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Willkommen in Lerora – der Stadt, in der das Leben des Einzelnen nichts zählt und Hoffnung eine rare Währung ist. Bram verbringt seine alten Tage zurückgezogen in Erinnerungen früherer Zeiten. Der einzige Lichtblick, der seine Einsamkeit aufhellt, sind die Besuche seines Sohnes Liam. Doch als dieser eines Tages ermordet aufgefunden wird, bricht all das in sich zusammen und unvermittelt holen ihn die Geister der Vergangenheit ein. Auria kämpft jeden einzelnen Tag um ihr Überleben in den brutalen Fesseln der Prostitution. Hoffnung ist ein rares Gut, das in der Grausamkeit der rot erleuchteten Kammern zu einem Lächeln überschminkt wird. Bis sich eines Tages eine Tür öffnet, die sie für immer verschlossen geglaubt hat und die Gewalt diejenigen einholt, die sie säen … Gareth, geprägt von einem Leben zwischen Gewalt und Verbrechen, ermittelt in den Untiefen der Gassen der Metropole in einem Fall, der ihn tiefer in die Eingeweide der menschlichen Abgründe führt als je zuvor. Auch sein makabrer Zynismus kann nicht verhehlen, dass er sich auf einen Pfad begibt, der eine Prüfung darstellen wird: Kann er seiner Aufgabe als Polizist treu bleiben? Oder wird er verschlungen werden von dem, das zu bekämpfen er geschworen hat? In dieser von Narben gezeichneten Stadt sind ihre Schicksale miteinander verwoben und keiner kann sich dem Sog entziehen, den der Tod eines Einzelnen verursacht hat. Band 1 einer packenden Thriller-Reihe – intensiv, düster und psychologisch fesselnd. Für Fans von tiefgründiger Spannung und atmosphärischem Worldbuilding.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
L E R O R A
Geschichten einer Stadt
/ Copyright: [2025, Jonas, Heinzel]
Umschlagsgestaltung, Illustration: [Marta Susic]
Verlag: Indipendently published [Jonas, Heinzel]
Jonas Heinzel
c/o easy-shop, Kathrin Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist Urheberrecht geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
www.jonasheinzel.de
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mein Dank gilt allen lieben Menschen, die mich umgeben und unterstützen, anfeuern und kritisieren.
Wir bauen unsere eigene, feine Realität.
Ganz besonderer Dank gilt, allen voran, Daniel, meinem Bruder in Geist und Herz, der sich meine kreativen Eskapaden antut und sie vorantreibt. Jeder Schritt, den wir weiter nach vorne gehen, ist spannend und die Reise jede Mühe wert.
Ein riesiger Dank geht an Maxi, die sich durch meinen Erstentwurf gearbeitet und ihn in die richtige Bahn gelenkt hat. Vielen Dank, dass du dich immer meiner Texte annimmst und ihnen den Schliff gibst, den ich in meinem Kreativtunnel übersehe.
Ebenso vielen Dank an Svenja, die Ordnung in den Wust meines kreativen Geschreibsel gebracht und sich der Stellen angenommen hat, in denen die Finger langsamer als das Gehirn waren.
Von ganzem Herzen danke ich natürlich meinen Eltern, die mich immer gefördert und bestärkt haben und mir in einer Großstadt eine wunderschöne Kindheit gaben, in der ich meine eigenen Abenteuer erdenken und erleben konnte.
Zu viele Menschen gibt es, die von so etwas nur träumen können, während die Schatten der Realität sich über das kindliche Strahlen in ihren Augen legt.
Und zum Schluss natürlich meine wundervolle Verlobte Ryta, deren sanfte Stimme Freude und Liebe verbreitet, wo immer sie erklingt. Danke, dass du immer an meiner Seite bist, mein Engel.
Und an alle, die nicht namentlich hier erwähnt wurde: Ihr wisst genau, dass ihr gemeint seid, fühlt euch angesprochen und gedrückt, doch im Einzelnen aufzulisten, was ihr mir bedeutet, würde einen weiteren Band füllen – ohne jede weitere Story.
Habe ich noch jemanden vergessen?
Ja, natürlich – dich! Danke, dass du mein Buch in den Händen hältst (und es eventuell sogar gelesen hast). Ich hoffe, ich konnte dich zum Lachen und Weinen, Genießen und Nachdenken anregen und dir eine kleine Flucht aus Alltag und Realität geben.
Pass auf dich auf und vergiss nie – auch du bist ein wundervoller Mensch.
Es liegt in der Natur der Welt,
dass jedes Licht einen Schatten wirft.
Und es scheint in der Natur der Menschen zu liegen,
dass wir das kleinste Licht als Flamme feiern,
doch die Schatten ignorieren,
die unsere Existenz bis ins Innerste zerstören.
Das kalte Licht des Vormittags fiel durch die Fenster. Hell strömte es in die Wohnung, doch konnte es nicht verbergen, dass seine Kraft nicht mehr ausreichte, um die Hitze des Hochsommers mit sich zu bringen. Kleine Staubpartikel tanzten in den Strahlen, sanken nieder, stiegen auf. Ansonsten bewegte sich nichts in der kleinen Wohnung. Kein Laut drang durch die Räume, abgesehen von dem gedämpften Lärm der geschäftigen Stadt, der sich seinen Weg durch Fenster und Ritzen bahnte.
Ein dumpfer Schlag, in der Stille unnatürlich laut, hallte zwischen den Wänden wider. Mit einem kurzen, protestierenden Knarzen schwang die Haustür nach innen auf. Schwere Schritte folgten und zerstörten jeden Rest der friedlichen, stillen Einsiedelei.
»Kommt rein und schließt die Tür«, knurrte eine raue Stimme. Vier Männer überquerten die Türschwelle und standen im dunklen Flur. Der Letzte lehnte die Tür mit dem aufgehebelten Schloss behutsam hinter sich an. Für einen Moment verharrten sie und lauschten. Die dunklen Jacken und übergezogenen Sturmmasken ließen sie zu einer Einheit, zu austauschbaren Schatten, verschmelzen.
»Keiner hier«, durchbrach eine fiepsende Stimme den kurzen Moment der Ruhe.
