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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Liebesromanen interessiert. Vor sich hin brummend, stieg der Mann die langen Treppen des großen Mietshauses empor. Du lieber Himmel, wo bekamen die Menschen, die hier im vierten Stock wohnten, bloß die Puste her, um diese unbequemen, ausgetretenen Stiegen tagtäglich erklimmen zu können! Die mußten ja Lungen wie die Rennpferde und Herzen wie die Büffel haben. Endlich war das schwere Werk geschafft, und der Mann stand erst einmal still, um zu verschnaufen. Indes ließ er seine Augen, die blauleuchtend unter buschigen, weißen Brauen lagen, über die vier Türen schweifen, die diese Etage aufwies – zwei geradeaus, eine rechts, eine links. Namen waren daran vermerkt, fast ein Dutzend an der Zahl. Größtenteils waren es Visitenkarten, bescheiden mit Reißzwecken an das braune Holz geheftet. Und auf solch einer Karte stand auch der Name, den er suchte. »Na, denn man zu!« brummte er verdrießlich, drückte den Finger auf den Klingelknopf und zuckte zusammen bei dem durchdringenden Ton, der die Stille zerriß. Unbehaglich starrte er auf die braune Tür, die sich bald darauf öffnete. Vor ihm stand eine hagere, grobknochige Person mit einem verkniffenen Mund. Neugierig musterten ihn die Augen hinter scharfen Brillengläsern. »Sie wünschen?« fragte eine unangenehm krächzende Stimme kurzangebunden. Und ebenso erfolgte die Antwort: »Fräulein Berledes zu sprechen.« »In welcher Angelegenheit?« »Das geht Sie nichts an, verehrte Dame!« »Mein Herr, ich muß doch sehr bitten …!« »Und ich auch«
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Vor sich hin brummend, stieg der Mann die langen Treppen des großen Mietshauses empor. Du lieber Himmel, wo bekamen die Menschen, die hier im vierten Stock wohnten, bloß die Puste her, um diese unbequemen, ausgetretenen Stiegen tagtäglich erklimmen zu können! Die mußten ja Lungen wie die Rennpferde und Herzen wie die Büffel haben.
Endlich war das schwere Werk geschafft, und der Mann stand erst einmal still, um zu verschnaufen. Indes ließ er seine Augen, die blauleuchtend unter buschigen, weißen Brauen lagen, über die vier Türen schweifen, die diese Etage aufwies – zwei geradeaus, eine rechts, eine links. Namen waren daran vermerkt, fast ein Dutzend an der Zahl. Größtenteils waren es Visitenkarten, bescheiden mit Reißzwecken an das braune Holz geheftet. Und auf solch einer Karte stand auch der Name, den er suchte.
»Na, denn man zu!« brummte er verdrießlich, drückte den Finger auf den Klingelknopf und zuckte zusammen bei dem durchdringenden Ton, der die Stille zerriß.
Unbehaglich starrte er auf die braune Tür, die sich bald darauf öffnete. Vor ihm stand eine hagere, grobknochige Person mit einem verkniffenen Mund. Neugierig musterten ihn die Augen hinter scharfen Brillengläsern.
»Sie wünschen?« fragte eine unangenehm krächzende Stimme kurzangebunden.
