Lenya Lebt Los - Maria Soulas - E-Book

Lenya Lebt Los E-Book

Maria Soulas

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Beschreibung

Nach einer Stippvisite bei ihren Eltern in Cochem nimmt Lenya einen jungen Anhalter mit, der auf dieser Fahrt bei einem Unfall ums Leben kommt. Lenya selbst bleibt unverletzt. Die 32-jährige Innenarchitektin und Single-Frau, die nie etwas aus der Bahn zu werfen scheint, wird jedoch durch das Ereignis in die schlimmste Zeit ihres Lebens zurückkatapultiert: Auf derselben Landstraße ist 15 Jahre zuvor ihr Zwillingsbruder Lenny tödlich verunglückt. In jener Nacht verschwand zudem ihre Freundin Tessa spurlos. Die Identität des mysteriösen Anhalters ist für Lenya ebenso ein Schock wie die Suche der Polizei nach einem Serienmörder, dessen Opfer Tessa zum Verwechseln ähnlich sehen … Feingezeichnete Figuren mit vielen Facetten, tiefe Gefühle, ebensolche Abgründe und unerwartete Wendungen – so lässt sich der Stil der deutsch-griechischen Autorin beschreiben. Ihre Texte ziehen beim Lesen mitten ins Geschehen und regen zum Mitdenken und Mitfühlen an. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind bereits die Romane „Von Herzen kostet extra“, „Kisses On Ice“ und „On The Rocks“ erschienen sowie zahlreiche Kurzgeschichten bei verschiedenen Verlagen. Im breiten Themenspektrum fällt ihre Krimi-Leidenschaft in vielen Variationen auf: Beim Bücherschreiben, als Verfasserin des mörderischen Musicals „Liz oder Mary“ sowie als Mit-Autorin der TV-Serie „Der Bulle von Tölz“. Maria Soulas lebt in Wuppertal. Sie hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und eine Journalistenschule besucht. Neben der Autorentätigkeit ist sie Rundfunk-Redakteurin und Moderatorin.

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Maria Soulas

Lenya Lebt Los

Roman

*

www.Guenther-Emig.de

eBook ISBN 978-3-948371-03-6

Buchausgabe ISBN 978-3-948371-98-2

© 2024 Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten

Who is who

Lenya Sommer, 32, Innenarchitektin in Frankfurt

Kristina und Karl Sommer, ihre Eltern

Leonard »Lenny« Sommer, Lenyas Zwillingsbruder, verunglückt im Alter von 17 Jahren tödlich

Lenyas Freundinnen:

Dr. Hanna Bloom, 33, geborene Brückner, Kommissarin in Cochem, geschieden

Marlene Weiß, 32, schreibt für Mode-Magazine, lebt in Köln

Tessa Lohmann, im Alter von 17 Jahren spurlos verschwunden seit der Nacht, in der Lenny verunglückte

Nike Schön, Rechtsanwältin, Lennys große Liebe

Sibylle und Gernot Schön, ihre Eltern

Sebastian Black, 39, Drehbuchautor und Regisseur, Deutsch-Amerikaner

Matthias »Matze« Rabe, 32, betreibt Kfz-Werkstatt, Lennys bester Freund

Anni und Eduard Rabe, seine Eltern

Polizei Cochem:

Lilli Jakob, Hannas Sekretärin

Ulf Wendel, Polizist

Nadja Ziegler, Polizistin

Pater Emmanuel, Kloster Maria Engelport

Sigrun Nüssel, pensionierte Grundschul-Lehrerin

Dietlinde Boden, geborene Wundermann, Freundin von Familie Sommer

Michael Keller, Inhaber Come In

Mitarbeiter: Donatello Romano

Constanze Stein, Cochemer Zeitung

Peter Veit, Redaktionsleiter

Bruno und Liz Eltern des Mörders

Karla, Brunos zweite Frau

Opfer des Rote-Mützen-Mörders:

Anja Zurowski, Studentin, Koblenz

Paula Struck, Boutique-Besitzerin, Trier

Janine Becker, Krankenschwester Bonn

Silvia Stuart, eigentlich Trauts Schauspielerin, Bonn

Lenya nimmt niemals Anhalter mit. Sie weiß nicht, warum sie abgebremst hat. Vielleicht, weil in dieser Gegend kaum Autos unterwegs sind. Vielleicht, weil er ein kindliches Gesicht hat. Als er einsteigt, überreicht er ihr ein frisch gepflücktes Gänseblümchen. Wenn er lächelt, kann ihm sicher niemand böse sein. Ihr Bruder Lenny konnte auch so lächeln.

»Danke, Sie sind ein Glücksengel! Ich dachte schon, ich komm hier nie weg.« Seine Stimme klingt dunkler als sein Gesicht vermuten lässt. »Ich war im Kloster Maria Engelport, weil ich etwas schreibe über magische Orte. Da gibt’s einen echt netten Pater.«

Lenya nickt. Sie weiß nichts über magische Orte. Und sie weiß nicht, ob sie etwas darüber erfahren möchte.

»Als ich Ihr Kennzeichen gesehen habe, war ich doppelt happy. Sie fahren doch bestimmt nach Frankfurt.«

»Nein«, lügt Lenya, »ich muss zu einem Geschäftstermin.« Bis Frankfurt sind es fast zwei Stunden. So viele Gänseblümchen braucht kein Mensch. »Aber ich kann Sie gern an der ersten Autobahn-Tankstelle absetzen. Da kommen Sie gut weiter.«

»Sie haben gar keinen hessischen Slang drauf«, er fährt sich durch die blonden Locken. »Eine echte Frankfurterin sind Sie nicht, stimmt’s?«

»Nein, bin ich nicht.« Lenya bedauert, ihn mitgenommen zu haben. »Ich wohne noch nicht lange dort.« Er scheint reden zu wollen. Und sie möchte schweigen.

»Frankfurt ist wirklich schön. Ich kann Ihnen alles zeigen, was nicht im Reiseführer steht.« Sein Lachen klingt unbeschwert. »Falls Sie Insider-Infos möchten.«

Gleich kommen die Haarnadelkurven, die sie als Kind fürchtete. So regelmäßig wie sie sich übergeben musste, erwiderte ihre Mutter, ›diese Übelkeit ist lediglich ein Zeichen deiner mangelnden Disziplin.‹ Ob andere Kinder solche Mütter besuchen würden?

»Die Callas mag ich auch. Darf ich?« Er stellt lauter. Nicht zu laut. Die perfekte Callas-Lautstärke. Casta Diva. Hinter der nächsten Kehre steht das schlichte Holzkreuz. Die Arie lässt ihn verstummen.

Weiße Rosen liegen bei dem Kreuz. Maria Callas tröstet mit dem Klang ihrer Stimme, in der so viel eigenes Leid liegt. Ob es Trost nur zu diesem Preis gibt?

Lenya kommt zweimal im Monat. 400 Kilometer für einen Nachmittag bei trockenem Kuchen und lauwarmem Tee, den die Nachbarstochter Vivien am Morgen kocht und dessen Thermoskannen-Aroma sich weder mit Zucker noch mit Milch überdecken lässt. Bietet Len­ya an, frischen Tee aufzubrühen, winkt ihre Mutter ab. Kristina will jeden Moment der wertvollen Zeit mit ihrer Tochter auskosten. Würden das nicht alle Mütter, die einmal ein Kind verloren haben?

»Möchten Sie ein Pfefferminz?« Auf der runden Metalldose, die er ihr hinhält, ist ein Kinder-Karussell abgebildet. Als Lenya dankend ablehnt, bedient er sich selbst und legt die Dose in die Ablage unter dem Radio. »Falls Sie später probieren möchten.«

Chuck Norris kann im Karussell überholen steht in weißer Schrift auf dem roten Deckel.

