Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book + Hörbuch

Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 E-Book und Hörbuch

Inger Gammelgaard Madsen

5,0

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Beschreibung

Nichts ist, wie es scheint – 3. Roland-Benito Krimi von die dänische Bestsellerautorin Inger Gammelgaard Madsen! Es sieht nach einem der üblichen Einbrüche in ein Landhaus aus, doch diesmal findet man einen Bewohner bestialisch erschlagen auf dem Küchenfußboden. Zur gleichen Zeit, in der Roland Benito seine Untersuchungen aufnimmt, wird die Journalistin Anne Larsen arbeitslos, da das Tageblatt in der Finanzkrise schließen muss. Als ein Obdachloser tot aufgefunden wird, beginnt sie, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Diese führen sie bis in die Wikingerzeit zurück und zu einer kleinen Schar von Anhängern des Asenglaubens.

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Zeit:12 Std. 5 min

Sprecher:Claudia Drews

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Inger G. Madsen

Letzte Umarmung

Kriminalroman

Aus dem Dänischen vonKirsten Krause

SAGA

Marianne gewidmet

»Deyr fé, deyja frændr,

deyr sjalfr it sama,

ek veit einn at aldrei deyr:

dómr um dauðan hvern!«

Vieh stirbt, Verwandte sterben,

man selbst stirbt ebenso;

ich weiß eines, das niemals stirbt;

das Urteil über jeden Toten.

Hávamál Vers 77

1

Mit Einbruch der Dunkelheit fiel die Temperatur. Er merkte es, sobald er aus dem warmen, feuchten Stall gekommen war. Seine Nasenhaare gefroren zu Eis und der Schnee knirschte unter den Stiefeln, als er zum Wohnhaus ging. Der Atem hing wie weißer, versteinerter Nebel in der Luft. Das Thermometer an der Mauer zeigte minus dreizehn Grad.

Gunda war noch wach, obwohl sie heute Morgen schon um fünf aufgestanden war, um zu melken. Jetzt kochte sie den Abendkaffee. Die Deckenlampe erhellte die Dunkelheit vor dem Küchenfenster und warf einen goldenen Schimmer über den Schnee.

Das Auto stand immer noch da. Jetzt sah er, dass es nicht von einem Autofahrer, der sich in einer Schneewehe festgefahren hatte, kurzerhand zurückgelassen worden war, wie er zunächst angenommen hatte. Die Glut einer Zigarette leuchtete einen kurzen Moment in der Dunkelheit auf. Oder bildete er sich das ein? Würde er das aus dieser Entfernung überhaupt sehen? Der Wagen stand zwischen den Bäumen auf der Straße, die die vier benachbarten Höfe verband. Er stampfte den Schnee auf der Fußmatte ab und schaute wieder zu dem Auto hinüber, bevor er hineinging. Es hatte lange dort gestanden. Als er in den Stall gegangen war, war es noch nicht ganz dunkel gewesen. Trotzdem war der weiße PKW in der Schneelandschaft nicht leicht zu erkennen. Er hatte ihn nur bemerkt, weil es nicht normal war, dass jemand dort parkte. Beinahe wäre er hingegangen, um zu fragen, ob es Probleme gebe, aber er hatte es gelassen. Was ging es ihn an, was in diesem Auto stattfand? Vielleicht ein Liebespaar, obwohl das ein eisiges Vergnügen wäre und es dafür schon recht lange dauern würde.

Drinnen traf ihn die Wärme ebenso hart, wie es draußen die Kälte getan hatte. Jetzt tauten die Nasenhaare auf und seine Nase begann zu laufen. Er putzte sie mit einem Kleenex. Gunda sah von der Küche aus zu ihm.

»Du wirst doch wohl nicht krank werden, Thorkild?«

»Nein. Das ist nur der Frost.«

In der Waschküche, in der es wegen der Gummistiefel und Mäntel ohnehin schon nach Kuh roch, nahm er die Schirmmütze ab, zog den Mantel aus und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als wollte er seine Haare in Ordnung bringen. Aber die hatten bereits begonnen auszufallen, bevor er vierzig geworden war. Mittlerweile war er völlig kahl. Was konnte man mit Mitte fünfzig erwarten?

Gunda wischte die Wachsdecke ab und stellte die Kaffeekanne auf einen Untersetzer. Er ließ sich auf die Küchenbank fallen und schenkte sich Kaffee ein. Der Hof war ein richtiger Erbhof wie in den guten alten Morten-Korch-Filmen. Aber so rosig war das Leben auf dem Land nun auch nicht gewesen. Und heutzutage war Landwirtschaft nicht besonders angesehen. Die Umwelt, Geschäfte und Wohnungen waren wichtiger, sodass viele Bauern ihr Land verkaufen mussten, um diesen Bedürfnissen nachzukommen. Sie wurden nur für ihren Anteil an der Verunreinigung der Natur beschimpft. Trotzdem konnten die Leute Milch, Butter und Käse nicht entbehren; sie schienen zu glauben, das alles fiele vom Himmel oder die großen Supermarktketten hätten Kühe im Hinterzimmer stehen; er schnaubte bei dem Gedanken.

»Was hast du da oben an der Straße gemacht?«, wollte Gunda wissen und stellte die Kuchen auf den Tisch.

»Ach, da ist eigentlich nur ein Auto, das schon ziemlich lange da oben steht.«

»Das ist aber eine merkwürdige Stelle zum Parken. Wer das wohl sein könnte?« Sie starrte aus dem Fenster, konnte aber das Auto in der Dunkelheit nicht ausmachen.

»Das geht uns nichts an.«

Sie setzte sich ebenfalls, schenkte Kaffee ein und lud sich ein Stück Butterkranz und ein Plätzchen auf ihren Teller. Danach schob sie die Platte zu ihm herüber.

»Vielleicht haben Hovgaards wieder Besuch. Die haben ja fast die ganze Zeit Gäste«, überlegte sie, den Mund voller Kuchen.

»Und auch das geht uns auf jeden Fall überhaupt nichts an!«, stellte er mit Bestimmtheit fest.

Danach wurde der Abendkaffee schweigend eingenommen, aber der Gedanke an das Auto ließ ihn nicht los. Wer käme auf die Idee, bei dieser Kälte so lange darin zu sitzen?

*

Die Lichter in den Fenstern auf den wenigen in der Landschaft verstreuten Höfen waren längst eins nach dem anderen gelöscht worden. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Flocken fielen wie glitzernde Kristalle, legten sich auf Büsche und Bäume und wurden zu einer schützenden, weißen Decke gegen den harten Frost. Sie leuchteten in der Stille der Nacht, die nur von dem unheimlichen Schrei eines Waldkauzes und dem leisen Knarren einer sich langsam öffnenden Autotür unterbrochen wurde. Drei dunkle Gestalten stiegen aus und gingen den Weg entlang, auf dem sie mit den grauen Schatten der Bäume verschmolzen. Mit ihren weißen Gummistiefeln bewegten sie sich lautlos im Schnee, langsam und zielgerichtet, mit schwarzen Sturmhauben, die gegen die Kälte schützten. Sie hatten lange gewartet, und jetzt war die Zeit gekommen.

2

Kriminalkommissar Roland Benito fror noch mehr, als er aus dem warmen Auto stieg. Er klappte den Mantelkragen hoch, um seine Ohren zu schützen. Es war kein Spaß, um drei Uhr nachts von Vizepolizeidirektor Kurt Olsens heiserer, verschlafener Stimme aus dem warmen Bett geholt zu werden. Er war kurz angebunden gewesen und hatte ihm nur einige wichtige Informationen wie die Adresse und das, was er bisher wusste, mitgeteilt. Es hatte sich nicht so heftig angehört, wie es nun aussah, als Roland auf das flatternde Band der Polizeiabsperrung stieß, das sich deutlich von der schneeweißen Umgebung abhob und bewies, dass ein Verbrechen geschehen war. Eine Tatsache, die durch die Kriminaltechniker auf dem Hof bestätigt wurde. In der Dunkelheit wurden ihre weißen Schutzanzüge eins mit dem Schnee, der still wie in einer friedlichen Weihnachtsnacht fiel. Mutlos ging er zum Hof hinüber. Die Techniker schauten ihn kurz an und grüßten, als er an ihnen vorbei ging. Der Beamte vor der Tür reichte ihm einen weißen Overall, Latexhandschuhe, Mundschutz, eine blaue Plastikhaube und Überschuhe. Während er sich anzog, bemerkte er flüchtig, dass das Haustürschloss aufgebrochen war.