Und ebenso erfolgte die Antwort: »Fräulein Berledes zu sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das geht Sie nichts an, verehrte Dame!«
»Mein Herr, ich muß doch sehr bitten …!«
»Und ich auch«, unterbrach er sie schroff. »Ich bin es nicht gewohnt, meine Angelegenheiten auf neugierige Nasen zu binden. Ist Fräulein Berledes nun anwesend oder nicht?«
Dieser Ton schüchterte die impertinente Laura Pfefferkorn denn doch ein. Es klang beinahe höflich, als sie jetzt sagte: »Das Fräulein ist eben aus dem Krankenhaus gekommen und daher sehr elend. Ich weiß nicht, ob ich Sie vorlassen darf, mein Herr.«
»Bei mir als Vormund der jungen Dame können Sie es ruhig tun.«
Nun war Laura Pfefferkorn doch überrascht. In ihren Augen brannte die Neugierde, die sie jedoch wohlweislich unterdrückte, weil sie nun ihrerseits der Ansicht war, daß mit diesem Herrenmenschen nicht gut Kirschen essen wäre. Sie bat ihn, näherzutreten und öffnete dann eine Tür, steckte den Kopf durch den Spalt und krächzte: »Fräulein, ein Herr möchte Sie sprechen. Er gibt an, Ihr Vormund zu sein. Kann das stimmen?«
»Und wie das stimmt!« schob der Mann sie energisch zur Seite und betrat einen dürftig möblierten Raum, in dem ein junges Mädchen angekleidet auf dem Bett lag, nun hastig aufsprang und vor dem Eindringling stand. Doch ehe sie etwas sagen konnte, sprach er bereits, während er der vor Neugierde fast platzenden Laura Pfefferkorn die Tür vor der spitzen Nase zuschlug: »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so formlos hier eindringe. Aber anders wäre ich bei dem Zerberus da draußen nicht vorangekommen! Aber setz dich ja rasch hin, mein Kind. Du siehst mir nämlich so aus, als ob du gleich vor Schwäche zusammensinken müßtest.«
Damit drückte er sie in den alten Sessel aus Weidengeflecht, der wie unwillig ächzte, und nahm dann selbst auf einem Stuhl so vorsichtig Platz, als hieße es, sich in Nesseln zu setzen.
Denn der Hüne mit dem robusten Knochenbau wog immerhin seine guten zwei Zentner bei einer Größe von 1,85. Und in dieser dürftigen Bude war alles wackelig und morsch.
Doch der Stuhl hielt, und der Mann sah zu dem Mädchen hin, das ihn unfreundlich musterte.
»Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich so ohne weiteres zu duzen?« fragte es ungehalten, was den Mann jedoch nicht zu beeindrucken schien.
»Na, man immer hübsch friedlich, Kindchen!« meinte er nachsichtig. »Mit falschem Stolz, Trotz oder anderen Mätzchen imponierst du mir gar nicht. Ich vertrete als dein jetziger Vormund Vaterstelle an dir, und da wäre es ja lächerlich, wollte ich dich siezen. Zu deiner Orientierung: Ich heiße Onkel Philipp, merke dir das bitte. Warum hast du auf meinen Brief nicht geantwortet?«
»Weil ich im Krankenhaus lag, als er hier eintraf«, entgegnete sie immer noch abweisend. »Ich fand ihn heute bei meiner Rückkehr erst vor.«
»Nun, dann hast du ja darin lesen können, daß man mich zu deinem Vormund bestimmte. Ist es dir bekannt, daß man mir kurz nach dem Tode meines Sohnes einen Brief von ihm zustellte?«
»Ja. Ich fand ihn in seinem Nachlaß und schickte ihn ab. Hat mein Stiefvater Sie etwa in dem Schreiben gebeten, mein Vormund zu werden?«
»Ganz recht. Es war ein langer, sehr ausführlicher Brief, der mich genau über alles orientierte – auch darüber, daß mein Sohn deine Mutter und somit auch dich durch seinen Leichtsinn an den Bettelstab brachte – und daß du zuletzt gar deinen Stiefvater mit deinem kleinen Stenotypistinnengehalt mit unterhieltest …«
»Bitte, Herr Hadebrecht …«
»Onkel Philipp, wenn ich bitten darf.«
»Aber ich kann doch einen Menschen, den ich zum ersten Mal sehe, nicht gleich duzen!« begehrte sie auf, doch er winkte gemütlich ab.
»Warum denn nicht? Ich kann es ja auch.«
Da gab sie es auf. War ja viel zu müde und matt, um sich gegen den Willen dieses Hünen aufzulehnen, der starr wie ein Fels zu sein schien.
»Na schön – dann Onkel Philipp«, resignierte sie. »Es ist ja auch alles egal. Was ich für meinen Stiefvater tat, geht niemand etwas an, will ich meinen.«
»Oho, mein Kind, und wie mich das etwas angeht!« grollte sein Baß jetzt auf. »Alles geht mich an, was dich betrifft. Auch daß du noch das Letzte für deinen leichtsinnigen Stiefvater hingabst – nämlich die kleine Wohnung, die dir noch geblieben war. Die verkauftest du einem jungen Ehepaar, um dem Toten ein anständiges Begräbnis geben zu können. Du selbst krochst dann in dieser scheußlichen Bude unter und aßest dich nicht satt, weil du schon seit zwei Monaten arbeitslos bist und weil die Arbeitslosenunterstützung zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig ist, wie man so sagt. Kein Wunder, daß du nach alledem zusammenbrachst und ins Krankenhaus gebracht werden mußtest …«
»Woher weißt du denn das alles?« lachte sie nervös dazwischen. »Das kann dir dein Sohn doch unmöglich auch noch geschrieben haben.«
»Natürlich nicht. Denn bei den letzten Geschehnissen war er ja bereits tot. Aber man kann ja Erkundigungen einziehen, nicht wahr? Und nachdem das nun alles bestens geklärt ist, werde ich als Vormund mit meiner ersten Amtshandlung beginnen. Also: Du packst sofort deine Koffer und kommst mit mir in mein Haus, das fortan deine Heimat sein soll.«
Nach diesen äußerst energischen Worten war es zuerst einmal still.
