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»Geboren, um zu vergessen. Das seid ihr allesamt. Geboren, um zu vergessen. Hört ihr mich denn nicht?«, sprach einst der alte Mann mit heiserer Stimme, allein vom hintersten Teil der Bar, umgeben von laut dröhnender Musik. Dies ist die Erzählung von Laurent, der einst als Drogenfahnder bei der Polizei tätig war. Durch ein unglückliches Ereignis wurde ihm ein zwielichtiger Auftrag aufgezwungen, den er nicht ablehnen konnte. Die ihm auferlegte Aufgabe zwang ihn, Schritt für Schritt die Kontrolle über sein scheinbar geregeltes, abstinentes Leben niederzulegen und wie in einem Fiebertraum in eine Zwischenwelt voller Drogen, schlechtem Sex und sozialer Verrohung einzutauchen. Von fremder Hand gestossen, erwartete ihn der freie Fall in den lodernden Abgrund der Selbsterkenntnis. »Léthe« ist eine schonungslose Sozialkritik an der westlichen Konsumgesellschaft, verpackt als dystopischer Noir Thriller mit subtilen Science Fiction Elementen.
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Seitenzahl: 558
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für die, die nie ankommen.
«GEBOREN, UM ZU VERGESSEN. DAS SEID IHR ALLESAMT. GEBOREN, UM ZU VERGESSEN. HÖRT IHR MICH DENN NICHT?!«, SPRACH EINST DER ALTE MANN MIT HEISERER STIMME, ALLEIN VOM HINTERSTEN TEIL DER BAR, UMGEBEN VON LAU T DRÖHNENDER MUSIK. IRRITIERT SAH ER UM SICH. DAS ZITTERN SEINER HÄNDE WURDE IHM NUN BEWUSST. UNSICHER, OB DIE ANDEREN GÄSTE IHN NICHT HÖREN KONNTEN ODER OB SIE IHN KOLLEKTIV IGNORIERTEN. SEINE FAUST SCHLUG HART AUF DEN HOLZTISCH, DOCH KEIN MENSCH DREHTE SICH UM. SEIN RECHTES BEIN WIPPTE NERVÖS. SIE ALLE WAREN ZU BESCHÄFTIGT, DEN ABSCHLUSS DER ARBEITSWOCHE ZU FEIERN, MIT GELÄCHTER, GETRATSCHE SOWIE DEM BLINDEN FÜLLEN UND SOFORTIGEM ENTLEEREN IHRER GROSSEN UND KLEINEN GLÄSER.
ER SCHLUCKTE DEN SICH ANBAHNENDEN RÜLPSER RUNTER UND WÜNSCHTE SICH, IHRE GLÄSER WÄREN NICHT MIT GETRÄNKEN GEFÜLLT, DIE DAS VERGESSEN, DAS VERFLUCHTE VERGESSEN, SOGAR NOCH BEFEUERN WÜRDEN.
PROLOG – DER ANFANG VOM ENDE
KAPITEL EINS
Kapitel I
KAPITEL ZWEI
Kapitel II
KAPITEL DREI
Kapitel III
KAPITEL VIER
Kapitel IV
KAPITEL FÜNF
Kapitel V
KAPITEL SECHS
Kapitel VI
KAPITEL SIEBEN
Kapitel VII
KAPITEL ACHT
Kapitel VIII
KAPITEL NEUN
Kapitel IX
KAPITEL ZEHN
Kapitel X
KAPITEL ELF
Kapitel XI
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
Kapitel XII
KAPITEL VIERZEHN
Kapitel XIII
KAPITEL FÜNFZEHN
Kapitel XIV
KAPITEL SECHZEHN
Kapitel XV
KAPITEL SIEBZEHN
Kapitel XVI
KAPITEL ACHTZEHN
Kapitel XVII
KAPITEL NEUNZEHN
Kapitel XVIII
KAPITEL ZWANZIG
Kapitel XIX
KAPITEL EINUNDZWANZIG
Kapitel XX
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Kapitel XXI
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Kapitel XXII
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
EPILOG – DAS ENDE VOM ANFANG
Laurent konnte nicht mehr schlafen. Zu lange war er in diesem Bett gelegen und nun schmerzten sein Rücken und Nacken. Also stand er nach geschlagenen elf Stunden endlich auf und zog sich den Morgenmantel über die nackte Haut. Das gebrauchte Kondom,das er vergangene Nacht achtlos Richtung Zimmertür warf, war nicht mehr da. Er hatte Hunger, doch nach einem kurzen Blick in den prall gefüllten Kühlschrank war ihm nicht nach fester Nahrung. Und das, obwohl seine Liebste für ihn am Vortag diverse seiner Lieblingsspeisen besorgt hatte. Frisch gebackenes Brot und Trockenfleisch höchster Qualität lagen gemeinsam mit einem kleinen Notizzettel auf dem Tresen:
»Iss was, damit du wieder etwas zu Kräften kommst. Bin um sechs wieder zurück. Dann machen wir aus dir einen richtig sexy Polizisten, der seine Ehrenauszeichnung verdient hat. Es wird wundervoll, glaub mir. Ich liebe dich.«
Er schlenderte zum kleinen, dunkelbraunen Möbel im Wohnzimmer und griff nach der halb leeren Flasche Whisky und einem der Kristallgläser.Nach dem ersten großen Schluck wurde ihm speiübel. Doch statt gleich direkt ins Badezimmer zu rennen, nahm er Flasche und Glas mit und gab sich große Mühe, diesen kurzen Gang mit Fassung zu nehmen. Wenige Stücke halb verdauter mit reichlich Magensäure versetzter Nahrung spuckte er in die WC-Schüssel. Spülen tat er nicht. Dafür schenkte er zitternd noch mehr Whisky ins Glas,bis es randvoll war und eine kleine Menge der teuren, gebrannten Flüssigkeit auf das breite Waschbecken kullerte. Er nahm einen weiteren Schluck,hielt inne,unterdrückte den Würgreflex und bemerkte mit einem sanften Anflug von Stolz, dass der Konsum ihm nun schon leichter fiel. Sein Körper gehorchte ihm. Mit noch größerer Zufriedenheit stellte er fest, dass in der linken Tasche seines Morgenmantels noch immer eine bereits geöffnete Schachtel Zigaretten gemeinsam mit seinem silbrigen Zippo-Feuerzeug lag. Sogleich zündete er sich einen dieser Sargnägel an.
Sein Spiegelbild sah grässlich aus. Die ungekämmten Haare kombiniert mit seinem ungepflegten Kinnbart ließen ihn wie einen Obdachlosem wirken. Tiefe Augenringe verstärkten das Bild.
»Sieh dich bloß an. Du siehst echt beschissen aus. Beschissener als sonst.«, hörte er in seinem Kopf. Sein Blick glitt zurück zum Whisky-Glas, aus dem er einen weiteren, diesmal kleineren Schluck nahm.
Laurent ließ die Asche seiner Zigarette in die Mitte des Spülbeckens fallen. Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, was er sich alles anhören müsste, wenn seine Liebste erst mal herausfand, dass er neuerdings in der Wohnung rauchte. Doch er legte den Gedanken schnell wieder beiseite und zog ein weiteres Mal, nun etwas fester an der Zigarette. Es war sowieso scheißegal, wahrscheinlich wusste sie es ohnehin schon längst und hatte sich aus Rücksicht ihm gegenüber einfach noch nicht dazu geäußert. Über so was würde er sich nun nicht mehr den Kopf zerbrechen, beschloss er und rauchte weiter, bis die Glut den hellbraunen Filter erreichte.
Da er keinen Aschenbecher zur Hand hatte, warf er die Kippe einfach ins WC. Ihm war zwar durchaus bewusst, dass dies eine ökologische Schandtat war. Aber eben, es war sowieso alles scheißegal. Also zündete er sich eine weitere Zigarette an, diesmal ohne sich auf die Inschrift des Feuerzeugs zu achten und nahm nochmals einen Schluck Whisky. Er hatte seine Kontaktlinsen nicht drin und deswegen lehnte er sich nach vorne, um seine Reflexion im Spiegel vor sich genauer betrachten zu können. Dabei fiel ihm auf, dass er den Fokus jeweils nur auf eines der Augen richten konnte. Vielleicht lag es ja daran, dass seine Konzentrationskraft geschwächt war. Zu viele Bilder schossen ihm durch den Kopf. Bilder dessen, was alles geschehen war. Gedanken an die vergangenen elf Jahre. Seine Augen versuchten alle Details seiner Gesichtszüge genau zu mustern.
»Du bist es schuldig…«, hallte eine fremde Stimme durch seinen Kopf.
Seine Augen wurden feucht, doch Laurent nahm einen kleinen Schritt zurück, hob den Kopf und blinzelte mehrmals. Nein. Tränen würde er sich keine einzige erlauben. Es wäre falsch. So falsch. Das hatte er nicht verdient.
Ein weiterer Zigarettenstummel fiel in die WC-Schüssel und Laurent spülte den Inhalt des halb leeren Glases in einem Zug seine Kehle hinunter und schüttelte, ähnlich wie ein nasser Hund, aber leicht torkelnd seinen Kopf, bevor er einen widerlich riechenden Rülpser von sich gab. Der Gedanke sich die Zähne zu putzen war ihm weit entfernt.
Es war Zeit, allerhöchste Zeit.