Bei jedem Besuch muss Lenya, sobald sie auf dem Wohnzimmer-Sofa Platz genommen hat, denselben verklärenden Erinnerungen ihrer Mutter lauschen. ›Weißt du noch, wie der kleine Lenny auf dem Karussell immer im Polizeiauto sitzen wollte?‹

Lenya hört geduldig zu, stets bemüht, ihren Einsatz nicht zu verpassen: ›Und ich musste das Pferd nehmen, damit er mich überholen kann.‹

Das Stück heißt ›Weißt-du-noch?‹. Lenya kennt es in- und auswendig und kann den Vorhang kaum erwarten.

Eifersüchtig wacht Kristina darüber, dass ihre Tochter nicht mehr Zeit mit ihrem Vater verbringt als mit ihr. Nach Lennys Unfall hat Karl sich zurückgezogen, hält sich fast ausschließlich im Gästezimmer auf. In einer stillen Abgeschiedenheit, zu der niemand Zugang findet. Vielleicht kann man sich nur durch die Abkehr von der Welt jener in sich selbst zuwenden.

Früher begann sie, auf ihren Vater einzureden, sobald sie ins Zimmer trat. Sie berichtete vom Studium, von der Arbeit, ihrem Alltag, sprach ununterbrochen, bis sie sich wieder verabschiedete. Weil sie sein Schweigen nicht ertrug. Waren ihre vorbereiteten Themen erschöpft, las sie ihm aus der Zeitung vor. Meist Lokalpolitik. Die hatte ihn früher besonders interessiert. Nach den Besuchen war sie heiser. Sie verabschiedete sich, ohne zu ahnen, ob ihr Vater sie hört, ob er zuhört, was von allem er wahrnimmt.

Inzwischen sitzt sie stumm mit ihm am Fenster zum Garten, hält seine Hand und wartet, bis die Stille sie sanft umfängt und zu ihm lässt. Seitdem ist sein Schweigen wohltuend. Sie findet sich darin zurecht. Len­ya versteht endlich, wie gut es sich anfühlt, nicht immer alles auszusprechen. Das Leben verlangsamt sich auf angenehme Weise. Ihre Sinne ruhen sich aus von den Eindrücken, die zu allen anderen Zeiten an allen anderen Orten auf sie einströmen. Es hat lang gedauert, bis sie das zulassen konnte.

Wenn sie sich behutsam aus der Stille löst, ihren Vater auf die Wange küsst und aus seiner Welt wieder hinübergeht in die ihrer Mutter, fühlt Lenya sich jedes Mal, als trüge sie ein leichtes Kleid im eisigen Winter oder einen schweren Mantel im heißen Sommer. Was sie auch ablegt oder überstreift, sie bleibt falsch angezogen. In jeder dieser Welten. Also fährt sie zurück in ihre eigene und versucht, nicht daran zu denken, dass sie in zwei Wochen wieder hier sein wird.

Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie der Junge sich mit beiden Händen durch die Locken fährt. Den feinen Zitrusduft, den die Bewegung zu ihr trägt, hat sie bereits in dem Moment wahrgenommen, als er sich neben sie setzte.

Von ganz allein neigt sich Lenyas Kopf immer wieder unmerklich zur Seite, wenn sie unauffällig versucht, die Erinnerung an das Parfüm aufzufrischen. Es riecht wie Lennys erstes Rasierwasser, das ihn stets begleitete wie ein flüchtiger Hauch. Für Lenny war das Aftershave besonders kostbar, weil es ein Geschenk seiner Freundin Nike war. Er selbst hätte wohl einen anderen Duft ausgesucht. Etwas Dunkleres, Holziges, vielleicht mit einer Zimtnote.

Nach seinem Unfall hatte Lenya das Fläschchen an sich genommen und heimlich an dem Flakon gerochen, bis der Duft sich veränderte und sie es ebenso heimlich zurückstellte.

»… unser Feature über das Klangempfinden von Blinden gleich im Kultur-Magazin …«

Automatisch stellt Lenya das Radio bei den Programmhinweisen leiser. Manchmal malt sie sich aus, wie es wäre, beiläufig zu erwähnen, dass Nachbarin Vivien von ihr fürstlich entlohnt wird. Aber sie bringt es nicht übers Herz. Zu offenkundig ist die Freude ihrer Mutter darüber, dass jemand aus reiner Freundlichkeit nach ihnen sieht.

»Ich hab mal einen Bericht gelesen über einen Typ, der eine Augenbinde trug, um die Welt als Blinder zu erleben.« Die Stimme des Jungen holt Lenya zurück. »Dabei verstellt er sich doch. Sobald er die Binde abnimmt, kann er ja sehen.«

Wieder streicht er sich das Haar aus dem Gesicht. Und wieder lässt die Bewegung den zitronigen Duft ahnen.

»Er hat etwas echt Spannendes gesagt. Dass er nach und nach die Angst vor dem Stolpern verloren hat. Er meinte, dass die Angst der größte Stolperstein ist. Das fand ich … oh Gott, nein!!«

Irritiert folgt Lenya seinem erschrockenen Blick. Aus dem Wald rennt ein riesiges Wildschwein wie aus dem Nichts auf die Straße. Obwohl sie sofort bremst, fährt sie eine gefühlte Ewigkeit auf das Tier zu, bis der Wagen endlich steht. Der Aufprall ist nicht heftig, dennoch zittert Lenya am ganzen Körper. Ihre Hände umklammern das Lenkrad.

»Mann, war das knapp. Klasse reagiert!« Anerkennend nickt der Junge. Als er aussteigt, um den Wagen herumgeht und vorsichtig versucht, sich dem Tier zu nähern, springt es völlig unerwartet auf. Das Wildschwein stößt ihn zu Boden und flüchtet in den Wald.

Auf wackligen Beinen geht Lenya zu ihm. Mit aufgerissenen Augen liegt er da. Sie berührt ihn leicht, doch er reagiert nicht. Weit und breit kein Mensch. Und kein Netz in dieser Gegend. Sonst wäre ihr Bruder damals hier nicht verblutet. Der Autofahrer, der Lennys Moped von der Straße gedrängt hatte, war später ermittelt worden. Aber das war nicht von Bedeutung. Der Gedanke, Lenny könnte bei Bewusstsein gewesen sein, ohne Hilfe rufen zu können, ist noch immer unerträglich.

Auf der Straße liegt ein Ausweis. Er muss dem Jungen gehören. Lenya sieht sich um. Ohne Hilfe kann sie ihn nicht ins Auto tragen. Sie muss sofort weiterfahren, um den Notarzt zu rufen. Als sie den Personalausweis aufhebt, fällt ihr Blick auf den Namen. Adrian Woltersleben-Frey. Viel zu selten für eine Verwechslung. Er muss sein Sohn sein.

Bei der Gerichtsverhandlung saß er mit seiner Mutter und seinem Bruder im Publikum. Lenya konnte weder die beiden Jungen ansehen noch den Vater auf der Anklagebank. Der ihnen sein Mitgefühl aussprach und seine Unschuld beteuerte. Vor der Verhandlung. Im Gericht. Und aus dem Gefängnis. Ihre Eltern und Lenya haben die Briefe nicht beantwortet.

Einer der Jungen wischte sich immerzu mit den zu Fäusten geballten Händen die Tränen aus dem Gesicht. Große, furchtsame Augen hatte er und blonde Locken.