Dann fragte das Mädchen spöttisch: »Und was soll ich da – etwa das Gnadenbrot essen?«
»Mein liebes Kind, den Ton wollen wir erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen!« entgegnete der Mann zwar ruhig, doch blitzte es in seinen Augen gefährlich auf. »Vergiß bitte nicht, daß ich als dein Vormund gewisse Erziehungsberechtigung über dich habe und Verantwortung zugleich. Also kann ich nicht dulden, daß du nach dem Nervenfieber – ja, sieh mich nur so groß an, ich weiß auch davon – in dieser scheußlichen Bude bleibst und so elend, wie du bist, womöglich die Jagd nach einer Arbeitsstelle beginnst. Um überhaupt arbeiten zu können, brauchst du zuerst einmal Pflege, die dir in meinem Hause zuteilwerden wird. Wenn du dann wieder auf der Höhe bist, werde ich dir zu einem Posten verhelfen – und zwar in meinem Betrieb – wo kein windiger Abteilungsleiter dich an die frische Luft setzen wird, weil du ihn bei seinen Belästigungen gehörig in die Schranken wiesest …«
Jetzt mußte er über ihr verblüfftes Gesicht lachen.
»Ja, ja, Kleine! Wie du siehst, bin ich über dich vollkommen im Bilde. Ich mußte mich doch schließlich vergewissern, über welch ein Persönchen ich, die Vormundschaft übernehmen sollte. Und nun Schluß mit der Debatte! Und keine Widerrede, bitte ich mir aus. Pack deine Sachen, damit wir abfahren und noch vor Dunkelwerden nach Hause kommen können.«
Silje Berledes hätte sonst wohl nicht so ohne weiteres über sich bestimmen lassen – denn sie besaß eine ziemliche Portion Eigenwillen und vor allem einen stark ausgeprägten Stolz. Aber jetzt war sie durch die schwere Krankheit so sehr geschwächt, daß sie einfach nicht die Kraft hatte, sich einem so starken Willen widersetzen zu können.
»So sei es …«, fügte sie sich gottergeben. »Ich komm ja jetzt doch nicht gegen dich auf. Dafür fühle ich mich zu elend.«
»Nur gut, daß du das endlich einsiehst, mein Kind! Am besten ist, du packst jetzt einen Koffer mit dem Notwendigsten, alles andere kann deine Wirtin dir nachschicken. Oder traust du ihr nicht?«
»Nein. Ich besitze zwar nicht viel, aber darunter doch einiges, woran ich hänge. Und das möchte ich nicht auch noch verlieren.«
Müde erhob sie sich und trat an den Schrank, der so wurmstichig war, daß er in nächster Zeit wohl zusammenbrechen würde. Auf der Holzstange hingen fein säuberlich über Bügel getan einige Kleider, und oben auf dem Brett lag ein Hut.
Aber danach griff Silje jetzt nicht. Sie holte vom Boden ein unförmiges Etwas hervor, legte es auf den Tisch und mußte nun doch über das verdutzte Gesicht des Mannes lachen.
»Hierin befindet sich eben das, woran mein Herz noch hängt«, erklärte sie. »Ich habe es in eine Decke genäht, um es vor neugierigen Augen – und Habgier zu schützen.«
»Raffiniert getarnt«, schmunzelte er. »Darf man fragen, was in dem Monstrum steckt?«
»Die Geige von meinem – Paps …«
Weiter ging es nicht, die Stimme brach.
Hastig wandte Silje sich ab, zog zwei Koffer unterm Bett hervor und begann zu packen. Das fiel ihr nicht leicht. Sie mußte immer wieder einhalten, um sich auszuruhen.
