Lenny und die Liebe - Nadine Föhse - E-Book

Lenny und die Liebe E-Book

Nadine Föhse

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Lenny und die Liebe« ist ein klassisches Jugendbuch. Der Roman begleitet den Protagonisten Lenny beim Erwachsenwerden. Lenny ist seit einigen Jahren in seiner Mitschülerin Tina verknallt. Auf einer Schulparty kommen die beiden sich näher und freunden sich an. Doch Tina scheint nur eine Freundschaft zu wollen. Lenny steckt mitten im Liebes-Chaos: Reicht es ihm, mit Tina befreundet zu sein? Seine Freunde sind ihm nur bedingt eine Hilfe und kämpfen außerdem mit ihren ganz eigenen Sorgen und Problemen. Irgendwann muss Lenny einsehen, dass man anderen eben nur vor den Kopf schauen kann und nicht immer weiß, was hinter der Fassade eines Menschen los ist. Aufmerksam zuzuhören kann wichtiger sein als einfach sein eigenes Ding durchzuziehen. Mit viel Witz und einer gehörigen Portion Ruhrgebietscharme entführt »Lenny und die Liebe« die Lesenden in die Gefühlswelt der Jugendlichen im 21. Jahrhundert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lenny und die Liebe

Nadine Föhse

© 2021 Nadine Föhse

Loerbroksstraße 3, 45144 Essen

ISBN: 978-3-75461-491-4

Cover und Buchsatz: Catherine Strefford, www.catherine-strefford.de

Lektorat: Lektorat Textfuchs, Sophie Kossow, https://www.lektorat-textfuchs.de

Korrektorat: Nadine Föhse, www.nadine-foehse.de

Vertrieb: tolino media

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne schriftliche Zustimmung ist untersagt. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter dnb.dnb.de abrufbar.

Für alle,

die hinter die Fassade blicken

und erkennen,

dass es dort viel mehr zu fühlen gibt.

Content Notes

In diesem Buch werden einige Themen behandelt, die für manche Menschen triggernd sein könnten. Deshalb habe ich sie hier aufgeschrieben. So muss sich niemand mit Dingen beschäftigen, die einem nicht guttun. Folgende triggernde Inhalte kommen im Buch vor:

Erwähnung von Tod

Szene im Krankenhaus

Erwähnung eines Autounfalls

Erwähnung eines Fahrradunfalls

toxische Beziehungen

Alkoholmissbrauch

Playlist

Zu diesem Buch gibt es eine offizielle Playlist, die ihr auf Spotify und Deezer unter »Lenny und die Liebe« finden könnt. Hier findet ihr noch einmal alle Songs, die im Buch vorkommen:

Luis Fonsi • Despacito

Marianne Rosenberg • Er gehört zu mir

Falco • Vienna Calling

Ideal • Blaue Augen

Andrea Berg • Du hast mich tausendmal belogen

Kraftklub • Ich will nicht nach Berlin

Coldplay • Viva la Vida

Die Toten Hosen • Hier kommt Alex

Die Toten Hosen • Pushed again

Oasis • Wonderwall

P!nk, Nate Ruess • Just give me a reason

The Police • Every breath you take

Die Toten Hosen • Tage wie diese

Siw Malmkvist • Liebeskummer lohnt sich nicht

Linkin Park • Breaking the Habit

Linkin Park • Numb

Die Toten Hosen • Altes Fieber

Die Toten Hosen • Bonnie & Clyde

Simple Minds • Don’t you (forget about me)

Die Toten Hosen • Madelaine (aus Lüdenscheid)

Kraftklub • Songs für Liam

EINS

Freitag, 4. August

»Boah, Lenny, warum willst du denn nicht?«, versucht Max zum gefühlt hundertsten Mal, mich umzustimmen. Seit zwei Wochen nervte er mich jetzt. Zwei Wochen, in denen er eifrig die Stufenparty vorbereitet und sogar unsere Stufenkoordinatorin becirct hatte, um die Aula der Schule in den großen Ferien nutzen zu dürfen. Er hatte Leute für Getränke, Deko und Musik zusammengetrommelt und dafür gesorgt, dass die ganze Stufe zur Party kommen würde. Diese Schulparty sollte sein Meisterstück werden, das war seine Ansage. Und nun wollte ich nicht hingehen.