»Psht! Noch wissen wir nicht, ob er hier ist, also Ruhe!« Die raue Erwiderung vibrierte in der Luft. »Teilt euch auf und sucht nach ihm. Diesmal muss der Job erledigt werden, sonst sind wir alle dran. Du«, er deutete auf den Mann ganz hinten, »sieh in dem ersten Raum nach. Du«, er zeigte auf einen weiteren Maskierten, »nimmst den Raum.« Er nickte zur rechts gelegenen Tür. Dann winkte er dem Schmalen mit der fiepsenden Stimme. »Du kommst mit mir. Los jetzt und Ruhe!«
Lautlos zogen die Eindringlinge Pistolen aus den Jacken und teilten sich auf. Der auf den ersten Raum zusteuernde Mann griff nach der Tür vor ihm. Durch den schmalen Spalt drang Licht in den sonst lichtberaubten Flur. Er spähte kurz durch den Spalt, doch außer einem weißen Balken ließ sich nichts erkennen. Vorsichtig griff er an den Türknauf. Mit einem kurzen Aufschrei zog er die Hand zurück.
»Was ist passiert?« Rauhals wirbelte herum. »Was ist los?«
Der Angesprochene hielt sich den Finger. »Ich habe mich an dem Knauf gepiekst. Da ist was Spitzes dran.«
»Ist das ein Grund solchen Krach zu veranstalten? Lass dir ein paar Eier wachsen und jetzt Schnauze!« Der Anführer drehte sich wieder um und drückte langsam die Wohnzimmertür auf. Nach einem kurzen Blick bedeutete er dem Fiepser hinter sich, ihm zu folgen. Beide betraten das Wohnzimmer.
Der erste Kerl schüttelte kurz die Hand, dann griff er die Pistole fester und verschwand in der Küche. Der übrig gebliebene Mann mit dem Sprachfehler sah sich um, dann schlich er auf die ihm zugewiesene Tür zu. Die Waffe im Anschlag, näherte er sich dem Holz. Die Zeit schien stillzustehen. Die Geräusche von der Straße drangen nicht bis in den Flur, das Lauteste war sein eigener Herzschlag. Donnernd pochte er den Hals hinauf und überlagerte alles andere. Der Bewaffnete streckte die Hand aus. Ohne Knarren ließ sich die Tür öffnen. Schwärze empfing ihn. Langsam trat er vor.
Als er den Fuß über die Schwelle setzte, vernahm er ein leises, klatschendes Geräusch. Irritiert verharrte er. Aus den anliegenden Zimmern vernahm er die verhaltenen Schritte seiner Kumpane. Ansonsten herrschte noch immer ungebrochene Stille. Er trat vollends über die Schwelle. Wieder dieses klatschende Geräusch, wie ein kaum wahrnehmbares Platschen. Der Maskierte kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit. Schemenhaft erkannte er eine schmale Dusche, eine Toilette – Er stand in einem Badezimmer. Ansonsten sah er nichts, das Schwarz war zu dicht. Er streckte die waffenlose Hand aus und tastete die Wand entlang. Kalte Kanten zogen unter seinen Fingern vorbei, Fliesen, dazwischen die geraden Raster der Fugen. In weiten Kreisen strich er auf und ab und tastete. Schließlich stießen seine Finger auf etwas Hartes, Kantiges. Etwas aus Plastik. Ein Schalter. Der Mann legte die Hand darauf und griff die Pistole fester. Mit Licht könnte das Opfer schnell reagieren, doch gerade war das Überraschungsmoment auf seiner Seite. In einem Zug drückte er den Schalter und starrte in den Raum. Das Letzte, das er sah, war die Pfütze auf dem Boden, in der er erstand. Und die blanken Kabel, die von der Lampe in die Nässe führten. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, danach explodierte alles in grellem Weiß, bevor er in endlose Schwärze stürzte.
***
Der Regen prasselte gegen das Fenster und zog Schlieren über das Glas. Einzelne Blitze zuckten über den dunklen Himmel. Eine surreale Pause folgte ihnen, dann rollte der späte Donner der weit entfernten Entladung über die Stadt. Die wenigen, die Straße entlangeilenden Passanten waren nichts weiter als verschwommene Silhouetten. Die Uniformität hochgeschlagener Kragen und tiefgezogener Mützen bestimmten das Bild. Das Geräusch der vorbeiziehenden Wagen wob sich in die allgemeine Kulisse zu einem pulsierenden Rauschen. Tosend rüttelte der Wind an den Fensterläden, doch ging ihr Klappern im allgemeinen Lärm unter. Durch die feinen Risse der alten Fensterrahmen drang die Feuchtigkeit unaufhaltsam ein. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel.
Das Weiß der feinen, aderngleichen Verästelungen, brach sich in den nachtschwarzen Pupillen des alten Mannes. Durch den nassen Schleier vor dem Fenster blickte er zu den Wolken hinauf. Im Zwielicht des Sturms wirkte das raue Gesicht wie gemeißelt, ein in Stein getriebenes Antlitz. Geschaffen von einem Künstler, der den Menschen nur in den Tagen des Leids und der Vergänglichkeit erblickt hatte. Die tiefen Falten schlugen schwarze Kerben in die helle Haut. Krachend rollte der Donner über den Giebel. Der Mann sah zur alten Standuhr am anderen Ende des Fensterbretts. Die angelaufenen Messingzeiger standen auf kurz nach halb sieben. Schweigend beobachtete er, wie der schlanke, nadelförmige Sekundenzeiger den Zenit passierte. Mit einem leichten Klicken, nun unhörbar, sprang der Minutenzeiger weiter. Wind und Regen ließen die mechanischen Abläufe ihre Stimme verlieren. Doch war sie da. Er kannte sie. Jeden Tag sprach sie von Zeit, die verrann und nicht mehr wiederkam. Der Alte wischte sich über das Gesicht. Es war noch früh am Abend, doch die wolkenbedingte Dunkelheit täuschte den Körper. Die Wärme der Wohnung, die der durch die rissigen Fensterrahmen eindringenden Feuchtigkeit noch immer trotzte und die lockende Bequemlichkeit des Sessels taten ihr Übriges.
Aufseufzend wandte er sich vom Fenster ab und ließ sich in die Polster sinken. Im Wechselspiel des Lichts schienen die Schatten der vor ihm liegenden Räumlichkeiten zu tanzen. Die Buchrücken in den Regalen wechselten sich zwischen tiefer Dunkelheit und der Präsentation im Rampenlicht ab. Das dunkle Holz der schweren Möbel schluckte die wenigen Lichtstreifen. Schwer und düster, wie Mahnwachen alter Handwerkskunst, standen sie entlang der Wände. Hinter dem Türrahmen, gut einsehbar von seiner Position aus, lag der kurze Flur. In dem, bis auf das schmale Oberlicht, fensterlosen Raum herrschte nun völlige Schwärze. Die einzige elektrische Lichtquelle, eine schöne, alte Stehlampe, brannte einsam über der Schulter des Mannes.