Die Techniker arbeiteten auch im Haus. Sie nahmen Fingerabdrücke und sammelten Spuren. Kurt Olsen war eingetroffen und sprach mit einer aufgeregten Frau in einem fast stockdunklen Schlafzimmer. Ihn erkannte man in seinem Schutzanzug, der an einem Tatort vorgeschrieben war, auch nicht wieder. Eine zweite Frau saß auf dem Bett. Ihre Nase und Oberlippe bluteten, und das eine Auge war rot und zugeschwollen. Noch ein Raubüberfall im eigenen Haus in einem ansonsten ruhigen und stillen Gebiet weit draußen auf dem Land, wo man früher nicht mal die Tür abschließen musste. Nachdem Banken und Firmen uneinnehmbare Bollwerke der verbesserten Sicherheit geworden waren, mit teuren Alarmsystemen und Überwachungsanlagen, mussten andere herhalten, hauptsächlich Ältere, Unschuldige und Schutzlose, die es sich nie hätten träumen lassen, dass so etwas in ihrer friedlichen Umgebung geschehen könnte und schon gar nicht in ihrem eigenen trauten Heim. Dem Mythos zufolge waren es ausländische Banden, die sich auf so etwas spezialisiert hatten. Besonders die Osteuropäer wurden beschuldigt. Aber eine Analyse der Reichspolizei legte ganz andere Zahlen auf den Tisch. Die meisten Überfälle wurden tatsächlich von jungen Dänen begangen. Oft sogar sehr jungen Dänen.

Was Roland durch die Türöffnung sah, musste der Tatort sein, dachte Roland. Eine Lampe war vom Nachttisch gefallen und auf dem Kopfkissen, das er hinter der Frau im Bett undeutlich erkennen konnte, war Blut. Sie saß da wie eine weiße Gipsfigur und starrte versteinert vor sich hin. Er schätzte sie auf Ende fünfzig. Die Frau, die mit Kurt Olsen sprach, war wohl ein bisschen jünger und hatte ein maskulines Äußeres und grobe Züge. Eine breite Nase wie ein australischer Aborigine, eine Brille mit ovalen Gläsern und mittelblonde Haare. Strähnen guckten aus den zerwühlten, hochgesteckten Haaren hervor – sicher ihre Nachtfrisur. Ihre Stimme war ebenfalls tief und heiser wie die eines Mannes, aber das konnte natürlich auch an Angst oder Nervosität liegen. Er sah sich im Haus um und fand in der Küche den Rechtsmediziner Henry Leander, zusammen mit ein paar Leuten von der Spurensicherung. Sie machten Fotos von einem leblosen Mann, der in einer merkwürdig verdrehten Stellung auf dem Boden lag. Noch ein Tatort. Roland nickte zum Gruß, der schweigend von dem Rechtsmediziner, der sich aus seiner knienden Stellung erhob und ihn mit ernster Miene ansah, erwidert wurde.

»Was würdest du tun, wenn du mitten in der Nacht in deinem eigenen Haus überfallen werden würdest? Gegenwehr leisten und deine Wertsachen verteidigen oder es geschehen lassen?«

Roland zuckte mit den Schultern. Das war nicht gerade eine Situation, über die er nachgedacht hatte.

»Vielleicht hat man keine Wertsachen, die so viel wert sind, dass es sich lohnt, darum zu kämpfen«, seufzte Leander und schaute herunter auf den Mann auf dem Boden. Roland versuchte, es zu unterlassen. Leander hatte Recht, nichts Materielles war es wert, sich so zurichten zu lassen.

»Was ist die Todesursache?«

»Innere Blutungen nach scheinbar wahllosen Schlägen auf den Kopf und den Körper. Er hat sich mit den Händen verteidigt, die Finger sind zur Faust geballt. Die Kniescheiben haben auch was abgekriegt.« Henry Leander zog mit einem Plopp die weißen Handschuhe aus. »Die Obduktion zeigt vielleicht mehr.«

Kurt Olsen hatte Roland entdeckt und kam ihm gemeinsam mit der maskulinen Frau entgegen. Als die Frau ihren Hals reckte, um hineinsehen zu können, schloss Henry Leander schnell die Tür zur Küche. Nervös sah sie zum Fenster, als sie draußen in der Dunkelheit die Sirenen eines Krankenwagens hörten. Kurz darauf stürzten zwei Sanitäter mit einer Trage herein. Kurt Olsen dirigierte sie ins Schlafzimmer und drehte sich anschließend wieder zu ihm um. »Ich fahre mit ins Krankenhaus. Ella Geisler hier ist die nächste Nachbarin. Signe Hovgaard ist zu ihnen geflohen, um Hilfe zu holen. Schau mal, was du aus ihr rausbekommst«, flüsterte er und verschwand durch die offene Tür in die Kälte. Der Flur wurde mit Minusgraden geflutet, während die übel zugerichtete Frau in den wartenden Krankenwagen getragen wurde. Ella Geisler stellte sich in die Türöffnung und sah ihrer Nachbarin nach. Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die Sanitäter schlossen schnell die Türen, als sie die Trage an ihren Platz geschoben hatten, und fuhren in hohem Tempo in Richtung Straße. Ella Geisler trug nur einen türkisfarbenen Velours-Morgenmantel, den sie über ihr Nachthemd gezogen hatte. Aber sie wirkte nicht, als machte die Kälte ihr etwas aus. Vielleicht half ihr ihre kräftige Polsterung, die Wärme zu speichern, aber Roland fror trotz Mantel und den Extrakilos, mit denen ihn die vielen Mittag- und Abendessen über Weihnachten und Neujahr ausgestattet hatten. Sanft zog er Ella Geisler nach drinnen, schloss die Tür und sprach gedämpft mit einem der Techniker darüber, wo sie sich aufhalten könnten, ohne Spuren zu zerstören. Der Techniker zeigte in ein Zimmer, in dem sie fertig waren, aber nichts gefunden hatten.

»Nicht zu glauben, dass so etwas hier passiert«, murmelte Ella Geisler und setzte sich gehorsam in einen Ledersessel, wie er sie gebeten hatte. Er gab ihr eine karierte Wolldecke, die über der Armlehne des Sessels lag, in den er sich selbst setzte. Sie zog die Decke mit automatischen Bewegungen um sich, während sie fortfuhr, eine Menge Unverständliches zu murmeln. Im Wohnzimmer nebenan lagen umgefallene Stühle, zerbrochene Gläser und Blumentöpfe, deren Erde auf einem Perserteppich verstreut war. Die Spurensicherung verteilte kleine Schilder mit Nummern und nahm Bilder aus verschiedenen Perspektiven auf. Es gab deutliche Anzeichen, dass Albert Hovgaard um sein Leben gekämpft hatte. Vielleicht alle beide. Lohnte sich das?, fragte sich Roland erneut und schloss die Tür, damit sie sich ungestört unterhalten konnten.

»Können Sie mir erzählen, was hier heute Nacht passiert ist? Ganz in Ruhe.«

Sie hörte auf zu murmeln, schaute ihn an und begann zu zittern. »Signe hat uns geweckt. Sie war völlig verstört. Ihr Gesicht war voller Blut. Es dauerte eine Weile, bis sie erzählen konnte, was passiert war. Wie Sie sehen können, ist sie völlig am Ende«, begann sie. Ihre Augen waren groß und erschrocken, enthielten aber trotzdem den kleinen Funken Eifer, mit dem die meisten Menschen etwas Sensationelles berichten. In der nächsten Zeit würde wohl viel getratscht werden.

»Hat sie erzählt, was passiert ist?«

»Sie wurde von Tumulten im Haus geweckt und als sie die Augen aufschlug, sah sie sich einem Mann mit Maske gegenüber.«

»Maske?«

»Ja, nur die Augen waren frei. Vielleicht eine Sturmhaube. Ist es nicht das, was die benutzen?«

»Wer?«

»Die Osteuropäer.«

»Glaubt sie denn, dass es Osteuropäer waren?«

»Sind das nicht immer die? Jedenfalls haben sie eine Sprache gesprochen, die Signe nicht verstand. Vielleicht Russisch. Soviel ich weiß, waren die zu dritt oder viert.« Sie zog die Decke fester um sich und schielte zu der geschlossenen Tür.

Der Leichenwagen war angekommen, hatte Roland durch ein nach Süden gehendes Fenster bemerkt. Leander hatte ihn sicher zur Hintertür beordert, damit die Leiche direkt ins Rechtsmedizinische Institut gefahren werden konnte, ohne zu viel Aufsehen zu erregen. Aber man hörte deutlich Unruhe hinter der Tür.

»Was ist dann passiert?«

Sie schaute ihn wieder an und schüttelte still den Kopf. »Albert geriet offenbar in eine Schlägerei und Signe lief zu uns rüber. Wir wohnen gleich dort drüben.« Sie drehte sich um und zeigte auf das Fenster.

»Wir? Sie und Ihr Mann?«

»Ja, und unsere Zwillinge, Sam und Dorthe. Sie sind dreizehn.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Sie sind rausgegangen, um nach den Verbrechern zu suchen, die vielleicht Spuren im Schnee hinterlassen haben.«

Roland runzelte die Stirn. Das war nicht gerade das, was sie bei Ermittlungen gebrauchen konnten.