»Was soll ich da, Max? Mal ganz im Ernst? Der Großteil der Leute kann mich eh nicht leiden – was ja bekanntlich auf Gegenseitigkeit beruht. Warum sollte ich also einen ganzen Abend auf engstem Raum mit ihnen verbringen?« Schnell wechsle ich mein Handy an das andere Ohr. Max seufzt, und ich glaube, sogar hören zu können, wie er die Augen verdreht.

»Weil’s lustig wird. Wir hängen ab, es läuft gute Mukke und vielleicht krieg’ ich dich sogar dazu, ein Bier zu trinken.«

»Lustig, is’ klar. Ich werd’ den halben Abend irgendwo in der Ecke stehen und versuchen, mich nicht vor versammelter Mannschaft zum Horst zu machen. Super lustig.«

»Okay, Lenny, dann muss ich jetzt meine letzte Karte ausspielen.« Max versucht sich an einer tiefen Stimme. Nicht, dass das funktionieren würde. Mein Schulkumpel scheint nie im Stimmbruch gewesen zu sein. Aber seit wann tut Max so geheimnisvoll? Das sieht ihm nicht ähnlich, eigentlich fällt er immer mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus.

»Deine was?«, erwidere ich also. Irgendwas zwischen genervt und desinteressiert. Max muss ja nicht wissen, dass ich neugierig bin.

»Meine letzte Karte. Weißt du, wer seit ein paar Tagen zurück aus Australien ist und unter Garantie zur Party kommt?«

Die Röte, die mir ins Gesicht kriecht, verrät mich sofort. Vor Unglauben reiße ich die Augen weiter auf als nötig. Gott sei Dank kann Max das übers Telefon nicht sehen.

»Nä!«, mache ich wenig wortgewandt. Ich weiß genau, wen er meint. Es gab nur eine Person in unserer Stufe, die in Australien gewesen war. Ein ganzes Jahr lang.

»Tina.«

Er weiß, dass er mich damit hat. Tina, die Einzige aus unserer Stufe, die ich wirklich gerne sehen würde. Deswegen hat er sich diese Info auch bis zum allerletzten Moment aufgehoben. Kurz versinke ich in Gedanken. Ich schwärme für Tina seit … ungefähr seit der neunten Klasse. Sie ist hübsch, sie ist klug und sie gehört zu den beliebtesten Mädchen der Stufe. Da sie allerdings auch mit den größten Zicken der Stufe befreundet ist (mein O-Ton, nicht ihrer), hatten wir bis heute noch nie engeren Kontakt. Ich seufze, und diesmal bin ich es, der die Augen verdreht. Max weiß, dass ich mich geschlagen gebe. Ich würde auf eine dieser verhassten Stufenpartys gehen, auf denen jedes Mal eine Menge Alkohol im Spiel ist.

***

Ich stehe nun also schon den ganzen Abend hier rum. Die anderen trinken Bier und tanzen. Quatschen über Themen, die mich einen feuchten Scheißdreck interessieren. Aus den Boxen erklingt der aktuelle Sommerhit Despacito. Spanisch. Ich verstehe kein Wort und finde den Song auch nicht besonders gut. Dann sehe ich, zuerst aus dem Augenwinkel, dass jemand zur Tür hereinkommt. Jemand. Als ob. Natürlich ist es Tina. Sie hat sich den großen Auftritt bewahrt und kommt als Allerletzte zur Party. Die letzte halbe Stunde habe ich damit verbracht, die Tür zu beobachten und auf sie zu warten. Nun ist sie da und mir stockt der Atem. Das Austauschjahr am anderen Ende der Welt hat ihr wirklich gutgetan, das sehe ich sofort. Okay, seien wir ehrlich: Sie sieht gut aus. Wie immer. Außer, dass sie irgendwie selbstsicherer und entspannter wirkt. So, als würde sie der ganze Cliquenzoff und Schulstress nicht die Bohne interessieren. Und ihre Haare sind länger. Eigentlich peinlich, dass mir das sofort auffällt. Ich merke, dass ich meinen Blick nicht von ihr abwenden kann. Sie lächelt, winkt einigen Freundinnen zu. Dann streicht sie sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.