* * *

»In der gleichen Kurve wie der Lenny damals?« Sonja packt das Sesambrötchen zu den anderen. »Also, ich finde, die sollten da überall Blitzer hinstellen. Dann fahren alle langsamer.«

»Der Wagen war nicht zu schnell. Das soll ein Wildunfall gewesen sein.« Wie er es sagt, klingt es, als meinte er, es wäre ganz anders. Sonja ist es lieber, wenn Menschen sagen, was sie meinen. Aber der Schön ist Anwalt. Da muss man wohl so reden.

»Angenehmen Tag noch, Frau Bäumer!« Sie hilft der alten Dame die Stufe hinunter.

Herr Schön ist der nächste.

»Ein Mohnbrötchen und ein Roggenbrötchen, bitte.« Wie er es sagt, klingt es, als wüsste Sonja nicht, was er seit Jahren täglich kauft.

»Und wissen Sie, wer am Steuer saß?« Frau Rabes Stimme ist nur ein Flüstern. Für Sonja klingen die Worte leiser Menschen irgendwie bedeutender. Vielleicht hört sie ihnen deshalb lieber zu als den lauten.

»Leonards Schwester. Die Lenya.«

Für einen Moment ist es totenstill in der Bäckerei. Sonja erschrickt beim Ton der Türglocke, als eine fremde Frau den Laden betritt.

»Es wurde weder ein totes Wildschwein gefunden«, Frau Rabe scheint den Schockmoment regelrecht zu genießen, »noch ein verletztes.«

Herr Schön sieht ungeduldig auf die Uhr. Früher holte er seine Brötchen frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit. Sein Wagen stand dann direkt vor der Bäckerei, oft sogar mit laufendem Motor. Die Kanzlei hat seine Tochter Nike übernommen. Es heißt jedoch, Herr Schön erscheine wie früher jeden Tag in seinem alten Büro. Oder vielmehr jetzt in Nikes. Menschen ändern sich nicht.

»Und einen Nusskuchen.« Er lächelt die überraschte Sonja an und tippt an seine Hutkrempe, bevor er mit seinen gewohnten Brötchen und dem ungewohnten Kuchen beinahe beschwingt den Laden verlässt.

Während Frau Rabe ihr Fünfkornbrot einpackt und auf ihr Wechselgeld wartet, mustert sie unverhohlen die elegante Erscheinung zu ihrer Linken. Das muss an dem schimmernden Hosenanzug liegen. Sonja wäre es äußerst unangenehm, so offenkundig unter die Lupe genommen zu werden. Dennoch kann auch sie kaum ihre Blicke von dem auffälligen Outfit lösen. Sie fragt sich, ob der Stoff lila oder grau ist. Rabes hatten früher zwei Modehäuser im Ort. Anni Rabe war in dieser Zeit so etwas wie die modische Instanz von Cochem. Zumindest sah sie selbst das so.

»Haben Sie etwas mit Kirschen und Marzipan?« Die Fremde schenkt Frau Rabe trotz der intensiven Blicke keinerlei Beachtung und scheint gänzlich unbeeindruckt, wie Sonja, ihrerseits beeindruckt, feststellt.

»Wir haben Kirsch-Plunder oder Kuchen.« Sonja hätte nie auf süße Teilchen getippt, eher auf koffeinfreien Kaffee, natürlich schwarz und ohne Zucker.

»Ein Stück, bitte«, sie deutet auf den Kuchen. »Und einen Latte-to-go.«

»Gern.« Sonja greift nach einem Becher und bereitet mit routinierten Handgriffen den Kaffee zu. Nach einer Touristin sieht sie nicht aus. Die tragen festes Schuhwerk. An den Wochenenden macht Sonja als Mosella Themen-Führungen durch die Cochemer Altstadt. Sie hat noch nie erlebt, dass eine Frau mit solchen High Heels durch die steilen mittelalterlichen Gassen gestöckelt ist. Sonja bezweifelt, dass sie selbst einen Schritt darin gehen könnte.

An der Tür dreht sich die Fremde noch einmal um. »Hier muss eine Werkstatt in der Nähe sein. Wissen Sie, wie ich da hinkomme?«

»Die ist in der Parallelstraße. Wenn Sie an der Ecke rechts abbiegen, sehen Sie’s schon.« Ob sie Lenya anrufen soll. Oder ihre Mutter. Die Mutter besser nicht, Sonja hat sie seit der Beerdigung nicht mehr gesprochen. Dietlinde kauft für Lenyas Eltern ein. Herr Sommer soll sehr krank sein. Ob seine Frau deshalb kaum das Haus verlässt? Vor Ewigkeiten hat sie Lenya und ihre Mutter von weitem beim Kloster gesehen. Sie haben sich zugewinkt.

Sonja geht oft beten. Nicht in der Kirche, sondern in der Felsgrotte vor dem Kloster. In der Kirche kniet zu jeder Tageszeit mindestens eine Nonne. Sonja weiß nicht warum, aber Nonnen flößen ihr Angst ein.

* * *

Er erinnert sich genau an die Schlagzeilen vor 15 Jahren. Schülerin aus Cochem vermisst … 17-jährige Tessa L. nach Disco-Besuch spurlos verschwunden … wollte mit Taxi nach Hause … Taxizentrale registrierte keinen Anruf …

Das Rosinenbrötchen schmeckt wie Pappe. Er spült den ersten Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunter. Der Cappuccino ist heiß und stark. Vor ihm watscheln Enten am Mosel-Ufer entlang. Er zerbröselt das Brötchen und schaut zu, wie sie sich auf die Brocken stürzen. Wäre er nicht in die Bäckerei gegangen, dann würden ihn die Bilder jetzt nicht verfolgen. Überall werden sie darüber berichten. Dann reden wieder alle von nichts anderem.

Er will nicht mehr an diese Nacht denken. Nicht an diese und nicht an die anderen … Am liebsten würde er die Erinnerung auslöschen. Warum musste der Junge ausgerechnet in dem Moment vorbeifahren. Das Mädchen hätte sich schon beruhigt. Sie wären in die Stadt zurückgefahren. Nichts wäre geschehen.

Er war gerade auf dem Weg nach Hause, als sie ihn ansprach, ob er sie mitnehmen könne. Er wollte freundlich ablehnen, doch als er sich zu ihr umdrehte, schien die Welt für einen Moment stillzustehen. Vor ihrem Gesicht. Diesem vertrauten Gesicht.

Er ließ sie einsteigen. Sie bewunderte seinen Wagen und wie es schien – auch ihn ein wenig. Der Alfa Romeo Spider, den er an dem Abend fuhr, war ein Leihwagen. Sie erzählte, ein Freund von ihr fahre den gleichen. Sie lachte auf diese gewisse Weise …

Mondhell war die Nacht. Irgendwie romantisch, bis sie anfing, sich über die Loser in der Disco lustig zu machen, die meinten, sie hätten Chancen bei ihr. Was wüssten Männer überhaupt von Frauen. Kein Mann könnte jemals eine Frau verstehen. Ihre Stimme klang hämisch. Wie Dolchspitzen in seinen Ohren.

Als sie plötzlich fragte, wohin er wolle, bemerkte er erst, dass er zur Klosteranlage fuhr. Die enggewundene Straße durch den Wald. Er solle sofort anhalten, sagte sie. Die Stimme des überheblichen Mädchens, das sich selbst maßlos überschätzt, klang plötzlich ängstlich. Das gefiel ihm.

Als sie ins Lenkrad griff und hysterisch schrie, bremste er. Da er auf der engen Landstraße nicht stehenbleiben konnte, bog er in einen Waldweg ab. Er wollte sie nur beruhigen.