»Bitte, Onkel Philipp«, sagte sie zuletzt schon ganz nervös. »Fahre heute allein, ich komme morgen nach.«
»Darauf werde ich mich nun nicht verlassen«, versetzte er trocken. »Da fasse ich mich lieber in etwas Geduld, bis du fertig bist.«
»Du traust mir also nicht?«
»Nein.«
Da wandte sie sich brüsk ab und packte weiter. Zwei Bilder legte sie vorläufig zur Seite, auf die jetzt Hadebrechts Blick fiel. Das eine Bild zeigte ein klares, reines Frauenantlitz mit Madonnenaugen, das zweite ein Männerantlitz von bildhafter Schönheit. Was kostet die Welt? – schien der lachende Mund zu fragen. Ich kaufe sie und lege sie der Schönsten zu Füßen.
»Deine Mutter?« fragte der Mann, auf das erste Bild zeigend.
»Ja …«, kam es knapp zurück. Sie schloß die beiden Koffer und fühlte sich so matt, daß sie sich in den Korbsessel fallen lassen mußte, bevor sie noch umsank. Das Gesicht war todblaß, die geschlossenen Lider zuckten, der Atem ging rasch und schwer.
»Mach um Himmels willen jetzt nicht schlapp!« drang eine grollende Männerstimme an ihr Ohr. »Hast du heute überhaupt schon was gegessen?«
»Doch, morgens im Krankenhaus«, kam die Antwort müde, und er brummte: »Wird schon was Rechtes gewesen sein! Mit dir in ein Lokal zu gehen, wage ich deiner miserablen Verfassung wegen nicht. Also werde ich für einen Imbiß sorgen …«
»Bitte nicht!« unterbrach sie ihn hastig. »Ich habe wirklich keinen Hunger.«
»Natürlich nicht, wenn man die Absicht hat, sich als Hungerkünstlerin auszubilden. Mädchen, Mädchen, ich komm mir beinahe so vor, wie von unserem Herrgott persönlich zu dir geschickt. Rühre dich ja nicht von der Stelle, bis ich zurückkehre!«
Damit ging er, und Silje duselte erschöpft vor sich hin.
Erschrocken fuhr sie auf, als Laura Pfefferkorn vor ihr stand.
»Ach, Sie haben bereits gepackt, Fräulein«, bemerkte sie hämisch. »Da ist es ja gut, daß ich die Rechnung schon geschrieben habe. Sie bezahlen natürlich die Miete nicht nur für den angebrochenen Monat, sondern auch für den nächsten …«
»Und möglichst für das ganze Jahrzehnt«, ironisierte eine Stimme hinter ihr, die sie wie gestochen herumfahren ließ. Da sie mit dem Rücken nach der geöffneten Tür stand, hatte sie nicht gemerkt, daß Hadebrecht eingetreten war.
Nun sah sie ihn fassungslos an, und er lachte.
»Ja, ja, meine geehrte Pfefferkörnin, es wird einem leicht ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Miete für den angebrochenen Monat November sei Ihnen zugebilligt, aber zum nächsten müssen Sie sich schon einen neuen Mieter für dieses komfortable Gemach suchen. Wieviel Zins erheben Sie denn monatlich dafür?«
»Fünfundzwanzig Mark«, entgegnete Silje statt der verdatterten Laura, während sie das Geld hastig auf den Tisch zählte. Und siehe da, die ehrsame Jungfrau Pfefferkorn raffte die Scheine zusammen und entfloh.
»Na also …«, schmunzelte der Mann hinter ihr her. »Man muß mit solchen Leuten nur patent reden, dann weicht ihre Unverschämtheit der Feigheit. Hättest du kleines Schaf ohne mein Dazwischenkommen wirklich den Wucherzins gezahlt?«
»Wahrscheinlich. Können wir jetzt aufbrechen?«
»Noch nicht, erst wirst du etwas essen. Der Chauffeur wird gleich mit einem Imbiß erscheinen.«
Und tatsächlich trat der Mann schon wenig später ein, gefolgt von Laura Pfefferkorn, die zuerst nach Luft schnappte und dann giftig loslegte: »Dieser Mann ist einfach ein Flegel!«
»Ungefähr so wie ich, nicht wahr?« warf Hadebrecht augenzwinkernd dazwischen. »Aber es kann ja nicht jeder den Anstand mit Löffeln gegessen haben. Und nun verfügen Sie sich, das Zimmer ist nämlich bis Ultimo bezahlt.«
Wutentbrannt zog Laurachen ab, und der Chauffeur lachte über das ganze Gesicht.