»Sie haben nicht zufällig die Möglichkeit, sie zu erreichen? Wir sind nicht so glücklich darüber, dass sie rumrennen und Detektiv spielen.«

»Sam und Dorthe haben Handys, aber so etwas benutze ich nicht, daher ...«

Er holte sein eigenes Handy aus der Tasche. »Können Sie sich an die Nummern erinnern?«

»Gerade nicht, ich kann mich kaum an meinen eigenen Namen erinnern.«

Roland gab auf. Es blieb nur zu hoffen, dass im Haus genug Spuren gefunden worden waren. In solchen Fällen gab es die normalerweise. Und falls es drei oder vier Einbrecher gewesen waren, wäre es seltsam, wenn keiner von ihnen welche hinterlassen hätte.

»Wurde Signe Hovgaard auch in die Schlägerei verwickelt?«

Ella rang unter der Decke die Hände.

»Der Mann mit der Maske hat ihr mit der Faust direkt ins Gesicht geschlagen. Wenn sie entdeckt hätten, dass sie durch die Hecke über den Feldweg zu uns rüber gelaufen ist, wären sie ihr bestimmt gefolgt und hätten sie auch getötet. Aber die dachten wohl, sie wäre bewusstlos ... oder tot.«

»Sie haben sich also sofort hierher begeben? Haben Sie irgendetwas von den Tätern gesehen?«

»Nein, die waren weg. Wir mussten ja erst mal kapieren, was Signe schrie. Als wir herkamen, um Albert zu helfen, lag er tot auf dem Boden.« Ella Geisler schluckte, hielt aber die Tränen zurück.

»Sie haben an dem Abend nichts Ungewöhnliches bemerkt? Parkende Autos oder etwas anderes?« Falls es Osteuropäer waren, hatten sie in der Regel eine andere Taktik als dänische Diebe. Sie beobachteten die ausgesuchte Wohnung lange Zeit, und das Ganze ging ohne Eile vonstatten. Dass die Banden ihr Ziel über Tage hinweg überwacht hatten, bevor sie zuschlugen, wenn sie der Meinung waren, dass die Gelegenheit am günstigsten war, hatte man vorher schon gesehen. Solange aßen und schliefen sie im Auto.

»Nee, ich habe nichts bemerkt. Wir können allerdings von unseren Fenstern aus die Straße auch nicht sehen, also, falls die dort geparkt haben ...«

»Wissen Sie, ob irgendwelche Gegenstände verschwunden sind? Waren hier Wertsachen?«

»Nee, das glaub ich nicht. Wir sind doch nur arme Bauern.« Sie lächelte gezwungen.

»Hier sieht es aber nicht besonders arm aus!« Er hatte bemerkt, dass alles neu war, von den Möbeln über die Wände und Fenster bis hin zur Decke.

»Der Hof hat vor ein paar Jahren gebrannt. Das Wohnzimmer und die Küche sind fast bis auf den Grund niedergebrannt. Das war schrecklich. Wir haben um unseren eigenen gefürchtet, der so dicht dran ist. Glücklicherweise ist niemandem etwas passiert, und sie haben ihn mit dem Geld der Versicherung wieder aufgebaut. In den Kneipen gab es Gerede, dass sie den Hof selbst angezündet hätten, und ...«

Sie schwieg. »Haben Sie noch weitere Fragen, ich ...«

Roland schüttelte den Kopf. Es war für alle eine ungewöhnliche Nacht gewesen und mehr bekam er wohl jetzt nicht aus ihr heraus. Er hoffte, Kurt Olsen hatte im Krankenhaus mehr Glück gehabt, falls er überhaupt die Möglichkeit bekommen hatte, mit Signe Hovgaard zu sprechen.

Als er allein war, ging er in die Küche zu dem dort arbeitenden Techniker. Henry Leander war ins Rechtsmedizinische Institut zurückgefahren, um die Leiche unter besseren Bedingungen gründlicher zu untersuchen. Der Küchenfußboden sah aus wie in einem Schlachthof. Der Techniker saß in der Hocke, sammelte mit einer Pinzette kleine weiße Klumpen aus der Blutlache und legte sie vorsichtig in eine Tüte. Er hielt sie Roland hin und schüttelte sie. »Vielleicht gehört einer davon dem Täter«, meinte er, als müsste er die Situation erklären. Roland schluckte ein weiteres Mal, als er plötzlich sehen konnte, dass die weißen Klumpen Zähne waren. Er merkte schnell, dass er in der Küche nur im Weg war, und sah sich stattdessen in den übrigen Räumen um. Es war unmöglich zu sagen, ob etwas gestohlen worden war. Nur Signe Hovgaard konnte das feststellen, aber als er in das Büro kam, das Albert Hovgaards Arbeitszimmer sein musste, sah er, dass die Tür eines soliden Metallschranks offen stand. An der Wand daneben hing eine Medaille an einem rot-weißen Band. Er untersuchte sie näher. Albert Hovgaard war offenbar Schütze. Pistolenschütze. Einer der begabteren Sorte, der eine Goldmedaille gewonnen hatte. Es war kein Safe, wie er zunächst angenommen hatte, sondern ein Waffenschrank für Pistolen, in dem sie laut Gesetz aufbewahrt werden sollten. Er war leer. Auch die Munition fehlte. War es den Dieben gelungen, den Schlüssel zu finden, oder hatten sie den Besitzer gezwungen, ihn herauszugeben und aufzuschließen? In den meisten Schützenvereinen war die Standardpistole ein 22-Millimeter-Kaliber, wusste er, aber vielleicht hatte Albert Hovgaard andere und möglicherweise stärkere Waffen? Waren die das Ziel der Einbrecher gewesen, wussten sie etwas von dem Waffenschrank? Es waren also bewaffnete Mörder auf der Flucht. Plötzlich fühlte er sich todmüde.

In drei Stunden sollte er im Präsidium sein. Es lohnte sich kaum, nach Hause zu fahren und wieder ins Bett zu gehen.

3

Anne Larsen fuhr wütend den Laptop runter. Knallte ihn krachend zu. Auch heute war nichts zu finden. Es war hoffnungslos! So lange hatte sie von einem Alltag ohne Arbeit und Verpflichtungen geträumt, wie in ihren Teenagerjahren, als sie ihre Zeit dafür verwendet hatte, auf Demonstrationen für Gerechtigkeit zu kämpfen, leere Häuser zu besetzen und überhaupt eine aktive Autonome in Nørrebro zu sein. Jetzt langweilte sie sich, weil sie nicht mit dem Fahrrad zur Redaktion fahren konnte. Die Zeiten hatten sich geändert. Und wie!

Eigentlich wusste sie genau, dass es so nicht weitergehen konnte. Als sich zusätzlich zu einer ohnehin schon schweren Zeit für die Zeitungsbranche auch noch die Finanzkrise ankündigte, war nicht mehr viel zu machen. Die Krise kam unaufhaltsam über den Atlantik aus den USA angerollt – wie alles mögliche andere – McDonald’s, Hip-Hop, Inlineskates und Skateboards. Wenn es over there schlecht lief, würde es garantiert auch auf Europa abfärben. So klang es jedenfalls in allen Medien von Journalisten, Finanzleuten, Wirtschaftswissenschaftlern, Zukunftsforschern und anderen Weltuntergangspropheten. Sie wurden dafür verantwortlich gemacht, dass sie durch ihren mangelnden Glauben an die Zukunft mit einer self-fulfilling prophecy die Finanzkrise verstärkten. Aber das war ein heißes Thema. Es verkaufte Zeitungen. Alle wollten wissen, wie es am nächsten Tag wohl aussehen würde. Mit dem Wohnungsmarkt, den Banken, den Aktien – dem Arbeitsmarkt. Vielleicht bliesen sie die Krise auf, vielleicht auch nicht. Aber jetzt waren viele Arbeitsplätze abgebaut, mehrere Unternehmen zwangsversteigert und viele Angestellte gefeuert worden. Hatten sie also übertrieben? Und das Schlimmste stand noch bevor, prophezeite man.

Die Stimme von Redakteur Ivan Thygesen hatte gezittert, als er ihnen mitteilte, dass die Redaktion schloss. Er war sehr bewegt gewesen, so hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Er selbst hatte geplant, in den Vorruhestand zu gehen, aber er hatte sein ganzes Leben lang in der Zeitungsbranche gearbeitet, alle Tages- und teils Nachtstunden mit Schreiben und Vermitteln verbracht, kaum Urlaub gemacht oder Zeit gehabt, sich ein Hobby für sein Rentnerdasein zu suchen. Was tat man, wenn das Arbeitsleben vorbei war?