Nachdem er sich stehend erleichtert hatte, ging Laurent zurück ins Schlafzimmer, wo er sich etwas zum Anziehen suchte. Früher hätte es ihn gestört, zwei ungleiche Socken anzuziehen. Heute schenkte er dem ungeschickten Umstand nicht einmal den winzigsten Gedanken. Was seine Kleidung betraf, so war ihm nur eine Sache wichtig. Sein Kapuzenpullover. Er hatte ihn schon länger nicht mehr getragen und deswegen musste er für ein paar Minuten nach ihm suchen. Als er ihn schließlich unter anderen, mehr oder weniger nachlässig gefalteten Pullovern fand, fiel ihm auf, dass das Ding ein paar kleine Löcher aufwies. Dass er Motten im Schrank hatte, war ihm neu. Nichtsdestotrotz zog er sich den Pullover über. Anschließend montierte er sein Pistolenholster, welches er darauf unter seiner braunen Lederjacke verdeckte.
In der untersten der drei Schubladen seines Nachttischs lag seine private Waffe. Eine antike, doch sorgfältig gepflegte Ortgies (Kaliber 7.65, acht Schuss). Routinemässig prüfte er den Munitionsstand, bevor er die Pistole ins Holster steckte. Selbstverständlich war das Magazin voll. Für den Notfall. Laurent sah aus dem Fenster. Als er den Schneeflocken zusah, überlegte er sich,ob er eine Notiz hinterlassen sollte. Aus Anstand. Doch wer würde all das schon verstehen. Um die Sache zu erklären, bräuchte es tausende Zettel. Und selbst dann hätte er keine Gewissheit darüber, ob andere Leute auch nur ansatzweise begreifen oder zumindest anerkennen könnten, was geschehen war. Er fühlte sich von der Welt losgelöst. Fremd. Dieser Umstand machte es für ihn leichter, die Wohnung endlich zu verlassen. Bevor er aus der Wohnung ging, befüllte er seinen Flachmann noch mit ein wenig Whisky. Weitaus mehr als nur ein paar Tropfen gingen daneben. Laurent gab sich keine Mühe, die Sauerei wegzuputzen. Es war sowieso alles egal.
Er zog sich nicht primär der Kälte wegen die Kapuze über den Kopf, sondern weil er möglichst nicht erkannt werden wollte. Mit leicht gesenktem Haupt ging er Richtung Westen. Dort, wo die Sonne unterging. Gehen fiel ihm immer noch nicht leicht. Sein rechter Oberschenkel schmerzte noch immer und es bereitete ihm in diesem Moment große Mühe, nicht an diese eine Nacht zurückzudenken. Mit dem Blick auf seine Füße gerichtet summte er eine kleine Melodie vor sich hin, bis schließlich genau das passierte, was er nicht wollte.
»Hey, Laurent! Laurent!«
Na, super. Selbstverständlich muss mich irgend ein Arschloch erkennen und ansprechen. Es war Paul, dieser nervtötende Wichser, mit dem er bis vor einem Jahr noch bei der Polizei sporadisch zusammengearbeitet hatte. Was macht der überhaupt hier um diese Uhrzeit? Hat der Urlaub, oder was?, fragte er sich.
»Laurent! Was machst du denn hier um diese Uhrzeit? Hast du noch immer Urlaub?«, fragte Paul, der von seinem Fahrrad stieg und auf Laurent zuging. Letzterer unterband den Drang, die Augen zu verdrehen.
»Hi Paul. Ach, ich muss ein paar Besorgungen machen.«
»Okay… Und für Besorgungen läufst du in Richtung Wald? Was willst du denn dort besorgen? Beeren? Im Winter? Haha! Du bist schon ein komischer Typ. Das warst du schon immer. Nein, aber jetzt ernsthaft. Wenn du Einkäufe machen musst, kann ich dir gerne was nach Hause bringen. Okay? Was brauchst du? Ist wirklich gar kein Problem für–«
»Danke, Paul. Aber…« Laurent sammelte die Überreste seiner gesellschaftskonformen Integrität zusammen und meinte mit überaus ruhiger Stimme: »Ehrlich gesagt, wollte ich nur alleine einen kleinen Spaziergang machen. Klingt komisch, ich weiß. Aber ich muss mich ein wenig sammeln, bevor das grosse Theater heute Abend losgeht. Du hast es sicher auch mitbekommen wegen der Zeremonie, oder?«
»Hey kein Problem, mein Freund. Für mich wär so was auch Stress pur. Besonders in Anbetracht dessen was passiert ist… Wie will man so einer Sache überhaupt gerecht werden? Ähm sorry, tut mir leid. Ich will mir nicht anmaßen, Bescheid zu wissen. Ich kenn ja nur die Story aus der Zeitung. Und das Geschwätz in der Kantine halt. Kannst es dir ja denken? Aber ich glaub, ich kann mir schon vorstellen, dass das keine leichte Sache ist…«
Laurent presste seine Lippen zusammen und erwiderte nur mit einem knappen »Ja.«. Sein Blick war seitlich zu Boden gerichtet. Er verbarg nun nicht mehr, dass er nicht mit Paul reden wollte.
»Okay, weißt du was? Ich muss dann mal weiter. Ich hoffe, du findest wonach du suchst. Viel Glück heute Abend. Das wird grandios. Hast es dir echt verdient, mein Guter!« Somit beendete Paul das für Laurent unangenehme Gespräch und innerhalb weniger Sekunden war er auch nicht mehr in Sichtweite.
Am Rand der Stadt, in einer schmalen Seitengasse vernahm er Musik. Folklore aus einer längst vergessenen Zeit, wie es ihm schien. Wie durch Magie angezogen, sah er von seinem geplanten Weg ab und näherte sich der dort versammelten Menschengruppe. Es schien eine Art winziger Mittelaltermarkt zu sein, gemessen an den unüblichen Stofffetzen aus Leinen und gegerbtem Leder, welche die Leute dort trugen. In der Mitte der Gasse befand sich eine Art Marktstand aus dunklem Holz mit der verschnörkelten Aufschrift: »Le THE Artisanal«. Der süßliche Geruch, der von dort ausging, kam ihm bekannt vor und doch konnte er ihn nicht zuordnen. Zwei alte Damen standen hinter dem Tresen und winkten ihm zu. Ihr Aussehen befremdete ihn, als er sich ihnen näherte. Ihre Körper schienen wohlgenährt dicklich. Gleichzeitig wirkten ihre beiden Gesichter abgemagert – ein höchst sonderbarer Anblick.
»Hallihallo, großer Mann! Was darf ’s denn sein?«
Er versuchte etwas zu stammeln, doch seine Zunge weigerte sich klare Worte zu formen. Gemessen an seinen Kopfschmerzen und dem klebrigen Geschmack von Alkohol in seinem Mund, überraschte dies wenig.
Die beiden Frauen lachten. Nicht herablassend, sondern verständnisvoll warm. »Wir haben genau das Richtige für dich.«
»Ich will nichts.«
»Doch sicher willst du etwas. Sonst wärst du nicht hier.«
»Nein, wirklich. Schon gut. Tut mir leid. Ich war bloß neugierig.«, stotterte er und wandte sich ruckartig ab.
»Warte! Hier, probier unseren Haus-Tee!«
Er drehte sich zurück und sah, wie eine der beiden ihm einen dampfenden Ton-Becher entgegenhielt. Schon bloß wegen der Musik, die ihm zutiefst missfiel, wollte er nicht mehr länger hier verbleiben. Die anderen Leute um ihn herum wippten mit ihren lächerlichen Ledersandalen wie Zombies zu den Dudelsackklängen, die sich aus beschädigten Lautsprechern tinnitusähnlich in seine empfindlichen Ohren bohrten. Doch das Lächeln der einen alten Frau schien ihm so unerwartet warm und fürsorglich, es fühlte sich zutiefst unhöflich an, ihr Angebot auszuschlagen. Also griff er in seine hintere Hosentasche und grub seinen Flachmann hervor, den er zu Hause eingesteckt hatte. Nachdem er einen winzigen Schluck Whisky zu sich genommen hatte, der sich als erschreckend bitter erwies, schüttete er den Rest auf den gepflasterten Boden und hielt ihn der Frau entgegen: »Ich muss weiter. Können Sie mir den Tee bitte hier reinschütten?«
Sie erhob kurz fragen eine Augenbraue, gab seinem Wunsch aber nach. Sachte goss sie das Gebräu in die winzige Öffnung des Flachmanns und strich die wenigen Tropfen, welche dennoch daneben geraten waren, mit einem dunkelbraunen Stofftuch weg. Nervös griff er zu seinem Geldbeutel und fragte: »Was schulde ich euch?«
»Schuld? Was für ein lustiges Wort. Sowas kennen wir hier nicht. Dieser Tee geht für dich aufs Haus. Wir sind nicht hier,um Profit aus dir zu ziehen. Nicht wahr, Schwesterherz?Wir sind hier, um verlorenen Seelen wie dir etwas Gutes zu tun.«, sprach die andere Frau sanft.
Die Frau, die seinen Flachmann aufgefüllt hatte, trat nun seitlich hinter dem Tresen zu ihm, hielt seine kalten Hände mit ihren, die ganz warm waren fest und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sein Gesicht verzerrte sich. Er kniff seine Augen so fest zusammen wie er nur konnte und presste seinen Kiefer schmerzhaft aufeinander, bevor er losließ, wodurch ihre Worte sanft zischend in ihn eindringen konnten. Sie entfernte sich wieder von seinem Ohr und lächelte, bevor er sie erschrocken von sich stieß. Alle Anwesenden hielten inne, ohne ihn dabei anzusehen. Sie alle starrten blind und regungslos zu Boden, als wären sie Spielfiguren, denen jemand die Batterien entfernt hatte. Das Geräusch seines eigenen Atems schien ihm so laut wie ein greller Schrei.
Vollkommen unberührt lachte sie ihm lauthals mit durchdringendem Blick ins Gesicht: »Gute Reise, großer Mann!« Beide Frauen winkten ihm euphorisch, mit weit aufgerissenen, strahlenden Augen hinterher, als er wie von einem Rudel wilder Wölfe gejagt davonrannte.