Jetzt oder nie!, denke ich bei mir und beginne, mit selbstbewussten Schritten auf sie zuzugehen. Woher ich dieses Selbstbewusstsein nehme, ist mir schleierhaft. Plötzlich ist es einfach da. In Gedanken lege ich mir die richtigen Worte zurecht. »Hey Tina, willkommen zurück!« erscheint mir passend. Dazu eine Umarmung. Oder doch lieber Hände schütteln? Winken? Die Röte kriecht mir in die Wangen, begleitet von der altbekannten Hitze, die bis in die Ohren vorrückt. Die Geräusche um mich herum verkommen zu einem dumpfen Hintergrundrauschen. Das Lied hat gewechselt, doch ich kann nicht sagen, was nun läuft. Einen Rückzieher zu machen kommt nicht mehr in Frage, schließlich laufe ich gerade mitten durch den Raum auf sie zu. Alle sehen mir zu!

Ich bin so in Gedanken, dass ich es nicht kommen sehe: Ein kräftiger Zug an meiner Jeans. Scheiße! ist mein erster und einziger Gedanke. Ich sehe, wie ausgerechnet Max nach links wegläuft. War ja klar, dass er mich wieder zum Horst der Nation machen würde! Ich gerate ins Straucheln, stolpere über meine eigenen Füße und lege mich, natürlich direkt vor Tina, so richtig auf die Fresse. Max, das elende Arschloch, hatte mir die Hose bis zu den Knöcheln heruntergezogen und ich liege in Boxershorts vor der versammelten Stufe. Schmerz durchzuckt mich, wenigstens hatte ich den Sturz mit meinen Händen halbwegs abfangen können, sonst wäre ich glatt auf mein Gesicht geknallt. Knie, Handflächen, Ellenbogen tun weh. Wahrscheinlich werde ich mit ein paar blauen Flecken belohnt. Langsam lässt der Schmerz etwas nach und ich blicke auf. Von Tinas Stiefeln über ihren Rock und das Shirt bis zu ihrem Gesicht. Sie grinst mich freundlich an.

»Hi Lenny. Kein bisschen geändert, was?«

Es ist wie der Moment, in dem eine Nadel über die Schallplatte kratzt. Eine Sekunde ist es still. Nicht mal die Musik läuft, zumindest kommt es mir so vor. Dann, als hätten sie darauf gewartet, bricht meine gesamte Stufe in schallendes Gelächter aus. Es ist einer von diesen Momenten, in denen man am liebsten im Erdboden versinken würde. So ein kleiner Riss wäre doch nicht zu viel verlangt. Man rutscht rein, die Erde schließt sich und tschüss. Gelächter, Mitschüler, Peinlichkeit – weg. Das wäre schön. Ich seufze und kann den Blick doch nicht von Tina abwenden. Da bringe ich es endlich über mich, ihr hi zu sagen, und was ist der Lohn? Gelächter, Hohn, Spott und blaue Flecken. Hätte ich mir ja vorher denken können!

»Na, komm«, murmelt sie nun und hält mir die Hand hin. Ich bin kurz verwirrt. Tina hilft mir? Macht sie sich gar keine Gedanken darum, was die anderen von ihr denken könnten? Ich zögere nicht, sondern ergreife die helfende Hand und rapple mich hoch. Hm, ihre Haut ist weich. Angenehm. Daran könnte ich mich gewöhnen. Als ich stehe, lasse ich schnell Tinas Hand los, um endlich diese verdammte Hose wieder hochzuziehen. Ich lasse meinen Blick schweifen und sehe, dass ein Großteil meiner Stufe immer noch glotzt und lacht. Schließlich trifft mein Blick den von Tina. Sie hat aufgehört zu lächeln. Stattdessen sieht sie mich mit gerunzelter Stirn an und wirkt fast besorgt.

»Alles okay?«, fragt sie leise.

»Mensch Tina, nun lass ihn doch!«, ruft eine ihrer Freundinnen dazwischen, ehe ich antworten kann.

»Linda, jetzt warte doch mal!«, erwidert sie laut. Langsam verstummen die letzten Lacher. Tina gibt ihnen auch nicht das Gefühl, als würde sie sich über mich lustig machen wollen, fällt mir auf. Nach und nach wenden die anderen sich wieder ihren eigenen Gesprächen zu. Dann richtet Tina wieder das Wort an mich. »Lenny?«

Ich muss kurz überlegen, was die Frage gewesen war. Ob alles okay war? Ich nicke, weil ich meiner Stimme wirklich noch nicht wieder traue.

»Okay«, sagt sie.