Kamilla hatte das meiste Glück. Sie war seit der Beerdigung ihrer Mutter im letzten Oktober nicht sie selbst gewesen. Von einem auf den anderen Tag kündigte sie, weil sie einen Job als Werbefotografin in einem Fotostudio in der Nørrestraße bekommen hatte. Das war der Beruf, zu dem sie ausgebildet war – nicht zur Pressefotografin, hatte sie gegen die Proteste von ihnen allen argumentiert. Es gab zwei andere Fotografen, mit denen sie zusammenarbeiten sollte, und Anne verstand die Entscheidung gut, obwohl sie enttäuscht darüber war, dass Kamilla sie alle verlassen würde. Sie selbst zurücklassen würde. Sie waren doch so etwas wie Freundinnen geworden, die zusammenhielten und sich in allem unterstützten. Dennoch gab es etwas, über das Kamilla nicht offen gesprochen hatte. Irgendetwas war bei der Beerdigung im Herbst passiert, das sie verändert hatte und worüber sie nicht reden wollte. Nicht mal mit ihr. Es tat weh, dass Kamilla ihr Vertrauen nicht erwiderte. Aber vielleicht lag es an all dem, was sie durchgemacht hatte. Natürlich bekam man Angst, Vertrauen zu zeigen und sich zu sehr zu öffnen. Dann war sie abgezogen, bevor die Finanzkrise und der Tumult richtig ausbrachen. Aber wie auch immer – sie wären ja ohnehin voneinander getrennt worden, so wie es nun gekommen war. Es hätte sich nur um ein paar Monate gehandelt. Das Tageblatt war aufgelöst und sie war arbeitslos. Die nächsten sechs Monate war sie auf sich allein gestellt und sollte selbst einen neuen Job finden, hatten sie bei ihrer Arbeitslosenversicherung gemeint, bei der sie im Verbund Journalistik, Kommunikation und Sprache glücklicherweise Mitglied war. Nach diesen sechs Monaten würde sie ein Wiedereingliederungsangebot vom Jobcenter bekommen, aber hatte sie das Pech, keine Arbeit zu finden, was sie momentan noch bezweifelte, würde sie die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Fortbildungskurse zu besuchen und sich weiterzubilden. Zu was, wusste sie noch nicht, aber es würde bestimmt etwas mit Kommunikation zu tun haben, obwohl angekündigt wurde, dass die kommenden Jahre noch härtere – fast brutale – Medienjahre werden würden und dass die Medienbranche in vier Jahren nur noch halb so groß sein würde. Viele gefeuerte Journalisten waren in ganz andere Branchen gewechselt, um die Unsicherheit zu umgehen. Einige waren Taxifahrer geworden, andere Unternehmensberater oder etwas ganz anderes – aber wo konnte man sich sicher fühlen?

Sie war am Kiosk an der Ecke gewesen, um ein paar Zeitungen zu kaufen. Trotz allem gab es noch einige. Die Zeitungskonzerne hatten sich gegenseitig aufgekauft. Leider hatte niemand das Tageblatt im Visier gehabt. Ein kleines Käseblatt voller Werbung. Soviel sie wusste, war Thygesen bei ein paar Besprechungen gewesen, aber das hatte nie zu einem Verkauf geführt, der sie vielleicht hätte retten können. Bald gab es wohl nur noch eine einzige Zeitung, die das ganze Land abdeckte – bis auch die der digitalen Welt unterlag.

Langsam blätterte sie in der Zeitung, während sie den Blick über die Spalten gleiten ließ. Taufen, Hochzeiten, Jubiläen und Todesanzeigen auf der gleichen Seite. Ein Überblick über die Lebensphasen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Stapel alter Tageblätter auf dem Fußboden. Plötzlich fand sie das Design zutiefst altmodisch im Vergleich zu den anderen Zeitungen auf dem Tisch. Andere Redaktionen hatten ihr Layout in der Krise im Kampf um die Leser erneuert. War es nur das, was sie verkehrt gemacht hatten? Dass sie sich nicht erneuert hatten? Hätte sie Thygesen vorschlagen sollen, Danny Cramers Werbeagentur zu kontaktieren und ihn um Hilfe für ein neues, junges Design und modernere Farben zu bitten? Hätte das geholfen? Sicher nicht, und was hätte es bei Kamilla ausgelöst, wenn Danny miteinbezogen worden wäre? Dann hätte sie ganz sicher damals schon gekündigt. Aber das Tageblatt war veraltet. Zeitungen würden auch mit der Zeit nur noch eine nostalgische Erinnerung für sie sein. Sie hatte die Ausgaben aufbewahrt, in denen sie die größten Triumphe gefeiert hatte. Unter anderem den Gitte-Mord und den Moor-Fall von diesem Herbst. Unheimliche Mordfälle, die sie noch nicht vollständig abgeschüttelt hatte. Aber wie soll ich ohne die Kriminalthemen leben?, fragte sie sich. Sollte sie Privatdetektivin werden? Bei dem Gedanken an die Stellenausschreibungen, die sie auf der Homepage der Polizei von Ostjütland gefunden hatte, als sie dort herumsuchte, lächelte sie. Sie suchten Polizeianwärter mit einem Abschluss in öffentlicher Verwaltung oder in Wirtschaftswissenschaften. Leider hatte sie nur einen Abschluss in Journalismus, sonst hätte sie sich wohl auf die Stelle beworben. Roland Benito würde sicher große Augen machen, wenn sie angestellt werden würde. Sie suchten auch Polizeibeamte, vielleicht wäre das ein besserer Job für sie. Leider würde es zu lange dauern, bis sie fertig wäre und im Präsidium in Aarhus eingesetzt werden könnte. Dann würde Benito sich die Haare raufen. Er musste jetzt erleichtert sein, dass sie sich nicht länger in seine Arbeit einmischen konnte. Sie schluckte schwer, als sie einsah, dass sie ihn tatsächlich vermissen würde. Wie konnte sie ihren Job entbehren?

Als sie die Stellenanzeigen des Tages sowohl im Netz als auch in den Zeitungen vergebens durchsucht hatte, goss sie eine Kanne Kaffee auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie setzte sich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Der Frost hatte die Scheibe mit hübschen Eisblumen verziert, die in der Sonne zu schmelzen begannen. Sollte sie sich nicht darüber freuen, dass sie nicht eingepackt in einen dicken Mantel, mit Handschuhen, Schal und Mütze nach draußen in die Kälte musste, um zur Arbeit zu kommen? Die Räumfahrzeuge hatten bestimmt den Schnee von der Straße auf die Fahrradwege geworfen, sodass die Autos und Busse vorankommen konnten. Dann hätte sie das Auto nehmen müssen und der alte, gelbe Lada stand im Hof, von Eis und Schnee bedeckt, und würde garantiert nicht anspringen. Was für einen Ärger das gegeben hätte, wenn sie nicht gefeuert worden wäre. Sarkastisch lächelnd schnippte sie die Asche von der Zigarette. Aber es gab wohl genug andere, denen es schlechter ging als ihr. Mads Dam zum Beispiel, ihr ineffizienter Sportjournalistenkollege, der mehr Zeit in der Kneipe als auf dem Fußballplatz verbrachte.

Würde er im Suff enden? Ihre Kollegin Britt würde mit dem Busen, mit dem sie ausgestattet war, sicherlich Arbeit finden. Sie könnte leicht einen Job in einem Nachtclub oder in einer Bar bekommen. Da könnte sie dann Bierflaschen für Mads Dam öffnen. Anne lächelte wieder bitter. Und Thygesen – was würde aus ihm werden, wenn er sich nicht länger über Kleinigkeiten in der Redaktion aufregen und ihr die Leviten lesen konnte? Würde das dann seine Frau abkriegen, sodass eine Scheidung das nächste Unglück wäre?

Schöne Schicksale! Sie hatte Lust, Kamilla anzurufen und zu hören, wie es ihr in dem neuen Job erging. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie auf Reisen gegangen war. Es war so viel passiert. Tatsächlich hatten sie seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht besonders viel miteinander gesprochen. Es muss hart für sie gewesen sein, obwohl Kamilla sagte, dass sie und ihre Mutter sich nicht besonders nahegestanden hätten. Genau wie sie selbst und ihre Mutter. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Wer sollte es ihr auch erzählen, falls sie nicht mehr lebte? Ist mir auch egal, dachte sie, drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee. Sie konnte sich nicht überwinden, Kamilla anzurufen. Das konnte warten, bis sie selbst einen Job gefunden hatte, damit sie etwas Gutes zu berichten hatte und nicht zugeben musste, immer noch arbeitslos zu sein. Sie war in Gedanken weit weg und hörte nur schwach ein leises Klimpern, so als ob irgendwer sich nicht traute, den Klingelknopf ganz durchzudrücken. Aber als es wieder klingelte, hörte sie es, zuckte vor Schreck zusammen und verschüttete fast ihren Kaffee.

Ihre Gedanken waren gerade zu ihrem Stiefvater Torsten gewandert. Wie er immer die Stirn gehabt hatte, ohne Klamotten herumzulaufen.

