht!“

Ich drängte ihn an die Wand, drückte seinen Körper gegen sie und starrte in seine Augen, tief, so tief wie er niemanden in sich hineinschauen lassen wollte. Beschämt sah er weg. Er sagte kein Wort und verließ dann die Situation. Die Treppen klackten im Tempo schneller Schritte, dann fiel die schwere Tür unten ins Schloss. Er war weg. Und ich blieb mit dem Mann, welcher hilflos zwischen seinen Pizzakartons stand und mittlerweile aus Verzweiflung weinte, zurück. Ich entschuldigte mich aufrichtig, wobei ich wusste, dass es keine Entschuldigung für diese Aktion gab, und dass diese sowieso keinen Wert hatte, war es schließlich Wolf, der sich hätte entschuldigen müssen. Entschädigend bot ich ihm an, die Pizzakartons zu entsorgen. Er schüttelte nur den Kopf, schickte mich, indem er mit der Hand ins Treppenhaus zeigte, hinaus. Ich konnte ihn nicht deuten, sein Blick war starr, seine Pupillen eine Wand, eine weiße Wand, alle Türen zu seiner Seele verschlossen. Kaum hatte er hinter sich abgeschlossen, schrie ich auf. Beinahe schleuderte ich aus Wut und Enttäuschung meine kaputte Hand an die Wand. Er würde saufen, direkt wieder in seine Fantasien abtauchen, die Realität meiden, die Emotionen, welche ihn durchschossen, ertränken. Ich hasste Wolf dafür. Er zerstörte das kleine und wackelige, mühsam aufgebaute Gerüst, welches dem Sturm bis jetzt standgehalten hatte. Die nur leicht flimmernde Ehre, an der sich der Mann verzweifelt festklammerte, weil auch er nur ein Mensch war, war erloschen, und das in seinem eigenen Rückzugsort, seiner eigenen Wohnung. Er hatte vor Wolf den Wert als Mensch verloren, war einem Klischee zum Opfer gefallen, war entblößt worden. Er hatte sich beleidigen und angehen lassen müssen. Von einer Instanz, von der man eigentlich Hilfe zu erwarten hatte. Erschöpft ließ ich mich auf die Treppenstufen plumpsen und versenkte den Kopf in meinen Handflächen. Minutenlang atmete ich tief ein und aus.

Alle Beweismittel waren eingetütet worden, alle potenziellen Zeugen befragt. Wir fuhren zurück ins Präsidium. Mit Nava im Auto zu sitzen war seltsam, wir schwiegen uns an. Nicht einmal über den Fall, die Tote, konnte man reden. Untermalt wurde das alles weiterhin von lieblicher, leiser Pop-Musik. Awkwardness in a nutshell. Die Bäume flogen an der Scheibe vorbei, im Auto kam ich mir immer vor wie in einer Zeitmaschine. Alles ging vorbei, viel zu schnell, nichts konnte man wirklich erkennen, niemanden konnte man wahrnehmen, nichts festhalten oder einfangen. Schloss man nur einen kurzen Moment die Augen, verpasste man eine ganze Häuserreihe, einen ganzen Block, ein ganzes fremdes Leben. Man verpasste den frischen Wind im Gesicht, den Geruch von Pizza in der Luft, den Klang einer lebenden Stadt. Als Beifahrer fiel mir das mehr auf als sonst, hatte man als Fahrer schließlich die Augen immer auf den statischen Stadtverkehr gerichtet, achtete auf rote Ampeln, Radfahrer, Lastwagen und Rechtsvortritte. Jetzt hatte ich Zeit, Bars, Menschen und Läden wahrzunehmen, wenn auch nur im Schnelldurchlauf. Ich sah die Stadt, wie ich sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte.