»Solche Kreuzspinnen habe ich gern. Sie wollte mir nämlich den Eintritt verwehren. Und ich mußte schon Gewalt anwenden – wenn auch immerhin noch sanfte.«
Damit stellte er ein papierumhülltes etwas auf den Tisch, zog aus einer Tasche eine Flasche Wein, aus der anderen ein Glas und nahm dann Haltung an.
»Befehl ausgeführt, Herr Hadebrecht!«
»Danke, Schorlep. Nehmen Sie die beiden Koffer und verstauen Sie sie im Wagen. Dann warten Sie unten.«
»Und dieses Monstrum auf dem Tisch?«
»Das bringe ich!«
Spielend hob der untersetzte Mann in der schlichten Chauffeurlivree die bestimmt nicht leichten Koffer hoch, entfernte sich, und sein Herr nahm vorsichtig das Papier von dem Gegenstand, der sich dann als ein Pappteller mit Gabelbissen entpuppte. Dann nahm er die Flasche, in welcher der Pfropfen nur lose steckte, füllte das Glas mit dem schweren, süßen Wein, schob es Silje hin, die wie teilnahmslos dasaß, und ermunterte: »So, mein Kind, wohl bekomms! Du sollst mal sehen, wie dir dieser Trank auf die Beinchen hilft!«
Schweigend gehorchte Silje. Wie Feuer brannte es hinterher in ihrem leeren Magen. Das erschreckend bleiche Gesicht bekam langsam Farbe, ein zaghaftes Lächeln stahl sich um ihren Mund. Und als sie erst von den delikaten Bissen geschmeckt hatte, kam der Appetit. Es blieb kaum etwas auf dem Pappteller zurück.
»Besser?« forschte ihr Gegenüber.
»Ja, danke.«
»Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Nun leere noch einmal das Glas, dann wirst du sehen, wie rosig dir plötzlich die Welt erscheint.«
Silje tat’s, und siehe da, sie fühlte sich wie von leichten Wolken getragen. Halb berauscht tat sie alles, was ihr Vormund von ihr verlangte. Ließ sich ohne Widerrede unten in den Fond des Autos betten, fürsorglich zudecken – und schlief gleich darauf vor Erschöpfung ein.
*
Silje Berledes schlief noch immer tief und fest, als der schwere Wagen hielt. Wenn sie nicht so elend und schwach gewesen wäre, hätte sie sich selbst die Sorglosigkeit, mit der sie sich sozusagen entführen ließ, nicht verziehen. Aber jetzt war ihr alles gleichgültig, völlig gleichgültig. Nur schlafen dürfen, auslöschen all das, was ihr noch nicht einmal ganz neunzehnjähriges Dasein bedrückte!
Und das war gewiß nicht wenig. Früher, ja, da war alles licht und hell in ihrem Leben gewesen. Als einziges Kind ihrer Eltern wuchs sie sorglos auf. Wohnte in einer schmucken Villa, bekam alles das, was ihr kleines Herz nur begehrte. Vermißte nur ab und zu den Vater, der als Inhaber eines großen, gutgehenden Geschäftes viel unterwegs war. Und kam er nach Hause, hatte er kaum Zeit für Weib und Kind. Sie spielten in seinem Leben eine Nebenrolle, zuerst kam für ihn sein Unternehmen. Dafür hetzte und jagte er, gönnte sich kaum eine Stunde Ruhe, bis dann kam, was bei so einem gehetzten Leben kommen mußte: Der noch nicht Fünfzigjährige erlag einem Herzschlag.
Dieser plötzliche Tod berührte die Gattin nicht allzusehr. Denn erstens hatte sie ihren Mann, der zwanzig Jahre mehr zählte als sie, nicht aus Liebe geheiratet – und dann war er ihr durch seine fast dauernde Abwesenheit beinahe fremd geworden.
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie sehr darunter gelitten, doch langsam resignierte sie. Ihr ganzes Glück war ihr Kind, die bildhübsche, sonnige Silje.