Knapp eine Viertelstunde später war Laurent am Waldrand, oben an einem Hügel nahe der Stadt angekommen. Sein rechtes Bein ließ ihn nun brennende Schmerzen spüren. Er lehnte gegen einen einzeln stehenden Baum und zündete sich eine Zigarette an. Er zitterte merkbar, als er gedankenverflossen in die Ferne zu den Häusern der Stadt blickte. Die Luft war so kalt, dass jeder Zug Nikotin in der Kehle schmerzte. Zwei Zigaretten später waren seine Mundhöhle und Speiseröhre schmerzhaft trocken und er konnte die Kälte bis auf die Knochen spüren.
»Wie lange willst du denn noch zaudern?«, fragte er sich.
BEENDE ES JETZT, SOLANGE DU NOCH KANNST.
DIR LÄUFT DIE ZEIT DAVON, DAS WEISST DU GENAU.
Und doch: Weitere, endlos lang wirkende, stille Momente körperlicher Qual vergingen. Seine Nase lief und seine Augen tränten. Schlussendlich hat er dem Drang zu weinen doch noch nachgegeben. Aber Laute gab er dabei praktisch keine von sich.
Er nahm seine Pistole aus dem Holster, zog den Schlitten zurück, um sie durchzuladen und entsicherte die glänzende Waffe mit einer Daumenbewegung. Er steckte das kalte Metall in seine Mundhöhle, ignorierte das unangenehme Gefühl des Schabens an seinen Zähnen und strich sich mit dem linken Zeigefinger vom Ohr bis zum Mund. Gleichzeitig passte er den Winkel des Pistolenlaufs so an, dass das Projektil bei Betätigung des Abzugs sein Kleinhirn durchbohren würde – was einen sofortigen Tod bedeutete. Scheitern war keine Option.
Laurent schloß die Augen.
Die Pistole gab einen ohrenbetäubend lauten Knall von sich und seine flinken Schritte klatschten laut durch die dreckigen Pfützen, als er in die dunkle Seitengasse rannte, aus der er einen schmerzerfüllten Schrei vernahm. Laurent ging hinter einem großen Abfallcontainer in Deckung, bevor er einen kurzen Blick nach vorne wagte.Léna, seine Partnerin, lag mit zitterndem Körper zusammengekauert am Boden. Der Mann stand mit einem Fuß auf ihrer Hüfte und richtete seine Waffe mit beiden Händen auf ihren Kopf. Léna gab keinen Laut von sich. Minuten zuvor hatten sie diesen Typen, dessen Alter sie auf ungefähr 20 Jahre schätzten, vernehmen wollen, nachdem sie ihn bei der Entnahme eines verdächtigen Rucksacks aus einem Briefkasten beobachtet hatten. Dass die Situation dermassen eskalieren könnte, hätten weder er noch sie in Erwägung gezogen – trotz jahrelanger Erfahrung. Egal, wie oft man als Polizist schon mit direkter Waffengewalt bedroht wurde, man gewöhnte sich nie daran. Es war jedes Mal auf dieselbe Art beängstigend. Neben der Nässe unter seinen beiden Achseln und einem schier unerträglichen Knoten in der Magengrube spürte Laurent auch einige Tropfen Urin in seinem Schritt. Er ließ das Magazin aus seiner Dienstwaffe gleiten, um zu kontrollieren, wie viel Schuss ihm noch zur Verfügung standen. Drei Patronen, sowie diejenige welche bereits im Lauf steckte, hatte er noch. Seine zwei Ersatz-Magazine lagen schon leer irgendwo in den Strassen hinter ihm. Der Mann in der Gasse könnte noch viel mehr Munition haben. Mit jeder Sekunde, die er verstreichen ließ, verschmälerten sich seine Chancen, heil aus dieser Situation herauszukommen, glaubte Laurent.
»Hör auf, Mann. Verpiss dich einfach. Es ist vorbei, okay? Es ist vorbei, kapierst du?! Hau ab! Hau ab oder ich mach die Kleine kalt, ich schwör!«, schrie der junge Verdächtige laut keuchend mit der Waffe, nun zitternd auf Laurent gerichtet. Man konnte selbst in dieser fahl beleuchteten dreckigen Seitengasse erkennen, dass er stark schwitzte. Über ihnen verdunkelte sich ein Fenster nach dem anderen. Wie gewohnt in dieser Stadt, wollte keiner der Anwohner involviert werden. Sie alle hatten mehr als genug eigene Probleme und überließen die Polizei gewöhnlicherweise lieber sich selbst. So hüllte sich die Gasse stückweise in nahezu vollkommene Finsternis. Nur noch das Licht am anderen Ende der Straße schien noch fahl auf die Szene.
Laurents Herz hämmerte, denn lange konnte er so nicht mehr ausharren. »Nein, du verstehst nicht. Hör jetzt gut zu, okay? Es ist vorbei, aber für dich. Du siehst, ich bin nur ein Polizist. Warum bin ich hier? Weil du Scheiße gebaut hast. Ich habe nichts gegen dich. Das Gesetz habe nicht ich gemacht. Aber ich habe einen Job. Und du kannst mich nicht davon abhalten, diesen zu erledigen. Erschieß mich und du kommst vielleicht heute Abend davon. Wenn du Glück hast. Aber spätestens morgen werden meine Kollegen dich jagen. Wie ein wildes Rudel Wölfe ein einsames Schaf. Von überall her und ohne Erbarmen. Vielleicht bist du ein sehr flinkes Schaf. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch dir irgendwann die Puste ausgehen wird. Allen geht irgendwann die Puste aus. Ausnahmslos. Es ist nur eine Frage der Zeit. Du kannst dich also nun entscheiden. Entweder ich nehme dich jetzt fest und du kriegst vielleicht nur ein paar Jahre Knast. Wenn du dich gut benimmst, kommst du vielleicht sogar etwas früher aus dem Bau. Oder du kannst dich jetzt dazu entscheiden, Polizistenmörder zu werden. Wenn du bei deiner Festnahme nicht erschossen wirst, kannst du den Rest deiner erbärmlichen Tage in einer grauen Zelle verbringen. Dies sind deine beiden Optionen. Andere gibt es nicht. Das ist kein blöder Hollywood-Film. Die Entscheidung liegt bei dir, Junge. Na? Was soll es denn sein?« Er atmete tief durch bevor er einen weiteren Blick an der schützenden Mülltonne vorbeiwagte. Augenblicklich fielen ihm mehrere Schüsse entgegen und er spürte, wie einer davon zischend durch sein Haar streifte. Bevor er reagieren konnte, hörte er plötzlich mehrere Klickgeräusche. Die Waffe des anderen war leer. Laurent atmete aus, um seinem zitternden Körper einen Hauch zusätzlicher Stabilität zu verleihen, bevor er das Feuer eröffnete und der Mann zu Boden sackte. Drei Patronen hatte er verschossen. Mit der Pistole vorwärts gerichtet, schritt er hastig nach vorne und kreischte: »Bleib am Boden! Bleib am Boden!« Der Verdächtige blieb am Boden. Leise gurgelnd, schnappte er nach Luft, als immer mehr tiefschwarzes Blut aus seiner zerfetzten Kehle quoll.
Léna wimmerte laut, als Laurent ihren Körper auf den Rücken drehte. Ihre Schutzweste hatte zwei Patronen auf ihrer Brust abgefangen, doch ein Schuss hatte ihre linke Schulter durchdrungen. Er zitterte noch immer, als er auf sie einsprach: »Du bist okay, Léna, du bist okay! Alles ist gut! Es ist vorbei!« Gleich, nachdem er Verstärkung mit einer Ambulanz gerufen hatte, zog er sie zur Wand, damit sie sich anlehnen konnte. Die aufrechte Position sollte verhindern, dass sie das Bewusstsein verlor. Er zog sein Hemd aus und wickelte es fest um ihre offene Wunde, um die Blutung zu verringern. Weder sie noch er sprach ein Wort. Trotz der warmen Sommertemperaturen schlotterte er, als er sich eine Zigarette anzündete und gierig Zug um Zug inhalierte. Er bemerkte, wie seine Unterhose sich nun heiß und komplett durchnässt anfühlte, als er mit zusammengepresstem Kiefer gegen die Feststellung ankämpfte, dass er vor wenigen Momenten nicht nur um eine Haaresbreite dem Tod entgangen war, sondern auch zum erstmals einen Menschen getötet hatte.
Das leere Schnapsglas knallte laut auf den hölzernen Tisch. Lou schüttelte wild den Kopf und schrie laut in die Runde. »LET’S GET IT STARTED! LET’S GET IT STARTED IN HERE!«, riefen die Black Eyed Peas euphorisch aus den Lautsprechern in Georges’ Bar. Der einzigen Bar, in der man noch rauchen durfte. Für diesen Komfort sahen die Gäste noch so gerne über die geschmacklos kitschige Dekoration hinweg, welche aus uralter Weihnachtsbeleuchtung, verstaubten Tiki-Figuren sowie verschiedenen kleinen Landesflaggen aus vergilbter Pappe bestanden. Es war ein frostiger Donnerstagabend im Dezember, kurz nach Mitternacht, und die Stimmung war ausgelassen. Sein bester Freund Alexandre und seine schwulen Freunde, Patrice und Benoît, sassen mit ihm an einem Tisch, während andere bekannte und weniger bekannte Menschen prächtig gut gelaunt drumherum standen.