Sobald der Wagen stand, sprang sie raus und rannte Richtung Straße – dem Jungen direkt vors Moped. Er riss den Lenker herum und stürzte die Böschung hinunter. Gleich nach dem Sturz rappelte er sich wieder auf.

›Lenny, hilf mir!‹, kreischte sie, offensichtlich kannten sich die beiden. ›Der will mich vergewaltigen!‹

Er hatte gar keine Chance, etwas richtigzustellen. Dieser Lenny wollte wohl den Helden spielen und ging direkt auf ihn los. Nur um ihn abzuwehren, stieß er den Jungen von sich. Nicht einmal heftig. Aber er fiel unglücklich und schlug mit dem Kopf auf einem Stein auf. Den leisen, dumpfen Aufprall hört er heute noch. Reglos blieb der Junge neben seinem Moped liegen. Sie rannte schreiend davon. Bis er sie einholte. Da konnte er sie nicht mehr laufen lassen.

Mit Kollegen hatte er einmal einen Ausflug zum ehemaligen Bundesbank-Bunker unternommen, der inzwischen ein Museum war. Sie liefen 30 Meter unter der Erde durch lange Gänge, passierten dicke Panzertüren, vorbei an Arbeitsräumen, Schlafkammern und Lagerstätten für die Banknoten. Er erinnerte sich, dass ganz am Ende eine Luke war, die nicht mehr geöffnet wurde. Der davor hoch aufgeschüttete Sand hätte als Filter für die angesaugte Luft dienen sollen, falls jemals Menschen im Bunker untergebracht worden wären.

In diesem Sand liegt das Mädchen seit jener Nacht.

* * *

»Das macht 73,15.«

Dietlinde gibt erst das Kleingeld. »3,15«, zählt sie auf die Ladentheke. »Und hundert.« Sie steckt den Bon ein und das Wechselgeld. Ihrem Mann liegt viel daran, dass die Einkäufe für Kristina korrekt abgerechnet werden. Korrekt ist eines von Roberts Lieblingswörtern. Es hat nichts zu tun mit dem, was man fühlt oder glaubt. Schließlich sind sie schon ewig mit Kristina und Karl befreundet. Korrekt bezeichnet lediglich, wie Rechnungen auseinanderzudividieren, Termine einzuhalten oder Steuererklärungen ordnungs- und wahrheitsgemäß auszufüllen sind.

An der Käsetheke hat sie die junge Frau Rabe getroffen. Vanessa. Völlig verhuscht ist die. Das könnte an der alten Frau Rabe liegen. Matthias und Vanessa wohnen in seinem Elternhaus. In einer eigenen Wohnung zwar, aber was sollten Wände und Türen schon gegen Anni Rabes Dominanz ausrichten?

Vanessa ist bei Robert in Behandlung. Sie und Matthias wünschen sich ein Baby, wie Dietlinde den spärlichen Kommentaren der alten Frau Bertold entnehmen konnte, die Sprechstundenhilfe ist, seit Robert die Praxis eröffnet hat.

Dietlinde stellt den Einkaufskorb auf den Beifahrersitz, fährt vorsichtig aus der Parklücke und ordnet sich in den Verkehr ein. Als der Jingle der Regionalnachrichten ertönt, fragt sie sich amüsiert, womit wohl heute wieder die fünf Minuten gefüllt werden. Interessantes passiert in dieser Gegend kaum.

»Treis-Karden, Kreis Cochem-Zell

Bei einem Wildunfall ist auf der L 202 in der Nähe des Klosters Maria Engelport ein 24-jähriger Student aus Frankfurt ums Leben gekommen. Der Unfall ereignete sich nach dem Zusammenstoß eines PKW mit einem Wildschwein, bei dem beide Fahrzeuginsassen zunächst unverletzt blieben.

Als der Beifahrer ausstieg, um nach dem Tier zu sehen, sprang das offenbar kurzzeitig bewusstlose Wildschwein auf und riss dabei den 24-Jährigen zu Boden. Bei dem Sturz erlitt der junge Mann eine tödliche Kopfverletzung.«

Dann interviewt die Nachrichtensprecherin einen Förster, der erklärt, dass man sich nach einem Wildunfall dem verletzten Tier nie nähern, sondern die Polizei rufen sollte. Dietlinde schaltet das Radio aus, sie zittert am ganzen Körper.

Es muss auf der gleichen Strecke passiert sein … Unvermittelt bringt eine kurze Radiomeldung die Vergangenheit zurück. Dietlinde schließt die Augen, aber die Bilder lassen sich nicht vertreiben. Karl ist abgeschottet in seiner Welt, für Kristina könnte diese Nachricht jedoch zu einer neuen Krise führen. Alles wird wieder aufgewühlt.

Dietlinde weiß nicht, ob sie schweigen soll oder es möglichst beiläufig erwähnen, damit Kristina wenigstens nicht allein ist, wenn sie davon erfährt. Dass ihr die Nachricht erspart bleibt, ist nicht anzunehmen. Im Ort spricht sich immer alles rum. Sie kann die Kommentare schon hören … auf der gleichen Strecke, nein wie tragisch, wisst Ihr noch der arme Lenny …

Sie hat bei der Nachricht so abrupt gebremst, dass die Flaschen im Korb heftig aneinander geklirrt sind. Glücklicherweise ist keine zerbrochen, sonst müsste sie Robert die Flecken und den Geruch erklären. Ob die Kassiererinnen meinen, dass sie selbst oder ihr Mann so viel Wein trinkt, wie sie kauft? Oder dass sie so oft Gäste haben?

Dietlinde hat schon daran gedacht, im Nachbarort einzukaufen, aber dann wird Robert fragen, woher die Mehrkosten fürs Benzin stammen. Außerdem kontrolliert er den Tachostand. Nicht, um ihr nachzuspionieren. Er weiß eben gern, wie viele Kilometer jeder der beiden Wagen exakt fährt und wie hoch der Durchschnittsverbrauch ist. Robert achtet auf den Ölstand und optimalen Reifendruck. Vielleicht hat ihn deshalb niemals jemand Robby genannt.

Jedes Mal, wenn er sich erkundigt, warum Kristina so viele Schlaftabletten braucht, spielt Dietlinde mit dem Gedanken, das Rezept selbst auszustellen. Seine Unterschrift beherrscht sie perfekt. Dieses ungelenk hin gekratzte R. Boden. Bedauernswert sieht das aus. Dietlinde unterschreibt mit großen Schwüngen. Obwohl es sein Name ist. Der Schwung ist vielleicht das einzige, was von ihrem eigenen übriggeblieben ist. Wundermann. Dietlinde liebte ihren Namen. Hätte Robert damals bei der Heirat ihren statt sie seinen angenommen, wäre seine Unterschrift vielleicht schwungvoller. Aber das war nicht üblich und selbst wenn, Robert wäre nie ein Wundermann geworden.

Dietlinde bezweifelt, dass er ahnt, wie gut sie seine Unterschrift beherrscht. Sie zweifelt jedoch keine Sekunde daran, dass Robert stets weiß, wie viele Blätter am Rezeptblock fehlen.

Vielleicht hat seine Vorsicht mit dem Tod der Frau des Richters vor vielen Jahren zu tun. Sie ließ sich von allen Ärzten in der Umgebung Medikamente verschreiben, ohne dass einer von den Rezepten des anderen wusste. Damals wurde viel geredet. Tabletten-Missbrauch war wohl die Todesursache. Ob sie an jenem Tag aus Versehen oder mit Absicht zu viel eingenommen hatte, wurde nie geklärt. Robert war das nahegegangen, er und Richter Brückner waren als Kinder eng befreundet. Nachdenklich stellt Dietlinde den Wagen ab.