»Ja, ja, ja!«, murmelte sie irritiert und stand auf, als die Klingel schon wieder schrillte. Als sie endlich öffnete, sah sie eine kleine Frau, die offenbar aufgegeben hatte und wieder auf der Treppe auf dem Weg nach unten war. Sie drehte sich sofort um, als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Ihr halblanges, graues und strähniges Haar war mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Schultern hingen, die eine noch mehr als die andere, weil sie eine riesige Tasche trug, deren abgenutzter Riemen ihre Schulter weiter nach unten zog. Ihr Mund war von den feinen, kleinen Falten umgegeben, die einen starken Raucher verrieten. Die Tränensäcke und Augenringe konnten auch auf einen Hang zum Alkohol schließen lassen – vielleicht sogar Drogen. Aber sie trug einen hübschen Mantel mit Pelzkragen und man konnte sehen, dass sie sich mit ihrem Aussehen Mühe gegeben hatte, so gut sie konnte. Die Schicht Rouge war gerade einen Tick zu rot, sodass es statt nach natürlich roten Wangen eher so aussah, als hätte sie ein paar Ohrfeigen bekommen, und der Lippenstift lief in die Falten um den Mund aus. Der blaue Lidschatten war auch nicht glücklich aufgetragen. Aber als Anne in die müden, grauen Augen sah, wuchs ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Sie erinnerten sie an etwas, das sie nicht benennen konnte.

»Ja?«, sagte sie abweisend und rechnete damit, dass ihr der ›Wachturm‹ gereicht werden würde. Aber die Frau drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln um, und als sie es geschafft hatte, die Treppe hochzugehen, schien es, als wollte sie sie umarmen. Sie bezwang sich zwar, aber die Stimme war belegt. »Anne?«

Anne nickte verständnislos. Das stand doch auf dem Namensschild an der Tür, also warum fragen? Aber für eine einfache Frage lag in dem Wort auch zu viel Gefühl.

»Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nur die Narbe, die ...« Die Frau streckte die Hand aus, wollte ihre Augenbrauen berühren und wie in einem Flashback sah Anne Torstens Hand an dem Abend, als er sie hier in der Wohnung überrascht hatte. Er hatte auch ihre Narbe anfassen wollen. Es war Roland Benito zu verdanken, dass sie überlebt hatte. Sie packte grob das schmächtige Handgelenk, bevor die Hand sie berühren konnte.

»Wer bist du?« Die Stimme klang wie ein Fauchen, denn tief in ihrem Innern wusste sie genau, wer die Frau sein musste. Sie hatte die Augen erkannt, und das Gefühl in ihrer Brust musste Hass sein.

»Darf ich nicht ein bisschen reinkommen, kleine Ann? Es ist so lange her ...«

Jetzt war sie sich sicher. Sie war die Einzige, die sie Ann nannte, und sie sagte es so, als würde sie es nicht fertig bringen, das letzte jämmerliche E auszusprechen. Ihr sehr markanter Nørrebro-Dialekt war auch nicht zu verkennen.

»So lange her, dass es zu spät ist«, unterbrach Anne mit eiskalter Stimme. »Warum bist du gekommen? Was willst du?«

»Ich kann dir alles beantworten, wenn du mich reinlässt. Rieche ich da Kaffee?« Sie inhalierte den Duft aus der Küche, sodass sich ihre Nasenlöcher weiteten.

»Wir haben ganz bestimmt nichts zu bereden!«

Der graue Blick bohrte sich in ihren. Ihre Augen waren voller Reue und Verzweiflung. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Die gleiche graublaue Farbe und der etwas schläfrige Ausdruck wegen der großen Augenlider, die mit Lidschatten toll aussahen – also, wenn man ihn richtig auftrug.

»Okay, dann komm halt kurz rein«, sagte sie willenlos. »Aber ich hab viel zu tun«, beeilte sie sich hinzuzufügen und versuchte ein bisschen Stress in ihre Stimme zu legen. Was machte sie hier? Warum suchte sie sie nach so vielen Jahren auf? Wenn nur Torsten nicht dabei war und plötzlich auch auftauchte. Sie schaute zur Sicherheit ins Treppenhaus hinunter, bevor sie die Tür schloss und verriegelte. Nein, er saß wohl immer noch ein. Falls er nicht schon wieder auf Bewährung entlassen worden war.

Nervös sah sich die Frau in der Wohnung um, als wagte sie es nicht, sich zu setzen.

»Setz dich einfach, Mama«, sagte Anne und stellte einen weiteren Becher auf den Tisch. Ihre Mutter sah schnell zu ihr hinüber und sie erschrak selbst darüber, dass das Wort aus ihrem Mund kam. Es wieder zu sagen war überraschend leicht, doch es ohne Zorn auszusprechen war schwer. Sie hatte sie einfach nie anders genannt; »Rose Teresa Larsen« passte nicht zu ihr. Eigentlich passte »Mama« auch nicht zu ihr.

Rose setzte sich, während ihr Blick weiter alle Sachen von Anne inspizierte.

»Sieht so aus, als kämst du gut zurecht, Ann. Bist eine bekannte Journalistin mit festem Job und gutem Gehalt geworden. Eigene Wohnung. Möbel und eine Menge schöner Dinge.« Der Blick verharrte jäh bei einem Foto im Regal. Sie lächelte blass. »Du hast immer noch deinen Vater hier stehen, wie ich sehe.«

»Was willst du? Ich habe seit bald – ja, wie lang mag das sein? – dreizehn, vierzehn Jahren nichts von dir gesehen oder gehört? Und dann tauchst du plötzlich mitten am Vormittag hier auf – unangemeldet!«

Rose sah ihre Tochter lange an. »Du warst erst vierzehn, ja. Ich erinnere mich genau.« Ihr Blick flackerte, und sie beeilte sich, ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche zu suchen. »Es tut mir leid, was zwischen dir und Torsten passiert ist, ich wollte ...«

»Was wolltest du? Mir helfen? Nein, verdammt, das wolltest du nicht. Du hast nur an diese vier Mistkinder gedacht – seine Nachkommen. Die haben dir mehr als deine eigene Tochter bedeutet!«

»Nein, Ann. Das stimmt nicht! Natürlich warst du am wichtigsten. Aber du warst so ...«

Sie schaute sie prüfend an. »Du hast dich sehr verändert. Nur deine schwarzen, widerspenstigen Haare sehen noch wie früher aus. Damals warst du ein wandelndes Nadelkissen, überall Metallstifte und das schwere, schwarze Make-up und deine Klamotten, du sahst ja furchtbar aus.« Sie lachte heiser und konzentrierte sich darauf, ihre Zigarette anzuzünden. Das Feuerzeug klickte ein paarmal, bis es gelang.

Anne starrte sie böse an.

»Und niemand hat uns verstanden. Einen Dreck habt ihr verstanden!« Sie zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, ihre Hand zitterte.

»Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft. Aber wie sollte ich Gerechtigkeit in der Welt fordern, wenn sich herausstellt, dass mein Stiefvater ein gemeiner Drogendealer und Mörder ist und meine Mutter ihn darin auch noch unterstützt!«

Rose zupfte nervös an ihren Ärmeln, ihre Augen waren auf die fast geschmolzenen Eiskristalle an der Fensterscheibe gerichtet. Sie hatte den Mantel nicht ausgezogen und Anne bat sie auch nicht darum, denn sie sollte bald wieder gehen.

»Du hast bestimmt mitbekommen, was heutzutage in Nørrebro passiert, oder?! Nennst du das Gerechtigkeit?« Ihre Mutter schaute sie wieder an. »Wir können nicht auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen, von verirrten Kugeln rivalisierender Banden getroffen zu werden. Heute gibt es wirklich etwas, worum man in Nørrebro kämpft, wenn man Gerechtigkeit haben will. Damals war das nicht so. EU-Abstimmung und – ein Jugendzentrum!« Sie schnaubte das Wort zusammen mit dem Rauch aus, der aus beiden Nasenlöchern kam.

So kannte sie ihre Mutter. Anne hatte nie etwas getan, das in ihren Augen gut genug gewesen wäre. Natürlich war sie von zu Hause abgehauen, ohne zu sagen, wo sie sich aufhielt. Aber hatte ihre Mutter sie als vermisst gemeldet? Hatte sie überhaupt nach ihr gesucht? Sie hätte tot sein können. Ermordet!

»Wie hast du mich eigentlich gefunden? Damals hast du mich doch auch nicht gefunden«, fragte sie zurückhaltend.

»Das war Torsten, Schätzchen. Er hatte mir versichert, es wäre am besten, dich in Ruhe zu lassen. Dass du deine eigenen Erfahrungen machen würdest.«

»Okay – als Vierzehnjährige?!« Anne zog vorwurfsvoll eine Augenbraue hoch und schüttelte missbilligend den Kopf. »Und auf Torsten hast du immer gehört. Weißt du, dass er mich aufgesucht hat, als er auf Bewährung freigelassen wurde?« Sie schaute die kleine Frau direkt an, die unter ihrem Blick noch weiter zu schrumpfen schien.

»Nein, das hat er nicht erwähnt. Ich besuche ihn nicht mehr so oft. Ich kann es nicht ausstehen, in dieses Gefängnis zu gehen. Er hat dir doch wohl nichts getan?« Sie klang aufrichtig besorgt.