Der glatzköpfige Benoît drückte seinen Zigarettenstummel im Aschenbecher auf dem Tisch aus und kündigte an: »Lou, du weißt, was nun kommt! Das Fläschchen Mezcal ist nun leer, also bleibt nur noch eine Sache! Traust du dich oder traust du dich nicht?«
»Laber nicht blöd herum und reich mir die verdammte Scheiße!«
Benoît schob Lou die leere Flasche Mezcal rüber und dieser schüttelte daraus einen kleinen toten Skorpion, der über Monate im Alkohol konserviert war, auf seine Handfläche. Giftig war er längst nicht mehr. Die Leute um ihn herum schauten ihm dabei mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ekel zu. Das Publikum begann im Chor zu singen und zu klatschen: »Lou! Lou! Lou! Lou! Lou! Lou! Lou!« Dieser packte das tote Viech am Schwanz, schnalzte provokativ mehrmals mit der Zunge, bevor er das Tier in seinem Mund verschwinden ließ. Er verdrängte erfolgreich alle sich anbahnenden Gedanken darüber, was er gerade tat; kaute dreimal kurz und schluckte den zermalmten Chitin-Panzer runter, bevor er den Menschen um ihn herum mit herausgestreckter Zunge bewies, dass er sich den Skorpion erfolgreich einverleibt hatte. Alle drehten durch und applaudierten zustimmend. Nur Alexandre, der zwar auch lachte, schüttelte den Kopf. Noch kein einziges Mal hatte er dieses Ritual mitgemacht. Er meinte nickend: »Ihr seid wirklich verdammte Schweine.«, bevor er anfügte: »Und dafür liebe ich euch! High five!« Lou zündete sich eine Zigarette an, bevor er zur Bar ging, um sich ein großes Bier zu bestellen.
»Sowas habe ich ja noch nie gesehen.«, verkündete eine Stimme rechts von ihm. Eine kleine schwarzhaarige Frau lächelte ihn an. Sie fuhr fort:
»Also ich hätte ja sofort gekotzt, wenn ich so einen Skorpion essen müsste.«
Lou lachte und versicherte ihr: »Es ist viel harmloser, als es aussieht. Das Ding schmeckt nach nichts und hat die Konsistenz von Corn Flakes. Das Geheimnis liegt darin, nicht darüber nachzudenken.«
Sie kam einen Schritt näher und fragte: »Hm, weißt du, was komisch ist? Irgendwie wirkst du gar nicht so betrunken.«
»Ich mache das nicht zum ersten Mal, weißt du.«
»Ach, wirklich? Hast du auch noch andere Tricks drauf?«, fragte sie ihn.
»Na ja, meine Freundinnen und Freunde nennen mich einen Zauberkünstler.«, log er sie an. Kein Mensch hatte ihn jemals Zauberkünstler genannt. Schon bloß deswegen, weil er in seinem Leben noch nie einen einzigen Zaubertrick zu Unterhaltungszwecken erlernt hatte. In seinem betrunkenen Hochmut empfand er die Aussage dennoch als korrekt. In diesem Moment fühlte er sich tatsächlich wie ein berühmter Entertainer, und dass diese hübsche Frau ihn und nicht die anderen Männer in der Bar anschaute, bestärkte sein Gefühl umso mehr. Trotz der hohen Lautstärke in der Bar vernahm er, wie sie langsam aber tief atmete. Er strich sich kurz durch die Haare und stellte sich vor, wie hoch die Temperatur zwischen ihren Schenkeln wohl gerade war. Ohne ein Wort zu sagen, sah er ihr tief in die Augen, lächelte und nahm einen weiteren Schluck Bier. Sie brach das Schweigen: »Ich glaube, hier ist nun gleich Feierabend. Wollen wir noch ein Haus weiter?«
Er lachte und gab sich alle Mühe, so cool wie nur möglich zu wirken: »Nur, wenn ich dort auch übernachten und duschen kann, Schätzchen.«
»Na, wenn es nur das ist.«
Er hielt kurz inne, stellte sein Bier ab und wandte sich ihr nun direkt zu, bevor er sagte: »Das kann ich nicht garantieren.« Verspielt fuhr er mit der Hand ihrer Wange entlang, worauf er schließlich sanft ihr Kinn ergriff und sie küsste. Erst zögerlich, dann zunehmend hemmungsloser, streichelten sich ihre beiden Zungen. Sie brach den Kuss und lächelte. Ihre Hand strich über seine Brust, während er mit der seinen ihren Rücken streichelte. Beide tranken das restliche Bier in ihren Gläsern, ohne dabei den Augenkontakt zu verlieren, in einem Zug aus, bevor sie seine Hand ergriff und Richtung Ausgang schritt. Lou konnte nur grinsen, als er sah, wie Alexandre ihm von der Seite, grinsend und nickend gleich beide Mittelfinger entgegenstreckte. Bevor er aus der Tür war, rief er dem Mann hinter der Bar zu: »Ich zahle morgen, Georges!« Dieser schüttelte nur den Kopf und meinte: »Ja, ja. Immer das Gleiche mit dir, Lou! Immer das gleiche!«
Lou war erleichtert, dass der gemeinsame Marsch durch den tiefen Schnee zu ihrer Wohnung keine Viertelstunde dauerte. Auf dem ganzen Heimweg sprachen die beiden kein einziges Wort, stattdessen sahen sie sich nur hin und wieder in die Augen und kicherten. Wenige Minuten später in ihrer Wohnung angekommen, steckte Lou nach zwei bemühten Anläufen, seine halbherzige Erektion wenige Male in ihre feuchte Spalte, bevor er ächzend seinen Körper auf den ihrigen fallen ließ um nur Sekunden später, ohne gekommen zu sein, schnarchend einschlief. Spaghetti-Teller-Fick nannte man das in seinem Umfeld: Eine kurze, beiläufig erfahrene Freude, die nicht der Rede wert und somit bald wieder vergessen war. Nicht zuletzt auch deswegen, weil gekochte Nudeln nunmal höchstens al dente waren, statt ordentlich hart, wie man es von einem erigierten Penis erwarten würde. Sie kroch unter ihm zur anderen Bettseite durch und rubbelte ihre Klitoris stumm zu einem unaufgeregten Orgasmus, um nicht vollkommen frustriert einschlafen zu müssen.
Um 7:35 Uhr, eine halbe Stunde später als an gewöhnlichen Wochentagen, ertönte Lous Handy. Sein Kopf fühlte sich schwer an, doch er ließ den Wecker nicht länger als drei Sekunden klingen. 25 Sekunden später quälte er sich so langsam und geräuschlos wie möglich aus dem Bett. Zufrieden stellte er rasch fest, dass die Frau von letzter Nacht nicht aufgewacht war, bevor er seine zusammengeknüllten Kleider packte und sich beinahe geräuschlos ins Badezimmer zurückzog. Dort stellte er sich für nicht länger als zwei Minuten unter die Dusche, in der er seine Achselhöhlen und Genitalien kurz einseifte und gleich wieder abspülte. Mehr wäre nicht nötig, befand er. Hastig rieb er seinen Körper mit dem nächstbesten Tuch halbwegs trocken, bevor er sich anzog. Darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren, spritzte er sich das penetrant floral riechende Deo in der rosaroten Dose unter die Arme. Besser als nichts, dachte er sich. Statt sich die Zähne zu putzen, nahm er mehrere kleine Schluck Leitungswasser zu sich, spuckte den gelben Nikotin-Schleim, der nachtsüber aus der Lunge in seiner Kehle hochgewandert war, ins Spülbecken. Dann grub er eine zerknüllte Packung Kaugummi aus seiner Hosentasche und steckte sich die drei letzten Dragees rasch in den Mund. Nur mit den Socken an den Füßen verließ er sachte die Wohnung. Er setzte sich auf die Treppe im Flur und schlüpfte danach in seine Schuhe. Schließlich hastete er aus dem Gebäude in Richtung Bushaltestelle, um zur Arbeit zu kommen. Dass er die Frau, mit der er gestern geschlafen hatte, nie wieder sehen würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte, beschäftigte ihn nicht. Viel wichtiger war ihm nun, den letzten Arbeitstag der Woche mehr oder weniger erfolgreich hinter sich zu bringen.
Schon seit mindestens einer halben Stunde nun saß Laurent unbehaglich auf der nackten, hölzernen Bank im untypisch menschenleeren weißen Korridor. Das laute Ticken der großen analogen Zeigeruhr direkt über ihm,machte ihn nur noch nervöser. Er wollte aufstehen und schauen, wie spät es nun schon war, hatte er doch sein Smartphone vorhin in der Hast auf seinem Schreibtisch vergessen und seit Jahren keine Armbanduhr mehr getragen. Doch Laurent blieb sitzen. Nachdem er bereits viermal nach der Zeit gesehen hatte, käme er sich nun langsam ein wenig lächerlich vor, ein fünftes Mal danach zu schauen.
Zeit spielt keine Rolle, es ist sowieso zu spät, flüsterte eine unsichtbare Stimme in sein Ohr, als er sich unterschiedlichsten Szenarien detailliert ausdachte, in denen er aufgrund der verschiedensten, ja teilweise gar irrwitzigsten Gründen seinen Job verlieren würde. Aus welch anderem Grund sollte der Abteilungschef seiner Abteilung ihn mit einer kurzen E-Mail-Nachricht zu sich ins Büro beordern:
13:00 UHR, MEIN BÜRO.
NICHTS MITNEHMEN.
Endlich öffnete sich die Tür zu seiner Linken und sein direkter Vorgesetzter trat heraus und wies Laurent wortlos, nur mit einer Handgeste ins Büro hinein. Der Chef der Abteilung Drogenfahndung saß, in diverse Papiere vertieft, noch minutenlang wortlos hinter seinem großen Schreibtisch, nachdem die Tür hinter Laurent zugedrückt worden war. Neben all den Papieren und dem Computer stand zusätzlich noch eine weiße Kaffeetasse mit dem Aufdruck BOSS auf der Tischfläche.Laurent suchte nach Blickkontakt zu seinem Vorgesetzten. Dieser lehnte sich entspannt gegen die Wand, starrte Löcher in den Boden und zog sporadisch sein Smartphone aus der Hosentasche, um die Anzeige nach neuen Benachrichtigungen zu überprüfen. Laurent begann leicht zu schwitzen, als er erkannte, was auf dem Schreibtisch lag. Auf dem wirren Aktenstapel befand sich unter anderem auch der Bericht über seinen letzten Einsatz, der vor zwei Wochen war. Der Einsatz, bei dem er einen jungen Mann erschossen hatte.Ohne ihn anzusehen, fragte der Abteilungsleiter ruhig: »Wie geht es Ihnen?«
Er stammelte: »Gut, mir geht es gut.«
»Ist das so? Geht es ihnen wirklich gut, Laurent?«, fragte sein Vorgesetzter mit aufschreckend scharfem Ton von der Seite.
