Lemmy Lokowitsch - Laura Dümpeldeld - E-Book

Lemmy Lokowitsch E-Book

Laura Dümpeldeld

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Beschreibung

Nachdem eine heiße Spur sich im Sand verläuft, braucht der Lokaljournalist Lemmy Lokowitsch dringend eine gute Story. Als die Elfenrechtlerin Clayda ihn um Hilfe bei der Suche nach ein paar verschwundenen Indri bittet, lehnt Lemmy zunächst ab; wer interessiert sich schon für die indigene elfische Bevölkerung von Senabri’il? Doch dann findet er Hinweise auf die zwielichtigen Geschäfte eines großen Waffenkonzerns: Was hat es mit dem mysteriösen „Syrikon-Projekt“ in der ehemaligen Kolonie auf sich? Lemmy entscheidet sich, Clayda doch auf ihrer Reise zu begleiten – und stürzt Hals über Kopf in ein Kreuzfeuer aus Magie und Korruption.

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Triggerwarnungen / Inhaltshinweise

Das folgende Buch enthält Inhalte, die für manche Personen unangenehm oder triggernd sein können. Eine Auflistung dieser Inhalte findet sich auf Seite 277.

1. Auflage September 2021

Copyright © 2021 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Am Hügel 7, 59872 Meschede

[email protected]; www.roterdrache.org

Buchgestaltung: Holger Kliemannel

Umschlag- und Schmutztitel: Anke Koopmann, www.designomicon.de

Lektorat: Katharina Matschiske

Sensitivity Reading: Yvonne O.

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des jeweiligen Autors reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN Print: 978-3-96815-030-7

ISBN Ebook: 978-3-96426-066-6

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Am Anfang war das Telefon

Drei Bier, zwei Cigaretten und eine Story

Eine Frage des Blickwinkels

Erste Ermittlungen

Clayda

Eine schrecklich nette Familie

Bei Nacht und Nebel

Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt

Plan B

Um der alten Zeiten Willen

Ein frostiges Wiedersehen

Nordwärts

Neu Herryskoog

Indri

Die Ewig Schöne

Ein feuchtfröhlicher Abend

Flinn Timmler

Nächtliche Pirsch

Aus Albträumen geboren

Das war‘s dann wohl

Auf der Flucht

Zurück in die Höhle des Löwen

Unter Tage

Das Syrikon-Projekt

Mit ein wenig Hilfe

Flucht nach vorne

Der Vorhang fällt

Epilog

Am Anfang war das Telefon

Haarsträubende Abenteuer und unwahrscheinliche Entwicklungen kündigen sich selten mit großem Paukenschlag an. Viel eher schleichen sie sich heimlich, still und leise in unser Leben und ehe wir uns versehen, stecken wir Hals über Kopf in ihnen fest. Mein eigenes Abenteuer, das man guten Gewissens als haarsträubend bezeichnen kann, wie ich finde, besaß zumindest die Höflichkeit, sich telefonisch bei mir bemerkbar zu machen, und das ist doch immerhin schonmal ein Anfang.

Es regnete an jenem Abend, daran erinnere ich mich genau, es regnete in Strömen. Und es war scheißkalt. Obwohl wir in diesem Jahr schon ein paar warme Tage gehabt hatten, schien der Winter sich noch nicht ganz verabschieden zu wollen, und schaute stattdessen mit einem schadenfrohen »Ätsch!« nochmal munter zur Tür herein. Dementsprechend war meine Laune. Die Nachforschungen zu meiner aktuellen Story waren ins Stocken geraten, ich war in diesem Zwimond wieder einmal recht knapp bei Kasse und am Morgen hatte ich einen Stapel Rechnungen und Mahnungen auf der Türmatte gefunden, was nicht gerade dazu beitrug, meine Stimmung zu heben.

Aus Frust hatte ich eine Flasche Whisky aufgemacht und nippte nun an meinem zweiten Glas, doch so wirklich schmecken wollte es mir heute nicht.

Mein Kater Garf lungerte missmutig vor dem geschlossenen Fenster und stierte hinaus in die Regenschnüre, als hoffe er, sie durch grimmiges Starren verschwinden zu lassen. In seinen Augen war es sicherlich eine Todsünde, ihn an seiner Lieblingsbeschäftigung zu hindern: auf der Fensterbank liegen und sich die Sonne auf den gelben Wanst scheinen lassen. Verständlicherweise war er also über das Wetter ebenso ungehalten wie ich, und so hockten wir schlecht gelaunt in dem kleinen Zimmer, starrten aus dem Fenster und wussten nichts mit uns anzufangen.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Ich stellte das Whiskyglas auf dem Nierentisch neben mir ab und ging im Geiste rasch die Liste der potentiellen Anrufer durch, die infrage kamen.

Meine Mutter rief meist an, um kurz nach meinem Befinden zu fragen und mich dann mit einem endlosen Wortschwall zu überschütten, in dem es hauptsächlich darum ging, dass ich mir doch endlich eine Frau suchen sollte.

Die Stadtwerke meldeten sich immer dann telefonisch, wenn meine Rechnungen so überfällig waren, dass sie drohten, mir das Syranid abzudrehen. Das ist in der Tat einmal vorgekommen – die grässlichste Woche meines Lebens. Versuchen Sie mal, sechs Tage auf syranisches Licht, Telefon und Radio zu verzichten. Man fühlt sich, als wäre man Jahrhunderte in die Vergangenheit katapultiert worden.

Und schließlich fiel mir noch Fabiora ein. Fabiora war eine flüchtige Bekanntschaft aus dem Lichtspielhaus, die ich eines Abends mit einer Flasche Perrigot und einer alten Sammy-Lou-Schallplatte in ihrem Zwei-Zimmer-Apartment etwas vertieft hatte. Dieses ›Arrangement‹ war ich so lange aufrecht zu erhalten geneigt, bis sie sich anschickte, unsere Bekanntschaft in eine Richtung zu vertiefen, die mir ganz und gar nicht gefiel. Nach vielen tränenreichen Wutausbrüchen ihrerseits war ich mittlerweile guter Hoffnung, die penetrante Dame endgültig los zu sein – aber man konnte ja nie wissen.

Sie werden also sicher verstehen, warum sich meine Begeisterung ob des unerwarteten Anrufs in Grenzen hielt. Für gewöhnlich erwies sich die Ich-bin-nicht-da-Strategie als recht erfolgreich und so verharrte ich in meinem Sessel und wartete darauf, dass die Person am anderen Ende der Leitung aufgab.

Doch ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht; besser gesagt, die Wirtin. Ich glaube, ich hatte das blöde Teil so an die sieben oder acht Mal klingeln lassen – Garf bedachte mich mittlerweile, in seiner trübsinnigen Ruhe gestört, mit vernichtenden Blicken, war aber selbstredend zu faul, seinen fetten Wanst von der Fensterbank zu bewegen – als ein Stockwerk tiefer plötzlich eine Tür aufgerissen wurde und schrilles, aggressives Gekläff ertönte.

Na toll.

Jetzt hatte ich die alte Schreckschraube mit ihrem Köter am Hals.

Wütende Schritte kamen die Stiege hinauf getrampelt. Sekunden später vernahm ich das herrische, fordernde Klopfen an meiner Zimmertür und von draußen keifte es:

»Herr Lokowitsch, das ist wirklich eine bodenlose Frechheit! Ich weiß genau, dass Sie zu Hause sind, also gehen Sie in Dreidämonsnamen an Ihr Telefon! Das ist Ruhestörung, jawohl! Ich sollte die Polizei rufen! Ganz zu schweigen von der Miete, da sind Sie mit den Raten auch schon wieder im Rückstand!«

Ich weiß nicht, was sie sonst noch zeterte, denn in diesem Moment beschloss ich, dass kein Telefonübel der Welt so schlimm sein konnte wie dieser Hausdrache, und hievte mich ächzend aus dem durchgesessenen Sessel und nahm den Hörer vom Apparat.