»Hallo, Tina!«, ertönt eine ungeduldige Stimme. Sie nervt. Ich will nicht, dass sie Tina und mich unterbricht. Hier entwickelt sich vielleicht wirklich so etwas wie ein Gespräch! Also, sobald ich meine Stimme wiederfinde.

»Willst du etwa den ganzen Abend mit diesem Loser verbringen?« Schon wieder eine ihrer Freundinnen. Mir kriecht die Hitze in die Wangen. Mal wieder hat die ganze Stufe beobachtet, wie ich mich lächerlich gemacht habe. Und dann auch noch vor Tina. Die anderen können ja gern über mich lästern. Aber ausgerechnet vor ihr? Doch Tina beachtet unsere Mitschüler gar nicht.

»Willst du abhauen?«, fragt sie mich stattdessen. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich völlig überrumpelt. Dann nicke ich. Natürlich! Nichts ist mir in diesem Augenblick lieber, als die Party zu verlassen, auf der mich sowieso niemand leiden kann.

»Gut!«, erklärt Tina bestimmt und greift nach meinem Arm. Mit sanftem Druck zieht sie mich mit sich und von der vereinzelt immer noch gaffenden Meute weg. Mit einem Ruck stößt sie die Tür auf und geht ins Freie. Warme Sommerluft empfängt uns. Wir gehen weiter. Tina hält erst an, als wir bereits an der Straße und einige Meter entfernt von der Schule sind.

»Okay, Lenny. Jetzt nochmal: Ist wirklich alles okay mit dir?«, fragt sie und sieht mich dabei eindringlich an. Wow, sie kann echt beharrlich sein.

Ich nicke zum keine Ahnung wievielten Mal an diesem Abend.

»Kannst du bitte mal mit mir sprechen?« Ich muss mich räuspern, damit meine Stimme wieder in Gang kommt.

»Ja, alles okay, danke.«

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Im Ernst. Du hättest auch lachen können wie alle anderen und dann zu deinen Freundinnen abzischen.«

»Ach komm, hör auf. Das, was Linda und Emma da gesagt haben, war völlig übertrieben. Und das von Max war einfach ’ne Scheiß-Aktion. Vor versammelter Mannschaft. So ein Arsch.«

Ich zucke die Schultern. Ich bin sowas von Max gewöhnt, er macht mich immer wieder zum Affen. Meistens stört es mich gar nicht. Die Meinung der anderen ist mir mittlerweile ziemlich egal. Max ist zwar der Einzige aus unserer Stufe, mit dem ich mich halbwegs verstehe – das gilt aber auch nur in der Schule. Privat treffen wir uns so gut wie nie. Ich bin halt der Außenseiter. Heute bin ich Max im Nachhinein sogar fast dankbar für seine Scheiß-Aktion, weil ich so mit Tina allein sein kann. Immerhin will ich ja erst seit vier Jahren oder so ein Date mit ihr haben, habe mich aber nie getraut, sie zu fragen.

»Und, was machen wir nun?«, fragt sie und sieht mich wieder offen an. Ich zucke die Schultern. Woher soll ich das wissen?

»Mein Plan war’s ehrlich gesagt, einfach hallo zu sagen und wenigstens zwei Sätze mit dir zu wechseln heute Abend«, gebe ich zu. Sie lächelt. Es ist nicht höhnisch, wie ich es von den Mädels aus unserer Stufe kenne, sondern freundlich. Kurz hatte ich Angst, dass sie meine Ehrlichkeit peinlich findet, aber so scheint es erstmal nicht.

»Gut, also die zwei Sätze haben wir ja jetzt schon hinter uns. Wollen wir vielleicht noch irgendwo was trinken gehen? Vielleicht irgendwo, wo’s nicht so laut ist?«

Ich denke kurz nach, dann nicke ich. Mir fällt da sofort etwas ein. Ich bedeute ihr, mir zu folgen.

Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her. Der Abend ist sommerlich warm. Von der Schule bis zu meiner Stammkneipe sind es etwa zehn, fünfzehn Minuten zu Fuß. Zuerst denke ich über ihre Worte nach. Was trinken gehen – das klingt fast nach einem Date. Ist es eins? Ich weiß es nicht, immerhin hatte ich noch nie ein Date. Mit wem auch? Vielleicht ist es auch nur Mitleid. Oder Höflichkeit, weil sie nicht will, dass jetzt jeder einfach allein nach Hause geht. Ich habe keine Ahnung. Dann hoffe ich, dass sie was sagen möge, damit sich meine Gedanken nicht die ganze Zeit im Kreis drehen.

»Und, was hab’ ich so verpasst, während ich in Down Under war?«, fragt sie nach einigen Minuten beiläufig. Ich zucke die Schultern.

»Nicht viel, soweit ich weiß. Keine Ahnung, wer mit wem zusammen war oder Schluss gemacht hat oder sowas … Dafür interessier’ ich mich nicht.«

»Gott sei Dank«, murmelt sie. Ich riskiere einen kurzen Seitenblick. Sie lächelt, sieht aber weiter auf den Boden vor ihren Füßen.

»Oh, und Herr Kuhfeldt ist in Pension gegangen«, fällt mir plötzlich ein. Keine Ahnung, ob sie das schon weiß.

»Echt? Schade, ich mochte ihn.«

Ich nicke und realisiere eine Sekunde zu spät, dass sie das ja gar nicht sehen kann. »Ja, ich auch«, füge ich also hinzu. Sie wusste es noch nicht. Ich bin ein bisschen stolz, ihr wenigstens überhaupt was Neues erzählen zu können.

Wieder das Schweigen.

»Wie war’s eigentlich so in Australien?«

Tina seufzt.

»Spannend, vor allem das Land und die Leute. Die Menschen, die ich dort kennengelernt habe, sind ziemlich witzig und das Land ist einfach wunderschön!«, schwärmt sie. »Gelernt, also in der Schule, habe ich allerdings nicht viel, aber deshalb bin ich ja jetzt auch hier, um mein Abi zu machen. Ich will auf jeden Fall nochmal zurück, in ein paar Jahren«, erzählt sie. »Sind wir bald da?«, fragt sie dann. Höre ich Ungeduld in ihrer Stimme?

»Perfektes Timing«, erkläre ich überlegen und bleibe stehen. »Hier geht’s rein!« Ich halte ihr die Tür zum ›Krug‹ auf. Wie ein echter Gentleman.

»Danke«, murmelt sie und betritt die dunkle Kneipe. Ich folge ihr schnell. Es ist nicht besonders voll, ein paar Jugendliche stehen am Kicker in der Ecke und einige ältere Herren spielen an der Theke Karten, jeder mit einem Bier vor sich. Der Wirt grüßt uns nickend.

»Hier entlang«, murmle ich und lege ihr leicht die Hand auf die Schulter, um sie zu dirigieren. Der Stoff ihres T-Shirts ist weich. Ich mag das Gefühl. Ich bugsiere sie sanft nach rechts, wo ein paar Tische stehen. Hier ist mein Lieblingstisch. Meine Freunde und ich sitzen manchmal hier zusammen, hier fühle ich mich wohl und bin ich selbst. Nicht zuletzt deshalb hatte ich den Krug ausgewählt. Um zurück in meine Komfortzone zu kommen und die Anspannung loszuwerden.

»Wo sind wir?«, fragt Tina, nachdem wir uns gesetzt haben. Sie sieht sich vorsichtig um, die Hände auf dem Tisch vor ihr verschränkt.

»Äh, das ist meine Stammkneipe«, antworte ich leise. Ich lege meinen Hoodie auf der Rückenlehne meines Stuhls ab. Mittlerweile ist es mir ein wenig unangenehm, dass ich sie hierhergebracht habe. Wäre eine coolere, schickere Bar besser gewesen? Der Krug ist eine dunkle Kneipe, eingerichtet im Stil der 1970er-Jahre. Klassischer ›Gelsenkirchener Barock‹ eben. Die Möbel sind aus dunklem Holz, der Boden ebenfalls. Die Lampen sind mit Bier-Werbung bedruckt und haben mehr als nur ein wenig Staub angesetzt. Das Licht ist schummrig, wahrscheinlich um darüber hinwegzutäuschen, dass es hier nicht besonders sauber ist. Die Musik scheint auch in der 1970er-Jahren stehengeblieben zu sein, es laufen vorrangig Schlager. Gerade ertönen die ersten Takte von Marianne Rosenbergs Klassiker Er gehört zu mir aus den Boxen. Man hört es nur, wenn man nicht redet. Die Musik hier ist immer eher leise.

Selbst der Geruch erinnert an die 1970er-Jahre. Es ist eine Mischung aus schalem Bier und kaltem Zigarettenrauch. Obwohl man hier schon seit Jahren nicht mehr rauchen darf. Den Geruch bekommt der Wirt aber wahrscheinlich nie mehr aus den alten Polstern und dem Holz. Je voller die Kneipe ist, desto stinkiger wird es. Umso erleichterter bin ich, dass es im Moment so angenehm ruhig ist.

Der Wirt kommt und bringt uns ohne Aufforderung zwei Gläser Cola. Tina sieht ihr Getränk an, dann blickt sie zu mir.

»Cola? Ich hätte gedacht, du trinkst Bier.«

Es ist keine Frage, aber ich antworte trotzdem: »Nö, meistens bleib’ ich bei Cola. Ich vertrag’ keinen Alkohol, also muss ich’s ja nicht herausfordern.« Dass es noch einen Grund dafür gibt, dass ich nicht trinke, erzähle ich ihr nicht. Ich will die Stimmung nicht versauen.

Tina nickt, dann nimmt sie ihr Glas. »Na denn, Prost!«

Wir stoßen an und sehen uns dabei, wie es sich gehört, in die Augen. Das Glitzern in ihren blauen Augen fesselt mich einen Augenblick. Fast verpasse ich den Moment, in dem ich trinken müsste.

»Hey, nach dem Anstoßen trinkt man!«, sagt sie prompt, lacht und stößt mich an der Schulter an. Ich muss blinzeln, um mich von ihr loszureißen, dann trinke ich.

»Stimmt«, erkläre ich, ohne wirklich etwas zu erklären. Sie lacht wieder, während sie ihr Glas abstellt.

»Okay, also, was wolltest du vorhin eigentlich sagen, als du dich so elegant vor mir auf den Boden geworfen hast?«, fragt sie dann nochmal. Meine Wangen beginnen, wie auf Kommando, zu glühen. Am liebsten würde ich mich gerade ohrfeigen, so peinlich fühlt sich das an.

»Oh Gott, können wir darüber bitte nicht mehr reden?«, bitte ich sie also und senke den Blick.

»Sorry. Aber du bist doch nicht einfach durch Zufall auf mich zugekommen. Also?«

Ich schüttle den Kopf. »Nee, natürlich nicht. Ich hatte mir sowas zurechtgelegt wie ›willkommen zurück‹ oder so. Keine Ahnung. Ich hab’ mich einfach gefreut, dich zu sehen.«

»Danke.« Nun ist es Tina, die errötet. Warum wird sie rot? Ich bin verwirrt. Die selbstbewusste, beliebte Tina wird in meiner Gegenwart rot. Ausgerechnet.

»Gegenfrage: Warum hast du deine Freundinnen links liegen gelassen? Warum hast du mir aufgeholfen und …« Ich mache eine unbeholfene Geste, um die Worte zu beschreiben, die ich nicht finde. »… Das alles?«

Sie zuckt die Schultern. »Keine Ahnung. Ich fand das Verhalten der anderen einfach nervig und kindisch. Und Linda geht mir schon seit zwei Wochen auf den Keks wegen dieser verdammten Party heute. Gut, und ich hatte halt auch einfach ein bisschen Mitleid mit dir. Du konntest ja nix dafür.«

»Danke nochmal.« Ich trinke noch einen Schluck von meiner Cola, um das Schweigen zu überbrücken. Dann fällt mir noch eine Frage ein.

»Und, hast du schon –« Doch sie unterbricht mich.

»Irgendeine Ahnung, was ich nach der Schule machen will?« Ich nicke. »Nö. Wahrscheinlich studieren. Und du?«

Ich muss schmunzeln. Vermutlich haben wir diese Frage in den letzten Wochen alle mehr als oft genug gehört.

»Ja, das Gleiche. Meine Mutter nervt mich schon seit Monaten damit, aber irgendwie weiß ich’s einfach noch nicht. Vielleicht will ich auch erstmal reisen. Work and Travel oder so.«

»Da hätte ich auch irre große Lust drauf! Aber meine Eltern meinten schon, ich soll lieber endlich was lernen, anstatt schon wieder ins Ausland zu gehen.« Sie verdreht die Augen. Ich nicke wissend.

»Eltern«, sage ich.

»Genau«, sagt sie und nickt ebenfalls. Es ist ein Thema, das wohl die meisten kennen: Mama und Papa wollen, dass man ›etwas Ordentliches lernt‹, anstatt zu reisen, ein FSJ zu machen oder Hobbys nachzugehen. Dabei wissen die meisten jungen Leute in unserem Alter noch gar nicht, was sie nach der Schule machen wollen. Oder ihr ganzes Leben.

»Ach, mal gucken. Wir haben ja noch zwei Jahre. Da bleibt uns genug Zeit, das zu entscheiden.«

Ich krame in meiner Jackentasche, dann halte ich ihr demonstrativ mein Handy hin. »Hier, erklärst du das meinen Eltern?«, frage ich und fühle mich dabei sehr witzig. Ich sage Eltern, obwohl ich Mutter meine. Aber ich habe echt keine Lust auf die Fragen, die die Wahrheit automatisch nach sich zieht. Es ist mittlerweile zu einem Reflex geworden.

Tina lacht. Yes!, denke ich.

»Nee«, erwidert sie dann. »Aber ich kann dir endlich mal meine Nummer geben, die hast du nicht, oder?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nö, woher denn?« Schnell und etwas fahrig entsperre ich mein Handy und reiche es ihr. Flirtet sie etwa mit mir? Ich bin mir nicht sicher. Es fühlt sich jedenfalls ein bisschen an wie flirten. Glaube ich. Vielleicht ist sie auch einfach nur freundlich, denke ich dann. Auf jeden Fall breitet sich beim Gedanken daran, ihre Nummer zu haben, ein Kribbeln in meiner Magengegend aus. Und das ist ja schon mal eindeutig. Punkt für Flirten.

»Ja, keine Ahnung …«, murmelt sie als Antwort auf meine Frage. Schnell tippt sie ihre Handynummer ein. Anstatt mir das Handy danach wiederzugeben, ruft sie sich selbst an.

»So, jetzt hab’ ich deine Nummer auch.« Endlich gibt sie mir mein Telefon zurück. Dann zieht sie ihres aus der Handtasche und speichert meine Nummer ein. »Jetzt brauche ich nur noch ein Foto von dir, für meine Kontakte.«

»Was?«, frage ich verwirrt.

»Naja, ich speichere meine Kontakte immer mit Foto ab. Dann sehe ich sofort, wer mich anruft und so. Weißt du?«, erläutert sie. Ich nicke, obwohl ich immer noch verwirrt bin. Tina will ein Foto von mir? Ausgerechnet von mir? Auf ihrem Handy?

»Pass auf, wir machen einfach gemeinsam ein Selfie! Das erinnert uns dann immer an diesen schönen Abend! Komm rum«, sagt sie und klingt enthusiastisch. Mit der Hand macht sie eine einladende Geste. Ich rücke meinen Stuhl um den Tisch herum, sodass ich direkt neben ihr sitze.

Tina legt mir einen Arm um die Schulter und zieht mich näher an sich heran. Mein Gesicht ist jetzt direkt neben ihrem, ihre Haare kitzeln mich an der Wange.

»Nun entspann dich mal ein bisschen! Du wirkst total steif!«, sagt Tina. Ich merke, dass ich meine Hände auf den Oberschenkeln verkrampft und die Schultern hochgezogen habe. Ich atme tief durch und lockere meine Muskeln.

»Bitte recht freundlich!«, ruft sie nun und grinst in die Kamera. Gerade noch rechtzeitig verziehe auch ich das Gesicht – inständig hoffend, dass mir ein Lächeln gelingt – und schon ist das Foto im Kasten. Ich versuche, ein wenig von ihr abzurücken, doch sie hält mich am Arm fest.

»Warte noch, ich will erst gucken, ob’s was geworden ist.« Nach einem prüfenden Blick auf ihr Handy lässt sie mich schließlich los. »Sieht super aus«, stellt sie zufrieden fest, dann steckt sie das Handy zurück in ihre Tasche.

Ich rücke wieder ein Stück weg, allerdings nicht komplett zurück zu meinem alten Platz. Stattdessen ziehe ich meinen Bierdeckel mit der Cola zu mir. Im Krug werden die Getränke noch, wie früher, mit einem Bleistift auf dem Bierdeckel aufgeschrieben. Ein Strich für ein kleines Bier – oder eben eine kleine Cola – ein Kreuz für ein großes Getränk. Schnäpse und Co. mit dem jeweiligen Preis. Der Wirt hat in weiser Voraussicht beide Colas auf meinem Deckel aufgeschrieben.