Mit einer leichten Drehung griff dieser nach der neben ihm auf dem Beistelltisch stehenden Kassette. Als seine Finger sie umschlossen, spürte er das Knacken der Gelenke. Ein leiser Fluch entfuhr ihm. Er hasste es, von seinem Körper an sein Alter erinnert zu werden. Nicht nur, dass dieser es ihm von Tag zu Tag schwerer machte, er verhöhnte ihn auch noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Mit jedem Aufstehen knackte ein anderes Gelenk und die Höhe der Treppenstufen schien mit jedem Tag zu wachsen.
Grummelnd nahm er die Kassette auf den Schoß. Das alte Holz hatte seine Färbung schon vor langer Zeit verloren und die wenigen Überreste waren stellenweise verdunkelt oder erhellt. Eine eiserne Umfassung hielt das Kistchen zusammen, verziert mit kleinen Schnörkeln und Ausläufern. Mit dem Daumen schob er den schmalen Riegel zur Seite und der Deckel klappte auf. Ein Bündel Briefe, verschiedene vergilbte Fotografien und weitere Zeugen vergangener Tage drückten durch die neu entstandene Öffnung. An manchen Rändern waren sie eingerissen, andere sahen aus, als hätten sie große Hitze überstanden. Die Gesichter und Umrisse von Teilen der Personen auf den Abbildungen ließen sich nur noch mit großer Mühe erkennen. Zeile um Zeile zog sich eine kleine, akkurate Handschrift über die Briefbögen.
Der Mann nahm eine der obersten Abbildungen in die Hand. Die verblichenen Ränder liefen in das weißliche Gelb des Papiers, eine Ecke fehlte vollständig. In Gedanken fuhr er mit der Fingerkuppe über die pergamentartige Oberfläche. Stimmen, Namen, Gesichter erschienen vor seinem geistigen Auge, jagten einander, drehten sich um ihn. Hitze legte sich auf sein Gesicht. Staub brannte in seinen Augen, während er den Film rinnenden Schweißes auf der Haut spürte. Wilde Geräusche drangen aus dem Hintergrund zu ihm durch, Schattenkrieger tanzten auf der Tapete. Die Umrisse riesiger Blätter türmten sich die Wände hinauf.
In jedem Donnern schwang das Schlagen der Trommeln mit. Er war versucht, in den Takt einzufallen, mitzuschlagen. In jedes Aufschlagen der Regentropfen mischten sich fremde Zungen, bekannte Stimmen, Lachen, Weinen, Schreie. Ja, die Schreie. Sie waberten unter allem, bissen sich durch, drängten sich empor. Das Blattwerk vibrierte, verschob sich. Darunter ein Grollen. Er sah, wie fremde Hände nach den Blättern griffen, an ihnen zerrten und wie sie sich beiseite zogen … .
Ein schrilles Klingeln riss ihn zurück in die trockene Dunkelheit der windgepeitschten Behausung. Blinzelnd starrte der Mann gerade aus. Die Schatten der Tänzer schoben sich als unschuldige Umrisse der Gardinen über die Tapete. Das Donnern der Trommeln war dem Rauschen der Straßengeräusche gewichen. Wieder schellte es.
Der Mann legte das Bild zurück in die Kassette, verschloss diese und stellte sie beiseite. Dann umgriff er die Lehnen des Sessels und zog sich hoch. Das Schaben der schlurfenden Pantoffeln schluckten die Elemente. An der Tür zum Flur betätigte er den Lichtschalter. Er brauchte nicht zu tasten, die Jahre ließen seinen Körper jeden Punkt in der Wohnung finden. Zudem reichte der feine Lichtschein, der durch das Oberfenster über der Wohnungstür fiel, bei weitem aus. Kurz blickte er in den kleinen Spiegel. Die schwarzen Augen blickten ihn abschätzig an. Er würde sich niemals an den Anblick des Alters gewöhnen. Doch vermutlich musste er das auch nicht mehr lange. Den Gedanken beiseiteschiebend richtete er den Sitz der abgewetzten Strickjacke.
Bevor ein drittes Klingeln die frühabendliche Kulisse zu zerreißen drohte, drückte er die Klinke hinab.
»Guten Abend, Bram!« Die helle Stimme fügte sich nicht in den düsteren Tenor des Hauses. Zu liebenswert. Zu glücklich. Ein Schmunzeln trat auf Brams Gesicht.
»Was für ein furchtbares Wetter! Ich dachte, ich werde auf dem Weg nach Hause weggeschwemmt!« Ihren Worten entsprechend, präsentierte sich die junge Frau. Der lange Mantel triefte vor Nässe und die hochgeschlagene Kapuze schien zwar Teile des Wassers abgehalten, andere jedoch noch tiefer in ihren Nacken befördert zu haben. Das rotblonde Haar klebte triefend an ihrer Wange.
»Na, dann bin ich froh, dass das nicht geschehen ist. Wäre doch schade um die guten Einkäufe gewesen.« Bram griff nach den beiden schweren Taschen. »Guten Abend, Lilly.«
Diese kaum losgeworden, knuffte die Frau ihn spielerisch. »Was für eine Frechheit! Da setze ich mein Leben aufs Spiel und das ist der Dank?«
»Das und eine Tasse heißen Tees, wie wäre es?« Bram ging mit den Einkäufen in den Flur und ließ die junge Besucherin eintreten. »Häng erstmal deine nassen Sachen auf, nicht dass du dir den Tod holst. Willst du dich umziehen gehen?«
Lilly schüttelte den Kopf und verursachte damit einen feinen Sprühregen, während sie sich aus dem nassen Mantel schälte. »Brauche ich nicht. Deshalb liebe ich diesen Mantel, er ist zwar schwer, aber dafür hält er alles darunter trocken.« Ihr Blick fiel auf die kleine Pfütze, die sich unter ihr gebildet hatte. »Oh, dein Boden wird ganz nass! Das tut mir leid, kann ich den Mantel ins Bad hängen?«
»Du weißt, wo die Dusche ist.« Bram ging in die Küche, während Lilly im hinteren Teil der Wohnung verschwand. Als das Wasser im Kocher zu blubbern begann, kramte er zwei Tassen aus dem Hängeschrank und holte eine Dose Tee hervor. Kurz darauf stieg heißer Dampf aus den beiden Gefäßen auf und ein warmer, wohliger Duft zog durch die kleine Küche.
»Was ist es eigentlich so dunkel bei dir? Da stolpert man ja über seine eigenen Füße.« Lilly kam in die Küche getreten und fasste die nassen Strähnen mit einem Gummi zusammen. Sie nahm eine der Tassen von Bram entgegen und pustete vorsichtig.
»Wozu viel Geld für Strom ausgeben? Ich weiß doch, wo alles steht.« Bram begann, die Einkäufe auszupacken.
»Ja, aber das ist doch noch lange kein Grund, im Dunkeln herumzusitzen.« Lilly nippte vorsichtig an dem Getränk, ließ es jedoch rasch wieder bleiben und stellte die Tasse ab. »Das macht einen ja depressiv, besonders mit dem Regen und Donner.«
»Ich finde es gemütlich.« Wieder musste Bram schmunzeln. Düstere Gedanken konnte er sich bei diesem Sonnenschein nur schwer vorstellen. »Wie geht es dir? Wie war dein Tag?«
Sie winkte ab. »Nichts neues, alles wie immer. Wir sind unterbesetzt, es interessiert keinen und jeder zweite geht sich an den Hals.« Sie seufzte. »Manchmal habe ich das Gefühl, je mehr man den Menschen Gutes tun will, desto beschissener sind die Jobaussichten.«
»Ich denke nicht, dass das nur ein Gefühl ist … .«, brummelte Bram zustimmend.
Doch Lilly schüttelte schon den Kopf. »Ach, was beschwere ich mich. Ich habe es mir ausgesucht, mich um Menschen zu kümmern, also tue ich es auch, so nervig der Alltag auch ist.«
»Und dann machst du bei mir direkt weiter?«
Sie knuffte ihn erneut in die Seite. »Du weißt, dass ich dich einfach gerne besuche! Das tun Nachbarn füreinander. Und hättest du mir den Abfluss nicht repariert, hätte ich spätestens heute ein riesiges Problem gehabt.« Bei der Vorstellung des hochgedrückten Abwassers lief ihr ein Schauer über den Rücken.
»Das war doch keine große Sache. Läuft denn alles weiter ordentlich ab?«
»Ohne jegliche Probleme! Danke nochmals! Unfassbar, dass es dem Vermieter so egal ist … eigentlich wäre es seine Aufgabe, sich darum zu kümmern.«
»Wenn es eines gibt, das dir der alte Mann aus seinem Leben mitgeben kann, dann ist es: Warte nicht auf andere, tu es selbst. Dann weißt du, dass es erledigt wird.«
»So wie Essen kochen?« Sie zwinkerte ihm zu. »Für heute habe ich etwas ganz Feines geholt: Nudeln in hausgemachter Tomatensauce nach Mamas Rezept.« Strahlend hielt sie die Packung empor.
»Solange es nicht das Rezept meiner Mutter ist ….« Bram grinste zurück. »Was schulde ich dir für die Einkäufe?«
Spielerisch drohend reckte sie den Zeigefinger. »Du schuldest mir gar nichts! Wir helfen uns gegenseitig. Gib mir lieber das Schneidebrett.«
»Jawohl, Prinzessin.« Er reichte ihr das Schneidebrett und kurz darauf erfüllte die heimelige Atmosphäre vertrauter Küchenarbeiten die Räumlichkeiten.
Bram lehnte sich auf dem alten Stuhl zurück. Der wohlige Geruch des frischen Essens zog durch die Küche und ließ seinen flauen Magen flattern. Gedankenverloren beobachtete er Lilly, wie sie den hölzernen Kochlöffel durch die Soße zog und ab und an das Ganze abschmeckte. Ihr Gaumen schien noch nicht zufrieden zu sein, unleidlich schnalzte sie mit der Zunge. Konzentriert glitt ihr Blick über das kleine Regal an der Wand, in dem sich kleine Gläser mit Pulvern und Gewürzen aneinanderreihten.
Sie schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn mit einem irritierten Ausdruck wandte sie sich zu ihm um. »Was siehst du mich so an? Bin ich verschmiert?« Mit der Hand wischte sie sich über das Kinn.
Bram schüttelte den Kopf. »Nein, nein, du bist so schön wie eh und je. Ich habe mich nur gefragt, was du suchst.« Er deutete mit dem Kopf auf das Regal.
»Ach, es fehlt die letzte Würze. Meine Mutter hat immer eine Prise Meeressalz in die Suppe gestreut, das fehlt mir.«
»Tut mir leid, mehr als diese wenigen Reste habe ich nicht.«
»Das braucht dir doch nicht leidtun!« Sie schüttelte den Kopf. »Wer kann sich heutzutage schon noch Meeressalz leisten? Es ist mehr der persönliche Anspruch, um der Erinnerung nahezukommen.«
»Und doch sind die alten Bilder zumeist süßer als alles, was wir vor uns anrichten. Wenn ich daran zurückdenke, was meine Mutter uns noch aufgetischt hat, da weiß man heutzutage gar nicht mehr, wo … .« Bram hielt inne. Aus dem Hausflur drang ein leichter Lichtschein und fiel durch das milchige Oberlicht über der Eingangstür. Er erhob sich und ging in den Flur. »Scheint, dass er da ist. Ich mache ihm auf.«
»Das Essen ist auch fertig«, rief Lilly ihm nach.
Bram öffnete die Tür. Vor ihm stand ein junger Mann mit kurzem Haar, die Hand bereits zum Klopfen erhoben. Das Wasser lief ihm von der Lederjacke, die Schuhe standen in der sich schon gebildeten Pfütze. »Guten Abend, Liam. Komm herein.« Bram lächelte ihn an und machte einen Schritt beiseite.
Der junge Mann nickte grüßend und betrat die Wohnung. »Danke, Vater.« Er zog die Jacke aus und hängte sie an einen der Haken. Leicht den Kopf reckend schnüffelte er. »Es riecht so gut!«
»Das liegt daran, dass Lilly gekocht hat«, feixte Bram und legte Liam die Hand auf die Schulter. Gemeinsam betraten sie die Küche.
Als Lilly ihre Schritte hörte, drehte sie sich um. Mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen strahlte sie Liam an. »Hallo, Liam.«
Er lächelte zurück. »Hallo, Lilly, wie geht es dir?«
»Gut, sehr gut, es ist … alles ist gut.« Scheinbar unbewusst kneteten ihre Finger das Küchentuch an ihrer Hüfte. »Wie geht es dir?«
»Auch gut, danke der Nachfrage.«
Kurze Stille trat ein. Dann trat Bram an den Tisch. »Liam, meinst du nicht, dass du Lilly zur Hand gehen möchtest?«
Der Angesprochene brauchte einen kurzen Moment um zu reagieren. »Ja … Ja, natürlich! Was muss denn noch gemacht werden?«
»Du könntest den Tisch decken, das wäre eine große Hilfe.« Hastig wirbelte Lilly herum, griff ein paar Teller und Besteck und drückte Liam alles in die Hand. Die beiden jungen Menschen deckten den Tisch und bereiteten das Essen vor, während sie sich verstohlen ansahen, die Blicke jedoch sofort weiter wandern ließen, sobald der andere zurückblickte.
Bram setzte sich wieder. Schmunzelnd beobachtete er das Schauspiel. Bald war der Tisch gedeckt und die Teller gefüllt. Eine nur von Kaugeräuschen durchzogene Stille legte sich über die drei, bis Bram schließlich die Gabel niederlegte. »Lilly, du hast dich wieder selbst übertroffen! Vielen Dank für die köstliche Mahlzeit.«
»Ach, du schmeichelst mir, das ist doch selbstverständlich.« Verlegen tupfte Lilly sich die Lippen mit einem Stück Tuch ab.
»Nein, ist es definitiv nicht. Und es ist absolut hervorragend.« Er sah zu seinem Sohn. »Oder was denkst du, Liam?«
Dieser schluckte den letzten Bissen hinunter und stieß kurz auf. »Verzeihung, es ist wirklich gut. So gut, dass sich sogar mein Magen direkt bedankt.«
»Hauptsache, er ist gefüllt«, lachte Lilly.
»Bis zum Bersten, das steht außer Frage«, nickte Liam. Wieder herrschte kurz Stille in der kleinen Küche.
Dann brach Lilly das Schweigen: »Was gibt es bei dir Neues?«
»Nicht viel. Man schlägt sich durch. Die neue Arbeit läuft gut, aber sonst gibt es nichts Neues.«
»Was für eine neue Arbeit?«
Liam strich sich über das stoppelige Kinn. »Nichts Besonderes. Etwas Lagerarbeit. Kisten hin und her räumen, verladen, das Übliche.«
In gespieltem Vorwurf sah Lilly Bram an. »Davon hast du gar nichts berichtet.«
Verteidigend hob dieser die Hände. »Ich kann doch nicht alles weitertragen, was ihr Kinder den ganzen Tag so treibt. Außerdem ist es doch feiner, wenn man gute Neuigkeiten selbst erzählen kann.«
»Naja, so toll sind die auch nicht. Ist doch nur im Lager.«
»Was heißt nur?« Lilly warf ihm einen ernsten Blick zu. »Hauptsache, eine ehrliche, gute Tätigkeit. Wieso sagst du das so negativ?«
»Nee, nee, du hast ja Recht, es ist ein guter Job.« Er faltete die Hände ineinander und spielte mit den Fingerkuppen. »Es ist einfach harte Arbeit, da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Unterschätze nie den Wert eines ehrlichen, harten Erwerbs. Sie bringt dir das Brot auf den Tisch und den Frieden in die Hütte«, murmelte Bram.
Die beiden Jüngeren sahen ihn an. Dann wechselte Lilly das Thema und die Unterhaltung wanderte vom Wetter über die steigenden Preise bis hin zur allgemeinen Lage.
Einige Zeit später verabschiedete sich Lilly. Die Stunde war schon vorgerückt und die Frühschicht am nächsten Morgen kündigte sich an. Ein schüchternes Winken in Richtung Liam und eine herzliche Umarmung Brams später, schloss dieser die Tür hinter ihr.
Zurück in der Küche räumte Bram die leeren Teller in die Spüle und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Dann zauberte er eine etikettlose Flasche aus dem Schrank und schenkte ein. Schließlich nahm er Liam gegenüber Platz.
Dieser nahm ein Glas und roch daran. »Schnaps?«
»Vodka.« Bram hob das andere Glas. »Und ein sehr guter.« Er hielt Liam das Glas hin. »Auf deine neue Arbeit.«
Liam erwiderte die Geste, klirrend trafen sich die Gläser. »Auf guten Vodka. Wo hast du den überhaupt her?«
»Alte Männer haben alte Verstecke mit alten Schätzen.« Bram grinste verstohlen. »Lass deinem alten Vater doch ein paar Geheimnisse.«
Sie nahmen beide einen Schluck. Der scharfe Alkohol rann die Kehle hinab und der Körper antwortete mit einer Welle aufsteigender Wärme.
Nach einer Weile brummte Bram: »Dann erzähl doch mal von deiner Arbeit. Wie ist es? Du hast nur von der Lagerarbeit erzählt, aber sonst nichts.«
Liam zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sonst erzählen? Es ist Arbeit, ich gehe hin, ich trage Sachen, ich gehe wieder. Viel spannender ist es nicht.«
»Wie kamst du denn nun daran? Du meintest doch, es sei so schwierig im Moment an Arbeit zu kommen.«
»Wahrscheinlich Glück gehabt. Wer weiß.«
»Glück?«
»Naja, jemand kennt jemanden, der jemanden kennt … und jemand hat mich gefunden. So wie es halt läuft.« Er nahm einen weiteren Schluck. Wieder verging etwas Zeit.
»Lilly ist sehr nett, findest du nicht?« Brams dunkle Stimme vibrierte in der dämmrigen Stille.
»Ja, sehr nette Frau, definitiv.«
»Und sehr sozial. Ganz toll, wieviel sie macht und wie vielen sie hilft.«
»Ja, das ist wirklich bewundernswert.« Liam kaute auf seiner Unterlippe.
»Und hübsch ist sie auch.«
»Willst du uns verkuppeln?« Nun sah Liam Bram direkt an.
Dieser zuckte die Schultern. »Was ich will, ist doch unerheblich. Ich bemerke nur, wie ihr euch anseht und da dachte ich … .«
»Nein, lass mal. Ich brauche keine Hilfe in meinem Liebesleben, das schaffe ich schon allein.« Liam stürzte den Rest des Glases hinunter. »Danke dir für den Vodka, aber ich bin erledigt. Die Arbeit ist hart, ich geh ins Bett.«
»Willst du nicht noch einen? Kann ich dir etwas Gutes … .«
Doch Liam winkte ab. »Nein, danke, ich bin wirklich müde und leg mich jetzt hin.« Er stand auf, ging in den Flur und nahm die Jacke von der Wand.
Bram folgte ihm. »Es tut mir leid, ich wollte nicht … .« Er stockte.
Sein Sohn sah ihn an. »Ich weiß. Du wolltest nicht. Alles gut, es ist … . Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Sohn.«
Einen Moment lang sahen sie sich an. Liam öffnete den Mund zu einer Entgegnung. Dann überlegte er es sich anders, drehte sich um und ging.
Bram hörte noch seine Schritte auf der Treppe zur Wohnung im oberen Stock, als er leise die Tür schloss. Einen Moment stand er so im Flur, unfähig sich zu rühren. Die Stille der eigenen Wände legte sich schwer auf seine Ohren. Unbewusst strich er sich über das müde, alte Gesicht. Die Falten unter den Fingerkuppen schienen ihm noch tiefer als zuvor. Schweren Schrittes ging er in die Küche und schenkte sich ein weiteres Glas Vodka ein. Dann schlurfte Bram ins Wohnzimmer und ließ sich in den schweren Sessel fallen. Er schaltete den Fernseher ein. Mit den undeutlichen Stimmen der Nachrichtensprecher im Hintergrund starrte er in die Dunkelheit. Schließlich löschte Bram die kleine Leselampe und während der scharfe Alkohol seine Wirkung in seinem Körper entfaltete, zog die Nacht über ihm herein. So saß er noch lange, nur beleuchtet vom Flackern des Bildschirms.
***
Trübes Licht fiel durch die milchig angelaufenen Fensterscheiben auf Brams Gesicht. Er lehnte sich zurück und das ausgeblichene Holz des Stuhls gab ein schnarrendes Knacken von sich. Gedankenverloren strich er über den ledernen Einband des Buchs auf seinem Schoß.
Der Tag war an ihm vorbeigezogen. Darin unterschied er sich wenig von den anderen Tagen, die seine Woche füllten. Er hatte die vergilbten Seiten der auf der Außentreppe des Hauses abgelegten Zeitung durchgesehen und jeden interessanten Absatz angestrichen. Das Besteck war wieder poliert und alle Möbel an die genauen Stellen gerückt. Die wenige Wäsche, die in seinem Haushalt anfiel, war akkurat gelegt und einsortiert worden. Zum Schluss war er einkaufen gegangen und hatte gewissenhaft alle auf dem Zettel notierten Punkte abgearbeitet. Dann war er im Wohnzimmer auf und ab gegangen, den Blick durch die Fenster auf die Straße geheftet. Es gab immer etwas das geschah und es sollte immer jemanden geben, der es sah. Wie lange er so herumgetigert war, konnte er nicht mehr sagen. Schließlich hatte er sich in den alten Sessel gesetzt und die Beine hochgelegt. Von dem niedrigen Tischchen neben sich hatte er den abgegriffenen Lederband genommen und betrachtete nun versonnen die kleinen Flecken, die die Jahre auf dem Material hinterlassen hatten.
Vorsichtig schlug Bram das Buch auf. Auf die gelblichen Seiten waren ausgeblichene Fotografien geklebt. Einige zeigten einzelne Personen oder kleine Gruppen, andere hügelige oder waldbedeckte Landschaften. Exotische Orte, fremde Früchte und unberührte Natur. An einem Foto blieb sein Blick hängen. Die Fingerspitzen fuhren geistesabwesend über das Gesicht der jungen, schönen Frau, die zwischen den bärtigen Männern stand. Das dunkle Haar fiel ihr in Kaskaden auf die Schultern, der warme, aber starke Blick fasste den Betrachter fest ins Auge. Bram atmete tief ein. Der Geruch ihres Körpers, die Mischung aus Schweiß, Gräsern und salziger Luft, drang tief in seine Nase. Im Hintergrund hörte er die entfernten Schreie der Affen und anderer Tiere, das Zwitschern der Vögel, das Rauschen der den Urwald durchschneidenden Flüsse. Er schloss die Augen. Die weiße, leicht geöffnete Bluse der Frau bauschte sich im Wind, einzelne Strähnen ihres Haares tanzten vor ihrem Gesicht auf und ab. Ihr Lachen umfing ihn, während sie ihm ihre Hand entgegenstreckte. Um sie herum lag die hügelige Landschaft, die an ihren Rändern in die Tiefen des Waldes überging. Er sah in ihre Augen. Ihr Lachen verbreiterte sich, die kleinen Grübchen an den Wangen ließen sein Herz schneller schlagen. Er hob die Hand. Ihre Finger umspielten einander, ohne sich zu berühren, kamen sich näher und … .
Das Schellen der Türklingel riss ihn zurück in die Kälte der Gegenwart. Bram brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu orientieren. Das trübe Licht des Tages war der rasch fallenden Dunkelheit des Abends gewichen, nur der Schein der Leselampe erhellte den Raum.
Wieder schellte es.
Bram erhob sich und überwand die wenigen Meter bis in den Flur. Dort fiel ihm auf, dass er das Buch noch in der Hand hatte. Kurzerhand legte er es mitsamt der Lesebrille auf die kleine Ablage in dem kurzen Durchgang, dann schritt er zur Wohnungstür. Das Gelb des Treppenhauses fiel durch das Oberlicht. Er öffnete die Tür.
»Guten Abend, Bram.« Lillys breites Lächeln strahlte durch das Treppenhaus.
»Guten Abend, Prinzessin«, Bram schmunzelte zurück, »komm doch rein.« Er machte einen Schritt beiseite und ließ sie eintreten.
Sie schloss die Tür hinter sich und entledigte sich ihres Mantels, den sie an einen der Haken hängte. Dann folgte sie ihm in die Küche.
Bram fragte: »Wie geht es dir? Wie war dein Tag?«
»Ach, nichts Besonderes, das Übliche auf und ab.« Lilly sah sich in der Küche um. »Du warst aber fleißig heute, das sehe ich doch direkt.« Sie deutete auf die Tüte mit den Einkäufen, die noch auf der Ablage stand. »Hast du alles bekommen?«
Bram nickte. »Ja, ich denke schon. Ich habe versucht, mich so gut wie möglich an deine Anweisungen zu halten, war mir bei manchen Sachen aber nicht ganz sicher.«
Sie winkte ab. »Ach, das passt schon alles, da mache ich mir keine Gedanken.« Ihr Blick fiel auf den ledernen Bildband. »Oh, was ist das denn?«
»Alte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.«
»Das sieht wunderschön aus. Darf ich es mir ansehen?«, fragte Lilly.