»Lokowitsch«, brummte ich in die Muschel, das Schlimmste erwartend. Umso freudiger war meine Überraschung, als sich am anderen Ende eine vertraute, aber gänzlich unerwartete Stimme meldete:

»Lemmy? Ich bin‘s, Sid.«

»Sid!«, rief ich erstaunt, dämpfte aber beim Gedanken an die noch immer vor meiner Tür schimpfende Schabracke sofort die Stimme. »Alte Bauchaufschlitzerin! Seit wann habt ihr denn Telefon in eurem kleinen Zeltlager?«

Sid heißt eigentlich Sidonie und hat seit vierzehn Jahren das zweifelhafte Vergnügen, mit meiner Schwester verheiratet zu sein – wir kennen uns allerdings bereits seit der Oberschule. Die meiste Zeit des Jahres turnt sie durch irgendwelche Krisengebiete und flickt Soldaten der AWR zusammen – und dort wähnte ich sie auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Jedoch:

»Ich bin nicht mehr in Kari«, lautete die überraschende Antwort. »Ich rufe von zu Hause an. Hast du Zeit? So in einer Stunde im Bolgers?«

Meine Augen huschten kurz zur Tür, hinter der meine ungnädige Zimmerwirtin lauerte.

»Ich werde da sein.«

Zur Not würde ich mich an zusammengeknoteten Bettlaken aus dem Fenster hangeln.

Zu solch drastischen Maßnahmen musste ich dann doch nicht greifen. Nachdem ich geraume Zeit vergeblich darauf gewartete hatte, dass die Furie vor meinem Zimmer sich wieder verziehen würde, ergab ich mich in mein Schicksal und beschloss, mich der Konfrontation zu stellen. In meinen Mantel gehüllt, den alten Hut auf dem Kopf und eine noch nicht angezündete Cigarette zwischen den Lippen, öffnete ich die Tür, versuchte mich an einem Lächeln, das recht gequält wirken musste, und versuchte, das hässliche weiße Fellknäuel zu ignorieren, das auf dem üppigen Busen meiner Zimmerwirtin hockte und mir frech ins Gesicht kläffte.

Mein plötzliches Erscheinen auf der Schwelle ließ die gute Frau Blaschnitz verstummen; die wenigen Sekunden der Überraschung beschloss ich auszunutzen. Rasch zog ich die Tür zu, verzichtete aus Zeitgründen darauf, sie abzuschließen, und drückte mich mit dem vagen Hinweis auf eine vielversprechende und geldbringende Story an der fülligen alten Dame vorbei. Das »geldbringend« schien sie glücklicherweise vorläufig zu besänftigen – verständlich, war sie doch die Erste, die davon profitierte, wenn wieder ein bisschen Bares ins Haus kam.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, war ich hinunter ins Erdgeschoss geeilt und aus der Haustür geflüchtet. In der Hektik hatte ich natürlich nicht an einen Schirm gedacht, und so war ich nass bis auf die Haut, als ich wenig später das Bolgers betrat.

Drei Bier, zwei Cigaretten und eine Story

Den Hornstädtern unter Ihnen wird das Bolgers sicherlich ein Begriff sein, spätestens seit der Sache mit der Rankuya damals. Diejenigen, die sich in Hornstadt nicht so gut auskennen, werden zumindest bei dem Wort »Rankuya« aufgehorcht haben. Ja, ganz richtig, die Zwergenmafia. Die einzige halbwegs spannende Sache, die sich in den letzten dreißig Jahren – und wahrscheinlich auch davor, aber das kann ich altersbedingt nicht so gut beurteilen – hier ereignet hat. Und ich lag mit Grippe im Bett.

Kurz und knapp wäre zu sagen, dass Bolger, Inhaber und Wirt des Bolgers, aus irgendeinem Grund ein hohes Tier der Rankuya damals ein wenig, sagen wir, »verärgert« hatte und ihm nun einige ziemlich unangenehme Zeitgenossen ans Leder wollten. Es gab ein kleines Handgemenge, ein wenig Herumgeschieße, und als die Polizei sich schließlich in die Kneipe traute, saßen die vier besagten unangenehmen Zeitgenossen verschnürt wie Postpakete vor dem Tresen, während Bolger in aller Seelenruhe die Glasscherben vom Boden fegte.

Als ich an jenem Abend das Bolgers betrat, lag dieser Zwischenfall allerdings schon mehr als ein Jahr zurück, und die Kneipe hatte sich längst wieder in das stille, heruntergekommene Drecksloch verwandelt, das ich so liebte.

Es war verhältnismäßig leer, aber ich muss zugeben, dass ich auch noch nie zuvor zu solch früher Stunde im Bolgers gewesen war; es war nicht einmal acht Uhr. Drei Männer, die ich flüchtig kannte, deren Namen mir aber entfallen waren, saßen an einem der Tische, rauchten, tranken und spielten Karten. Hinten in der Ecke hockte wie immer der alte Pim, vor sich einen Humpen Bier, und starrte schweigend vor sich hin. Bolger selbst stand hinter dem Tresen, bärbeißig und breit, und unterhielt sich mit zwei Frauen, die vor ihm an der Bar saßen.

Sein Blick streifte mich flüchtig, als ich eintrat, und wir nickten uns wortlos zu. Noch während ich meinen Hut ausschüttelte und den durchnässten Mantel an die Garderobe hängte, hielt der alte Zwerg ein neues Glas unter den Zapfhahn, und so fand ich mich wenig später auf meinem Stammplatz wieder, vor mir ein großes Bier, in der Hand eine Cigarette, und wartete auf Sid.

Ich hatte bereits das zweite Bier zur Hälfte geleert, als sich die Tür öffnete und Sid hereinkam – mit einem Schirm, wohlgemerkt. Sid gehört nicht zu der Sorte Mensch, die sich nass regnen lassen. Sie sah aus wie immer. Graue Stoffhose, weiße Bluse, das rote Haar zu einem ordentlichen Dutt aufgesteckt. Über ihrer Schulter hing der Riemen einer ledernen Aktentasche.

»Du siehst gar nicht gut aus, Lemmy«, sagte sie zur Begrüßung, nachdem sie ihren Mantel an die Garderobe gehängt hatte.

»Immer noch besser als du«, erwiderte ich trocken und musterte die unangenehm gerötete Haut über ihren Wangenknochen, die nun beinahe dieselbe Farbe wie ihre Haare hatte. »Was hast du angestellt, zu heiß geduscht?«

Sid seufzte und gab Bolger mit einem Fingerzeichen zu verstehen, dass sie ebenfalls ein Bier haben wollte.

Dann ließ sie sich mir gegenüber am Tisch nieder, stellte die Aktentasche auf dem Stuhl neben sich ab, zog ihr silbernes Cigarettenetui hervor und zückte die Schachtel mit den Zündhölzern.

»Die Sonneneinstrahlung in Kari ist erheblich stärker als in Gamarien«, dozierte sie und riss eines der Hölzer an. »Das Land liegt näher am Äquator, was einen steileren Einfallswinkel der Sonnenstrahlen zur Folge hat. Zudem ist die Gegend äußerst gebirgig, was wiederum bedeutet …«

»Sag doch einfach, dass du dir nen Sonnenbrand zugezogen hast«, unterbrach ich sie, während Bolger ein Glas Bier vor ihr auf den Tisch stellte. Sid schwieg und zog an ihrer Cigarette, dann trank sie einen großen Schluck.