»Ich hab’s überlebt, wie ich es immer ohne deine Hilfe geschafft habe – und mit ein paar zusätzlichen Narben als Erinnerung.«

»Du wirst doch wohl verstehen, dass ich nicht eingreifen konnte, wenn er dich geschlagen hat. Dann hätte er mich totgeschlagen. Das weißt du doch!«

»Hätte er sich nur mit Schlagen begnügt. Du hättest von ihm wegziehen können, Mutter! Warum sind wir nicht einfach umgezogen?« In ihrer Stimme lagen Tränen, wie damals bei dem kleinen Mädchen, das seine Mutter anflehte umzuziehen, ohne dass die zuhörte. Das tat sie jetzt auch nicht. Sie hatte eine Ausgabe des Tageblatts aus einem Stapel auf dem Boden genommen und sie beiläufig durchgeblättert. »Das ist also die Zeitung, die du machst«, stellte sie mit mütterlichem Stolz in der Stimme fest.

»Ich mach die nicht. Darin sind nur ein paar Artikel, die ich geschrieben habe.« Der Themenwechsel kam ihr sehr gelegen. Sie wollte über die Vergangenheit und Torsten am liebsten weder reden noch nachdenken.

»Du musst gut verdienen, wenn du es dir leisten kannst, hier zu wohnen. Ich bin in eine kleine Einzimmerwohnung in Nørrebro gezogen. Konnte mir nichts anderes leisten, die alte wurde renoviert und die Miete stieg um mehr als das Doppelte. Die andere ist billig, aber das ist auch eine alte Bruchbude.« Sie seufzte und legte die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, während sie weiterblätterte. Anne überlegte, was wohl aus ihren Stiefgeschwistern geworden war, aber fragte nicht. Wollte es eigentlich gar nicht wissen.

»Hast du Arbeit?«, fragte sie stattdessen.

»Nee, was kann ich machen? Einen Dreck. Ich habe nicht deine Fähigkeiten. Aber glücklicherweise wohnen wir ja in einem Land, das sich um die Schwachen kümmert, obwohl es hart sein kann, in diesem System zu sein. Die fordern heutzutage so viel von uns, es wird immer schlimmer und das Geld immer weniger.« Sie hatte die letzte Seite erreicht und schmiss die Zeitung gleichgültig zurück auf den Stapel. Anne saß unruhig auf dem Stuhl. Sie wollte nie wie ihre Mutter enden, so viel stand fest. Aber war sie auf dem Weg dorthin? Das soziale Erbe – war das trotzdem am stärksten?

»Du ähnelst deinem Vater. Von ihm hast du die kohlrabenschwarzen Haare.« Rose sah wieder auf das Foto ihres verstorbenen Mannes. Ein kleines, liebevolles Lächeln, das ihre Züge milderte, erschien um ihren faltigen Mund. Plötzlich konnte Anne sehen, dass ihre Mutter wohl einmal hübsch gewesen war.

»Alles in allem hast du nicht besonders viel über ihn erzählt«, meinte sie vorwurfsvoll. »Ich weiß nicht mal, wie er gestorben ist.«

Rose schaute immer noch auf das Foto, als spräche sie mit ihm und nicht mit Anne.

»Jonas war ein guter Mensch. Er war LKW-Fahrer und fuhr für verschiedene Firmen nach Dänemark. Ich hab ihn getroffen, als ich in einem Autobahncafé gearbeitet habe. Er kam immer rein und bekam ein Sandwich mit Hühnchen und eine Tasse Kaffee bei mir.«

»Er fuhr nach Dänemark – von wo aus?«

»Litauen. Er hieß Jonas Maldeikis.«

»Mein Vater war Litauer?!« Anne konnte ihre Verblüffung nicht verbergen.

Rose nickte. »Wir haben uns entschieden, dir nicht seinen auffälligen Nachnamen zu geben. Er war ein echter Kommunist.«

»Wie ist er gestorben?«

»Bei einem Autounfall an der polnischen Grenze. Du warst gerade zwei geworden.«

»Warum hast du mir das nie erzählt?«

Rose zuckte mit den Schultern. »Was hätte das gebracht? Du warst ja so klein. Im Jahr darauf traf ich Torsten, der stattdessen dein Vater sein sollte. Aber du hast ihn nie akzeptiert. Dann bist du weggelaufen. Du hast ihm nie eine Chance gegeben.«

»Jetzt hör aber auf!« Aufgebracht räumte Anne die Becher vom Tisch ab. Ihr Kopf rauchte von der neuen Information, dass sie litauisches Blut in den Adern und eine unbekannte Familie dort drüben hatte. Bedeutete das etwas für ihre Zukunft? Konnte sie das überhaupt zu etwas gebrauchen? Sie hatte noch nicht herausgefunden, welchen Zweck ihre Mutter mit ihrem Besuch verfolgte, aber das tat sie, bevor sie mit den leeren Bechern die Küche erreichte.

»Ich kann nicht zufällig ein paar Tage bleiben, Ann? In Nørrebro ist es so unsicher, ich trau mich nicht allein zu sein, und – ich hab nur dich.«

4

Henry Leander hatte Recht mit seiner Annahme bezüglich der Todesursache. Die Obduktion hatte gegenüber der Leichenschau keine neuen Erkenntnisse gebracht. Albert Hovgaard war brutal und rücksichtslos totgeschlagen worden.

Roland lehnte sich im Stuhl zurück. Er hatte in den paar Stunden, in denen er die Möglichkeit gehabt hätte, nicht geschlafen. Er wollte Irene nicht wecken, indem er, so durchgefroren, wie er war, wieder ins Bett kroch. Daher hatte er sich auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt, wo Angolo ihn sofort gefunden hatte. Er war sechs Monate alt und das niedlich Welpenhafte war verschwunden, sodass man nun sehen konnte, was für ein feiner Schäferhund er werden würde. Roland hatte sich eisern gegen Irenes Wunsch gewehrt, er solle Hundeführer werden, also war das Polizeihund-Training aufgegeben worden. Trotzdem ging Irene mit Angolo zum Training und die Erziehung des Hundes war tadellos. Besonders wenn Irene die Kommandos gab, aber er hatte sich auch sofort auf den Boden neben das Sofa gelegt, als Roland nachdrücklich Platz! gesagt hatte. Auch Salvatore interessierte sich für Angolo und liebte es, mit zum Training zu kommen. Er hatte die Erlaubnis, über Weihnachten und Neujahr zu bleiben. Tante Giovanna hatte es ihm voller Freude erlaubt. Sie war diejenige, die auf dem Aufenthalt bei ihnen in Dänemark bestanden hatte. Er versuchte, nicht an die Absicht dahinter zu denken. Mit dieser Mission war er nicht viel weiter gekommen. Es war nicht leicht, mit Salvatore darüber zu sprechen. So waren fünfzehnjährige Jungen halt. Sie waren der Meinung, schon erwachsen zu sein und alles zu wissen. Man konnte ihnen nichts mehr beibringen. Aber er sah aus, als hätte er sich eingelebt und hinterfragte nicht, warum er so plötzlich in den ›Urlaub‹ im kalten Norden geschickt worden war, daher ließ Roland die Sache vorerst auf sich beruhen. Jetzt war der Schnee gekommen. Massenweise. Mehr als Salvatore jemals in Neapel gesehen hatte. Das genoss er. Vielleicht wurden sie ihn nie mehr los – so war das oft in einer Familie. Er lächelte müde. Es war ein Vergnügen, ihn hier zu haben. Seine Muttersprache war wieder aufgefrischt worden, sodass er fast so flüssig italienisch sprach wie Salvatore, der ihm in vieler Hinsicht ähnelte. Die gleichen schwarzen Augen, der gleiche nervige Wirbel auf der rechten Seite, der das Haar immer in die Stirn fallen ließ. Den hatten sie von Rolands Vater geerbt. Die Erinnerung an ihn löste tief in ihm das Gefühl eines schlechten Gewissens aus. Es wurde ein bisschen dadurch erleichtert, der Familie jetzt helfen zu können. Das hätte er nicht gekonnt, wenn seine Mutter nicht mit ihm nach Dänemark geflohen wäre, als sein Vater von der Camorra getötet worden war. Und es war gerade Italien und besonders Neapel, von dem Salvatore dringend wegmusste. Von dem System, wie sich die Mafia in Neapel nannte.

Gedankenversunken war er einen Umweg gefahren, den er mit Müdigkeit entschuldigte. Er konnte sich selbst auf die einfachsten Dinge kaum konzentrieren, obwohl er sich mit Kaffee abgefüllt hatte, seit er um acht hier eingetroffen war, aber er wachte abrupt auf, als es fest an der Tür klopfte und der Beamte Kim Ansager eintrat. Er hatte die hässliche Angewohnheit zu klopfen und hereinzustürmen, ohne auf eine Antwort zu warten. Warum sich dann überhaupt die Mühe machen zu klopfen? Er blieb in der Türöffnung stehen und hing mit den Armen daran wie ein Affe. Ein Brillenaffe. Er schob die schwarze Vintage-Brille, die fast schon Kultstatus hatte, mit einem Finger auf ihren Platz auf der Nase und sah so aus, als wäre er schon auf dem Sprung zurück in sein eigenes Büro. Das ließ auf eine wegen des Hochbetriebs kurze Nachricht schließen. Keine Zeit für Smalltalk. Die Finanzkrise beeinflusste auch das Präsidium. Die Krisenzeiten ließen bei denen, die ihre Arbeit verloren hatten, die Kreativität erblühen, hatte er in der Zeitung gelesen, aber es gab auch die, die sich mithilfe krimineller Kreativität durchschlugen. Die Anzahl der Einbrüche und der räuberischen Überfälle war drastisch gestiegen.