Karls Medikamente verschreibt Robert dennoch bereitwilliger, obwohl einer seiner Kollegen aus der Klinik der Meinung war, sie hätten überhaupt erst zu seinem Zustand geführt. Dietlinde glaubt, dass er diesen Zustand einfach der Wirklichkeit vorzieht. Sie könnte es sogar verstehen. Kristina ist nirgendwohin geflüchtet und vermutlich schlimmer dran.

Während ihre Freundin die Einkäufe in die Schränke räumt, geht Dietlinde ins Gästezimmer. Eigenartig, dass es noch immer so genannt wird. Es ist seit Jahren Karls Zimmer. Sie hat geglaubt, er werde sich wieder fangen. Vielen hilft Arbeit oder eine Selbsthilfegruppe. Vor langer Zeit hat Dietlinde ein Infoblatt mit Ansprechpartnern mitgebracht. Nach einem flüchtigen Blick auf die Broschüre gab Kristina ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie auf gar keinen Fall jemals mit trauernden Eltern im Kreis sitzen werde, um sich auszutauschen. Dietlinde hat nie mehr einen solchen Vorstoß unternommen.

Leise klopft sie an. »Hallo, Karl«, sie berührt ihn leicht an der Schulter. »Ich hab dir Mandelplätzchen gebacken. Die magst du doch.«

Als er in der Pflegeeinrichtung war, hat sie Kristina nach dem ersten Besuch förmlich gezwungen, ihn nach Haus zu holen. Dietlinde fand, dort konnte man nicht einmal einen Menschen lassen, der einem gleichgültig war. Den entscheidenden Hinweis gab eine junge Ärztin, der man den Idealismus noch ansah. Sie betonte, eine Besserung sei durch medizinische Versorgung kaum zu erwarten, in einer liebevollen, vertrauten Umgebung hingegen viel wahrscheinlicher. Direkt nach dem Gespräch ging Dietlinde mit Kristina im Schlepptau zur Klinikleitung, füllte die entsprechenden Formulare aus, ließ Kristina unterschreiben und organisierte Karls Rückkehr. Da wusste sie noch nicht, dass er die nächsten Jahre in diesem Zimmer verbringen würde. Der karge Raum ist weder liebevoll noch vertraut.

»Ich glaub, wir kriegen einen richtig schönen Sommer. Nächstes Mal gehen wir ein bisschen in den Garten, was meinst du, Karl?« Dietlinde streicht zum Abschied kurz über seine Hand, die auf der Lehne liegt. Dann folgt sie Kristina ins Wohnzimmer, vorbei an Lennys Gemälden, die alle Wände schmücken. Die Meldung aus dem Radio geht ihr nicht aus dem Kopf. Morgen wird es in der Zeitung stehen. Vermutlich mit Fotos. Dietlinde beschließt, den Unfall nicht zu erwähnen. Wenn man nicht weiß, wie man etwas ansprechen soll, ist es besser zu schweigen. Vor einem ihrer Lieblingsbilder bleibt sie stehen. Wie kann es sein, dass es Lennys bunter Sommerwiese mit ihren leuchtenden Farben nicht gelingt, die traurige Atmosphäre aufzuhellen?

Wie bei jedem Besuch wiederholt Dietlinde, was sie selbst nicht mehr hören kann. Kristina müsse doch unter Menschen … auch Karl könnte Gesellschaft guttun … das Leben ginge doch weiter …

Kristina nickt wie immer zustimmend und legt die Tabletten auf die schmale Treppe, die nach oben führt. Wie ein Versprechen. Jedes Mal, wenn sie an diesem Tag an der Treppe vorbeikommt, weiß sie, was ihr durch die Nacht helfen wird.

Sollte sie Robert je verlassen, wird Dietlinde ihr ein Dutzend Rezepte ausstellen.

* * *

Ulf hasst es, Berichte zu schreiben. Besonders seit die neue Polizei-Chefin da ist. Dr. Bloom. Gleich beim Kennenlernen ist er ins erste Fettnäpfchen getreten, dabei wollte er bloß eine lustige Bemerkung machen, wegen des englischen Namens und weil sie früher in London tätig war.

Bei ihrem Dienstantritt versammelten sich alle im Konferenzraum. Ulf gesellte sich zu den wenigen Kollegen, die, wie er selbst, zu früh dran waren. Er ahnte nicht, dass die Chefin bereits im angrenzenden Aktenraum direkt hinter ihm stand, als er gut gelaunt verkündete, er könne es gar nicht erwarten, die neuesten Scotland-Yard-Ermittlungs-Methoden von Mrs. Sherlock Holmes persönlich zu lernen …

Die Kollegen schwiegen betreten, während sie aus dem Nebenzimmer trat und erklärte, sie habe zwar in England studiert, bei Scotland Yard jedoch lediglich ein Praktikum absolviert. ›Falls Sie nach meiner Vorstellung keine weiteren Fragen zu meinem Werdegang haben‹, sagte sie mit einem Lächeln, das ihm durch Mark und Bein ging, ›können Sie sich im Anschluss gern mit den bewährten Cochemer Ermittlungs-Methoden dem Tagesgeschäft widmen.‹

Er brachte gerade noch eine Entschuldigung heraus, da fing sie schon an mit ihrer kurzen Rede, von der danach alle begeistert erzählten. Ulf hatte von ihrer Präsentation kaum ein Wort mitbekommen, nur höflich gelacht, wenn alle lachten und zustimmend genickt, wenn alle nickten.

Dr. Bloom ist die einzige, die Wert darauf legt, gesiezt zu werden. Die Handvoll Auserwählter, die sie duzen darf, kennt sie von früher oder über ihren Vater, den alten Richter Brückner. Ein Hardliner sagt man.

Bislang hat sie noch an jedem seiner Berichte etwas auszusetzen gehabt. Alles muss exakt nach Vorschrift sein. Sie fragt nach Zusammenhängen, die niemandem aufgefallen wären, will detailliert wissen, was sonst keinen interessiert.

›Kann ja mal passieren‹, hat er erwidert, als sie ihn das erste Mal auf eine, in seinen Augen unbedeutende Ungenauigkeit aufmerksam machte. Unter ihrem Blick fühlte er sich plötzlich wie ein Drittklässler, der eine Gedichtstrophe vergessen hat. Jede Grundschullehrerin beherrscht diese Art, einen anzusehen. Unter Männern gibt es solche Blicke nicht.

›Das meinen Sie vielleicht‹, hat sie mit einem beunruhigenden Unterton geantwortet und ihn einfach stehenlassen. Seitdem ist Ulf krampfhaft darauf bedacht, dass ihm nicht die kleinste Kleinigkeit entgeht. Und das nimmt er ihr übel.

Die Spuren an der Kleidung dieses Studenten müssen mit denen am Auto abgeglichen, der Lack des Wagens auf Fasern sowie Blut- und Hautpartikel untersucht werden. Wann genau hat die Fahrerin den Anhalter mitgenommen? Gibt es weitere Hinweise auf Gewalteinwirkung? Wurde das auf einem Waldweg abgestellte, auf den Toten zugelassene Fahrzeug manipuliert, um den jungen Mann an der Weiterfahrt zu hindern? Über den Wagen darf nichts an die Presse. Und so weiter.

Ulf ist ständig auf der Hut. Was ihm wirklich etwas ausmacht, ist zu Recht einer Nachlässigkeit überführt zu werden. Ein übersehenes Detail, das ihm selbst wichtig erscheint.