»Äm ja…«, begann Laurent, bevor er laut unterbrochen wurde: »Also mir würde es nicht gut gehen! Mir würde es sogar richtig beschissen gehen, wenn ich Sie wäre!« Laurent erstarrte.
»Einen riesigen Haufen Scheiße haben Sie da letzte Woche angerichtet! Ist ihnen das überhaupt klar? Wissen Sie eigentlich, wie uns die Medien deswegen im Nacken sitzen? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wieviel Arbeit es kostet, um Ihren jämmerlichen Arsch anonym zu halten? Sie können von Glück reden, erkennt man Ihre Visage nicht auf dem viral gegangenen Video, auf dem Sie den Jungen regelrecht hinrichten! Ja, so nennen es nämlich die Medien. ›Polizist richtet Jugendlichen in Seitengasse hin.‹, so lautet die Schlagzeile. Wie blöd muss man eigentlich sein, um einem Verdächtigen auf den Kopf zu zielen, statt auf die Extremitäten? Und Sie nennen sich Polizist?«
Der Abteilungsleiter hielt ein Portraitfoto der Leiche hoch: »Joël Franck, siebzehn Jahre alt, gutes Elternhaus, keine Vorstrafen.«
»Schauen Sie genau hin, Laurent. Sie haben nicht nur Ihre eigene Karriere, sondern auch das Leben eines Minderjährigen beendet.«
Seine Beine begannen zu zittern, doch er ließ sich nichts anmerken. Keine Regung ging durch sein verhärtetes Gesicht, als er sich zu verteidigen versuchte: »Ich hatte keine Wahl. Meine Partnerin war angeschossen. Ich wurde selbst beinahe erschossen. Es war Notwehr im Affekt, das können Sie meinem Bericht entnehmen.«
»Na und? Auf dem Video sieht man nur Sie, der wie ein blöder Cowboy wild um sich herum ballert! Und Ihr Bericht? So eine lückenhafte und unprofessionelle Scheiße habe ich schon lange nicht mehr gelesen. Haben Sie noch nie was von deeskalierendem Vorgehen gehört? Wie zur Hölle kann man aus der Beobachtung eines scheinbar ›verdächtigen‹ Rucksacks in eine Leben-oder-Tod-Situation geraten? Erklären Sie mir das!«
»Man hat im Rucksack eine unüblich große Menge Drogen gefunden.«
»Und wenn schon! Sind Sie eigentlich schwer von Begriff?!«
Mit erhobener Hand wies der Abteilungschef Laurents Vorgesetzten vom Schreibtisch aus zur Seite. Seufzend hob er an: »Nun gut… Laurent, ich hoffe Ihnen ist klar, dass es für Sie leider so nicht weitergehen kann. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Monsieur, es tut mir aufrichtig leid, ich habe nur versucht…« Mit einer weiteren Handgeste unterbrach ihn der Abteilungsleiter mit ruhiger Stimme: »Sie müssen verstehen, dass wir Sie unter den gegebenen Umständen nicht mehr als Polizist anstellen können. So leid es uns auch tut. Schließlich wissen Sie ja, dass es uns an Einsatzkräften fehlt. Auch wenn Sie, gemäß Ihrer Akte, in den vergangenen Jahren zuverlässige Arbeit geleistet haben. Wir haben es hier mit einem größeren PR-Desaster zu tun. Selbst wenn wir Sie für ein paar Wochen suspendieren würden, würde es unserem Image zu stark schaden, Sie später wieder in den Einsatz zu schicken. Sie sind, um es ganz offen auszudrücken, für die Polizei dieser Stadt untragbar geworden.«
Laurent starrte ein Loch in den Boden und vermochte nicht zu antworten.
»Aber gut. Setzen Sie sich erst mal hin. Kaffee?«, fuhr der Abteilungschef weiter.
Sein Vorgesetzter hielt ihm mit grimmiger Miene einen braunen Pappbecher hin. Milchkaffee, lauwarm. Sein Körper hatte zwar keine Mühe damit, Laktose zu verarbeiten, dennoch hielt er Milch im Kaffee für widerlich. Für ihn handelte es sich dabei um einen unnötigen Zusatz, der den Geschmack eines guten Produkts abschwächte. Unter anderen Umständen würde er nun eine Diskussion anzetteln, in der er erklären würde, warum nur Verlierer Milch in ihren Kaffee schütten. Stattdessen reagierte er nach dem ersten Schluck mit einem knappen »Danke« und presste seine Lippen zu einem schmalen Lächeln zusammen, als er sich langsam auf den kleinen Stuhl gegenüber des massiven Schreibtischs senkte.
»Wir möchten Ihnen helfen, Laurent.«, fuhr der Abteilungschef nun fort. »Aber dafür müssen wir mehr von Ihnen wissen.«
Verwirrt blickte Laurent auf, als sein Vorgesetzter eine andere, enorm dicke Akte vom Schreibtisch hob und darin zu blättern begann. »Hier steht, sie sind Alkoholiker. Stimmt das?«
»Nein!«, entgegnete er entschieden.
»Lügen Sie mich nicht an!«, bellte der Vorgesetzte zurück. Der Abteilungschef klopfte langsam mit einem Finger auf den Tisch, als er Laurent mit leicht zusammengekniffenen Augen musterte.
Laurent gab nach: »Ich habe früher viel getrunken, habe aber seit vielen Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr zu mir genommen.«
»Also Alkoholiker.«, er machte sich eine kurze Notiz auf das Papier.
»Haben Sie mich nicht verstanden? Ich habe gesagt, dass ich seit Jahren keinen Alkohol mehr zu mir nehme. Nichts! Keinen einzigen Tropfen!«
»Umso klarer ist es, dass sie ein Scheißalkoholiker sind! Hier steht, dass Sie keiner Glaubensgemeinschaft angehören. Es gibt nur drei Typen Mensch, die sich so stark vom Trinken distanzieren. Religiöse, Kranke und Alkoholiker. Dass Sie körperlich vollkommen gesund sind, das wissen wir aufgrund der regelmäßigen Tests. Wissen Sie, so was wie einen Ex-Alkoholiker gibt es nicht in meinem Wortschatz. Entweder man ist noch zu jung oder bereits zu krank um zu trinken. Oder man genießt, wie jeder andere normale Mensch, zu gegebenen Anlässen mal ein Gläschen oder zwei. Aber Sie kennen das wohl nicht, oder? Hm? Den Unterschied zwischen trinken und saufen? Deswegen gehen Sie dem Alkohol aus dem Weg. Vermeidungsverhalten nennt man das.«
Laurent schwieg.
»Sehen Sie mich an. Oder wollen Sie mir erzählen, dass sie der Typ sind, der jeweils nach zwei Bier nach Hause gehen kann? Diese gequirlte Scheiße können Sie vielleicht Ihrer Oma erzählen, aber nicht mir. Sie sind doch ein elender Koma-Säufer, der mit dem Schauspiel der Abstinenz vorgibt, ein anständiger Mensch zu sein!«
»Was wollen Sie von mir?!«, schnauzte Laurent nun mit glühendem Blick zurück.
»Ich will von Ihnen wissen, wann Sie das letzte Mal Drogen konsumiert haben.«
»Das wissen Sie ganz genau.«
»Nein, das tun wir nicht! Unsere Testresultate gehen nur bis zu Ihrer Ausbildung an der Polizeiakademie zurück. Sie waren immer komplett clean. Was davor war, wissen wir aber nicht mit Sicherheit. Die Hintergrundprüfung Ihrer Kreditkarten hat lediglich ergeben, dass Sie regelmäßig dreistellige Summen in Bars und Nachtclubs ausgegeben haben. Aber damals war auch noch nicht alles digital. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, Sie haben Ihren Stoff einfach mit Scheinen bezahlt. Wir verfügen über umfassende Listen, die auf einige Transaktionen nach Mitternacht hinweisen. Sagen Sie mir, wofür braucht jemand spätnachts Bargeld, wenn er anschließend in der Kneipe oder beim Imbiss mit Kreditkarte zahlt? Erklären Sie es mir, Laurent!«
»Ich kann mich nicht erinnern. Das ist zu lange her.«
»Ficken Sie sich, Laurent! Mir machen Sie nichts vor!«
Laurent erhob sich, knallte den Kaffeebecher auf den Tisch und konfrontierte den Abteilungschef: »Worum geht es hier eigentlich?«
Dieser lehnte sich zurück und bat ihn ruhig darum, sich wieder hinzusetzen. »Wie erwähnt… Wir möchten Ihnen helfen, Laurent. Aber das können wir nur dann tun, wenn Sie sich bereit erklären, uns zu helfen.«
»Ich verstehe nicht.«
Auf der großen Projektion an der Wand hinter dem Schreibtisch erschien das Portrait eines Mannes. Dessen rundlicher Kopf präsentierte eine Halbglatze sowie eine makellose Rasur im Gesicht. Seine ungewöhnlich hellen Augen strahlten, doch das Grinsen im Gesicht offenbarte bräunliche Zähne. Das Bild verwirrte Laurent, denn er konnte sich nicht entscheiden, ob es sich um einen schönen oder hässlichen Menschen handelte. Eine seltsame Faszination erschlich ihn für diese gepflegte und zugleich heruntergekommen wirkende Gestalt. Hätte er das Alter dieser Person schätzen müssen, wäre er vollkommen überfordert gewesen. Rein optisch hätte der Mann entweder 23 oder genauso gut 53 Jahre alt sein können.