Bis Frau Rena zwei Jahre nach dem Tod des Gatten den Geiger Thomas Brecht kennenlernte – da gab es noch ein anderes Glück für sie. Der leichtentflammte Künstler verliebte sich sozusagen Hals über Kopf in die Witwe, war von ihrer Madonnenschönheit wie berauscht. Und da auch ihr Herz dem Mann gleich beim ersten Sehen zuflog, wurde schon wenige Wochen später aus beiden ein seliges Paar.
Und nun begann für Frau Rena ein glückvolles Leben. Alles, was sie in ihrer ersten Ehe so schmerzlich vermißt hatte, wurde ihr in der zweiten in verschwenderischem Maß zuteil. Stets begleitete sie den Gatten auf seinen Konzertreisen, und daß Silje, die damals elf Jahre zählte auch mitkam, war eine Selbstverständlichkeit. Denn der Stiefvater liebte die Kleine zärtlich, und auch sie hing sehr an ihrem Paps.
Die Schulbildung des Kindes machte den Eltern keinen Kummer. Es bekam eine Hauslehrerin, und damit gut! Ein Glück, daß Silje leicht begriff, sonst hätte sie bei dem unruhigen Leben von Stadt zu Stadt, von Land zu Land nicht viel gelernt. So jedoch bewältigte sie das vorgeschriebene Pensum spielend und erlernte die verschiedenen Sprachen überall im Lande selbst.
So ging es drei Jahre, dann war die Zeit des Ruhmes für den Geiger vorbei. So steil sein Anstieg erfolgt war, so rapide ging es jetzt bergab. Er war eben zu sorglos gewesen. Hatte geglaubt, daß er immer der beliebte und umschwärmte Künstler bleiben müßte, ohne daß er sein Können vervollständigte.
Zuerst ärgerte und empörte ihn sein Abstieg, doch dann wurde er gleichgültig. Ach was, mochten andere dem Ruhm nachjagen! Ihn ekelte das plötzlich an. Geld hatte er ja genug, also was konnte ihm schon passieren?
Allein, bei dem verschwenderischen Leben, das er mit seiner kleinen Familie nach wie vor führte, schmolz sein Reichtum rasch dahin. Und als er eines Tages gewissermaßen pleite war, tröstete seine Frau ihn damit, daß ja auch sie über einen ganz netten Batzen verfügte. Sie hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes das Geschäft verkauft und war auch sonst noch vermögend. Bedingungslos gab sie dem leichtsinnigen Gatten das Geld in die Hände, das er dann auch in gar nicht langer Zeit durchbrachte, wie er seine hohen Gagen und sein Erbe, das ihm der Vater schon längst auszahlte, bereits durchgebracht hatte. Es kam schließlich so weit, daß er nur noch einige tausend Mark besaß.
Und da griff Silje ein, die mittlerweile sechzehn Jahre alt geworden war. Sie bewog die ratlosen Eltern dazu, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, was dann auch geschah. Dort verkaufte man die Villa und bezog eine kleine Wohnung, die man behaglich ausstattete. Alles andere aus der reichen Einrichtung des komfortablen Hauses wurde mit verkauft.
Nun hatte man Geld und konnte wieder einmal herrlich und in Freuden leben. Die Warnung Siljes, die trotz ihrer Jugend und Verwöhnung viel vernünftiger war als die Eltern, doch mit dem Geld hauszuhalten, wurde lachend in den Wind geschlagen. Ach was, eine Weile konnte man von dem Geld schon leben. Außerdem würde der Geiger Stunden geben und damit schon den Lebenunterhalt für sich und die Seinen verdienen.
Darauf jedoch wollte die skeptische Silje sich denn doch nicht hundertprozentig verlassen. Also setzte sie bei den Eltern durch, daß sie eine Handelsschule besuchen durfte. Und kaum daß sie diese absolviert hatte, stand man in der kleinen komfortablen Wohnung vor dem Nichts – und diesmal endgültig.
Denn Thomas Brecht hatte nach einer bösen Blutvergiftung, die fast das Leben kostete, zwei Finger seiner linken Hand eingebüßt – als gar noch bald darauf die heißgeliebte Gattin nach einer schweren Operation starb, war der Lebensmut des einst so strahlenden Mannes gebrochen. Er vegetierte nur noch dahin. Ließ sich von seiner Stieftochter, die eine Stellung gefunden hatte, von dem kleinen Gehalt mit unterhalten. Lebte nur noch auf, wenn Silje auf seiner kostbaren Geige, die sie wie ein Heiligtum hütete, musizierte. Dann gab er sich dem Wahn hin, daß seine sehr begabte Schülerin den Ruhm erlangen könnte, der einst ihm beschieden war.