Bei den Kollegen ist die Bloom beliebt. Bei den Männern, weil sie aussieht, wie sie aussieht. Und die Frauen meinen wohl, wenn es eine nach oben schafft, kann jede von ihnen die nächste sein.

Er selbst hätte Respekt vor ihr, wenn sie den Rote-Mützen-Mörder findet. Oder wenigstens das vermisste Mädchen. Er tippt weiter und sieht die Bilder vor sich. Von dem anderen Jungen. Diesem Leonard. Ausgerechnet der Vater der Bloom hat den Autofahrer verurteilt. Zwei Jahre Knast ohne Bewährung.

Ulf hatte damals die Kollegen alarmiert. Im Morgengrauen kam er an der Unfallstelle vorbei, kletterte die Böschung runter. Zusammengekrümmt lag der Junge da. Leonard Sommer hieß er. Gerade mal 17 Jahre alt. Auf dem Weg ins Krankenhaus lebte er noch. Aber er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Wäre die Bloom damals schon hier gewesen, wäre möglicherweise alles anders ausgegangen und der Staatsanwalt hätte keine Anklage erhoben gegen den Vater des Jungen, der jetzt ums Leben gekommen ist. Insgeheim weiß Ulf, dass sie besser und gründlicher ermittelt als die meisten. Aber nicht einmal das macht ihm Mrs. Sherlock Holmes-Bloom sympathischer.

Er fürchtet, eines Tages einen seiner Berichte mit einem Mangelhaft zurückzubekommen, übersät mit Anmerkungen in roter Tinte: lückenhaft, unvollständig, ungenau. Sie könnte ihn hundertmal schreiben lassen: Ich muss bei meinen Berichten sorgfältiger sein.

* * *

Eine freundliche Stimme hat die Frau, denkt Karl. Er fragt sich, wer sie ist. Auch wenn er alle Stimmen stets gedämpft wahrnimmt, dringen die leisen leichter durch die Schwere, die ihn umgibt wie ein unsichtbarer Vorhang.

Kristinas Stimme ist anders als die der Frau. Jedes Wort ungeduldig. Sie scheint bei der ersten Silbe die letzte kaum erwarten zu können, um wieder schweigen zu dürfen. Wer könnte das besser verstehen als er?

Die Frau hat einen Teller auf die Fensterbank gestellt. Mandelplätzchen hat sie gesagt und dass er sie mag. Er kostet das zarte Gebäck, ohne etwas zu schmecken. Eine Weile hat Karl gehofft, ein Wort, eine Berührung, ein Klang könnte eine Empfindung zurückbringen, irgendeine. Aber nichts durchdringt die Taubheit. Der Tee riecht nach früher. Nach etwas, das er nicht benennen kann. Er hört, wie die Frauen sich an der Haustür verabschieden.

Als Kristina ins Zimmer tritt, schließt Karl die Augen. Er ist müde. Sie wird denken, er sei eingenickt. Er spürt, wie sie neben ihm steht. Ohne ein Wort an ihn zu richten. Ohne ihn zu berühren. Dann entfernen sich ihre Schritte. Als die Tür leise zugezogen wird, öffnet Karl seine Augen.

Dort hinten steht die blaue Kinderschaukel. Die Rutsche ist gelb und rot. Er weiß noch, wie er die Spielgeräte aufgebaut hat. An einem Freitag im Mai, vor dem ersten warmen Wochenende. Er hatte sich extra freigenommen. Die vierjährigen Zwillinge wollten sofort begeistert nach draußen stürmen. Aber Kristina verlangte, dass sie vorher zu Mittag aßen.

Lenya hatte keinen Appetit wie immer und Lenny konnte nicht wie immer heimlich ihre halbe Portion essen, damit sie endlich spielen durften. Kristina wachte stundenlang mit Argusaugen am Tisch darüber, dass aufgegessen wurde. Seine schöne Überraschung lag Karl schwer im Magen. Dennoch wollte er seiner Frau nicht vor den Kindern widersprechen. Er warf seiner Tochter aufmunternde Blicke zu. Nachdem das Essen endlich überstanden war, musste Lenya sich übergeben und durfte nicht mehr in den Garten. Lenny blieb aus Solidarität bei ihr im Haus.

›Dann schaukeln sie eben morgen‹, sagte Kristina. ›Was macht das für einen Unterschied?‹

Es gab viele solcher Momente. Die sich ebenso traurig anfühlten wie die Erinnerung, die sie zurückgelassen haben.

Vor seinen Augen verschwinden die Spielgeräte. Übrig bleibt eine ungepflegte, vermooste, braungrüne Fläche. Karl hat gern im Garten gearbeitet. Alle haben seinen schönen Rasen gelobt. Eine Zeitlang hat er versucht, Kristina dazu zu bewegen, gemeinsam Blumen zu pflanzen, einen Kräutergarten anzulegen. Manchmal stand sie neben ihm, bis sie meinte, das Telefon klingeln zu hören, sich ums Essen kümmern zu müssen oder etwas Dringendes zu tun zu haben. Er schließt die Augen. Der Blick nach draußen ist so trostlos wie der Blick nach innen.

* * *

Ich hatte gleich so ein eigenartiges Gefühl, als ich vor der Werkstatt stand, könnte sie sagen. Aber so ist es nicht. Gar nichts hat Marlene gefühlt. Es ist eine Werkstatt, die auf ihrem Weg liegt. Die sie nie wieder betreten wird. Weil sie in dieser Gegend nichts verloren hat. Nicht mehr. Eigenartig ist jedoch, dass die Warnleuchte an ihrem neuen Wagen ausgerechnet an dieser Autobahnausfahrt aufgeleuchtet hat. Sie erinnert sich, dass es am Ortseingang in einer Seitenstraße eine Werkstatt gab. Und es gibt sie noch.

Marlene stellt ihren Wagen in die Einfahrt. Sie fühlt keinen Schauer über den Rücken laufen, als der Mechaniker aus seinem schummrigen Büro tritt.

»Tach, was kann ich für Sie tun?« Die Stimme ist die unbekannte Stimme eines Fremden. Er wischt die Hände an einem schmierigen Lappen ab, den er in die Hosentasche steckt.

»Können Sie bitte mal schauen? Bei der Ausfahrt kam plötzlich die Warnung ›Werkstatt aufsuchen‹.« Sie lacht nervös.

Der Lappen hängt aus der Seitentasche seines ebenso schmierigen Overalls. Über dem Bauch spannt der Stoff leicht. Marlene weiß, was er denken wird. Keine Ahnung, aber ein dickes Auto. Sie geht rasch voraus. »Ich steh’ vor der Tür«, sagt sie über die Schulter.

»Da haben wir ja das Schätzchen«, in seiner Stimme schwingt Bewunderung beim Anblick des Cabrios.

Bevor sie ins Freie treten, setzt sie ihre Sonnenbrille auf. »Ich habe einen wichtigen Termin«, sie dreht sich zu ihm um. »Wär’ schön, wenn …«, Marlene erstarrt. »Sie … das gleich … machen könnten.« Diese blauen Augen kennt sie. Und sie wird sie nie vergessen. Leichte Fältchen umrahmen sie inzwischen, doch sie strahlen wie damals. Matthias. Er hält den Kopf wie früher, leicht nach links geneigt, sein Kinn ist nicht mehr ganz so markant, aber das Grübchen erinnert an den jungen Matthias.

Er war der Sohn des wohlhabenden Besitzers der einzigen Modehäuser im Ort. Rabe-Mode. Eines für Damen, eines für Herren. Ihre Mutter erstand manchmal etwas im Schlussverkauf. Sie gehörte nicht zu der erlesenen Klientele des Hauses und Marlene nicht zu dem Kreis, mit dem Matthias sich umgab.