»Wissen Sie, wer das ist?«
»Nein.«, antwortete Laurent nun ruhig, noch immer das Foto fixierend.
»Wir genauso wenig. Das ist das Problem. Unsere biometrische Datenbank findet kein passendes Resultat zu diesem Foto. Das einzige, was wir über ihn haben, ist der Name Étienne. Nicht einmal seinen Nachnamen kennen wir.«
»Und?«
»Und wir wissen aus guter Quelle, dass er der Hersteller des Stoffs ist.«
Nun setzte sich Laurent langsam wieder hin. Der Stoff war eine neuartige Droge, die schrittweise im Verlauf der vergangenen Jahre andere illegale Substanzen vom Markt verdrängt hatte. Was den Stoff von Drogen wie Heroin, Kokain, Amphetamin, MDMA oder Cannabis unterschied war, dass die Substanz bereits beim Erstkonsum zu einer noch nie verzeichneten sofortigen körperlichen und psychischen Abhängigkeit führte. Interessanterweise gab es dennoch keinen einzigen dokumentierten Fall von tödlicher Überdosierung. Die in Pillenform konsumierte Droge wirkte bei den meisten Konsumenten für rund 120 Minuten. Anschließend stieß der Körper jede zusätzlich eingenommene Pille ohne jegliche Wirkung für 24 Stunden ab. Der Stoff hatte sich zu einem immer größer werdenden Problem entwickelt, weil sich die Pille auch in Flüssigkeiten auflösen ließ. Immer mehr Leute allen Alters und aus allen Gesellschaftsschichten wurden durch unfreiwillige Einnahme, wie etwa als heimliche Beigabe in ein Getränk, abhängig gemacht. Der Entzug stellte sich selbst bei einmaligem Konsum als mehrjähriges, schmerzhaftes und vor allem überaus teures Unterfangen heraus.
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Was ich Ihnen jetzt erzähle, unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe.«, fuhr der Abteilungschef fort, als nachfolgend mehrere Aufnahmen von Étienne auf dem Display erschienen. Diese Person zeigte sich händeschüttelnd mit dem Bürgermeister und weiteren politisch einflussreichen öffentlichen Personen. »Wir glauben, wir haben die Schwachstelle von diesem Étienne identifiziert. Schauen Sie. Das sind alles Aufnahmen von Wohltätigkeitsanlässen. Étienne ist in den vergangenen Jahren durch philanthropische Gesten immer mehr ins öffentliche Rampenlicht gerückt. Obdachlosenunterkünfte, Frauenhäuser, grosszügige Spenden für die Krebsforschung und das letzthin neu erweiterte Kinderspital – überall dort gibt er Geld, viel Geld aus und lässt sich dafür feiern.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
Ohne auf Laurents Frage einzugehen, fuhr nun sein Vorgesetzter fort: »Unser Étienne hier ist nicht nur ein Philanthrop, sondern auch ein Lebemann, wie er im Buche steht. Sämtliche seiner bisher identifizierten Partner und Angestellten scheinen alle möglichen Substanzen zu konsumieren. Wie wir alle wissen, lockert Drogenkonsum die Zunge. Wir wollen, dass Sie diese Organisation infiltrieren, damit wir sie aushebeln können. Finden Sie für uns heraus, wo der Stoff hergestellt wird.«
Er schwieg, gemeinsam mit den anderen beiden Männern im Raum.
Man hätte die Augen des Abteilungschefs als mitfühlend und wohlwollend beschreiben können, als er seine nächsten Worte sachte formulierte: »Laurent, hören Sie jetzt gut zu. Wir wissen, was Sie sind. Verstehen Sie uns bitte nicht falsch, aber Sie sind kein Polizist. Sie waren nie ein Polizist. Was Sie sind, ist ein Ex-Junkie, der die Maske eines Polizisten trägt. Was wir Ihnen hier bieten, ist die einmalige Chance, nicht nur uns, sondern vor allem sich selbst zu beweisen, dass Sie vielleicht ja doch mehr als das sind. Sie verstehen es, anderen etwas vorzugaukeln. Sonst hätten Sie niemals eine Zulassung für die Polizeiakademie erhalten, auch wenn die Dinge vor einem Jahrzehnt noch einfacher waren. Das ist ein Talent, das nicht alle haben. Sagen Sie ja. Werden Sie für uns zum Wolf im Schafspelz.«
Unschlüssig darüber, wie ernst er diese Worte aufzufassen hätte, blieb er stumm.
Sein Vorgesetzter fuhr kaltschnäuzig fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Zum Dank erhalten Sie einen vollen Monat bezahlten Urlaub zugesprochen, sowie eine Erhöhung Ihres Gehalts um 12%. Gemäß Ihrer Akte hatten Sie seit sechs Jahren keine Lohnerhöhung mehr. Aufgrund Budget-Kürzungen. Uff, unschön. Also mir müsste man so ein Angebot nicht zweimal machen. Und wer weiß… Wenn Sie einen ordentlichen Job machen, stehen Ihre Chancen ziemlich hoch, irgendwann wieder als Polizist arbeiten zu können. Vielleicht sogar in einer höheren Position als bisher. Vom ausführenden Angestellten zum leitenden Organ. Das wäre doch was, nicht? Aber dafür müssen Sie mitspielen. Verstehen Sie das?«
»Und wenn ich Nein sage?«, stammelte er nun endlich.
»Tja, dann viel Glück dabei, wieder einen Job mit ihrer Vorgeschichte zu finden!«, lachte ihm sein Vorgesetzter direkt ins Gesicht.
Er war in die Ecke gedrängt, wie im Schach. Nach kurzem Zögern schnaubte Laurent: »Wo muss ich unterschreiben?«
»Nirgendwo, Sie Schlaumeier. Diese Abmachung existiert offiziell nicht. Wenn Sie es verkacken, werden der Chef und ich beide nichts davon gewusst haben. In diesem Koffer ist alles, was Sie brauchen. Sobald Sie dieses Büro verlassen, gelten Sie ab Montagmorgen als gekündigt. Denken Sie sich eine passende Geschichte für die Leute in Ihrem Leben aus, die es vielleicht interessieren könnte.«
Er öffnete den Koffer und entdeckte einen Briefumschlag, eine unmarkierte Pistole mit zwei Ersatzmagazinen, Munition sowie einen schwarzen Beutel, den er sich genauer ansah.
»Ist das eine VB 1-Maske? Die sind illegal.«
»Na und? Ab Montag sind Sie offiziell kein Polizist mehr, sondern ein Krimineller. Merken Sie sich das. Sie werden die Maske immer dann tragen, sollte ein Treffen nötig sein. Und jetzt raus hier.«
1 VB steht für V.A.N.T.A. Black, was ausgeschrieben Vertically Aligned Nano Tube Array Black bedeutet. Im Jahr 2014 entwickelte die Firma Surrey NanoSystems mit Nanotechnologie eine tiefschwarze Oberflächenstruktur, die so gut wie kein Licht reflektiert. Zudem wird einfallendes Licht gleichmäßig in Wärme umgewandelt. Selbst Kameras mit Infrarot- oder Laser-Messtechnologie scheitern somit bei der Gesichtserkennung des Trägers. Der Kopf des Trägers erscheint in Aufnahmen als uniforme schwarze oder bei Systemen mit Wärmesensoren als rote Fläche. Die Herstellung solcher Masken wurde im Jahr 2029 international verboten.
Seine Schicht begann offiziell um Punkt acht Uhr. Doch Lou schlich sich sechs Minuten später wortlos in die gewaltige Lagerhalle und ging, ohne jemanden zu grüßen, direkt zur Umkleidekabine. Dort angekommen schlüpfte er in seinen Arbeitspullover (die Halle war stets gekühlt), Latzhose sowie seine mit Stahlkappen verstärkten Sicherheitsschuhe. In seinem Postfach lag ein dicker Stapel Papiere, welche die heute zu erledigenden Lieferaufträge, korrekt nach Dringlichkeit geordnet, dokumentierten. Schon bloß der Anblick des Stapels ließ ihn seufzen. Denn heute war dieser um ungefähr ein Drittel umfangreicher als an anderen Tagen. Es würde eine Herausforderung sein, früher als um fünf Uhr abends nach Hause zu gehen. Die Arbeit war an sich nicht sonderlich komplex. Doch es handelte sich um Fleißarbeit, welche eine hohe Konzentration erforderte und er war sich bewusst, dass der kleinste Fehler unangenehme Konsequenzen für ihn hätte. Zwar interessierten ihn die reklamierenden Kunden kaum, aber er hatte kein Interesse daran, sich von seinem Vorgesetzten oder sonst jemandem zurechtweisen zu lassen. Darin zeigte sich der Kern seiner Motivation: die Vermeidung unangenehmer Diskussionen. Er rühmte sich selbst mit der Tatsache, dass er zwar öfters einige Minuten zu spät zu seiner Schicht antrat oder im Falle eines exzessiven Vorabends schlicht nicht bei der Arbeit erschien – Fehler machte er aber, seiner Ansicht nach, eher selten. Und sollte ihm mal wirklich etwas durch die Lappen gehen, dann immer so, dass es sich in letzter Minute noch ausbügeln ließ, ohne dass die betroffenen Kunden Wind davon bekamen. Das verlieh ihm ein Gefühl von Gelassenheit, als er sich Mühe gab, für eine kurze Zeit seine Gedanken an andere, schönere Dinge zu blockieren und sich stattdessen auf die gegebenen Aufgaben zu konzentrieren.