»Die Kriminaltechnik hat Übereinstimmungen mit Fingerabdrücken von zwei anderen unaufgeklärten Einbrüchen in Ostjütland gefunden. Die kriminaltechnische Zentralstelle hat sie durch die AFIS-Datenbank laufen lassen, dort aber keinen Treffer gelandet. Die Täter sind offenbar neu in der kriminellen Szene. Jedenfalls keine früheren Verdächtigen oder Vorbestraften.«

»Nein, hier bei uns nicht. Haben sie es bei Interpol versucht?«

Kim Ansager zuckte mit den Schultern. »Davon geh ich mal aus.«

»Davon gehst du aus? Hier geht’s um Mord! Das ist nicht nur ein unbedeutender Raubüberfall. Darauf hast du die hoffentlich aufmerksam gemacht!«

Kim nickte verärgert. »Natürlich. Glaubst du nicht, du solltest heimfahren und ein bisschen schlafen, du klingst so ...«

»Hat sich wegen des Autos niemand gemeldet? Die Diebe müssen doch in einem Fahrzeug angekommen sein, bei diesem Winterwetter waren sie wohl kaum zu Fuß unterwegs.«

»Vielleicht sind sie auf Skiern gekommen!«

»Im Ernst jetzt, Kim!«

»Aber es gab keine Spuren von Reifenabdrücken oder von anderen Fahrzeugen. Es hat die ganze Nacht und am Morgen kräftig geschneit, und wir können ja kein Auto suchen, das wir nicht kennen. Kurt hat der Presse gesagt, dass sie gerne nach Zeugen suchen dürfen und dass die Leute uns kontaktieren sollen, falls sie Montagabend und -nacht etwas Verdächtiges gehört oder gesehen haben.«

»Okay. Gut, dass sich Kurt darum gekümmert hat.«

Plötzlich lächelte Kim. »Hast du übrigens gehört, dass das Tageblatt dichtgemacht hat? Nun gibt’s eine nervige Journalistin weniger.« Er grinste schadenfroh und war wieder weg.

Roland schloss die Augen. Gott, wie er Schlaf brauchte. Sie sollten sich wohl trotz allem nicht über die Finanzkrise beklagen. Dadurch hatten sie mehr Arbeit, aber viele andere hatten die Krise nicht überstanden. Kleine und mittelständische Unternehmen, denen die Bank plötzlich den Kredithahn zugedreht hatte, trotz des Finanzpakets der Regierung, das genau das hätte verhindern sollen. Und nun hatte es dem Tageblatt offenbar auch das Genick gebrochen. Anne Larsen war also nicht länger eine Plage. Er hatte sich tatsächlich schon gewundert, wo sie in der Mordnacht abgeblieben war. Normalerweise tauchte sie noch vor ihnen auf, als könnte sie Blut riechen. Das können Vampire ja. Über den Vergleich lächelte er grimmig. Erst kamen die Freude und die Erleichterung, dann ein anderes Gefühl. Ärger? Obwohl sie – milde ausgedrückt – scheißnervig gewesen war, hatten sie viele kreative Zusammenstöße gehabt, die von Zeit zu Zeit einen frischen Wind in die Ermittlungen und die Aufklärung gebracht hatten. Würde er sie vermissen? Er stand auf und zog sich eine Jacke an. Nein, natürlich nicht.

Der Schnee lag hoch bis zum Fenster und verwandelte das Licht im Büro in ein weiches, gedämpftes Schimmern. Es war in Dänemark wirklich Winter geworden. Er fror schon, wenn er nur hinaussah, zog seinen Lammfellmantel und die Handschuhe an und schlang den Schal dreimal um den Hals. Ein Gespräch mit den Anwohnern konnte nicht länger aufgeschoben werden. Jemand musste ein Fahrzeug bemerkt haben, und so lange jemand sich noch gut erinnerte und eine nähere Beschreibung liefern konnte, die die Fahndung voranbrachte, könnte das helfen, die Täter zu erwischen. Das Fluchtauto wäre ein guter Anfang. Es würde ihn sicher auch ein bisschen aufmuntern, raus aufs Land zu kommen.

5

Der Mann vor der Tür sah nicht so aus, als gehörte er in diese kalte Klimazone. Er wirkte in dem weißen Schnee wie fehl am Platz, aber Gunda Hansen konnte leicht erkennen, dass es nicht einfach an einer Überdosis Solarium lag. Die südeuropäischen Züge waren deutlich. Er war nicht besonders groß, seine Haare waren fast schwarz, genauso wie die Augen, die Stimme war tief und Ehrfurcht gebietend, aber angenehm und akzentfrei.

»Gunda Hansen?«

»Ja.«

Er zeigte seinen Ausweis. Um ihn entziffern zu können, musste sie ein wenig näher herangehen. Sie hatte ihre Brille nicht mitgenommen, als es an der Tür geklingelt hatte. Die eine Socke wurde nass, als sie auf die Treppe trat.

»Kriminalkommissar Roland Benito. Darf ich einen Augenblick rein in die Wärme kommen?«, fragte er mit einem freundlichen, aber müden Lächeln und einem schnellen Blick auf ihre nasse Socke.

»Wir haben nichts von dem gesehen oder gehört, was letzte Nacht passiert ist, daher ...« Sie wollte die Tür wieder schließen, aber der Kriminalkommissar schaffte es, die Hand dazwischen zu stecken und der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht misszuverstehen.

»Wir müssen mit allen Nachbarn sprechen; auch wenn sie nichts gesehen oder gehört haben. Ich fange nun bei Ihnen an, weil Sie der Straße am nächsten wohnen.«

Gunda öffnete die Tür und warf einen schnellen Blick nach draußen, bevor sie wieder zumachte. Aber wie gewöhnlich war niemand zu sehen. Sie zog die Socken aus und steckte ihre kalten Füße in ein Paar Lammfell-Hausschuhe.

»Ist Ihr Mann im Stall?«, erkundigte sich der Kriminalkommissar und zog Mantel, Handschuhe und Schal aus, als rechnete er damit, länger zu bleiben. Gunda setzte sich an den Küchentisch, auf dem noch die benutzten Tassen und Teller vom Frühstück standen. Der Käse roch streng, und zusammen mit dem Geruch nach Kühen, der aus der Waschküche kam, war das sicher nicht die Atmosphäre, die der Kommissar gewohnt war. Sie hatte keine Ahnung, wie es in einem Polizeirevier roch, aber Roland Benito schien das nicht zu stören. Dennoch legte er den Mantel über den Stuhl, statt ihn draußen in der Waschküche aufzuhängen. Er setzte sich ihr gegenüber und nahm dankend einen Kaffee an. Sie holte eine saubere Tasse aus dem Schrank und schenkte ihm ein.

»Er kommt sicher bald rein, um seinen Vormittagskaffee zu trinken. Wie gesagt, wir haben heute Nacht nichts gehört.« Bevor sie fertig eingeschenkt hatte, knallte die Tür in der Waschküche und die Kälte drang in die Küche ein. Sie schauderte. Ob es bei Signe und Albert wohl auch kalt geworden war, als die Mörder letzte Nacht einbrachen? Wenn man schläft, merkt man das wohl nicht gleich. Sie füllte auch Thorkilds benutzte Tasse und stand auf, um mehr Weißbrot zu schneiden. Er war eine Weile in der Waschküche. Der Wasserhahn lief lange. Bestimmt hatte er das Auto im Hof nicht gehört oder gesehen und wusste nicht, dass sie hohen Besuch hatten. Als er den fremden, dunklen Mann in seiner Küche entdeckte, war er auch tatsächlich überrascht. Der Kriminalkommissar erhob sich höflich, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Thorkild erwiderte den Händedruck, und seine Grimasse sagte ihr, dass er es auch nicht mochte, die Polizei im Haus zu haben. Die Nachbarn würden reden, und es sollte ja nicht so werden wie auf dem Hof oben am Ende der Straße, wo die jungen Menschen in einer Kommune wohnten. Ein paar von ihnen kamen aus Kopenhagen, hatte sie gehört. Oft war ein Streifenwagen vorbeigekommen. Vielleicht waren sie es gewesen? Könnte einer von ihnen Albert getötet haben?

Thorkild setzte sich, schmierte eine dicke Schicht Butter auf eine Scheibe Weißbrot und legte danach eine noch dickere Scheibe Käse darauf. Der Gast hatte mit der Entschuldigung, er habe gerade gegessen, dankend abgelehnt.