»So könnte man es auch sagen«, erwiderte sie schließlich. Dann senkte sie die Stimme: »Lemmy, ich wollte dich um etwas bitten …«

Ich hob die Augenbrauen.

»Ist irgendwas mit Mirna? Du weißt, sie hört auf mich noch weniger als auf dich.«

Sid schüttelte den Kopf.

»Es geht nicht um Mirna. Wir hatten ziemliche Schwierigkeiten in Kari. Die Iasham und die El‘Hashar setzen alles daran, die AWR aus dem Land zu treiben.«

»Merkwürdig, woran das bloß liegen könnte?« Ich lächelte spöttisch. Sid zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.

»Lemmy, ich habe dir das doch schon mehrmals erklärt. Ohne die AWR wäre dieses Land schon vollkommen zerstört. Diese Radikalen nehmen keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, sondern tragen ihre Machtspielchen auf dem Rücken der einfachen Leute aus.«

»Und das wird natürlich viel besser, wenn sich noch eine dritte Partei einmischt.« Ich zog die Augenbrauen hoch und setzte mein Glas an die Lippen. Sid warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Die AWR mischt sich nicht in die Kämpfe der Rebellen ein. Sie versucht lediglich, die Zivilbevölkerung vor ihren Übergriffen zu schützen und sie mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe zu versorgen.«

»Jaja, die AWR, die selbstlose Retterin der Armen.« Ich zog gelangweilt an meiner Cigarette. »Das hatten wir doch schon hundertmal. Du sagtest, du wolltest mich um etwas bitten?«

Sid trank einen großen Schluck und nickte. Dann griff sie nach ihrer Aktentasche.

»Ja. Mir ist da was in die Hände gefallen, nachdem die Iasham mitten in der Nacht unser Lager angegriffen haben.«

Sie zog eine Plastikhülle aus ihrer Aktentasche, in der ich einige stark in Mitleidenschaft gezogene Dokumente erkennen konnte. Das Papier war zu großen Teilen angesengt oder völlig verkohlt, sodass sich der ursprüngliche Inhalt nur noch erahnen ließ.

»Will ich wissen, wie dir das ›in die Hände gefallen‹ ist?«, fragte ich skeptisch.

»Die Blätter steckten in einer halb verschmorten Plastikhülle, die ich aus dem Bein eines der Iasham geschnitten habe, die bei dem Angriff verletzt wurden. Feuer, Plastik und menschliche Haut sind eine unschöne Kombination.«

Ich verzog das Gesicht.

»Danke, ich kann es mir vorstellen. Also, was ist das und was soll ich damit machen?«

»Nenn es Intuition oder Eingebung, aber mir kam dieser Angriff seltsam vor.«

»Was meinst du mit seltsam?«

»Sieh mal, diese Rebellen haben zwar unglaublich viel Wut auf alles und jeden und sind durchaus bereit, für ihre Überzeugung zu sterben, aber woran es bei ihnen seit Jahren mangelt, ist Technologie. Sowohl die Iasham als auch die El‘Hashar sind unglaublich schlecht ausgerüstet, da kommen teilweise Waffen zum Einsatz, die hier während des Bürgerkrieges bereits veraltet waren, von altertümlichen Schwertern und Säbeln will ich gar nicht erst sprechen. Ein Großteil der Rebellen kann nicht einmal mit einem normalen Sturmgewehr umgehen.« Sie hielt inne, um an ihrer Cigarette zu ziehen. »Aber was ich in dieser Nacht gesehen habe … Lemmy, die hatten Splittergranaten und Batteriemörser!«

»Du sitzt dem größten Waffenexperten von Hornstadt gegenüber.« Ich bemühte mich nicht einmal, den Sarkasmus in meinen Worten zu verbergen. Sid beugte sich nach vorne und ihre Stimme wurde leise und eindringlich.

»Das ist modernste Waffentechnik, so etwas sollten Leute wie die Iasham gar nicht besitzen!«

»Tja, das scheint denen wohl keiner gesagt zu haben.«

»Lemmy, ich mein‘s ernst. Da ist irgendetwas faul. Und das hier«, sie schob mir die Plastikhülle mit den angesengten Dokumenten zu, »sind offensichtlich die Überreste von Lieferpapieren.«

Ich ließ meinen Blick über die Papiere gleiten. Viel war nicht mehr zu erkennen, aber Sid hatte eindeutig Recht. Die noch lesbaren Teile der Blätter bestanden aus Auflistungen verschiedener Waffen und Munition, so viel verstand ich selbst mit meinem absoluten Laienwissen. Und das Wichtigste:

»Die sind auf Gamarisch verfasst«, stellte ich fest.

»Exakt.« Sid lehnte sich zurück und zog an ihrer Cigarette. »Was bedeutet, das Zeug kommt von hier.«

Ich runzelte die Stirn.

»Eins ist mir nicht ganz klar – warum kommst du damit zu mir? Was sagen deine Vorgesetzten denn dazu?«

Sid zögerte – und ich verstand.

»Nicht dein Ernst – du hast ihnen das hier nicht gezeigt?« Ich tippte mit den Fingern auf die Plastikhülle vor mir.

»Den Oberst haben meine Bedenken, die ich bezüglich der unerwartet modernen Ausrüstung der Iasham geäußert habe, nicht interessiert«, erwiderte Sid. »Daher hielt ich es für unnötig bis unklug, ihm von diesem Fund zu berichten.«

»Du denkst, er steckt da mit drin?«

»Entweder das oder er hält es tatsächlich für irrelevant oder er ist einfach das arrogante Arschloch, für das ich ihn von Anfang an gehalten habe. So oder so – ich hielt es für klüger, meinen Fund erstmal für mich zu behalten.«

Ich musste schmunzeln – wenn Sid jemanden als Arschloch bezeichnete, musste die Person es sich gründlich mit ihr verscherzt haben. Langsam drückte ich meine Cigarette im Aschenbecher aus.

»Verstehe. Du willst also, dass ich mal etwas herumschnüffle, wie die an das Zeug gekommen sind.«

Sid nickte.

»Vielleicht ist es ja sogar eine Story wert«, schlug sie vor.

»Käme mir zumindest nicht ungelegen«, erwiderte ich trocken. »Ich bin mir nicht sicher, wie lange es noch dauert, bis meine Chefin explodiert.« Ich warf noch einen Blick auf die angesengten Lieferpapiere.