„Dieser Wolf, was ist das für einer?“

„Der Togonis, ein Macho.“

„Nicht so…Was ist der wirklich für einer?“

„Was meinst du?“

„Alkohol?“

„Und was ist mit deiner Hand passiert?“

„Ah so, du sagst mir was und ich dir, wa?“

„Genau.“

„Dann lass mich raten, sein Vater ist Alkoholiker.“

Sie schwieg, fokussierte sich auf die Straße, fühlte sich von mir in die Enge getrieben. Ich hatte mit meinen Fragen auf die unsichtbare Mauer zwischen uns eingeschlagen und war in ihr Revier eingedrungen. Sie störte das, sie wollte ihren Teamkollegen nicht anprangern, und ich verstand das sogar. Sie waren vielleicht Freunde. Dann aber, einen kleinen Moment später, nickte sie, was eine stumme Bejahung meiner Vermutung sein sollte. Wir wechselten kein weiteres Wort, das Schweigen war zu mächtig, um es zu brechen. Meine Gedanken schweiften ab. Mister Perfect hatte sich nicht im Griff. Mir passte das nicht. Aber wer war ich, darüber zu urteilen. Die restlichen Gedanken verschwammen und durchmischten sich zu einem großen Durcheinander.

Das Wasser tropfte meine Schultern hinunter, die Wasserperlen gingen alle ihren eigenen Weg. So sorglos, so frei. Ihr Ziel: der Abfluss, das Ende, zu welchem die Schwerkraft sie trieb. Sie ähnelten einer Horde in ihren eigenen Tod trabender Menschen, einer Horde Arbeitstiere, die es nicht schaffte, ihre Umgebung zu bewundern, den Kopf immer in irgendwelche Zeitungen oder Smartphones gesteckt, Stöpsel in den Ohren, die Welt auf mute. Der Weg in den Tod, den sie alle bereits eingeschlagen hatten und lebten, weil sie eben nicht lebten, nahm seinen sorglosen Lauf. Ich drehte den Duschwasserhahn eiskalt und das Adrenalin schoss durch meine Adern. Die eisige Kälte befreite mich von all der Düsternis, die sich auf meiner Haut breitgemacht hatte, und versuchte, in mich einzudringen. Die Dunkelheit und die Angst erfroren in diesem Wasser. Nur ich war stark genug, die Kälte zu beherrschen. Heißes Wasser dampfte. Kaltes Wasser schwieg, sagte nichts, wirkte bloß. Schließlich drehte ich das Wasser ab und verkroch mich rasch in meinem Handtuch. Ich rubbelte meine Haare trocken, schlüpfte in meine Jogginghose, eine weiß, grün gestreifte, die mir viel zu groß war. Ich knüpfte die Hosenbändel zu, damit ich sie nicht verlor. Oberkörperfrei verließ ich das Bad, löschte das Licht. Erfrischt ließ ich mich an den runden Küchentisch meines Wohn-Essraums fallen, schob mir eine Schnitte Brot mit Leberwurst in den Mund, lehnte mich zurück und horchte in die Stille. Manchmal machte es mir Angst, dass ich nach dem Anblick einer Leiche gar nicht darüber nachdachte, was ich gerade gesehen hatte. Und genau dann fiel mir auf, dass ich eben doch an sie dachte, die Opfer. Ich dachte an die Frau aus dem Kentucky-Club.

29. Juli

Die Rechtsmedizinerin, Sylvia Zuttori, eine große und kräftige Frau, stand stramm wie ein Soldat vor dem Whiteboard. Nava und sie kannten sich näher, das war mir schon am Vortag aufgefallen und auch jetzt wechselten sie immer wieder vertraute Blicke.

„Methamphetamin, kein Blut.“

„Crystal also.“

„Sie sind gut, Herr Lemmin. In dem Raum war kein Blut, aber Spuren von Crystal Meth.“

„Ein Labor?“

„Das, meine Damen und Herren, ist euer Job.“

Ich hatte die Wette, welche ich nicht eingehen hatte wollen, gewonnen. Ein bescheidenes Bisschen freute mich das tatsächlich. Nicht weil ich recht behalten hatte, sondern des Blickes wegen, welchen Wolf mir nun zuwarf. Er biss sich auf die Lippe, kurz kreuzten sich unsere Blicke, seiner abgeschottet, mir nichts zu sagen, meiner fragend nach einem kurzen Gespräch. Dann wie aus dem Nichts tauchte Toni Hendel mit ihrem Laptop in der Hand auf.