Aber dafür reichte das Können Siljes doch nicht aus. Zumal ihr die Zeit dazu fehlte, genügend zu üben und sich vollständig auf die Musik zu konzentrieren.
Denn sie mußte ja tagsüber im Büro arbeiten, und wenn sie nach Haus kam, noch den kleinen Haushalt versehen. Hinterher war sie so müde, daß ihr wahrlich die Lust fehlte, noch stundenlang auf der Geige zu üben.
So kam ihr Spiel zwar erheblich über den Dilettantismus heraus, genügte aber dennoch nicht, um von Kunstexperten anerkannt zu werden.
Und da das Schicksal es nun einmal darauf abgesehen hatte, die kleine Familie, die einst vom Glück so sehr begünstigt war, niederzuzwingen, verlor Silje auch noch ihren Posten als Stenotypistin in der Fabrik. Nicht durch Unfähigkeit oder Pflichtverletzung, sondern weil der Juniorchef und Abteilungsleiter sich eine handgreifliche Abfuhr bei der empörten Angestellten holte, als er sie mit einer Liebesbezeugung belästigte.
Denn Silje Berledes war das, was man ein bildschönes Mädchen nennt, dazu voll Grazie und Charme. Es ging etwas ungemein Stolzes, strahlend Reines von ihr aus – und das reizte den skrupellosen Verführer unbeschreiblich. Doch nachdem er die Ohrfeige weg hatte – und zwar in Gegenwart der anderen Stenotypistinnen im Saal –, kannte seine Wut keine Grenzen.
Und wie sagt ein volkstümliches Sprichwort: Wenn man den Hund schlagen will, findet sich auch der Stock.
Nun, der Stock fand sich – und die Stenotypistin Silje Berledes wurde fristlos entlassen. Jetzt hieß es für sie, mit der kargen Arbeitslosenunterstützung nicht nur sich, sondern auch ihren Stiefvater durchzubringen. Das tapfere Mädchen tat’s – und war schier verzweifelt, als er ernstlich zu kränkeln begann. Da zählte sie nicht mehr die Pfennige ab, machte Schulden, um ihren geliebten Kranken nur ja päppeln zu können. Und als er dann doch einer schweren Lungenentzündung, die plötzlich hinzukam, erlag, wußte die verzweifelte Silje nicht, wie sie dem Toten ein würdiges Begräbnis geben sollte. Also verkaufte sie kurzentschlossen die kleine Wohnung an ein junges Ehepaar, begrub den Stiefvater, bezahlte die Schulden und bezog dann das erste beste möblierte Zimmer, das sich ihr bot. Zwar war es erbärmlich, kostete aber dafür auch nicht viel – und das war für Silje ausschlaggebend. Denn sie mußte mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben war, haushalten auf lange Sicht.
Eine Woche später brach sie dann zusammen und kam ins Krankenhaus.
*
Erschrocken fuhr Silje aus tiefem Schlaf auf und starrte verständnislos um sich. Was war geschehen – wie kam sie nur hierher – auf den Sitz dieses komfortablen Autos?
»Nun, Kleine, starr mich nicht so entsetzt an!« hörte sie nun eine lachende Männerstimme. »Wir sind angelangt.«
»Wo angelangt?«
»Zu Hause.«
»Zu Hause…?« lauschte sie den Worten nach. »Ach, so was gibt’s ja gar nicht mehr für mich. Lassen Sie mich doch schlafen – ich bin ja so müde …«
Damit legte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so sagt. Doch gleich darauf schreckte sie wieder auf, denn ein starker Arm hob sie aus dem Wagen und stellte sie behutsam auf die Füße.
»Na, nun mal hoppla!« sprach dieselbe Stimme jetzt ermunternd, und da war Silje endlich wach.