Endlich zeigte die riesige Uhr am Ende der Halle neun Uhr an. Zeit für eine kurze Pause. Er liess sich vom sperrigen Vollautomaten im Aufenthaltsraum der Firma einen schwarzen Industriekaffee in einen Plastikbecher füllen. Der Kaffee war grässlich, selbst für ihn, der davon nicht viel verstand. Aber mit viel Zucker war das Gebräu vom Geschmack her erträglich. Außerdem kostete die Plörre nichts. Das Gerät war seiner Meinung nach nicht korrekt kalibriert. Deswegen war die Temperatur des Kaffees immer zu hoch, dass er erst nach einigen Minuten genießbar war, ohne dass man sich die Zunge und den Rachen damit verbrennen würde. Zu Beginn seiner Anstellung in dieser Firma befürchtete er, das sei lediglich deswegen, weil er körperlich zu sensibel war. Doch die Beobachtung, dass die meisten anderen Mitarbeitenden (mit Ausnahme der hart gesottenen Alten) ihren Kaffee ebenfalls vor dem Verzehr hundertfach anpusteten, versicherte ihm, dass es nicht an ihm, sondern an der Maschine lag. Lou stellte seinen Becher ganz hinten auf das Gerät, um das Gebräu auskühlen zu lassen, und schlenderte ins WC. Er begab sich in die hinterste Kabine, setzte sich und ließ auf dem kleinen Display einen Porno laufen. Es dauerte nur knapp zwei Minuten, bis er synchron mit dem Mann, der im Video einer scheinbar willigen Frau in den weit geöffneten Mund spritzte, seine Ladung auf den WC-Deckel ergoss. Einige Tropfen landeten auf dem dunkelgrauen Linoleum-Boden. Weitere zwei Minuten später hatte er die Kabine zumindest für das gewöhnliche Auge sauber verlassen und wusch sich die Hände. Zurück im Aufenthaltsraum hatte sein Kaffee, der noch immer unberührt auf der großen Maschine stand, die gewünschte Trinktemperatur erreicht. Zufrieden verließ er das Gebäude, um dazu routinemäßig eine Zigarette zu rauchen. So, wie er es praktisch jeden Tag zu tun pflegte.
Zurück an seiner Arbeitsstation prüfte er Bestellungsblätter und wies die geforderten Artikel der korrekten Folgestation zu. Währenddessen dachte er darüber nach, was er wohl tun, wenn er im Lotto gewinnen würde. Für ihn war klar, dass er seine jetzige Arbeit sofort an den Nagel hängen würde. Vielleicht würde er sogar seinem Vorgesetzten, den er aufgrund seiner pedantischen und arroganten Art auf den Tod nicht ausstehen konnte, zum Abschied mitten auf den Schreibtisch kacken. Der Gedanke lockte ein kleines stilles Grinsen aus ihm heraus. Er fantasierte weiter und stellte sich vor, wie er sich als Erstes eine luxuriöse Villa für sich und seine Kumpels kaufen würde. Inklusive hübscher Haushälterin, die am besten gleich noch sexuelle Dienste anbieten würde. Die klassische Idee einer Jacht für ausgelassene Partys mit hübschen Mädels verwarf er jedoch. Lou war Nichtschwimmer und fühlte sich eigentlich ausschließlich aus Hygienegründen mit dem Element Wasser verbunden. Die Vorstellung einer ausschweifenden Party mit einer erotischen Feuerspuckerin fand er hingegen höchst erregend. Er malte sich aus, wie er mit seinen Freunden drei Tage am Stück ununterbrochen feiern und sich alle möglichen bewusstseinserweiternden Substanzen einverleiben würde, bis er schlussendlich das Wort »Arbeit« an sich vergessen würde.
Denn er hasste seinen Job. Seine Ausbildung in dieser Branche war er vor ein paar Jahren nur deswegen angetreten, weil seine Lehrer ihn dazu gedrängt hatten. Schließlich solle man für solche Chancen dankbar sein, wurde damals gepocht. Was er anstelle der Lagerarbeit tun wollte, wusste er weder damals, kurz nach der Schule, noch heute. Doch ihm war von Anfang an klar, dass es nicht das war, was er für den Rest seines Lebens arbeiten wollte. Man versicherte ihm mehrfach, dass eine solide berufliche Grundbildung ein Sprungbrett in alle Richtungen war, die er sich erträumen würde. Auf dem Papier entsprach dies auch der Wahrheit. Doch selbst heute, Jahre später, wusste Lou noch nicht, was er denn gerne für einen Beruf ausüben wollte. Er wusste lediglich, dass es dieser Job hier definitiv nicht war. Regelmäßig tröstete ihn der Gedanke, dass immerhin die monatliche Entlohnung für ihn dieses monotone Theater vertretbar machte. Man bezahlte ihn nicht fürstlich, aber immerhin besser als einen Kellner oder Regalauffüller im Supermarkt, der gar keine Ausbildung im Lebenslauf aufzuweisen wusste. Nichtsdestotrotz machte er niemandem gegenüber, auch seinem Vorgesetzten nicht, einen Hehl daraus, dass ihn die Sache nicht sonderlich interessierte. Jeden Tag verrichtete er nur das Allernötigste und flüchtete, wann immer er konnte, aus dem Gebäude, um zu rauchen oder nutzte die Gelegenheit, ein paar Minuten früher nach Hause zu gehen. Deswegen schämte er sich auch nicht. Letztlich hatte das Leben doch so viel wichtigere Dinge zu bieten als Arbeit. Nicht zuletzt waren seine Aufträge immer pünktlich erledigt und kein Kunde hatte sich bis jetzt je darüber beklagt, dass eine Lieferung falsch oder gar nicht angekommen war. Er hatte seine Sache mehr oder weniger im Griff, befand er zufrieden.
Nach der gewohnten einstündigen Mittagspause begab er sich durch die Hintertür aus der Lagerhalle, um sich, wie jeden Tag nach dem Essen, eine Verdauungszigarette zu gönnen. Er kratzte sich mit dem Finger ein Überbleibsel Salat aus einem Zahnzwischenraum, bevor er sich eine Kippe anzündete und sein Handy aus der Brusttasche hervorholte, um zu sehen, was im Internet denn gerade so lief. Als er feststellte, dass der Newsfeed nichts Spannendes zu bieten hatte, besuchte er routinemäßig ein Newsportal. Mord, Totschlag und die immer wiederkehrenden Promi-Geschichten. Das Übliche eben. Nichts davon interessierte ihn wirklich. Doch das hinderte ihn nicht daran, jeden einzelnen Artikel kurz zu überfliegen und sich anschließend die Leserkommentare anzusehen. Den einen oder anderen Lacher gab es dort immer zu finden, wusste er. »Was für ein Haufen Vollidioten!«, dachte er sich ab und an grinsend bei besonders plumpen Beiträgen.
»Hey! Äh, Lou, richtig? Na, wie läufts so?«
Er wandte sich um. Es war der neue Mitarbeiter, der erst vergangene Woche hier angefangen hatte. Zwar hatten sich die beiden einander kurz vorgestellt, doch Lou hatte seinen Namen bereits vergessen. Statt sich die Blöße eines schlechten Gedächtnisses oder gar von Desinteresse zu geben, umging er den Namen, so wie er es bei zahlreichen anderen Mitarbeitern auch schon getan hatte: »Alles im grünen Bereich, Meister. Und bei dir so?«
Der Neuling zündete sich eine Zigarette an und zögerte einen kleinen Moment, bevor er antwortete: »Ehrlich gesagt, nicht so gut.«
»Was ist los? Hast du etwa jetzt schon die Nase voll von dem Job?«, schnaubte Lou mit einem spöttischen Lächeln auf dem Gesicht.
»Nein, nein! Das meine ich nicht! Bei der Arbeit läuft alles bestens! Alle sind sehr nett.«
»Alle?«, lachte Lou.
»Na ja, fast alle.«
»Unser Chef hat einen ziemlichen Stock im Arsch, findest du nicht? Der Typ war mal ein hohes Tier in der Armee, hab ich mal gehört. Links, zwo, drei, vier! Links, zwo, drei, vier! Links, zwo, drei, vier!« Lou äffte einen strammen Soldatenmarsch nach und salutierte mit seiner Rechten in alle Richtungen.
Sein neuer Mitarbeiter kicherte unbeholfen. »Äh, ja wie soll ich sagen? Ich glaube, als Abteilungsleiter gehört das wohl ein wenig zum Job, nicht?«
Lous Miene verfinsterte sich. »Vielleicht. Aber der Typ übertreibt’s manchmal echt. Nimm dich in Acht, Kollege. Ich bin erst seit etwas mehr als einem Jahr hier, aber es fühlt sich jetzt schon an, als wären zehn vergangen.«
Er schwieg. Ihm war bei diesem Gespräch sichtlich nicht ganz wohl, bemerkte Lou sogleich. Schließlich war dies erst seine zweite Arbeitswoche. Sowas möchte vermutlich keiner jetzt schon hören, dachte er sich. Also wechselte er das Thema: »Sorry, ich labere nur. Nimm’s locker. So schlimm ist es auch nicht, keine Sorge. Also, worum geht’s? Was beschäftigt dich gerade, nebst deinem neuen glorreichen Job hier?«
Der neue Kollege stammelte: »Na ja, meine Freundin … Hast du ’ne Freundin, Lou?«
»Nö.«, antwortete dieser knapp. »Hab gerade keinen Bock auf Beziehung. Was nicht heißen soll, dass ich allein bin. Wenn du weißt, was ich meine?« Er zwinkerte dem Mitarbeiter selbstsicher grinsend zu.
»Ach so. Ja. Also ich weiß nicht.«, stammelte dieser weiter.