»Sag mal, wollen wir ’ne Runde kickern?« Tina deutet quer durch den Raum. Ich folge ihrem Finger und sehe, dass die Jugendlichen am Kickertisch verschwunden sind.

»Du kannst kickern?«, stelle ich die offensichtliche Gegenfrage. Tina will kickern? Ich bin mir kurz nicht sicher, ob heute mein Glückstag ist.

»Tja, das kannst du jetzt herausfinden!«, antwortet sie in meine Gedanken hinein und steht auf.

»Na komm!« Mit diesen Worten zieht sie mich am Arm hoch und läuft voran zum Kickertisch. Ich mache einen kleinen Umweg an der Theke vorbei. Der Wirt hält mir bereits den Ball hin.

»Danke«, sage ich und nehme den kleinen, weißen Ball an mich. Dann folge ich Tina zum Tisch. Als ich dort ankomme, erwartet sie mich schon grinsend. In ihren Augen glitzert es wieder.

»Na, dann mal los!« Ich gebe den Ball auf das Spielfeld und schon stößt Tina mit ihren Spielern an.

Eines stelle ich sofort fest: Tina ist definitiv eine ebenbürtige Gegnerin für mich. Ich spiele zwar regelmäßig mit meinen Freunden, trotzdem verliere ich die erste Runde gegen sie. Haushoch. Nicht schlecht, denke ich. »Revanche« ist, was ich laut sage. Ich versuche, ernst zu klingen, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Es ist unfassbar leicht, mit Tina zu kickern. Es macht Spaß, sie spielt gut und verliert dabei nicht die gute Laune. Was natürlich daran liegen könnte, dass sie die ganze Zeit gewinnt. Nie im Leben hätte ich erwartet, an diesem Abend mit Tina so viel Spaß zu haben.

»Na gut. Wer verliert, gibt einen aus!«, entscheidet sie und schiebt mit einem Ruck die zehn Klötzchen, die ihre Punkte anzeigen, zur anderen Seite. Dann beginnt sie das nächste Spiel.

Auch bei der zweiten Runde muss ich mich geschlagen geben. Jubelnd tanzt Tina auf ihrer Seite des Kickertischs.

»Na, willst du noch mal?«, fragt sie mich und grinst süffisant. Es scheint ihr zu gefallen, wenn sie gegen mich gewinnt.

»Ich hol’ erstmal die Getränke«, erkläre ich und wende mich zur Theke. Ich brauche einen Moment für mich. Irgendwas ist hier anders als sonst, das merke ich. Ich kann nur nicht genau sagen, was. Ich bin eigentlich, um ehrlich zu sein, ein schlechter Verlierer. Wenn ich gegen meine Freunde verliere, will ich auf jeden Fall immer noch eine Runde spielen. Am liebsten so lange, bis ich gewinne. Manchmal müssen die anderen mich regelrecht bremsen. Mit Tina ist das anders. Ich meine, klar, ich hätte jetzt schon Lust, noch eine Runde zu kickern. Aber nicht, weil ich partout gegen Tina gewinnen will. Vielmehr ist es so, dass es mit ihr einfach unfassbar viel Spaß macht.

»Noch ’ne Cola?«, brummt der Wirt, als ich an der Theke ankomme.

»Zwei«, antworte ich und halte ihm meinen Deckel hin. Während ich warte, werfe ich einen Blick über die Schulter. Ich denke nicht groß darüber nach, sondern tue es einfach. Tina steht nach wie vor am Kicker.

Fuck!, fährt es mir durch den Kopf. Sie beobachtet mich! Und sie hat gesehen, dass ich es gesehen habe. Irgendwie ist mir das peinlich. Mit hochrotem Kopf drehe ich mich zurück zur Theke. Tina hatte mich beobachtet und dabei gelächelt. Und sie weiß, dass ich es weiß. Einen Moment muss ich tief durchatmen. Dann räuspert der alte Wirt sich und deutet mit der Hand auf meine Getränke.

»Danke!«, sagt Tina, als ich mit den Colagläsern wieder bei ihr bin.

»Gerne. Spielschulden sind schließlich Ehrenschulden«, erwidere ich. Und sage dann: »Also, sollen wir noch eine Runde spielen?«

»Klar.« Sie stellt ihr Glas ab und geht wieder an ihre Seite des Tisches.

---ENDE DER LESEPROBE---