»Natürlich.« Bram schob ihr den Band entgegen.
Neugierig beugte Lilly sich darüber und schlug ihn auf. Ihr Blick glitt über die Fotografien und blieb an der Abbildung eines waldbedeckten Tals hängen. »Wo ist das?«
»In Übersee. Das ist das Flussdelta eines riesigen Tales, an dessen Rändern wir unser Camp errichtet hatten.«
»Es sieht wunderschön aus. Warst du häufig dort?«
»Dort und an einigen anderen Orten«, brummte Bram. Bilder aus jüngeren Jahren traten vor sein geistiges Auge. Weite Ebenen, Flüsse, Wälder … und Erlebnisse, die besser verdrängt gehörten.
Lillys Blick wanderte weiter über die Fotografien. »Bist du einfach so dort hingereist?«
Bram schüttelte den Kopf. »Nein, ich war geschäftlich da. Habe viel in Übersee gearbeitet.«
Lilly sah auf. »Gearbeitet? Was hast du denn dort gemacht?« Ehrliches Interesse lag in ihrem Blick. Sie legte den Kopf schief. »Du hast mir nie so genau erzählt, was du eigentlich gearbeitet hast?«
»Mal dieses, mal jenes«, antwortete Bram ausweichend, »In Übersee waren wir Teil einer Jagdexpedition. Das war eine spannende Sache, da hat man was von der Welt gesehen.«
»Das glaube ich dir.« Lillys Blick verharrte nun auf dem Foto mit der jungen Frau, das er sich vorhin noch angesehen hatte. »Wer ist sie?«
»Liams Mutter.«
Verblüfft sah Lilly ihn an.
»Ich habe dir noch nie ein Bild von ihr gezeigt, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber die Ähnlichkeit zu Liam ist da, wenn man es weiß.«
»Oja. Er hat ihre Augen.« Ein Seufzen entfuhr Brams Brust.
Lillys Stirn legte sich in Falten, während sie ihn betrachtete. »Wenn du es erzählen magst, höre ich es mir gerne an. Doch fühl dich nicht zu irgendetwas überredet.«
Bram winkte ab. »Ich erzähle es dir. Doch lass uns besser die Zeit für die Vorbereitungen nutzen, es ist schon spät.«
Überrascht sah Lilly auf die Uhr. Sie packte die Einkäufe auf den Tisch, beide nahmen sich Messer und Schneidebrett und begannen mit der Zubereitung. Für kurze Zeit hörte man nur das Klacken der Messer auf den Brettchen.
»Sie war eine großartige Frau«, durchbrach Bram die Stille. »Wissensdurstig, heißblütig, weltoffen … . Eine Frau, wie man sie nur einmal im Leben trifft. Wir haben uns früh kennengelernt und relativ schnell geheiratet. Wir waren völlig verliebt.« Der Geruch ihres Nackens stieg aus seinen Erinnerungen hoch und umwehte ihn.
»Habt ihr euch in Übersee kennengelernt?«
»Nein, auf dem Weg dorthin. Es war auf meiner ersten Überfahrt als junger Mann, das erste Mal über die große See und in die fremde Welt. Sie stand an der Reling wie die Vorlage eines Malers, die aufgehende Sonne schien ihr ins Gesicht und der Wind ließ ihre Haare wehen.«
Bram schluckte.
»Was ist dann passiert?« Lilly zerkleinerte ein paar dünne Karotten.
»Wir haben uns angefreundet und wurden schließlich ein Paar.« Bram köpfte einen Kohl. »Wenn man in einem fremden Land zusammenarbeitet und Expeditionen betreut, hat man viel Zeit sich kennenzulernen.«
»Das klingt wunderschön.« Sie sah ihn aus großen Augen an.
»Das war es auch. Es war die schönste Zeit meines Lebens.«
»Was ist dann geschehen?«
»Es ist alles aus dem Ruder gelaufen. Ich habe es ruiniert.« Bram blinzelte ein verirrtes Staubkorn aus dem Augenwinkel. »Als sie schwanger wurde, waren so viele Expeditionen nicht mehr möglich und wir ließen uns hier wieder nieder. Doch meine Arbeit führte mich immer wieder nach Übersee, zum Teil sehr lange. Wir stritten darüber und nach Liams Geburt blieb ich für drei Jahre hier. Doch ich hielt es nicht aus.« Blinzelnd blickte Bram zur Decke. »Wenn man einmal das Feuer des Fremden und Fernen in sich trägt, ist es unmöglich, dieses zu löschen, ohne zu Grunde zu gehen. Ich konnte auf meine Arbeit nicht verzichten, sie machte mich aus. Ich begann wieder nach Übersee zu fahren. Teilweise auch sehr lange. Das hat unserer Beziehung geschadet. Wir stritten immer mehr, sie hatte das Gefühl, ich ließe sie hier zurück. Und vielleicht habe ich das auch.« Er stockte und legte das Messer nieder. Sein Blick heftete sich auf das dunkle Holz des Tisches. »Ich denke, dass Liam mir nie verziehen hat, dass ich ihn und seine Mutter hier allein ließ. Egal, was ich tue, es wird immer davon getrübt sein. Und er hat Recht damit.«
»Meinst du das wirklich?« Lilly sah ihn mitfühlend an. »Für mich klingt es eher, als wärst du ein guter Vater gewesen, der weite Reisen auf sich genommen hat, um seine Familie zu ernähren.«
Bram schüttelte den Kopf. »Es gibt einen Unterschied, ob man gezwungenermaßen weit und lange reist, damit die Familie ernährt wird oder ob man weite Reisen macht, weil man sie selbst will und das über die gemeinsamen Bedürfnisse stellt. Ich ließ mich auf keinen Mittelweg ein. So konnte es nicht funktionieren.« Er nahm das Schneiden wieder auf. »Als sie starb, dachte ich, ich könnte ein neues Verhältnis zu ihm aufbauen. Doch da war schon zu viel geschehen.«
»Wann ist sie denn gestorben?« Lilly nahm die Augen nicht von ihm.
»Als Liam zwölf Jahre alt war. Ich war wieder in Übersee und erfuhr erst davon, als ich zurückkam. Ich nahm ihn zu mir, später gingen wir zusammen auf die Reisen. Ich dachte, das wäre der beste Weg, doch konnte ich seine Mutter natürlich nicht ersetzen.«
»Niemand kann das.« Sie zerteilte die restliche Karotte. »War Liam auch mit auf den Expeditionen?«
Bram nickte. Ein dünnes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ja, das war er. Das hat ihm Spaß gemacht, auch wenn es ein hartes Leben war. So nahe waren wir uns nie wieder, glaube ich, trotz der Hitze und der Anstrengungen. Oder gerade deswegen.«
»Was genau habt ihr denn dort drüben gemacht?«
»Gejagt.« Brams Lächeln wurde schmaler und härter. Der Geruch von Blut drang in seine Nase. Entfernte Schreie gellten durch die Räume. »Wir waren auf der Jagd.«
Die Schwärze der aufziehenden Nacht kroch durch die Fensterscheiben, vertrieben nur vom gelblichen Schein der flackernden Lampe. Auf der alten Herdplatte köchelte das Essen im großen Topf vor sich hin. Lilly stand davor und verfeinerte den Geschmack mit der vorsichtigen Zugabe von Kräutern, immer bemüht, nicht zu viel zu verbrauchen. Gelegentlich mengte sie die neuen Zutaten mit dem Holzlöffel unter und der kurze Aufprall von Holz auf Metall zog durch die Küche.
Bram saß in Gedanken gehüllt am Tisch. Die Erzählungen über seine Reisen und die frühen Jahre ihrer damals glücklichen Familie hatten lang verschüttete Erinnerungen aufgewühlt. Unzusammenhängende Bilder zogen vor seinem inneren Auge vorbei, und auch wenn er bei jedem genau wusste, wo er es einzuordnen hatte, so fragte er sich dennoch, wieso sein Geist ihm gerade diese Reihenfolge präsentierte. Unbeweglich, den Blick auf das dunkle Oberlicht der Wohnungstür gerichtet, starrte er vor sich hin. Seit geraumer Zeit hatte er keine Miene verzogen, wie eine Wachspuppe hockte er dort und grübelte vor sich hin.
Lilly kochte in Stille weiter, nur ab und zu warf sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihn. Doch sie ließ ihn seinen inneren Monolog führen, ohne ihn zu stören.
Hohe Bäume, behängt mit langen, gewundenen Pflanzen zogen sich durch Brams Blickfeld. Exotische Tiere, manche schillernd bunt und wunderschön, andere vielbeinig und in ihrer Erscheinung abschreckend und bedrohlich. Die weiten Ebenen der Steppe schlossen sich an die donnernden Kaskaden der hohen Wasserfälle an. Über den Himmel zogen riesige Vogelschwärme, drehten ihre Kreise und schraubten sich gemeinsam in die Höhe.
Plötzlich schreckte Bram hoch. Mit einer energischen Bewegung stand er auf und schob dabei den Stuhl nach hinten. Das Kreischen der über den Boden schleifenden Stuhlbeine gellte durch den kleinen Raum.
Erschrocken zuckte Lilly zusammen und ließ den Löffel beinahe in den Topf fallen. Sie sah zu Bram, der sich raschen Schritts durch die Küche auf die Wohnungstür zubewegte. Irritiert folgte sie seiner Bewegung und erspähte den Schein einfallenden Lichts durch das Oberlicht.
Schon war Bram an der Tür und riss sie auf. »Liam!«
Der Angesprochene verharrte am Fuß der nächsten Treppe. Die Hand schon auf das Geländer gelegt, drehte er sich um und sah zu seinem Vater. Er blinzelte kurz, als müsse er realisieren, wer vor ihm stand, dann schlich sich ein schmales Lächeln auf sein Gesicht. »Hallo, Vater.«
»Wo wolltest du denn hinschleichen? Komm herein, wir haben gekocht, es ist alles schon fertig.« Bram winkte Liam in die Wohnung zu kommen. Er ging vor ihm in die Küche.
Liam schloss die Tür und folgte ihm.
Schelmisch grinste Bram ihn an. »Ich gebe zu, es ist etwas übertrieben gesagt, wir hätten gekocht. Lilly war die exzellente Köchin, ich bin nur zur Hand gegangen.«
»`Nur´ gibt es in der Küche nicht«, tadelte Lilly ihn spielerisch mit erhobenem Finger. Dann lächelte sie Liam an. »Hallo Liam, wie geht es dir?«
Das schmale Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes hob sich kaum merklich. »Danke, alles gut. Wie geht es dir?«
»Gut.« Sie lächelte ihn weiter an, sagte jedoch nichts mehr.
Ungeduldig winkte Bram sie an den Tisch. »Jetzt setzt euch, setzt euch. Es wird kalt und dafür hat Lilly nicht so lange am Herd gestanden!« Er nahm ihre Teller und tat ihnen auf.
Sie setzten sich und aßen in Stille zu Abend. Ab und zu versuchte Bram, ein Gespräch zu beginnen, doch Liam antwortete einsilbig und verhalten. Lilly beobachtete die Beiden, äußerte sich aber nicht. So hing die bedrückende Stille zwischen ihnen, nur unterbrochen vom Klacken der Löffel auf Porzellan.
Als das Mahl beendet war, erhob sich Liam. »Vielen Dank für das leckere Essen, es war wieder einmal vorzüglich.« Er stellte den Teller in die Spüle. »Bitte entschuldigt mich, ich muss mich hinlegen. Es war ein anstrengender Tag.«
Bram erhob sich. »Magst du nicht noch etwas trinken? Oder einen Nachtisch? Wir müssten doch etwas da haben … .« Er ging zum Schrank und begann, darin zu wühlen.
Entschuldigend hob Liam die Hände. »Mach dir keine Mühe, ich bin wirklich müde. Vielen Dank für das leckere Essen, Lilly«, er deutete eine leichte Verbeugung an und ihre Wangen bekamen eine Nuance mehr Farbe, »und danke für die Einladung, Vater.«
Bram hielt inne und betrachtete seinen Sohn. Dann ging er zu ihm und nahm ihn in den Arm. Mit kratziger Stimme raunte er: »Gute Nacht, mein Sohn. Du weißt, wenn irgendetwas ist, komm zu mir. Jederzeit.«
»Ich weiß, Vater. Danke dir.« Liam löste sich aus der Umarmung. Im Rahmen stehend drehte er sich noch einmal um und winkte kurz. Dann trat er ins Treppenhaus und zog die Tür hinter sich zu.
Schwer ließ Bram sich in seinen Stuhl fallen und fuhr sich durch das kurze Haar. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Irgendetwas geht in dem Jungen vor.