Als sie im Eiscafé jobbte, kam er fast jeden Tag mit seinem Motorrad, an dem er ständig herumzuschrauben schien. Zwei Kugeln Vanille, eine Schoko, erinnert sie sich. Und Zimteis für seinen besten Freund, Lenyas Bruder. Sie redeten von ihren Motorrädern und löffelten ihr Eis, während Marlene darauf wartete, dass Matze sie bemerkte. In jeder Hollywoodschnulze hätte er sich in die freundliche Bedienung verliebt. Marlene versucht, nicht mehr daran zu denken. Das alles liegt eine Ewigkeit zurück. Ein ganzes Leben.

»Fertig«, er schließt die Motorhaube. »Schon mal spinnt einfach die Elektronik.« Sein Blick ist fest auf ihre elegante Erscheinung gerichtet.

»Was macht das?« Marlene ist sicher, dass er sie endlich erkennt.

»Service des Hauses«, grinst er.

Rasch drückt sie ihm einen Schein in die Hand. »Für die Kaffeekasse, Matze«, lächelt Marlene. Dann geht sie. Ganz langsam. Sie wird ihm Zeit lassen, sich zu erinnern.

Jetzt. Oder jetzt. Oder nie.

* * *

Man sollte nicht bleiben. Man sollte den Mut haben zu gehen. Dinge hinter sich lassen. Auch Menschen. Nike nimmt nur einen kleinen Karton mit. Wie in einem amerikanischen Film, denkt sie. Das Foto in dem schmalen Rahmen hat sie obenauf gelegt. Sein Gesicht ist noch nicht männlich. Erste Züge sind angedeutet. Kaum erkennbar. Nike wird nie erfahren, wie er als Mann ausgesehen hätte.

Sie wird jemanden bitten, ihre Sachen zu holen, sobald sie weiß, wohin sie gebracht werden sollen. Sie ist Anfang Dreißig und es wird ihre erste eigene Adresse sein. Sogar ihr Studenten-Apartment hatte ihr Vater für sie angemietet. Ebenso wie er die Uni empfohlen hat. Für Jura – was sonst sollte sie wohl studieren – war es eben die beste. Auch daran, dass sie die Kanzlei übernehmen würde, hat niemand in der Familie gezweifelt.

Sie wird einen Kollegen fragen. Falls Lenya überhaupt einen Anwalt braucht. Den besten, den Nike kennt. Besser als sie selbst. Einen, der mit dem Herzen tut, wogegen ihres sich doch entschieden hatte. Ohne Lenny schlug ihr Herz für nichts mehr. Nike konnte nicht Kunst studieren ohne ihn. Er hätte neben ihr gesessen, ohne bei ihr zu sein. Das hätte sie nicht ertragen. In den Vorlesungen über Straf- und Familienrecht tauchte Lenny nicht auf. Das Jurastudium verlangte ihr weder Ehrgeiz ab noch Leidenschaft. Man muss nicht gut werden, wenn man es nicht sein will.

Als Kristina ihr am Telefon völlig aufgelöst von einem tödlichen Unfall berichtete und sie bat, Lenya zu helfen, falls sie Schwierigkeiten bekäme, da wusste Nike noch nichts. Während sie mit Kristina telefonierte, klickte sie die Internet-Seite der Lokalzeitung an.

Tödlicher Wildunfall gibt Rätsel auf

Treis-Karden, Kreis Cochem-Zell. Im Fall des bei einem Wildunfall auf der L 202 tödlich verletzten Adrian W. haben die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass der auf einem Waldweg abgestellte PKW mit Frankfurter Kennzeichen auf den 24-Jährigen zugelassen war. Die Wagenschlüssel wurden im Rucksack des Mannes sichergestellt.

Der aus Frankfurt stammende Student hatte angegeben, wegen einer Studienarbeit das Kloster Maria Engelport aufgesucht zu haben. Bestätigt wurde dies von Seiten des Klosters bislang nicht. Warum er als Anhalter unterwegs war, soll nun geklärt werden. Wie berichtet, war er gegen 17 Uhr in das Fahrzeug von Lenya S. gestiegen. Bei der Kollision des Wagens mit einem Wildschwein blieben beide Fahrzeuginsassen unverletzt.

Nach dem Zusammenstoß stieg der junge Mann aus, um nach dem Tier zu sehen. Das offenbar nur kurzzeitig bewusstlose Wildschwein sprang auf und riss ihn dabei zu Boden. Der 24-Jährige erlitt bei dem Sturz tödliche Kopfverletzungen. Die Ermittlungen der Polizei dauern an. Zeugen werden gebeten, sich zu melden.

Nach einem Anruf bei einer befreundeten Polizistin kennt Nike den Namen des Studenten. Und plötzlich ist alles wieder da. Man kann nichts tief genug in sich verbergen, denkt sie. Es steigt wieder hoch wie ein aufgeblasener Luftballon, den man unter Wasser zu drücken versucht.

»Ich habe Nusskuchen mitgebracht!«, hört sie ihren Vater rufen. Jetzt wird er seinen Hut auf den Garderobenständer werfen. Meist trifft er beim zweiten Versuch, dann wird er mit der Post, die er aus dem Schließfach geholt hat, unterm Arm in der Tür stehen und fragen, ob er sie durchsehen soll. Was er ohnehin tun wird.

Ihre Bewerbungsmappe für die Kunstakademie hat sie nie abgeholt. Lenny verwahrte sie, damit ihr Vater sie nicht zufällig entdeckte. Vielleicht liegt die blaue Mappe noch bei Lennys Sachen.

Nike fährt ihren Computer runter. Ob es leichter wäre, wenn sie darüber sprechen könnten? Vielleicht aber ist der Wunsch, über alles reden zu wollen, egoistisch. Als könnte man die Schuld, die man empfindet, umwandeln in eine Art Wortwährung, sie weitergeben oder auf ein anderes Konto einzahlen. Würde Nike sich dadurch weniger schuldig fühlen?

Sie schließt den Karton, rückt ihren Stuhl an den Schreibtisch, sieht sich ein letztes Mal um. Vielleicht wird sie nichts abholen lassen. Ihre Mutter wird dafür sorgen, dass regelmäßig Staub gewischt wird, bis ihre Tochter zurückkommt. Schließlich hat Nike sich doch ein Leben lang gefügt. Auch damals. In jener Nacht.

Den ganzen Abend hatte Lenny dieses Mädchen angeschaut, um sie zu ärgern – und Nike ärgerte sich. Er provozierte sie. Nie würde sie sich gegen den Jura-Wunsch ihres Vaters für das gemeinsame Kunststudium entscheiden, nie für ihn gegen ihre Familie. ›Sag doch, dass du Schluss machen willst!‹ Immerzu wiederholte er es, bis sie es gesagt hatte. Nur gesagt, nicht gemeint.

Danach lag Nike lange wach, wählte hundertmal seine Nummer, hinterließ liebevolle, um Verzeihung bittende, traurige, zornige Nachrichten. Erst im Morgengrauen schlief sie ein. Wütend wie nie zuvor, weil er ihre Anrufe ignorierte. Lenny ging die ganze Nacht nicht ans Telefon. Weil er im Sterben lag.

* * *

›Du siehst ja aus wie deine Mutter, Fips‹, entfuhr es seinem sichtlich erschrockenen Vater bei dessen einzigem Besuch in Koblenz.