»Na komm schon. Spuck’s aus! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Junge!«, lächelte Lou.
»Also es ist so. Meine Freundin möchte unbedingt wegziehen. In die Stadt.«
Lou blickte auf die große Uhr hinten in der Halle und seufzte. Es war bereits eine Viertelstunde verstrichen, seit er seine Pause angetreten hatte. Nichtsdestotrotz zündete er sich eine neue Zigarette an, bevor er sachte zu sprechen begann: »Und du willst das nicht. Sonst hättest du diesen Job nicht angenommen … Wieviele Bewerbungen hat es dich gekostet, um hier landen zu können?«
»68.«
»Achtundsechzig?! What the fuck?!«
»Ich habe meine Abschlussprüfung nur knapp beim zweiten Anlauf bestanden.«
»Und jetzt bist du froh, endlich einen Job zu haben.«
»Das hier ist eine echte Chance, Mann. Sie ist selbst arbeitslos und, ja, sie hat diesen dämlichen Traum eine berühmte Tänzerin im Rampenlicht zu werden!«
»Hast du ein Foto? Zeig mal her!«
Sein Kollege suchte sein Handy in der Hosentasche. Es dauerte einige Momente, bis er Lou ein Foto der jungen Frau entgegenstreckte.
»Die ist ja flach wie ein Brett! Also wenn sie nicht eine Ballerina oder so ist kann die sich den Traum knicken, haha!«, schoss es aus Lou heraus. Der andere schwieg betreten. »Sorry, war nicht so gemeint. Sie sieht doch ganz nett aus und ich bin mir sicher, sie hat Rhythmus im Blut.«, log Lou zur Beruhigung. In Wirklichkeit hielt er das Mädchen auf dem Foto für unterdurchschnittlich attraktiv. Jungenhaft, mit hauchdünnen Lippen und für eine junge Frau sonderlich eingefallenen Augen. »Also hör mal, Bruder. Erklär deiner Liebsten sanft aber bestimmt, dass das nichts wird. Ihr beide habt hier eine bessere Zukunft. Aber gleich danach musst du ihr auch was bieten. Biete ihr an, mit ihr in die Tanzschule zu gehen. Dort kann sie sich austoben. Wichtig ist dabei nur, dass du ihr zu spüren gibst, dass du derjenige mit dem Plan bist und nur ihr Bestes im Sinn hast. Schlimmstenfalls sagst du ihr einfach, sie soll noch ein Jährchen Geduld haben, bis du genügend Kohle auf der Seite hast, um euch beiden einen guten Start in eurem neuen Leben in der Stadt zu ermöglichen. Eine gewisse finanzielle Sicherheit ist auch irgendwie wichtig. Wir Männer müssen dominant sein, glaub mir. Ich heiße zwar nicht Don Juan, aber mit den Mädels kenne ich mich aus. Vertrau mir, das klappt schon! Das klappt sogar ganz wunderbar, wenn du’s richtig machst! Die Kleine liebt dich, sonst wäre sie nicht mit dir zusammen. Nimm’s locker, Mann, du machst das schon!« Lou stellte sich vor ihn hin und klopfte ihm mit den Händen ermunternd lächelnd auf beide Schultern.
»Ich werd’s versuchen. Danke, Lou. Du bist ein guter Typ.«, lächelte er offensichtlich ein kleines Stück weit erleichtert.
»Also los jetzt! Wir haben heute noch viel zu tun. Und schließlich sind wir verantwortungsbewusste Männer, nicht?«
»Klar doch.«, lachte der neue Kollege.
Mittagszeit in der Kantine. Auf dem Menüplan standen Bratwurst mit Kartoffelpüree oder vegetarischer Nudelsalat. Vegane oder allergiebewusste Angebote suchte man hier noch immer vergebens. Und beim Blick auf die durch die jahrelange monotone Arbeit ohne jegliche finanzielle Anreize zerfurchten Gesichter und dunklen, leblosen Augen des Kantinenpersonals, wusste Laurent, dass sich an diesem Umstand auch nichts ändern würde. Nicht zu seinen Lebzeiten. Doch er hatte sich, für seinen Teil, an das Essen minderwertiger Qualität gewöhnt. Zumindest während er im Dienst war. Und als sein Blick über die Tische mit meist neutralen, teilweise sogar unbekümmert wirkenden Gesichtern anderer Polizisten schweifte, dachte er, dass er damit nicht der einzige war. Kaum jemand hier hatte die Zeit, geschweige denn die dafür nötige Leidenschaft, sich über das Essen hier ernsthaft Gedanken zu machen. Die Mahlzeiten waren zwar lieblos zusammengewürfelt, oft mangels professionellem kulinarischem Fachwissen zu schnell oder zu lange zubereitet, dies jedoch meist mit lokalen Zutaten. Ein Privileg, von dem sonst Kantinengänger in anderen Institutionen, aus Kostengründen, kaum profitieren könnten. Schließlich erfüllten die Mahlzeiten ihren Zweck, dem durchschnittlichen, arbeitstätigen Polizisten genügend Energie für mindestens einen halben Tag zu schenken. Nicht zuletzt waren sie kostenlos, was die Angelegenheit natürlich automatisch sympathischer wirken ließ. Da Laurent ungern vom metallisch schmeckenden Leitungswasser trank und nicht jedes Mal für ein ungesundes Softgetränk aus dem Automaten bezahlen wollte, hatte er stets eine Thermosflasche mit Schwarztee dabei. Schon als kleines Kind hörte er, wie gesund dieser sei und die Aussage wurde über die Jahrzehnte nie öffentlich revidiert. Es musste also etwas daran sein, dachte er sich. Außerdem verfügte die Kantine über keine Kaffeemaschine, was er sich nie erklären konnte.
Léna setzte sich wortlos ihm gegenüber, beugte sich weit über ihren Teller und begann sogleich ihr fleischloses Menü zu verzehren: Statt der vegetarischen Option hatte sie den ersten Menüvorschlag einfach ohne Bratwurst bestellt. Er hatte seine in brauner Sauce getränkte Wurst und das Kartoffelpüree noch nicht angerührt und musterte Léna. Sie schaufelte jeweils winzige Mengen auf die vordere Hälfte ihrer Gabelschaufel aus zerkratztem Edelstahl und beförderte diese mit hoher Geschwindigkeit in ihren Mund. Ihr Kiefer bewegte sich unmenschlich schnell, ähnlich einem nervösen Nagetier.
Laurent wusste nicht genau wieso, aber er war angewidert. In diesem Moment hasste er sie abgrundtief. Von einem schwer definierbaren Ekel übermannt, empfand er nichts als Verachtung für seine Partnerin und er konnte sich in diesem Moment nicht präzise erklären warum. Dementsprechend sah er auf seine Partnerin hinunter. »Hat sie schon immer so gegessen? Ich weiß es nicht.«, überlegte er sich stumm.
»Ist was?«, fragte Léna, nachdem sie ihren animalisch wirkenden Fressvorgang unterbrochen hatte, um einen großen Schluck Wasser zu sich zu nehmen.
»Nein.«, erwiderte er, nun mit auf den Teller gesenktem Blick und begann schließlich sorgfältig die graubraune Wurst in mundgerechte Scheiben zu zerteilen.
Sie zuckte kurz mit den Schultern und setzte ihre hastige Nahrungsaufnahme fort, bevor er fragte: »Wie geht’s der Schulter?«
»Glatter Durchschuss. Tut immer noch verdammt weh. Aber ein großzügiger Bekannter von mir arbeitet im Krankenhaus und hat mir ein Sonderrezept für Schmerzmittel besorgt. Ich habe darauf bestanden, so schnell wie möglich wieder in den Dienst zu können. Zu Hause halte ich es mit meinem Mann nie zu lange aus.«, lachte sie.
»Dann ist es ja gut.«
»Also ich habe eine Nachricht von oben erhalten.«, meinte sie nach einem weiteren Schluck Wasser, mit ernstem, nach unten gerichtetem Blick.
»Ach ja?«, erwiderte Laurent. Sein Blick war ebenfalls nach unten gerichtet, als er lieblos mit der Gabel in seiner Mahlzeit herumstocherte.
»Du weißt, dass ich in meiner Aussage alles getan habe, um dich zu entlasten? Das weißt du, nicht wahr? Es tut mir so leid, Laurent, bitte glaub mir.«
»Ist nicht so schlimm.«, antwortete er knapp.
»Warum feuern dich diese Schweine? Du hast nichts Falsches gemacht! Verdammt, hättest du nicht richtig gehandelt, wäre ich vielleicht tot! Was läuft hier?«
»Ich weiß auch nicht so recht. Möglicherweise geht es um etwas Politisches. Der Fall ist in den Medien. Und du weißt doch, wie das läuft. Imagepflege ist alles. Irgend ein Anwohner hat ein Video der Situation in der Gasse gemacht. Immerhin kann man keine Worte entziffern und man erkennt mich nicht. Trotzdem: scheiß Social Media.«
Léna legte ihre Gabel nieder. »Und was machst du jetzt?«
Laurent hielt kurz inne und hörte Lenny Kravitz’ Stimme aus dem Lautsprecher des Kantinenradios zu, wie er davon sang davonzufliegen. »Keine Ahnung. Erst mal ausschlafen, würde ich sagen. Dann vielleicht irgendwo in die Ferien. Irgendwo ans Meer oder so.«
»Was? Du? Ans Meer? Sieh an, sieh an. Du steckst ja voller Überraschungen!«
Leicht verunsichert stach er nun das erste Stück Bratwurst an und steckte es sich in seinen Mund, bevor er kauend mit den Achseln zuckte.
»Also vielleicht bin ich ja verrückt, aber ich hätte dich eher als den Typen eingeschätzt, der sich mit Büchern in