»Entschuldige, Onkel Philipp«, sagte sie hastig. »Ich war wirklich noch schlaftrunken …«
»Hab ich gemerkt. Und nun mal herein in die gute Stube! Vertrau dich unserm Philchen an, dann bist du bestens aufgehoben.«
Wer dieses Philchen war, sollte Silje erst zum Bewußtsein kommen, als sie sich in einem traulichen Gemach befand, in das sie durch die Halle und über die Treppe hinweg gelangte. Nun stand sie vor einem zierlichen weiblichen Wesen, das freundlich zu ihr sprach: »Kipp nur nicht aus den Schlorrchen, du kleines elendes Wurm! Setz dich hier auf den Diwan, für alles andere sorge ich dann schon.«
Und Philchen tat’s. Ehe Silje sich recht versah, lag sie ausgekleidet in einem Bett, das weich und mollig war. Und ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, schlief sie schon wieder tief und fest, während der Herr des Hauses seine Familie aufsuchte, die sich, außer der dazugehörigen Philine, im Wohnzimmer befand.
Da war zuerst einmal die Gattin des Hünen, eine stille, feine Frau mit gütigem Gesicht unter weißem Haar, dann die Tochter Thea, eine üppige Blondine von vierunddreißig Jahren, die vor Jahresfrist verwitwet war und nun mit ihrem achtjährigen Töchterchen wieder im Elternhaus lebte, weil sie nach dem Tod des Gatten vor dem Nichts stand.
Denn auch sie hatte dem geliebten Mann ihre reiche Mitgift bedingungslos in die Hände gegeben, die dieser jedoch erst angriff, als das Rauschgift ihn erbarmungslos in seinen Krallen hielt. Außerdem mußte man in den letzten Jahren von dem Geld noch leben, weil der Privatdozent seinen eigentlichen Beruf aufgeben mußte. Und was er dann mit kleinen schriftstellerischen Arbeiten verdiente, war gewiß nicht viel. Er siechte langsam dahin, und als er starb, mußten Frau und Kind im Hadebrecht-Haus Zuflucht suchen.
Thea war eine phlegmatische Natur und gefiel sich darin, in »höheren Regionen zu schweben«. Konnte aber auch wiederum recht erdgebunden sein, wenn es um Geld ging. Sie hatte immer Angst, irgendwie zu kurz zu kommen.
Also hatte das Ehepaar Hadebrecht an dieser Tochter nicht viel Freude. Nur ihr Jüngster, der jetzt dreißigjährige Eike, war so geworden, wie die Eltern es erhofften – bis auf seine Ehe, damit machte auch er ihnen Kummer.
Sie paßte aber auch gar nicht zu dem ernsten, zielbewußten Mann, die brünette, kapriziöse Ilona, die sich den »schönen Eike« nun mal in ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt hatte und ihn dann auch nach – vielen geschickten Bemühungen einfing. Denn der damals Sechsundzwanzigjährige, der gerade seinen Dr. jur. gemacht hatte, war noch zu wenig Frauenkenner, um die listige Ilona zu durchschauen. Ihm gingen erst die Augen nach der Hochzeit auf – und zwar schon bald.
Ilona jedoch war zuerst so richtig glücklich, bis sie dann merkte, daß der Gatte sich nicht von ihr beherrschen ließ, wie sie erwartet hatte. Da begann sie, ihm Szenen zu machen, die aber an seiner Gelassenheit abprallten wie an einem Felsen.
Außerdem behagte der launenhaften, sehr verwöhnten Ilona das Leben in dem Hadebrecht-Haus nicht, das so ganz von dem Willen ihres Schwiegervaters beherrscht wurde. Sie konnte diesen »Despoten« nicht ausstehen und setzte ihm immer Widerstand entgegen, wobei sie jedoch stets den kürzeren zog. Und wenn sie dann vor Wut zu platzen glaubte, packte sie ihre Koffer und reiste zu ihren Eltern, die ständig unterwegs waren, schloß sich ihnen an – um schon nach einigen Wochen wieder plötzlich im Hadebrecht-Haus aufzutauchen.
Für eine Weile fand sie es dann ganz erträglich in dem »Eulennest«, wie sie das komfortable Haus oft in ihrer Wut nannte – bis sie ihm wieder entfloh. Also ein ewiges Auf und Ab, das von dem Gatten nebst seiner Familie schon längst nicht mehr tragisch genommen wurde.
Nicht einmal von dem jetzt zweieinhalbjährigen Töchterchen, das die Mutter durchaus nicht vermißte, weil es im Schoß der Familie so viel Liebe fand, wie sie ein Kind nun einmal haben muß, um recht gedeihen zu können.