»Kann ich die behalten?«

»Klar, wenn es dir weiter hilft.«

»Oh, das tut es, ganz gewiss«, versicherte ich ihr. »Lass mich nur machen ...«

Eine Frage des Blickwinkels

Am nächsten Tag nach einem späten und recht spärlichen Frühstück verwandelte ich mein kleines Mansardenzimmer in ein Recherche-Labor. Bewaffnet mit Pinzette, Fotoapparat, Notizblock und Stift machte ich mich daran, die Überreste der Lieferpapiere genauestens unter die Lupe zu nehmen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. So vorsichtig wie möglich breitete ich die Blätter – oder das, was von ihnen übrig war – auf meinem Schreibtisch aus. Die Papiere waren in sehr unterschiedlichem Zustand; bei manchen waren lediglich die oberen und unteren Ränder abgebrannt, sodass sie nun ein wenig an die selbst gebastelten Schatzkarten erinnerten, mit denen wir als Kinder Piraten gespielt hatten. Das und der waagerecht verlaufende Knick ließen mich schlussfolgern, dass sie einmal in der Mitte gefaltet worden waren. Von anderen Seiten waren lediglich ein paar schwarz verkohlte, knapp handtellergroße Fetzen übrig, bei denen man nur noch erahnen konnte, dass es sich einmal um Papier gehandelt hatte. Während die Vorderseiten der Blätter augenscheinlich maschinell beschrieben worden waren, fand ich bei dreien auf der Rückseite handschriftliche Zeilen. Die Handschrift zu entziffern, erwies sich als unmöglich; zum einen hatte der Verfasser eine so fürchterliche Sauklaue, dass ich ihm eine Karriere als Arzt ans Herz gelegt hätte, zum anderen handelte es sich bei der Schriftsprache offenkundig nicht um Gamarisch. Ich mutmaßte, dass es Karisch war, konnte das aber nicht mit endgültiger Sicherheit sagen. Das Schriftbild ließ mich aber vermuten, dass der Verfasser die Rückseite der Lieferpapiere als Briefpapier genutzt hatte, was zumindest erklärte, warum er die Dokumente beim Angriff auf das Lager der AWR bei sich getragen hatte.

Ich notierte all meine Beobachtungen und Vermutungen auf meinem Notizblock und machte mich dann daran, jedes Stück Papier, auf dem noch Schrift zu erkennen war, von der Vorder- und (sofern sie beschrieben war) Rückseite abzufotografieren.

Dann goss ich mir ein Glas Whisky ein, um über mein weiteres Vorgehen nachzusinnen.

Die handschriftlichen Zeilen beschloss ich, vorerst außen vor zu lassen; um diese zu entziffern, würde ich vermutlich jemanden zu Rate ziehen müssen, der des Karischen mächtig war und noch dazu gut darin, Handschriften zu lesen. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass sich aus dem Inhalt des mutmaßlichen Briefes keinerlei Rückschlüsse auf die Herkunft der Waffen ziehen ließen. Blieb also die eigentliche Lieferliste. Diese bestand allerdings in den noch lesbaren Teilen der Blätter lediglich aus einer Auflistung unterschiedlicher Waffen und Munition, von der ich nur die Hälfte verstand – und die sich Sid sicherlich schon genau angeschaut hatte.

Ich schien in einer Sackgasse zu stecken.

Nachdenklich schwenkte ich das Glas in meiner Hand und starrte auf die bernsteinfarben schimmernde Flüssigkeit.

Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Grübeleien und ließ mich zusammenzucken. Was hatte ich jetzt wieder angestellt?

Unwillig stellte ich mein Glas ab und ging hinüber zu meiner Zimmertür, während ich mir das Hirn zermarterte, was die gute Frau Blaschnitz wohl diesmal auf den Plan gerufen hatte.

Als ich die Tür öffnete, schaute ich allerdings nicht wie erwartet in das wütende Gesicht meiner Vermieterin, sondern hinunter auf einen zehnjährigen, pausbäckigen Jungen mit rotblonden Locken und Sommersprossen im Gesicht.

»Emil!« Erstaunt zog ich die Tür weiter auf. »Ich wusste gar nicht, dass du da bist. Es sind doch noch gar keine Schulferien?«

Emil ist der Enkel von Frau Blaschnitz und was mir an Sympathien für seine Großmutter fehlt, habe ich für ihn im doppelten Maße übrig. Es mag daran liegen, dass ich in ihm ein wenig den kleinen, pummeligen Jungen sehe, der ich selbst in seinem Alter war, jedenfalls habe ich den Knirps seit unserer ersten Begegnung ins Herz geschlossen. Für gewöhnlich verbringt er die Ferien bei seiner Großmutter, da seine Mutter ihn alleine großzieht und zwei Jobs hat, aber wenn ich mich nicht vollkommen im Datum irrte, waren es bis zu den nächsten Schulferien noch ein paar Wochen.

Emil nahm kurz den Lolli aus dem Mund.

»Mama kriegt den Blinddarm raus«, erklärte er. »Bis sie wieder zuhause ist, bleib ich bei Oma.« Er reckte den Kopf und spähte an mir vorbei ins Zimmer. Ich schmunzelte; ich wusste, dass er nach Garf Ausschau hielt.

»Komm rein«, forderte ich ihn auf.

Zufrieden stopfte Emil sich den Lolli wieder in den Mund und schlüpfte an mir vorbei ins Zimmer. Während ich die Tür wieder schloss, war er schon schnurstracks hinüber zum Sofa marschiert.

»Garfilein«, sagte er dabei mit sanftem Singsang in der Stimme. »Garfilein, schau mal, ich bin‘s.«

Garf öffnete träge eines seiner gelben Augen. Als er Emil erblickte, der sich mit dem Gesicht ihm zugewandt aufs Sofa gekniet hatte, gähnte er ausgiebig, streckte seine Glieder und rollte sich dann wie ein verspieltes kleines Kätzchen auf den Rücken. Dabei rieb er seinen Kopf an Emils Schulter.

»Er freut sich, mich zu sehen.« Emil strahlte mich aus seinem sommersprossigen Gesicht an, während er meinen Kater ausgiebig kraulte, was diesem ein wohliges, tiefes Schnurren entlockte.

»Klar, du verwöhnst ihn ja auch immer«, erwiderte ich grinsend. Dann ließ ich mich wieder auf meinem Schreibtischstuhl nieder. Das Whiskyglas schob ich unauffällig hinter die Schreibmaschine.

Emils Augen blieben neugierig an den halb verkohlten Papieren auf meinem Schreibtisch hängen.

»Arbeitest du an einer Story?«, fragte er und nahm vor Aufregung erneut den Lolli aus dem Mund.

Ich brummte zustimmend.

»Ziemlich knifflig diesmal«, erzählte ich. »Die einzige Spur, die ich habe, sind ein paar halb verbrannte Lieferpapiere.«

»Was denn für Lieferpapiere?«

Ich zögerte kurz. Ich bin kein Pädagoge und habe selbst keine Kinder – mein Wissen darüber, welche Themen für welches Alter angemessen sind und welche nicht, ist also mehr als dürftig. Dann kam ich zu dem Schluss, dass ein zehnjähriger Junge vermutlich zumindest über die Existenz von Granaten, Maschinengewehren und anderem Kriegsgerät Bescheid wusste.

»So genau weiß ich das auch nicht«, erwiderte ich. »Zumindest nicht, von wem die Papiere kommen. Aber es stehen auf jeden Fall Waffen und Munition drauf.«

Emil machte große Augen.

»Und jemand hat sie verbrannt, damit du nicht weißt, von wem die Waffen kommen?«, fragte er.

»So ungefähr«, erwiderte ich – die genauen Umstände der Brandschäden waren nun wirklich nicht für zehnjährige Ohren geeignet, das war mir selbst ohne jegliche pädagogische Expertise klar.

»Hm.« Emil steckte den Lolli zurück in den Mund und widmete sich hingebungsvoll wieder Garfs pelzigem Bauch. »Und was willst du jetzt machen?«

»Tja, wenn ich das wüsste«, seufzte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, was ihm ein lautes Knarzen entlockte. Ich wedelte mit der Hand über die schwarzen Papierfetzen auf meinem Schreibtisch. »Vielleicht stand auf den verkohlten Blättern mal etwas, das mir hätte weiterhelfen können, aber die sind komplett unleserlich.«

Ich stockte. Mit einem Mal war eine Erinnerung in meinen Gedanken aufgeploppt, so plötzlich und unvermittelt, wie es eben nur fast vergessene Erinnerungen können.

Ruckartig erhob ich mich und eilte hinüber zu der kleinen Kommode neben der Tür.

»Was ist los?«, nuschelte Emil um seinen Lolli herum. »Hast du etwas herausgefunden?«

»Noch nicht«, erwiderte ich, während ich im Inneren der Kommode herumkramte. »Aber mir ist etwas eingefallen.«

»Was denn?«, bohrte Emil nach.

Ich antwortete nicht sofort; ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte.

Wie bereits erwähnt hatte ich einmal die leidvolle Erfahrung machen müssen, wie es war, eine Woche lang vom Syranidnetz getrennt zu sein; während dieser äußerst ärgerlichen sieben Tage hatte mir eine alte Petroleumlampe gute Dienste geleistet.

Ich stellte die Lampe auf dem kleinen Nierentisch ab und kramte die Schachtel mit den Zündhölzern hervor.

»Ich hab‘ das mal in einem Krimi gelesen«, erklärte ich Emil, während ich den Docht der Lampe entzündete. »Keine Ahnung, ob das tatsächlich funktioniert, aber einen Versuch ist es wert, denke ich.«

Der Docht brannte und ich blies das Zündholz aus.

»Nicht anfassen«, wies ich Emil an und ließ den Glaszylinder der Lampe wieder an seinen Platz gleiten. »Die wird heiß.« Was genau das war, was ich brauchte.

Emil packte Garf um seine dicke Mitte und ließ sich mit ihm auf dem Schoß aufs Sofa plumpsen. Die Tatsache, dass Garf nicht einmal kurz sein Schnurren unterbrach, zeigte mir, wie sehr er den Jungen mochte.

Ich ging hinüber zum Schreibtisch und griff nach der Pinzette. Vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen, nahm ich einen der schwarz verkohlten Papierfetzen, bei dem nicht einmal mehr ersichtlich war, wo oben und wo unten war, und trug ihn hinüber zum Nierentisch. Dann legte ich das Papier auf dem metallenen oberen Teil der Petroleumlampe ab.

»Und jetzt?«, wollte Emil wissen.

»Jetzt warten wir«, erwiderte ich und ließ mich in meinen Sessel sinken. »Und dann finden wir heraus, ob Lesen tatsächlich bildet.«

Wir müssen schon ein recht seltsames Bild abgegeben haben, wie wir dort zu zweit um den Nierentisch herum saßen und wie gebannt auf ein Stückchen verkohltes Papier starrten, das auf einer Petroleumlampe lag, während das einzige vernehmbare Geräusch Garfs kontinuierliches Schnurren war.

Eine Zeitlang schien es, als geschehe nichts, und ich war schon geneigt, die Passage aus dem Krimi, die mir so urplötzlich ins Gedächtnis gekommen war, als lediglich der blühenden Fantasie der Autorin entsprungen abzutun, als –

»Sieh nur!«, rief Emil aufgeregt und deutete auf das verkohlte Papier. Fasziniert starrte ich darauf und es war mir, als klängen in meinem Hinterkopf die Zeilen, die ich vor so vielen Jahren gelesen hatte. Wörter aus Feuer.

Nun, streng genommen waren es keine Wörter, die auf dem schwarzen Papier aufleuchteten, sondern Buchstaben. Oder eher, ein Buchstabe.

»Ein M«, stellte Emil fest und nahm den Lolli aus dem Mund. Seine Augen huschten zwischen mir und dem Fetzen Papier hin und her, der nun langsam Feuer fing und zu verglühen begann.

Rasch sprang ich auf und schnappte mir meinen Notizblock vom Schreibtisch.

»Nicht bloß ein M«, erwiderte ich und beeilte mich, zu skizzieren, was die Hitze der Petroleumlampe enthüllt hatte. »Dahinter ist ein senkrechter Balken oder Strich. Das sieht aus wie ... ein Emblem. Oder ein Logo.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Emil neugierig.

Ich blickte einen Augenblick nachdenklich auf meine Skizze hinunter. Irgendwie kam mir das Emblem vage bekannt vor, doch ich konnte beim besten Willen nicht sagen, woher. Mit einem Seufzer legte ich den Block zur Seite.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Emil.«

»Ein M mit einem senkrechten Balken darunter?«

»Ja, direkt in der Mitte, hinter dem Buchstaben. Sagt dir das irgendwas?«

Sid schwieg für einen Moment am anderen Ende der Telefonleitung.

»So auf Anhieb nicht, nein«, antwortete sie schließlich. »Ich müsste es vermutlich sehen.«

»Ich hab‘s abgezeichnet«, erklärte ich. »Wenn du morgen Zeit hast, kann ich‘s dir zeigen.«

»Das lässt sich bestimmt einrichten«, versprach Sid.

»Gut.« Ich runzelte leicht die Stirn. »Das seltsame ist ... ich habe das Gefühl, ich kenne das Symbol irgendwo her. Ich bekomme es bloß nicht eingeordnet.«

»Vielleicht schaffen wir das ja morgen gemeinsam.«

»Hoffen wir‘s. Eine andere Spur habe ich nämlich derzeit nicht.«

Ich legte den Telefonhörer auf die Gabel und wandte mich um. Nachdem Emil zum Abendessen nach unten gerufen worden war, hatte ich sofort Sid angerufen und ihr von meiner Entdeckung berichtet. Nun zog der köstliche Duft des Blaschnitzschen Abendessens durchs Treppenhaus und unter der Tür hindurch in mein Zimmer, was mein doch recht leerer Magen mit einem bemitleidenswerten Gluckern und Knurren kommentierte. Natürlich hatte Sid Recht – es war am sinnvollsten, wenn wir uns morgen gemeinsam den Kopf darüber zerbrachen, was die Bedeutung des Emblems war, das mein Krimi-Experiment zutage gefördert hatte. Aber irgendwie ließ mir die Sache keine Ruhe.

Ich ging langsam hinüber zum Schreibtisch und griff nach meinem Whiskyglas, das noch immer hinter der Schreibmaschine stand. Dann ließ ich mich mit einem Seufzer in den alten, ausgesessenen Sessel sinken. Aus dem Plattenspieler in der Ecke trällerte Corsina Carpati mit ihrer unvergleichlichen Stimme; ich hatte die Musik auf Zimmerlautstärke herunter gedreht, um einer Konfrontation mit meiner Zimmerwirtin vorzubeugen, die vermutlich ohnehin schon ungehalten genug darüber war, dass ihr Enkel wieder meinem ungebührlichen Einfluss ausgesetzt gewesen war. Garf, der Emils Aufmerksamkeit augenscheinlich schon wieder schmerzlich vermisste, bemühte sich von seinem Lieblingsplatz auf der Fensterbank weg, um sich auf meinem Schoß breitzumachen und sich seine allabendliche Dosis Streicheleinheiten abzuholen. Während ich das Glas in meiner Hand nachdenklich hin und her schwenkte, sann ich über das große M nach, das die Hitze der Petroleumlampe zum Vorschein gebracht hatte.

Nach wie vor wurde ich das Gefühl nicht los, das Emblem schon einmal gesehen zu haben.

Ich nahm die Hand aus Garfs gelbem Fell und griff nach meinem Notizblock; vielleicht war es nicht verkehrt, die altbewährte Methode des kreativen Kritzelns anzuwenden, um meine Gedanken besser sortieren zu können.

»Kari« schrieb ich auf das Blatt und dann malte ich einen Haufen bösartig aussehender Kriegsgeräte. Ich fügte auch eine Karikatur von Sid hinzu, die von grimmig guckenden Iasham umringt war. »Splittergranaten« kritzelte ich weiter unten auf das Blatt und unterstrich das Wort dreimal, ehe ich eine explodierende Granate daneben malte, die eine Unmenge an kleinen, scharfen Splittern in alle Richtungen verteilte. Unter dem Begriff Batteriemörser konnte ich mir nicht wirklich etwas vorstellen, also beließ ich es hier bei dem bloßen Wort und verzichtete auf eine passende Illustration. Dann fügte ich noch den Schriftzug AWR hinzu, umringt von einer Horde Soldaten. Und schließlich malte ich einen nachdenklichen Kreis rund um das große M mit dem senkrechten Balken dahinter, das ich vorhin ganz oben auf die Seite gezeichnet hatte.

Ich nahm den Stift zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Die Beschäftigung für meinen Kiefer verleitete meinen Verdauungstrakt zu der irrigen Annahme, er würde endlich etwas zu tun bekommen, und Garf schreckte irritiert zusammen, als mein Magen erneut ein bedrohliches Gurgeln vernehmen ließ.

Vielleicht sollte ich es für heute einfach gut sein lassen und mich stattdessen darum kümmern, mir etwas Essbares zu besorgen.

Mit einem Seufzer packte ich meinen dicken Kater um seine Mitte und hievte ihn von meinem Schoß herunter.

»Weg mit dir, Dicker«, murmelte ich ihm zu und verfrachtete ihn auf den Boden, ohne auf sein laut protestierendes Raunzen einzugehen.

Nach einem kurzen Blick auf die eher bescheidenen Füllstände von Eisschrank und Vorratsschrank beschloss ich kurzerhand, heute auswärts zu essen – was in meiner derzeitigen finanziellen Lage bedeutete, dass ich mir ein paar labberige Bratkartoffeln gefolgt vom einen oder anderen Glas Bier gegenüber in Rosalies Imbiss genehmigen würde.

Ich griff mir Hut und Mantel, kraulte Garf noch ein letztes Mal am Kopf und verließ mein Zimmer.

Es blieb nicht bei einem Bier und auch nicht bei zwei, und wenn ich ehrlich war, blieb es das bei Rosalie nie. Ob es an Rosalie selbst und ihrer einnehmenden Art lag oder der höchst eigenwilligen Sammlung an kuriosen Gestalten geschuldet war, die von diesem Etablissement regelmäßig angezogen wurden wie Motten von einer Straßenlaterne, jedenfalls kann ich mich nicht entsinnen, dass ich den kleinen Imbiss jemals nüchtern verließ.

So war ich auch diesmal nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen, wie es eigentlich wünschenswert gewesen wäre, als ich zu später Stunde den kurzen aber treppenreichen Heimweg antrat. Ich schaffte es mit einiger Anstrengung, die Haustür zu öffnen und die Treppen hinauf unters Dach zu erklimmen, ohne meine Vermieterin, ihren Köter oder Emil zu wecken, und war mächtig stolz auf mich selbst, als ich endlich die Tür zu meinem Zimmer aufschloss. Leicht schwankend tappte ich schließlich in die Dunkelheit hinter der Türschwelle – und stieß geräuschvoll und schmerzhaft mit meinem Sofatisch zusammen.

Falls der daraus resultierende Lärm noch nicht ausgereicht hatte, Frau Blaschnitz aus ihrem vergeblichen Schönheitsschlaf zu reißen, so tat mein darauffolgendes lautstarkes Fluchen sicherlich das Übrige. Während ich mir noch, einen Haufen unschöner Wörter auf den Lippen, das Schienbein hielt, hörte ich, wie ein Stockwerk tiefer altbekanntes, schrilles Gekläffe ertönte. Hastig schloss ich meine Zimmertür und verhielt mich mucksmäuschenstill. Wenn ich Glück hatte, schob Frau Blaschnitz die nächtliche Lärmbelästigung durch ihren pelzigen Liebling auf ein paar Mäuse in den Wänden oder Trunkenbolde auf der Straße – Hauptsache nicht auf mich.

Ich verharrte einige Minuten regungslos hinter der Tür. Das Kläffen verstummte schließlich und ich meinte, die Stimme meiner Vermieterin zu hören, konnte aber nicht einmal ansatzweise verstehen, was sie sagte.

Dann kehrte wieder Stille ein.

Ich wartete noch einige Augenblicke, nur um sicher zu sein. Erst dann schaltete ich das Deckenlicht ein.

Als das bläuliche Licht so plötzlich das Zimmer durchflutete, blinzelte ich schmerzhaft. Mein unsanfter Zusammenstoß mit dem Nierentisch hatte nicht nur mein Schienbein in Mitleidenschaft gezogen, was – da war ich mir sicher – einen ordentlichen blauen Fleck nach sich ziehen würde, sondern auch das Chaos auf dem Tisch zum Teil zu Boden befördert. Das leere Whiskyglas hatte zu meinem Glück weit genug in der Mitte des Tisches gestanden, sodass es nur gefährlich nah an die Kante gerutscht, aber nicht herunter gefallen war. Dafür hatten sich die Zeitung vom Vortag, mein Notizblock, die Quittung von der Wäscherei und die Dose mit den Pfefferminzbonbons auf dem Boden verteilt.

Ich seufzte verdrießlich und machte mich mit noch immer schmerzendem Schienbein daran, die Sachen zurück auf den Tisch zu räumen. Vielleicht, so dachte ich bei mir, sollte ich den Abend einfach mit einem guten Whisky ausklingen lassen. Ich beschloss, dass es dafür nicht lohnte, ein sauberes Glas zu nehmen, und goss mir stattdessen aus der angebrochenen Flasche in mein benutztes Glas vom Nachmittag ein.

Gerade hatte ich mich in den Sessel fallen lassen und griff nach dem vollen Whiskyglas, um einen großen Schluck zu nehmen, als mein Blick den Notizblock streifte, den ich eben achtlos auf der Tischplatte abgelegt hatte, und mein Arm hielt mitten in der Bewegung inne.

Der Block lag verkehrt herum auf dem Tisch, sodass meine kruden Kritzeleien für mich nun auf dem Kopf standen. Die Splittergranate sah aus wie eine Wolke, aus der Schneeflocken rieselten, Sid und die finster dreinblickenden Iasham hingen kopfüber von der Decke und das große M mit dem Balken dahinter – tja, das war auf einmal kein M mehr, sondern ein W.

In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Der senkrechte Balken hinter dem vermeintlichen M war überhaupt kein Balken, sondern ein T ohne Querstrich (dieser war wohl gemeinsam mit dem Rest des Papiers in Flammen aufgegangen), und somit handelte es sich bei dem Emblem, das mir so bekannt vorgekommen war, um ein W vor einem T.

Das Firmenlogo von Thertes Waffensysteme.

Einige Sekunden war ich so überrascht von meiner plötzlichen Erkenntnis, dass ich nicht imstande war, irgendetwas zu tun. Dann versuchte ich, mir die feurig glühenden Linien auf dem schwarzen Papier ins Gedächtnis zu rufen. Nein, es bestand gar kein Zweifel. Sechs Jahre lang war ich während meines Studiums in Drakenfurth jeden Tag mit der Tram an dem Gebäudekomplex vorbei gekommen, der den Hauptsitz des größten gamarischen Waffenkonzerns beherbergte.

Ein breites, zufriedenes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. Dann rappelte ich mich auf und schwankte hinüber zum Telefon. Rasch wählte ich eine Nummer und wartete ungeduldig, während es in der Leitung gleichmäßig tutete.

Endlich wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen.

»Birschler?«, meldete sich eine vertraute Stimme.

»Was pasiert, wenn man n M auf’n Kopf stellt?«, fragte ich ohne Begrüßung und mit schwerer Zunge.

»Lemmy?«, tönte Sids Stimme aus dem Telefon; sie schien verwirrt. »Weißt du, wie spät es ist?«

Wusste ich nicht.

Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand und stellte fest, dass es beinahe Mitternacht war.

»Kurz vor ssswölf«, erwiderte ich. »Warum? Hassu keine Uhr?« Ich konnte mir ein Glucksen nicht verkneifen.

Am anderen Ende der Leitung hörte ich Sid seufzen.

»Du bist betrunken«, stellte sie fest. »Also, was gibt es?«

»Was pasiert, wenn man n M aufn Kopp stellt?«, wiederholte ich.

»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst …«

»Machs doch einfach mal. Stells dir vor. Ein M. Und dann drehst dus um hunnert-achzich Grad. Was kommt dabei raus?«

»Ein umgedrehtes M?«

»Fast.«

»Lemmy, komm schon, was -«

»Das is doch nich so schwer! Denk doch ma nach! Was fürn Buchstabe sieht aus wien aufm Kopf stehendes M?«

Kurze Stille. Dann -

»Ein W.«

»Röööschtööösch!«

»Ich weiß immer noch nicht, was du eigentlich meinst.«

Ich kämpfte kurz gegen einen aufkeimenden Schluckauf an und konzentrierte mich dann darauf, meiner offensichtlich begriffsstutzigen Schwägerin die Sachlage zu erklären.

»Sid.« Ich sprach betont langsam. »Ein W. Das is kein M mit Strich auf dem verbrannten Papier. Das steht aufm Kopp. Das issn W. Und darunter issn T. Nur der eine Strich is abge...fagglt.«

»Ein W mit einem T, schön. Und weiter?«

Ich stöhnte auf.

»Mööönsch, Sid, bloß weils spät am Abend is, mussu doch den Kopp nich ausschalten! Das is das Logo von Thertes Waffensysteme!«

Stille, diesmal für mehrere Augenblicke. Ich konnte fast hören, wie die Erkenntnis langsam durchsickerte. Ein leiser Hickser entwich meinen Lippen. Schließlich sog Sid hörbar die Luft ein und stieß sie mit einem Laut des ungläubigen Erstaunens wieder aus.

»Thertes!«, wiederholte sie. »Das ist …«

»… ne gans, gans groooße Sache«, fiel ich ihr ins Wort und hickste erneut leise. »Wenn die den Iasham Waffen verkaufen, dann … dann wird das die Story des Jahrhunnerts! Denen werd ich sowas von den A…«

»Ich würde lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen«, dämpfte Sid meinen Eifer. »Gerade bei so einem riesigen Konzern solltest du dir deiner Sache absolut sicher sein und hieb- und stichfeste Beweise haben, ehe du da irgendetwas schreibst.«

»Sid, ich bin kein Anfänger«, erwiderte ich mit leichter Herablassung. »Ich mach den Job -hicks!- schon n paar Jahre.«

»Ja, und bist schon ein paar Mal ziemlich auf die Schnauze gefallen«, erwiderte Sid mit unüberhörbarer Sorge in der Stimme.

»Hey, du wollt… wolltest doch, dass ich der Sache nachgeh! Aber mach dir mal keine Sorgen, ich werd schon nix überstürzen …«

Erste Ermittlungen

Wo beginnt ein Enthüllungsjournalist seine Recherchen, wenn er mehr über eine suspekte, aber äußerst große und äußerst einflussreiche Firma erfahren will? Richtig: im Archiv seines Arbeitgebers.

Ich hatte mich einige Tage nicht mehr in der Redaktion blicken lassen und das aus gutem Grund. Es war schon wieder eine ganze Weile her, dass ich zuletzt einen brauchbaren Artikel abgeliefert hatte, worüber meine Chefin alles andere als erfreut war. Solange man das Problem nicht sieht, ist es nicht vorhanden, pflegte ein Freund von mir einst zu sagen, und getreu diesem Motto hatte ich das Redaktionsgebäude gemieden wie die Katze das Wasser. Nun allerdings sah ich mich mit einer Situation konfrontiert, in der ich ohne fremde Hilfe nicht weiter kam.

Ich biss also in den sauren Apfel und machte mich am nächsten Tag leicht verkatert auf den Weg zum Hornstädter Boten.

Das Redaktionsgebäude ist ein altehrwürdiger, dreigeschossiger Bau in der Innenstadt, direkt am Ufer des Hornbachs. Die Fassade ist mit protzigen Steinmetzarbeiten verziert und die bleiverglasten Doppelfenster erreichen gut und gerne eine Mannslänge. Die hohe Eingangstür, die sechs Treppenstufen tief im Gebäude liegt, ist mit eisernen Ornamenten beschlagen, und es hallt jedes Mal durchs ganze Treppenhaus, wenn sie ins Schloss fällt.

Das Erdgeschoss des Gebäudes besteht aus zwei Mietwohnungen; in der einen lebt eine exzentrische Künstlerin, in der anderen ein pensionierter General und ehemaliger Kämpfer der Volksunion. Im ersten Stock sind die Redaktionsräume angesiedelt und darüber, im Dachgeschoss, liegt das Archiv, das an diesem Morgen mein eigentliches Ziel darstellte.

Allerdings musste ich, wenn ich dorthin wollte, zunächst eines der Antragskärtchen ausfüllen, und die gab es nur bei unserer Empfangsdame.

Vor der Tür zu den Redaktionsräumen hielt ich kurz inne und atmete tief durch. Jetzt galt es. Ich versuchte, eine selbstbewusste Miene aufzusetzen, drückte die Klinke herunter und trat ein.

Obwohl ich lange nicht hier gewesen war, hatte sich nichts geändert. Rechter Hand der kleine Empfangstresen, hinter dem Fräulein Rothschedt mit ihren Argusaugen jeden Besucher musterte, dann der lange Flur, der frontal auf das Büro meiner Chefin zuführte. Auf beiden Seiten waren die Wände des Flures von Glasscheiben durchbrochen; links die mannshohen Fenster, die auf die Straße hinaus gingen, rechts die einfachen Scheiben, durch die man das Großraumbüro hätte sehen können, wären sie nicht von innen durch Jalousien verdeckt gewesen. Auch die Tür, die ins Büro meiner Chefin führte, hatte eine große Glasscheibe, die mit einer Jalousie verhangen war, und ich hoffte inständig, dass meine Anwesenheit dadurch unbemerkt bleiben würde.

»Dass Sie sich hier auch mal wieder blicken lassen.« Fräulein Rothschedt bedachte mich mit einem missbilligenden Blick. Ich machte mir nicht die Mühe, ihr nicht vorhandenes Lächeln zu erwidern, sondern nahm den Hut ab und kam gleich zur Sache.

»Ich brauche ein paar Sachen aus dem Archiv.«

Einige Sekunden starrte sie mich feindselig an, dann schob sie mir ein kleines Pappkärtchen und einen Stift zu.

»Ausgefüllt und unterschrieben an mich zurück.« Ich notierte mein Anliegen, setzte Zeitpunkt und Unterschrift darunter und schob ihr die Karte zurück. Sie musterte sie argwöhnisch, ließ dann aber doch den großen Stempel darauf nieder sausen.

Ich schnappte mir das Kärtchen und wähnte mich schon in Sicherheit, als –

»Lokowitsch!«, ertönte eine tiefe, herrische Stimme vom Ende des Flurs. »In mein Büro! Sofort!«

Verdammt, konnte die Frau mich riechen, oder was? Ich kniff die Augen zusammen und schnitt eine Grimasse. Dann ließ ich die Hand sinken und wandte mich um.

Arna Porritzsch, Chefredakteurin des Hornstädter Boten und damit meine direkte Vorgesetzte, lehnte sich aus ihrem Büro, die eine Hand an der geöffneten Tür, mit der anderen stützte sie sich am Türrahmen ab. Ihr Blick, der alles andere als wohlwollend war, schien mich zu durchbohren, und ich fühlte mich sofort, als sei ich um mindestens drei Zentimeter geschrumpft.

Sie wartete keine Antwort meinerseits ab, sondern verschwand wieder in ihrem dämmrigen Büro, ließ aber die Tür halb offen stehen. Mit schwitzigen Händen ging ich auf den dunklen Türspalt zu.

Es kommt sehr selten vor, dass jemand das Büro von Arna Porritzsch von innen zu sehen bekommt, und wenn es doch geschieht, dann meist aus eher unangenehmen Gründen. Daher ist es wohl nicht verwunderlich, dass dem Durchschreiten der Tür zu diesem Zimmer etwas Unheilvolles anhaftet.

»Machen Sie die Tür hinter sich zu«, tönte es aus dem Dämmerlicht des Büros, kaum dass ich die Schwelle übertreten hatte. Hastig kam ich der Aufforderung nach und wandte mich dann um, das Schlimmste erwartend.

Der Raum war nicht sonderlich groß. Die Jalousien vor den Fenstern waren genau wie die vor der Tür herunter gelassen, und so drang das Tageslicht nur in schmalen waagerechten Streifen in den düsteren Raum. Cigarrenqualm schwängerte die Luft und bildete absonderliche, sich immer wieder verformende Ungeheuer, die träge unter der Decke schwebten. Die Mitte des Büros wurde dominiert durch einen wuchtigen Schreibtisch, hinter dem meine Chefin in ihrem Ledersessel thronte wie die stumme Herrscherin über ein kleines Reich. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Hemdsärmel hoch gerollt, und wie immer einen Cigarrenstummel im Mundwinkel. Unter den kurz geschnittenen grauen Haaren, die in hartem Kontrast zu ihrer dunklen Haut standen, starrten mir ihre Augen finster entgegen und die gestreiften Schatten, die die Jalousien warfen, verliehen ihr etwas Bedrohliches.

»Setzen«, wies sie mich knapp an, und ich sank in den einzigen Stuhl vor dem Schreibtisch. Dann wartete ich mit angehaltenem Atem, dass das Donnerwetter losbrechen würde.

Porritzsch musterte mich einige Augenblicke schweigend und durchdringend, ehe sie den Cigarrenstummel aus dem Mundwinkel nahm, in den Aschenbecher klemmte und erneut ihre tiefe Stimme erhob.

»Ich halte mich für eine sehr geduldige Person.« Ihre Augenbrauen zogen sich merklich zusammen. »Aber Sie schaffen es in regelmäßigen Abständen, meine Geduld auf eine harte Probe zu stellen, Lokowitsch.«

Wieder schwieg sie und ihr Blick bohrte sich in meine Augen. Ich bemühte mich, ruhig zu wirken.

»Sieben Wochen«, fuhr sie schließlich fort. »Sieben Wochen ist es her, dass Sie zum letzten Mal einen brauchbaren Artikel abgeliefert haben. Ich habe Sie unter Vertrag genommen, weil ich der Meinung war, dass Sie das Zeug dazu haben, Lokowitsch, dass Sie gute Arbeit leisten können. Aber Ihre momentane Arbeitshaltung gefällt mir nicht.«

»Gute Stories brauchen eben ihre Zeit«, wagte ich einzuwerfen, bereute es im nächsten Augenblick allerdings sofort. Porritzschs Kopf schien anzuschwellen wie ein Ballon und sie hieb mit der Faust auf den Tisch, dass der Aschenbecher einen kleinen Hüpfer machte.

»Wollen Sie mich verarschen?!«, donnerte sie und ich sank unwillkürlich tiefer in meinen Stuhl. »Wenn Sie keine guten Stories haben, dann schreiben Sie verdammt nochmal schlechte Stories, aber schreiben Sie etwas! Ich glaube langsam, Sie machen sich einen Spaß daraus! Jede Woche bei Redaktionsschluss müssen wir den leeren Platz irgendwie füllen, weil in Ihrer Rubrik wieder nichts zu lesen ist!«

Ich vermied es, auch nur ein weiteres Wort von mir zu geben.

Porritzsch beugte sich über den Tisch zu mir und fixierte mich mit ihren Augen. Sie stützte den rechten Ellenbogen auf der Tischplatte ab und hielt die geballte Faust mit in die Höhe gerecktem Zeigefinger vor mein Gesicht.

»Einen Zwimond gebe ich Ihnen, Lokowitsch«, sagte sie gefährlich leise. »Und wenn ich bis dahin nichts Anständiges von Ihnen auf meinem Tisch liegen habe, finden Sie Ihren Arsch auf der Straße wieder. Kapiert?«

»Kapiert«, murmelte ich.

Porritzsch ließ sich langsam in ihren Sessel zurücksinken und griff nach dem Cigarrenstummel.

»Raus mit Ihnen«, knurrte sie. »Und an die Arbeit!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Hastig erhob ich mich und floh regelrecht aus dem Zimmer. Das Antragskärtchen für das Archiv noch immer in der Hand, lehnte ich mich draußen auf dem Flur erstmal an die Wand und tastete fahrig nach meinem Flachmann, um mir einen ordentlichen Schluck zu genehmigen. Einen Zwimond … Ich tat wirklich gut daran, mich schleunigst an die Arbeit zu machen!

Ohne mich noch einmal umzudrehen, eilte ich aus der Redaktion und hinauf ins Archiv.

Staubige, trockene Luft empfing mich und ich unterdrückte wie immer ein Husten. Leise schloss ich die Tür hinter mir.

Das Archiv ist eine kuriose kleine Welt für sich. Dutzende von Regalen, vollgestopft mit Ordnern und Kartons, durchziehen das Dachgeschoss wie eine winzige Speicherstadt. Jeder noch so winzige Winkel wird von ihnen ausgefüllt, sie quetschen sich unter die Dachschrägen und bilden so ein enges, unüberschaubares Labyrinth aus Holz und Papier. Die Fenster in den wenigen Dachgauben sind zum Schutz gegen die Sonne mit braunem Packpapier beklebt und lassen die schmalen Gassen zwischen den Regalen in dämmrigem Zwielicht zurück. Nur hier und da ist das Papier ein wenig eingerissen und ein einzelner, scharfer Lichtstrahl kämpft sich seinen Weg durch die stumpfe Luft auf den unebenen Holzboden, während tausende Staubpartikel in seinem Schein funkeln und glitzern.

Von diesem dichten Geflecht aus Regalen sieht man aber zunächst recht wenig, denn natürlich gibt es noch eine erhebliche Hürde für jeden, der diese Fundgrube gesammelter journalistischer Werke betreten will.

Hat man die Türschwelle überschritten, kann man einen, vielleicht zwei Schritte nach vorne gehen, dann stößt man unweigerlich gegen einen schlichten, etwas schäbig wirkenden Tisch, auf dem eine altmodische Petroleumlampe, eine mehrschichtige Aktenablage, ein dickes, aufgeschlagenes Buch mit vollgekritzelten Zeilen und die verblichene Sepiafotografie einer streng aussehenden älteren Dame um die Vorherrschaft kämpfen.