»Sie haben also gestern Abend und Nacht nichts Ungewöhnliches gesehen oder gehört, wenn ich das richtig verstehe?« Der Kriminalkommissar schaute Thorkild an und trank einen Schluck Kaffee. Er schien auch etwas Belebendes zu brauchen. Bestimmt war er es, der heute Nacht ausgerückt war. Ella hatte irgendetwas von einem Kriminalkommissar erzählt, der sie brutal verhört hatte.

»Ich glaube, Sie sollten mit denen oben in der Kommune reden, glaubst du nicht auch, Thorkild?«

»Mit der Kommune! Warum das denn?«

»Diese jungen Menschen halten sich doch nicht immer ans Gesetz. Die Polizei war schon mehrfach da oben.«

Roland Benito wirkte nicht überrascht. »Ja, wir wissen ein bisschen was über die, und natürlich werden wir auch mit ihnen sprechen, aber gerade eilt es damit, ein Fahrzeug ausfindig zu machen. Sie haben keine parkenden Autos bemerkt?«

»Aber falls es die da oben waren, dann sind die einfach zu Fuß gekommen und dann gibt’s auch kein Auto.« Sie war völlig überzeugt davon, Recht zu haben. Einige in diesem Haufen hatten Dreck am Stecken, obwohl ein paar von den Mädchen sehr nett wirkten. Eines von ihnen erinnerte sie sogar an sich selbst als junge Frau. Flowerpower. Make love, not war.

»Es kann ein Auto sein, das hier längere Zeit gestanden hat.«

Irgendwie lag ein verärgertes Denkt-jetzt-richtig-gut-nach in seinen Worten, und plötzlich schaute sie Thorkild an.

»Wir haben nichts gesehen«, wiederholte er und durchbohrte sie mit seinem Blick.

»Aber du hast doch gestern Abend dieses merkwürdige Auto auf der Straße stehen sehen? Erinnerst du dich nicht daran?« Sie beeilte sich, in die freundlichen braunen Augen des Kommissars zu schauen. Sie wusste genau, dass sich Thorkild am liebsten nicht in irgendetwas einmischen wollte, das mit der Polizei zu tun hatte, aber nun ging es ja um den Tod eines Nachbarn. Albert, klar, aber trotzdem. Es hätte auch sie treffen können, sie wohnten ja am dichtesten an der Straße und wären das nächstliegende Ziel gewesen, und zu Signe hatte sie immer ein gutes Verhältnis gehabt. Sie hatten sogar mehr gemeinsam, als sie es mit den anderen Nachbarinnen hatte. Aber das war nichts, worüber sie sprachen.

»Inwiefern war es merkwürdig? Was war das für ein Auto?«

»Das war schwer zu sehen«, antwortete Thorkild zurückhaltend.

»Es war weiß, sagtest du«, half sie ihm auf die Sprünge.

Thorkild schaute wieder böse zu ihr, danach zum Kommissar.

»Ja, es war weiß. Ein älteres Modell. Könnte ein Opel Kadett Caravan gewesen sein, bin mir aber nicht sicher. Es war dunkel. Und falls Sie jetzt nach dem Kennzeichen fragen, das hab ich nicht gesehen.« Er biss in sein Käsebrot.

»Aber das Merkwürdige daran war, dass es so lange dort gestanden hat. Da oben zwischen den Bäumen parken die Leute normalerweise nicht«, steuerte sie erneut bei.

»Wie lange hat es dort geparkt?«

Thorkild kaute. »Keine Ahnung. Ich hab’s am Nachmittag entdeckt, als ich zum Stall rüber bin. Als ich mit dem Melken fertig war, stand es immer noch da.«

»Und um wie viel Uhr war das?«

Thorkild schaute ratlos zu Gunda. »Wie spät war es, als ich reingekommen bin? Du hast doch gerade den Abendkaffee gemacht.«

»Es war gegen neun, halb zehn, als ich Kaffee gemacht habe. Ich hab währenddessen im Radio die Spätnachrichten gehört.«

»Aber es stand also immer noch da?«

Thorkild nickte und atmete tief durch; er schien sich plötzlich zu ergeben. »Um Mitternacht rum musste ich mal austreten. Da hab ich aus dem Badezimmerfenster geschaut. Das unterm Dach. Von da oben hat man eine gute Aussicht auf die Straße, und das Auto stand immer noch da. Im Dunkeln war es schwer zu sehen, aber in der Nähe ist eine Straßenlaterne, daher konnte ich den Umriss deutlich erkennen, weil ich wusste, wo es geparkt war.«

»Und Sie haben nicht daran gedacht, uns das zu erzählen, nach dem, was nun geschehen ist?«

»Wir dachten doch, das wäre nur einer, der sich in den Schneewehen festgefahren und das Auto stehen gelassen hatte«, murmelte Thorkild.

Der Kriminalkommissar stand auf und zog seinen Mantel an. »Ich hätte gerne, dass Sie mitkommen und mir zeigen, wo genau dieses Auto geparkt hat«, sagte er bestimmt, während er den Schal um den Hals schlang. Widerstrebend ging Thorkild in die Waschküche und zog seinen Mantel an.

»Glauben Sie, das ist eine dieser osteuropäischen Banden, die hier überall Einbrüche verübt haben?«, fragte sie und hörte die Furcht in ihrer Stimme.

»Im Moment glauben wir noch gar nichts. Alle Möglichkeiten sind offen.«

»Sprechen Sie denn nicht mit denen in der Kommune – und den anderen Nachbarn?« Sie fing an den Tisch abzuräumen, um ihn für das Mittagessen vorzubereiten.

»Doch, wir klappern die ganze Reihe ab«, versprach der Kriminalkommissar und reichte ihr zum Abschied die Hand. Er sah aus, als hätte es ihn ein wenig erfrischt, aufs Land zu kommen.

6

Anne hatte es nicht einmal die erste Treppenstufe hoch geschafft, als sie den Lärm und den Geruch von Zigaretten bemerkte, der sich im gesamten Treppenhaus ausbreitete. Es klang, als ob in einer der Wohnungen eine Party gefeiert werden würde. Seltsam, sonst war es hier immer so still und ruhig. Die meisten Bewohner waren ältere Menschen, deren Drang nach wilden Trinkgelagen schon längst ausgelebt war. Ihre Befürchtungen wurden bestätigt, als sie den nächsten Treppenabsatz erreichte und die Mieterin unter ihr plötzlich aus ihrer Tür trat. Sie hatte wohl auf der Lauer gelegen und auf sie gewartet.

»Jemand feiert in Ihrer Wohnung und macht Krach«, knurrte sie. Sie war eine magere, kleine Dame um die siebzig mit weißer Dauerwelle und trug immer einen schwarzen Rock und eine Hemdbluse mit Blümchenmuster. Sie schaute sie durch dicke Brillengläser an, die ihre Augen unnatürlich vergrößerten. Anne war schon früher mit ihr aneinandergeraten. Sie beschwerte sich über alles. Schuhe von Gästen, die draußen vor der Tür im Treppenhaus herumflogen. Wenn irgendwer vergessen hatte, dass er mit der Treppenhausreinigung dran war oder nicht ordentlich genug geputzt hatte. Wenn die Enkel einiger Bewohner auf der Treppe gespielt und Krach gemacht hatten. Alles, was den feinen Hör- und Tastsinn dieser Frau stören könnte. Am Anfang hatte sich Anne maßlos über sie geärgert, aber dann hatte sie eingesehen, dass es eigentlich ganz praktisch war, jemanden zu haben, der den Trupp unter Kontrolle halten konnte. So war das doch immer mit Herdentieren. Es musste einen Leiter, einen Anführer geben. Meistens war dieser wohl männlichen Geschlechts, aber die Männer in dieser Herde hatten nicht den Mut, sich ihr entgegenzustellen.

»Tut mir sehr leid, Frau Jansen. Das ist meine Mutter, die gerade bei mir wohnt. Ich muss wohl ein ernstes Wörtchen mit ihr reden.«

»Ihre Mutter! Sollte sie nicht erwachsen genug sein, um zu wissen, dass ein solches Benehmen in unserem Wohnblock inakzeptabel ist?!«

Anne atmete tief durch und versuchte sich zu beherrschen. Aber es war nun einmal ihre Mutter, auf die sie wütend war, weil die Alte ja Recht hatte. Sie lächelte begütigend. »Soweit ich das hören kann, amüsieren die sich doch einfach – ganz gewiss ein wenig zu lautstark.« Gleichzeitig überlegte sie, wer wohl zu Besuch sein mochte, mit dem ihre Mutter so viel lachen konnte.

»Ja, gerade tun sie das, aber Sie hätten sie heute Vormittag hören sollen. Flaschen haben geklirrt und es wurde in einer Sprache herumgebrüllt, die ich nicht kenne. Wenn das welche von diesen Kanaken sind, die Sie zu Besuch haben, dann ...«

Anne wollte Frau Jansen gerade daran erinnern, dass der mächtigste Mann der Welt tatsächlich farbig war, als oben aus der Wohnung wieder lautes, schallendes Gelächter ertönte.

»Entschuldigen Sie mich«, murmelte sie und nahm die letzten Stufen mit einem großen Satz.