„Ich habe den Kentucky-Club unter die Lupe genommen. Über die IT konnte ich keine illegalen Machenschaften nachweisen.“

„Sie kommen doch nicht ohne etwas, oder, Frau Hendel?“

„Aber nie, Chef, die haben eine Webseite mit Fotos von deren Parties und schauen Sie hier, das ist ganz klar in einem der Hinterräume. Außerdem gab es zwei weitere Kellnerinnen, die ich aber nicht identifizieren konnte, da sie keine Strafakten haben und als Mitarbeiter nicht aufgelistet sind.“

„Scheint, als wäre das nur für geladene Gäste.“

„Das habe ich auch vermutet, Herr Lemmin. Deswegen habe ich alle Gesichter abgeglichen. Und dieser Typ hier taucht besonders oft auf. Er ist vorbestraft.“

Der Task war nun also, den Besitzer der Bar, einen gewissen Timon Quinn, zum Tod der jungen Frau, welche den Namen Jenice trug, zu befragen und die Namen der anderen Kellnerinnen für Zeugenaussagen zu bekommen. Das Smartphone von Timon Quinn war allerdings ausgeschaltet, eine Ortung somit unmöglich. Alles deutete darauf hin, dass er etwas davon gewusst hatte, hatte wissen müssen. Er wäre auch schön blöd gewesen, hätte er nichts von einem Drogenlabor im eigenen Club mitbekommen. Eine Videoüberwachung fehlte, wahrscheinlich hatte der Laden aus guten Gründen keine Kameras, und somit war eine Aussage zwingend notwendig. Die zweite Spur neben den beiden Kellnerinnen und Timon Quinn war der Mann, welcher auf allen Fotos von Toni breit grinste. Nava und ich fuhren zu ihm nach Hause, während der Chef und Wolf zur Wohnung des Clubbesitzers fuhren und hofften, dort den großen Fisch ins Netz zu bekommen.

„Ich habe nur Kassetten.“

„Du bist ja echt mindestens drei Generationen hängen geblieben.“

„Ist vielleicht Absicht.“

„Weißt du, was Social Media ist?“

„Blöd bin ich nicht, Nava.“

Ich grinste ihr zu, sie ließ mich nicht fahren. Einerseits schien sie selbst das Fahren zu lieben und ihre dazugehörige Überposition mir gegenüber, andererseits hielt sie mich nicht für fahrtüchtig mit meiner kaputten Hand.

„Die ist verstaucht, c’mon, zurück fahre ich.“

„Wie ist das überhaupt passiert?“

Ich antwortete nicht. Sie erwartete keine Antwort. Wir hielten am Straßenrand und gingen auf das Haus in der Bartholdallee 15a zu. Hier standen riesige Eichen, welche riesige Schatten auf die breite Straße warfen und unter welchen Sportkarren, aber auch Schrottkarren standen. Nava parkte den schwarzen Wagen passend zu den anderen in Reih und Glied. Ich freute mich, so konnte man später wieder einsteigen, ohne das Gefühl zu haben, in einen Backofen zu klettern. Wir klingelten und die Tür ging auf. Ein leises Summen gab Nava das Zeichen, einzutreten. Im Treppenhaus dieses Vierfamilienhauses standen Fahrräder, ein Kinderwagen und überall hingen Zettel von Leuten, welche sich über irgendetwas beschwerten oder irgendetwas verlangten. „Bitte nicht rauchen“ oder „keine Kinderwagen im Flur“. Die meisten waren in übelster Handschrift verfasst worden. Die Leute hatten keine anderen Probleme, keine echten, sonst wäre es ihnen egal gewesen, ob ein Kinderwagen im Flur stand oder nicht. Eine der Handschriften war ausgesprochen oft vertreten. Ich schüttelte beinahe schon empört den Kopf.

„Herr Gustav Kassener?“

„Ja, das bin ich.“

„Kriminalpolizei, ich bin Herr Lemmin, das hier ist meine Kollegin Frau Kunze, können wir reinkommen?“

„Klar. Was ist denn passiert?“

Seine Wohnung war gepflegt und sauber, alles war im rechten Winkel angeordnet, Weiß in Grau in Dunkelgrau in Schwarz die