Ewigkeiten druckste Bruno herum, schaute sich interessiert in der spartanisch eingerichteten Wohnung um, als gäbe es tatsächlich etwas zu sehen, dann lud er seinen Sohn zum Essen ein.

Unbeholfen teilte Bruno ihm im Restaurant den Grund seines Kommens mit. Er habe eine Frau kennengelernt, die er heiraten wolle, verkündete er. In seiner Stimme schwang hörbar der Wunsch mit, diese Ehe nicht ohne den ›Segen‹ seines einzigen Sohnes einzugehen.

Fips war es gleichgültig, ob sein Vater heiratete. Um ihn nicht zu enttäuschen, stieß er betont fröhlich mit Bruno auf die Hochzeitspläne an.

Er bemühte sich, zuzuhören, interessiert zu wirken, aber seit Brunos Bemerkung verfolgte ihn ein einziger Gedanke: Wann würde sein Vater sich endlich verabschieden, damit er sich im Spiegel Gewissheit verschaffen konnte … Seine Ungeduld und seine Furcht vor dem, was ihn erwartete, hielten sich die Waage. Nachdem er Bruno zum Bahnhof gebracht hatte, raste er nach Hause.

Unverkennbar die Ähnlichkeit! Warum war ihm das nicht aufgefallen? Sein dichtes, schwarzes Haar war völlig glatt, bis er erwachsen wurde und es sich beinah über Nacht in eine – in ›ihre‹ gelockte Mähne verwandelte. Seine Blicke in den Spiegel waren stets flüchtig. Er hatte nie nach ihr gesucht in seinem Gesicht. Nun war sie da.

Zufrieden sah er zu, wie der Rasierer die schwarzen Locken erfasste. Er würde das Haar von nun an so kurz tragen, dass es keine Chance hatte, sich je wieder zu kräuseln. Mit beiden Händen strich er über die Stoppeln auf seinem Kopf. Dann saugte er gründlich den Badezimmer-Boden, bis keine einzige schwarze Strähne mehr zu sehen war, und lief in die Stadt. Von weitem war der Weihnachtsmarkt zu hören und zu riechen. Anfang Dezember war es und sehr kalt.

Er mochte Weihnachten nicht. Dieses Getue war ihm zuwider. Als kleiner Junge konnte er Geschenke, Plätzchen und den geschmückten Baum kaum erwarten. Aber die Freude währte nie lang. Während der Bescherung waren alle nett zu einander, danach verkrümelte er sich mit den neuen Spielsachen ins Kinderzimmer. Hinter der verschlossenen Tür versuchte er, die lauten Wortgefechte zu überhören. An Feiertagen stritten seine Eltern öfter. Da sie nicht arbeiten mussten, blieb ihnen mehr Zeit dafür. Als seine Mutter fortging, war er sechs Jahre alt.

Danach war Weihnachten wie ein verlängertes Wochenende. Sein Vater legte eine verkratzte Platte mit Weihnachtsliedern auf. Sobald der Chor ›Stille Nacht‹ anstimmte, durfte Fips ins Wohnzimmer. Er spielte Vorfreude, während er auspackte, was Verkäuferinnen lieblos eingepackt hatten, tat überrascht, obwohl Bruno stets kaufte, was sein Sohn sich wünschte. Eigene Vorstellungen, wie er ihm eine Freude machen konnte, hatte er ohnehin nicht. Und obwohl seine Versuche, das Wohnzimmer festlich zu schmücken, so erfolglos wie trostlos waren, hätte er seinem Vater nie einen Vorwurf machen können. Nicht einmal für jenes Geschenk, auf dem in Brunos verstellter Schrift ›Für Fips von Mama‹ stand. Unausgepackt blieb es unter dem Baum liegen. In den Folgejahren verzichtete sein Vater darauf, ihm vorzugaukeln, sie hätte ihrem Sohn ein Weihnachts-Päckchen geschickt.

Für die Spieldauer der Platte legten sie eine besinnliche Pause mit Kerzen und Lametta ein, in der sie sich festlich anschwiegen, bis sie zur Fertigpizza irgendein Video einlegten, das vor allem eines war – nicht weihnachtlich.

An einem Stand mit Wollsachen war er stehen geblieben. Er kaufte die rote Mütze, ohne daran zu denken, dass seine Mutter im Winter genau so eine getragen hatte. Oder wählte er sie aus, weil er sich daran erinnerte? Er stopfte sie in seine Jackentasche. Die Kälte spürte er nicht mehr. Schneeflocken fielen sanft auf seinen fast kahlen Schädel. Es machte ihm nichts aus. Jetzt wärmte die Mütze ihn von innen. Den ganzen Winter trug er sie bei sich.

Wie in jener Nacht. Mondhell war sie und klar. Alle seine Sinne waren besonders geschärft. So war es immer in diesen Nächten. Irgendwann landete er in einer dieser Studentenkneipen. Sie fiel ihm sofort auf. Vielleicht, weil sie ihn auffällig oft ansah. Er zahlte sein halb getrunkenes Bier und wollte gehen. Da war sie zu ihm an die Bar gekommen. Sie redete viel. Und sie lachte.

* * *

»Möchten Sie einen Kaffee?« Die Polizeichefin Dr. Bloom ist in ihrem Alter. »Oder ein Wasser?«

Lenya hat sich eine Kommissarin ganz anders vorgestellt. »Nein, danke«, bringt sie hervor. Ständig sieht sie die aufgerissenen Augen des Jungen vor sich.

»Es dauert nicht lang.« Dr. Bloom deutet auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. «Nur ein paar Routinefragen.«

Als Lenya sich setzt, entdeckt sie die Narbe unter dem Kinn. Wie eine winzige Mondsichel. ›Wenigstens sieht man sie nicht von vorn‹, hat ihre Freundin damals gesagt. »Hanna?«

Irritiert nickt die Kommissarin, dann scheint sie ihr Gegenüber zum ersten Mal aufmerksam zu betrachten. »Lenya? Entschuldige, ich … hab dich nicht gleich erkannt.« Sie wirkt verlegen. »Die Akte war bei den Kollegen, sonst hätte ich ja den Namen …« In beider Blicke liegt Verunsicherung.

Lenya sieht das Abrisshaus wieder vor sich. In Tessas übersinnlicher Phase schlichen sie einige Male hin, weil es dort spuken sollte. Es hieß, Frau Baumann habe ihr Haus in Brand gesteckt und wandere nun ruhelos darin umher. Um ihren Geist zu befreien, planten die Freundinnen eine Séance. Doch zu der spiritistischen Sitzung kam es nicht mehr …

»Wie geht es dir? Was machst du?«

Lenya hat seit Jahren nicht an das Haus gedacht. »Ich lebe in Frankfurt.« Plötzlich hört sie wieder das unheimliche Knacken und Splittern der verkohlten Dielenbretter. Ihre Freundin wird in die Tiefe gerissen. »Ich bin Innenarchitektin.« Hannas Schrei hat sie lange in ihren Träumen verfolgt – ebenso wie Hannas Vater. Ein hagerer, ernster Mann, der ihr nach dem Unfall geradezu Angst einjagte. Während seine Tochter mit Gehirnerschütterung und gebrochenem Bein im Krankenhaus lag, bestellte er Lenya, Tessa und Marlene, die mit Hanna in dem Haus gewesen waren, samt Eltern ein, um ihnen einen Vortrag über die Folgen zu halten. Außer Marlenes Mutter Emilia wagte niemand, ihm zu widersprechen. Sie bat ihn inständig, Hanna nicht zu isolieren, da sie doch gerade jetzt ihre Freundinnen bräuchte. Er wirkte zwar verunsichert, dennoch lautete sein Urteil: