Lenas Freundin - Martin S. Burkhardt - E-Book

Lenas Freundin E-Book

Martin S. Burkhardt

4,8

Beschreibung

Die vierjährige Maria kommt durch einen Autounfall ums Leben. Für ihre Eltern Lena und Robert bricht eine Welt zusammen. Lena sucht Trost bei ihrer besten Freundin Theresa, die ihr Fotos des Mannes beschafft, der Maria überfahren hat. Gemeinsam schmieden sie dunkle Pläne. Robert ist zunehmend besorgt. Lena verändert sich stark und findet Gefallen an Vergeltungsfantasien. Als er niedergeschlagen wird und gefesselt im Keller seines eigenen Hauses aufwacht, weiß er, Lena ist zu allem fähig.

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Martin S. Burkhardt

Lenas Freundin

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Coverabbildung: © schlock / photocase.com

Covergestaltung: Matthias Schatz

ISBN 978-3-7349-9234-6

PROLOG

Eine Maske lag auf ihrem Gesicht, durchsichtig und von innen beschlagen. Man konnte kaum ihren Mund erkennen, in dem etwas steckte. Schläuche hingen an einer Seite herunter, in denen sich eine klare Flüssigkeit befand. Ihre Beine waren mit einem breiten, schwarzen Gurt am Bett arretiert worden. Auch ihre Handgelenke wurden von überdimensional wirkenden Klettbändern in Position gehalten. Wahrscheinlich sollte so verhindert werden, dass sie sich drehte. Durch die Metallgitter an den Seiten war es ihr zwar unmöglich, herauszufallen, aber das Bett war breit genug, um darin unkontrolliert hin und her zu rutschen. Bei all den Verkabelungen eine Furcht einflößende Vorstellung. Was würde passieren, wenn sich die Kanülen in den Venen verschoben?

Plötzlich ging ein Zucken durch ihre Muskeln. Kurz schien es, als hätte sie einen starken elektrischen Schlag bekommen. Ein gequältes Hüsteln drang aus ihrem gewaltsam halb offengehaltenen Mund und ließ die Maske noch mehr beschlagen. Sie bäumte sich auf und brachte es tatsächlich fertig, den Kopf ein wenig anzuheben. Das Kopfkissen war an den Rändern feucht und sah seltsam verknittert aus.

Die nächste Hustenattacke kam tief aus ihrem Bauch. Diesmal hörte es sich an, als hätte sie sich verschluckt. Immer wieder spannte sich der eben noch ruhig daliegende Körper an.

Lena ging einen Schritt näher heran und berührte mit den Fingern behutsam ihre Hand, die kalt war und sich rau anfühlte, als gehörte sie zu einer alten Frau.

Die sanfte Berührung schien ihr keinen Trost zu spenden. Im Gegenteil, das Husten mischte sich nun mit einem kehligen Röcheln, als wäre Wasser in ihren Hals gelangt.

Mit dem Fuß stieß Lena gegen einen Ständer. Das silberglänzende Gestell, das auf der gegenüberliegenden Seite zwei längliche Beutel mit Flüssigkeiten hielt, erzitterte.

Dann verfärbte sich die Maske.

Plötzlich tauchten lauter feine rötliche Punkte auf, die sich auf den Plastikschutz legten. Es sah aus, als hätte man Farbe in einen Zerstäuber gefüllt, um die Innenseite damit einzusprühen. Mit jedem neuerlichen Hüsteln wurden es mehr. Bereits nach wenigen Atemzügen war die komplette Maske scharlachrot gefärbt.

Sekunden später öffnete sie die Augen und starrte mit angstverzerrtem Blick an die Zimmerdecke. Lena stieß einen erstickten Schrei aus, doch sie schien ihre Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken. Ein breites Rinnsal bahnte sich den Weg unter der Maske hindurch und lief ihr quer über die Wange. Innerhalb kürzester Zeit wirkte ihr Gesicht, als hätte man mit einem dunklen Lippenstift wahllos verschieden lange Linien gezogen.

Lena schaute sich erschrocken um und drückte auf einen Knopf direkt neben dem Bett. Eine Schwester rannte in das Zimmer, doch Lena bekam davon nichts mit. Für sie gab es nur sie beide.

»Du darfst nicht sterben«, rief sie verzweifelt. »Was soll ich ohne dich machen?«

Ein tiefes Husten ertönte, dann erschlaffte der Körper neben ihr.

1

FREITAG, 6. SEPTEMBER 2013

»Es sieht nicht gut aus.«

Der Arzt, ein kleiner und hagerer Mann, blickte Robert und Lena ernst an. Für Robert wirkte die Situation erschreckend unwirklich. Saß er in diesem Augenblick wirklich hier, in einem karg und lustlos eingerichteten Zimmer des Krankenhauses? Er starrte abwechselnd das schmale Regal und den schmutzig weißen Schreibtisch an. Während Doktor Heubold auf einem ledernen Sessel hockte, saßen Lena und er auf einfachen Holzstühlen, die bei jeder Bewegung Geräusche von sich gaben, als ob sie gleich zusammenbrechen würden. Robert rieb sich die Schläfen.

»Ihre Tochter hat sehr schwere Hirnblutungen erlitten. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt und hoffen, dass sie die Nacht übersteht.«

»Ich möchte Maria sehen.« Lenas Stimme zitterte und sie konnte nur mühsam ihre Tränen unterdrücken.

Der Arzt nickte. »Selbstverständlich, Frau Weinheim. Folgen Sie mir bitte.«

Doktor Heubold stand auf und öffnete die Tür. Erneut befanden sie sich auf dem breiten Flur. Zwei Krankenschwestern bogen in den Korridor ein und grüßten den Doktor flüchtig. Eine Putzfrau wischte den hellen Linoleumboden. Sonst war es ruhig. Die große Digitaluhr über dem Fahrstuhl zeigte 20:25 Uhr an. Kam nicht heute ein Spielfilm im Fernsehen, den er unbedingt hatte aufnehmen wollen? Er schüttelte unmerklich den Kopf. Seltsam, an was für Dinge man dachte, nur um sich abzulenken.

Doktor Heubold schritt vorn durch eine verglaste Doppeltür. Anschließend öffnete er die dritte Tür auf der rechten Seite und trat ein. Lena zögerte einen Moment. Robert legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte. In der Mitte des Zimmers befand sich ein Bett. Daneben waren unzählige Geräte aufgebaut. Auf diversen Monitoren sah Robert verschiedenfarbige Kurven. Ihre Tochter trug einen Kopfverband. Zwei Schläuche führten in ihre Nasenlöcher. Ein weiterer Schlauch ging zu einer Kanüle, die an ihrem Oberarm befestigt war. Lena begann leise zu schluchzen.

»Sie sieht so verloren in diesem riesigen Bett aus«, sagte sie stockend. »Sie ist doch erst vier.«

Robert nickte und blickte seine Tochter lange an. Sie war ein vergnügtes und lebhaftes Kind. Es fiel ihr schwer, für längere Zeit still zu sitzen. Stets musste Maria in Bewegung sein und ihre Energien herauslassen. Selbst im Schlaf war sie oft unruhig. Wenn Maria nachts zu ihm und Lena ins Ehebett kroch, konnte man sicher sein, wegen des ständigen Herumgewühles kein Auge mehr schließen zu können. Es war furchtbar unwirklich, die Kleine regungslos in diesem überdimensionalen Bett zu sehen.

Robert schaute seiner Tochter ins Gesicht und stellte dabei fest, dass er Maria nur lachend in Erinnerung hatte. Selbst jetzt kam es ihm so vor, als ob ihre Mundwinkel sanft nach oben gezogen waren und sie leicht lächelte. Ein schrilles Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Doktor Heubold nahm seinen Pieper in die Hand.

»Oh nein«, stöhnte der Arzt leise. Heubold öffnete die Tür und bedeutete Robert und Lena, den Raum zu verlassen. »Tut mir leid, ein Notfall. Ich verspreche, dass ich Sie auf dem Laufenden halten werde.«

Heubold drehte sich um und rannte den Flur entlang. Robert und Lena schauten ihm nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Lena matt und lehnte sich an die Tür zum Zimmer ihrer Tochter.

Robert seufzte. Auch er fühlte sich merkwürdig fehl am Platz. Immer wieder beschäftigte ihn die Frage, ob es tatsächlich Maria war, die da im Krankenzimmer lag. Vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung? Womöglich lag dort lediglich ein Mädchen, das Maria sehr ähnlich sah? Oder hatte ihn ein böser Traum heimgesucht? Lena und er müssten jetzt eigentlich zu Hause vor dem Fernseher sitzen und Maria sollte friedlich in ihrem Kinderbett schlafen. Womöglich war er auf dem Sofa eingenickt und der grausige Unfall hatte überhaupt nicht stattgefunden?

Aber natürlich wusste Robert es besser. Ihm war klar, dass er nicht träumte. Trotz aller Verbände und Schläuche, hatte er seine Tochter sofort erkannt. Leider war es grausame Realität, dass sie hier auf dem frisch geputzten und glänzenden Flur des Krankenhauses standen und sich furchtbare Sorgen machten. Er zog seine Frau an sich und umarmte sie fest.

2

Einige Augenblicke später hallten erneut Schritte durch den kahlen Gang. Eine der Schwestern kam auf sie zugelaufen. Ihr folgte ein Mann mit abgewetzter Jeans und unordentlich gebügeltem Hemd. Seine wenigen Haare hatte er sorgsam nach hinten gekämmt. Die Schwester lächelte aufmunternd und hielt zwei Kaffeebecher in die Höhe. »Eine kleine Stärkung.«

Robert bedankte sich und nahm einen großen Schluck. Der Kaffee schmeckte lau und wässrig, war aber heiß. Und das tat gut, denn sein Körper hatte eben angefangen, zu zittern. Auf dem Flur war es nicht besonders warm. Zumindest kam es ihm so vor, obwohl sich das drückend schwüle Wetter seit knapp zwei Wochen hielt und die Räume eigentlich aufgeheizt haben müsste. Er schaute Lena an, die keine Anstalten machte, den Becher entgegenzunehmen. Seufzend platzierte die Krankenschwester ihn auf einem Beistelltisch, der neben einer weiteren Tür stand.

»Herr Schütt von der Polizei«, stellte sie den Mann mit dem Faltenhemd vor. »Er hat einige Fragen.«

Der Mann räusperte sich kurz, während die Krankenschwester die drei allein ließ.

»Es tut mir leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist«, sagte Schütt. »Wenigstens kann ich Ihnen berichten, dass der Unfallfahrer geschnappt worden ist. Es gab viele Zeugen, die sich Farbe und Fabrikat des Fahrzeuges gemerkt haben. Einige konnten sich sogar an das komplette Nummernschild erinnern.«

Robert nahm mehrere Schlucke Kaffee. Das Getränk half ihm dabei, sich auf das zu konzentrieren, was ihm der Polizist gerade erzählte.

»Was ist denn bloß passiert?«, fragte er leise. »Ihr Kollege am Telefon hat sich sehr kurz gehalten und von einem Unfall gesprochen. Er hat uns das Krankenhaus mitgeteilt, in das Maria gebracht wurde, und uns gebeten, sofort herzukommen.«

Schütt faltete die Hände und bewegte sich unbehaglich vor und zurück. »Den genauen Unfallhergang haben wir noch nicht rekonstruieren können. Aufgrund zweier Zeugenaussagen wissen wir in etwa, was geschehen ist. Ihre Tochter hat auf dem Bürgersteig vor dem Kindergarten gespielt. Die Straße dort ist verkehrsberuhigt. Trotzdem fuhr ein Auto sehr schnell und kam ins Schlingern.« Schütt machte eine Pause und schaute abwechselnd Lena und Robert an. »Der Fahrer verlor kurzzeitig die Kontrolle über sein Fahrzeug und geriet auf den Bürgersteig. Dabei hat er Ihre Tochter erwischt. Sie wurde mehrere Meter in die Luft geschleudert.«

Lena zuckte zusammen. »Maria war unendlich stolz, endlich in den Kindergarten gehen zu dürfen«, erzählte sie. »Mehr als ein Jahr haben wir auf einen Platz dort warten müssen. Heute stand ein Tagesausflug auf dem Programm. Deshalb sind die Kinder erst spät wiedergekommen. Hätte ich Lena wie immer am frühen Nachmittag abgeholt, wäre sie mit dem Auto nie in Berührung gekommen …«

Robert strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Obwohl der Fahrer den Aufprall bemerkt haben musste, fuhr er davon«, sagte Schütt. »Die sofort alarmierten Polizeifahrzeuge konnten ihn jedoch einige Straßen weiter stoppen. Der Fahrer wurde verhaftet.«

Robert nickte und stellte den leeren Becher auf einen Heizkörper, der bereits so oft angemalt worden war, dass eine zentimeterdicke Farbschicht auf den Lamellen zu erkennen war.

Der Polizist reichte Lena und ihm die Hand. »Ich werde Sie in den nächsten Tagen noch einmal besuchen. Es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen muss.«

Die Schwester tauchte wieder auf und führte die beiden zu einer Sitzgruppe in einem anderen Flügel des Krankenhauses.

»Hier lässt es sich bequemer warten als auf dem Flur«, stellte sie fest.

»Kann ich noch irgendwo einen Kaffee bekommen?«, fragte Robert.

»Normalerweise gibt es Kaffee in meinem Büro. Aber ich habe gleich Dienstschluss. Deswegen ist leider nichts mehr da. Aber der Kiosk im ersten Stock bietet ebenfalls Kaffee an. Ist bis Mitternacht geöffnet.«

Robert bedankte sich und lehnte den Kopf zurück. »Ich komme mir vor wie in einem Albtraum«, stellte er fest und hielt Lenas Hand.

»Doch es ist die grausame Realität«, erwiderte sie müde.

3

Plötzlich fühlte Lena sich schlapp und ausgezehrt. Die ganze Zeit über hatte sie sich gut im Griff gehabt, doch allmählich schwanden ihre Kräfte. Sie wollte es sich nicht erlauben, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken und jegliche Hoffnung aufzugeben. Vielleicht hatte der Arzt Unrecht und Maria würde diese schreckliche Nacht überleben. Mit ein wenig Glück würde sie die folgenden Nächte überleben und sich erholen. Warum sollte das nicht möglich sein? Kinder standen in der Obhut mächtiger Schutzengel. Davon war Lena überzeugt. Gott würde ihre kleine Tochter nicht so schnell aufgeben.

Sie drückte sich gegen die Lehne und schloss die Augen. Die wenigen Geräusche um sie herum verblassten. In Gedanken sah sie die kleine Straße vor dem Kindergarten. Dutzende Male war sie Hand in Hand mit ihrer Tochter auf dem rot gepflasterten Bürgersteig entlanggegangen. Es herrschte nie viel Verkehr. Dort, wo sich der Kindergarten und die Grundschule befanden, verengte sich die ohnehin schmale Straße noch einmal. Mehrere flache Hügel auf der Fahrbahn zwangen die Autofahrer geradezu, ab hier im Schritttempo zu fahren. Wie verantwortungslos musste ein Mensch sein, der an dieser Stelle dennoch nicht den Fuß vom Gas nahm?

Plötzlich regte sich etwas vor dem Kindergarten. Maria kam aus dem Gebäude gestürmt. Das helle Blau ihrer Kindergartentasche leuchtete in der Mittagssonne. Bob der Baumeister und Wendy grinsten darauf um die Wette. Maria betrat den Bürgersteig. Sie hatte es nicht weit bis nach Hause. In den letzten Wochen bestand sie vehement darauf, die Strecke allein zurücklegen zu dürfen, ohne elterliche Begleitung. Obwohl Robert und Lena zu Beginn ein mulmiges Gefühl hatten, entsprachen sie ihrer Bitte. Was sollte schon passieren? Es gab in der Nähe keine Hauptstraße, die Maria überqueren musste, und in den Gärten der umliegenden Einfamilienhäuser werkelte meistens jemand, sodass man keine Angst vor Entführern oder Kinderschändern zu haben brauchte. Jedenfalls nicht übermäßig viel Angst.

Die Perspektive, mit der Lena auf den Kindergarten und ihre Tochter schaute, veränderte sich plötzlich. Es war wie in einem Film, bei dem die Kamera immer stärker auf eine Person hinzoomte. Plötzlich hatte Lena den Eindruck, als würde sie direkt neben ihrer Tochter stehen. Maria drehte den Kopf und starrte ihr traurig und hilflos zugleich in die Augen.

»Mami«, rief sie mit ihrer dünnen, hellen Stimme, »lass es nicht zu!«

»Was soll ich nicht zulassen?«, fragte Lena.

»Lass nicht zu, dass sie ungeschoren davonkommen! Sorge für Gerechtigkeit!«

Lena wollte antworten, als plötzlich ein Motor hinter ihnen laut aufheulte. Unvermittelt sah sie ihre Tochter erneut aus der Vogelperspektive. Das Auto schlingerte. Es fuhr auf den Bürgersteig und prallte gegen Maria. Es gab ein scheußlich knackendes Geräusch und ihre Tochter flog in hohem Bogen über den Wagen.

»Nein!«, schrie Lena panisch.

4

Es war kurz vor elf, als Lena aus dem Schlaf schreckte. Robert beugte sich zu ihr und strich ihr über die feuchten Wangen.

»Du hattest einen schlechten Traum«, sagte er beruhigend.

Sie nickte und versuchte, sich so aufrecht wie möglich hinzusetzen. »Ohne Koffein stehe ich diese Nacht nicht durch.«

»Ich hole mir noch einen riesengroßen Becher Kaffee. Möchtest du ebenfalls einen?«

Lena lächelte erschöpft. »Für mich lieber eine Cola.«

Robert ging zum Treppenhaus. Ein bisschen Bewegung würde ihm jetzt sicher guttun. Der Kiosk war selbst um diese Zeit noch erstaunlich gut frequentiert und es dauerte eine Weile, bis seine Bestellung ausgeführt wurde.

Auf dem Rückweg nahm Robert den Fahrstuhl. Zusammen mit einem finster dreinblickenden Mann ohne jegliche Haare betrat er den verspiegelten Aufzug, der Platz für etliche Menschen oder für zwei geräumige Rollbetten bot. Er dachte an seine Tochter, die still und bleich in ihrem unheimlich riesigen Bett lag und schrecklich hilflos aussah. Und es gab nichts, was er für Maria hätte tun können.

Als sich die Tür zu seinem Stockwerk öffnete, drangen Schreie zu ihm hinüber. Sofort erkannte er die Stimme seiner Frau. Robert rannte den Flur entlang. Lena wälzte sich auf dem Boden umher und stieß hysterische Laute aus. Zwei Schwestern kümmerten sich um sie.

Eine der Frauen erhob sich und eilte auf Robert zu. »Es tut uns furchtbar leid, aber ihre Tochter ist soeben gestorben.«

5

SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2013

Die Sonne schien durch die rostfarbenen Vorhänge, als Robert aufwachte. Er setzte sich auf und hatte zunächst Mühe, sich zu orientieren. Er schaute an sich herunter. Die Kleidung klebte ihm am Körper. Dann fiel sein Blick auf seine Frau, die dicht neben ihm lag. Lena trug ihre Strickjacke noch. Darunter war das gelbe T-Shirt zu erkennen. Robert streichelte ihre Wange. Lenas braune Haare, die an den Spitzen blond gefärbt waren, fielen ihr in die Stirn.

Die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte zurück. Nach der schrecklichen Nachricht waren sie in Doktor Heubolds Büro geleitet worden. Der Arzt hatte ihnen ruhig und sachlich die Umstände erklärt, die schließlich zum Tod ihrer Maria geführt hatten. Anschließend hatte ihnen eine der Schwestern ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und sie waren in ein wartendes Taxi gesetzt worden. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen. Ein speziell ausgebildeter Mitarbeiter stand jederzeit für Trauerfälle zur Verfügung. Allerdings hätte man ihn extra rufen müssen. Robert hatte die Vorstellung, den Mann, womöglich ebenfalls Familienvater, aus dem Bett zu klingeln, damit er halb schlaftrunken seelische Unterstützung bot, eher verstörend gefunden. Auch Lena hatte keinen Wunsch danach verspürt. Dennoch hatte man ihnen die Nummer der entsprechenden Person sowie die Adresse einer kirchlichen Einrichtung mitgegeben.

Robert stand auf. Ihm wurde schwindelig. Er ging aus dem Schlafzimmer, blieb auf dem Flur stehen und horchte. Nichts regte sich. Er öffnete die Tür zum Badezimmer und zog sich aus. Eine ausgiebige Dusche würde hoffentlich die bleierne Schwere aus seinen Knochen vertreiben.

Nachdem Robert ein frisches Hemd angezogen hatte, ging er die Treppe hinunter, durchquerte den unteren Flur und trat in die Küche. Sein Blick fiel auf den Kalender, den es kostenlos in der Apotheke gegeben hatte. Es war ein hässliches, langes Stück Karton mit furchtbaren gezeichneten Motiven. Heute war Samstag. Ihm war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.

Gierig kramte Robert eine Schüssel hervor und füllte Müsli und Milch hinein. Er aß im Stehen und schaute dabei aus dem Fenster.

Ein herzzerreißendes Schluchzen holte ihn aus seinen Gedanken. Robert rannte die Treppe hinauf und musste daran denken, wie sie dieses Haus vor drei Jahren gekauft hatten. Der Hauptgrund für Lena waren die zwei geräumigen Kinderzimmer gewesen. Als seine Frau die Räume gesehen hatte, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte hier unbedingt einziehen wollen. Robert wusste, dass Lena sich mindestens zwei Kinder wünschte.

Er durchquerte den oberen Flur und schaute durch die geöffnete Tür ins Schlafzimmer. Lena war nicht mehr dort. Robert rannte weiter und erreichte Marias Zimmer. Dort, vor Marias unberührtem Kinderbett, kniete Lena und hatte den Kopf in ihren Armen vergraben. Sie zitterte und weinte. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

Robert umarmte seine Frau und zog ihren Körper behutsam an sich. »Lass uns ins andere Kinderzimmer gehen«, sagte er leise und zog sie sanft mit sich. Der Raum gegenüber hatte in den letzten Jahren offiziell als Gästezimmer gedient, obwohl es nicht einmal ein Bett gab. Das alte Liegesofa von Lena und ein ausrangierter Kleiderschrank von Robert waren lange Zeit die einzigen Einrichtungsgegenstände gewesen. Seit zwei Wochen wussten Lena und Robert, dass Lena wieder schwanger war. Noch am selben Tag hatten sie damit begonnen, die alten Möbel rauszuwerfen und das Zimmer neu einzurichten. Lena hatte eine Bordüre gekauft, die lauter spielende Teddybären zeigte. Sie hatten in den letzten Tagen viel Spaß gehabt, als sie die Bären auf die Tapete klebten und im Anschluss daran den Teppich herausrissen und durch flauschige Pelzmatten ersetzten. Robert hoffte, dass sich Lena beim Anblick dieses Zimmers etwas beruhigen würde. Sie betraten den Raum; Lena strich mit den Fingern über die Bordüre und berührte anschließend ihren Bauch. Sie hörte auf zu schluchzen. Robert hielt ihre Schultern fest.

»Zusammen werden wir das durchstehen«, sagte er und gab ihr einen Kuss.

6

MONTAG, 09. SEPTEMBER 2013

Um kurz nach 8 Uhr rief Robert in der Firma an. Er war Leiter der Speditionsabteilung bei einem Unternehmen für Unterhaltungselektronik. Er wählte die Nummer seines Kollegen und Freundes André. André war für die Buchhaltung zuständig und stand in der Hierarchie über Robert. Sie hatten sich vor über zehn Jahren in der Berufsschule kennengelernt. André war es, der Robert damals auf die freie Stelle in der Firma aufmerksam gemacht und ihn ermuntert hatte, sich zu bewerben. In den folgenden Jahren war zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entstanden. Jede Menge gemeinsam verbrachter Feierabende und Wochenenden hatten dazu beigetragen. André war Roberts Trauzeuge. Er hatte Robert seinerzeit auf die Party mitgenommen, bei der es zwischen Lena und ihm gefunkt hatte.

Robert erzählte ihm von dem tragischen Unfall und konnte beinahe durchs Telefon spüren, wie André kreidebleich wurde. Er bat André, der Geschäftsführung auszurichten, dass er die gesamte Woche Urlaub nehmen würde.

Lena blieb den ganzen Morgen über im Bett. Robert brachte ihr das Frühstück hoch und schaute im Laufe des Vormittags mehrmals nach ihr. Als er Eier für das Mittagessen in der Pfanne briet, stand sie plötzlich in der Küche. Er drehte sich um und lächelte ihr zu. »Es gibt heute Spiegeleier mit Speck.«

»Fein.«

Robert zögerte einen Moment. »Wie geht es dir?«

Eine tiefe Falte erschien auf ihrer Stirn. »Meine kleine Tochter ist tot. Wie soll es mir da gehen?«, fragte Lena spitz.

Robert schluckte schwer und wandte sich ab.

Lena stöhnte, kam auf ihn zu und berührte ihn sanft an der Schulter. »Tut mir leid. Ich weiß, so war deine Frage nicht gemeint.«

»Auch ich bin traurig«, stellte Robert fest, während er die Eier verrührte.

Lena nickte. »Ja. Traurig. Ich bin unendlich traurig. Und die Leere in meinem Körper frisst mich fast auf.« Sie zögerte und schaute Robert in die Augen. »Aber ich merke auch, dass ich allmählich immer wütender werde.«

»Wir dürfen uns nicht einigeln«, sagte Robert. »Ich habe vorhin mit André gesprochen und es tat gut, über all das zu reden.«

»Meine Mutter ist ebenfalls total fertig«, bemerkte Lena.

Robert schüttelte den Kopf. »Vielleicht kann ein Freund oder eine Freundin mehr Trost spenden als die eigenen Familienmitglieder.«

»Du meinst Theresa?«

»Zum Beispiel.«

»Ich werde gleich nach dem Essen mit ihr sprechen«, sagte Lena.

»Das ist eine wunderbare Idee.«

Theresa war Lenas beste Freundin. Die beiden kannten sich seit den gemeinsamen Grundschultagen. Sie sprachen über alles und vertrauten sich blind. Robert war überzeugt, dass Lena ihn nie und nimmer geheiratet hätte, wenn Theresa irgendwelche Zweifel gehegt hätte. Seit Theresa vor ein paar Jahren nach Bielefeld gezogen war, sahen sich die Freundinnen nur noch selten, doch ihrer engen Freundschaft tat das keinen Abbruch. Theresa war jetzt genau die Person, die Lena brauchte.

7

Lena schlich nach dem Essen zurück ins Bett und fühlte sich zumindest körperlich ein wenig besser. Die Spiegeleier hatten gutgetan. Sie schüttelte das Kopfkissen auf und deckte sich zu. War es richtig gewesen, Robert von ihrer Wut zu erzählen? Sie hatte vorhin wieder einen merkwürdigen Traum gehabt. Maria hatte plötzlich vor dem Ehebett gestanden. Sie hatte mit großen Augen durchs Zimmer geschaut. Lena hatte sich bewegen, aufspringen wollen, aber sie hatte sich nicht rühren können. Es war, als wären ihre Muskeln erschlafft gewesen. Maria war einen Schritt auf das Bett zugekommen und hatte ihren kleinen Kopf geschüttelt. Die dunkelbraunen Locken waren ihr ums Gesicht geflogen.

»Lass es nicht zu«, hatte sie mit ernster Stimme gesagt. »Lass diese Ungerechtigkeit nicht zu!«

Lena hatte antworten wollen, doch kein Ton war über ihre Lippen gekommen. Im nächsten Moment war Maria verschwunden gewesen.

Was meinte ihre Tochter bloß mit Ungerechtigkeit? Kannte sie dieses Wort überhaupt schon?

Der Speck lag ihr schwer im Magen und Lena musste mehrere Male aufstoßen. Ungerecht war, dass irgend so ein Schlappschwanz mit wahnwitziger Geschwindigkeit über die Straße hatte donnern müssen. Maria hatte keine Chance gehabt. Es war wohl nur natürlich, dass Lena unsagbar wütend auf dieses Schwein war. Sie wusste, dass ihre Gefühle Achterbahn fuhren. Wenn sie nicht gerade um ihre Tochter trauerte, drehten sich ihre Gedanken um den Unfallfahrer. Dann zitterte sie vor hilfloser Wut. Und im nächsten Moment kam die Trauer mit voller Wucht zurück. So wechselten ihre Gefühle ständig zwischen diesen beiden Empfindungen hin und her. Konnte Robert das verstehen? Lena seufzte und schloss die Augen. Nein, sie glaubte nicht, dass er das verstand. Aber sein Vorschlag, mit Theresa zu sprechen, war natürlich hervorragend. Warum war ihr das bisher nicht eingefallen? Sie würde ihre Freundin gleich nach dem Mittagsschlaf anrufen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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