Letzter Lorbeer - Georg Gunter - E-Book

Letzter Lorbeer E-Book

Georg Gunter

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Beschreibung

Den an den Abwehrkämpfen in Oberschlesien beteiligten Truppenverbänden wird in diesem Buch - das wie kein anderes die Geschehnisse der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges in Oberschlesien schildert - ein bleibendes Denkmal gesetzt. Eine erschütternde "Dokumentation" über die Leiden der Bevölkerung, die vielfach, gerade auf dem Lande, vor dem herannahenden Verderben nicht floh, sondern ihren Arbeitstag weiterlebte, bis sie von der Lawine des Krieges überrollt wurde.

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Georg Gunter

Letzter Lorbeer

 

Georg Gunter

Letzter Lorbeer

 

Vorgeschichte

und

Geschichte der Kämpfe

in Oberschlesien

von Januar bis Mai 1945

 

Laumann-Verlag Dülmen

 

 

Register: Georg Hanusch, Regensburg

Titelbild, Divisionszeichen und Lagekarten: Georg Gunter

 

 

© 2015 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG

Postfach 1461, 48235 Dülmen

Telefon 02594/9434-0, Telefax 02594/9434-70

E-Mail: [email protected]

Internet: www.laumann-verlag.de

 

ISBN 978-3-89960-427-6

 

 

Für Mutter

 

Für alle Mütter der Welt

 

»Dieses Erleben wird unser Volk im Tiefsten geläutert entlassen.

Unser ganzes Leben muß wieder innerlicher und liebevoller werden,

fröhlich und doch immer zum Höchsten hinlebend.«

(Aus dem Brief eines gefallenen deutschen Soldaten)

 

 

Die Idee zu diesem Buch ergab sich aus dem Studium einer langen Reihe von Geschichtswerken, Dokumentarberichten und Beschreibungen verschiedener Art über den Zweiten Weltkrieg. Mir wurde dabei klar, daß ich mich als Chronist der damaligen Geschehnisse mit der üblichen Art der Darstellung jener Zeit nicht identifizieren konnte. Natür­lich hatte ich im Sinn, »nur« die Geschichte der Kämpfe in Ober­schlesien zu schreiben, wollte dies aber – und das schien mir wesent­lich – nicht aus einer verengten Perspektive heraus tun.

Das bedeutete zunächst, mein Interesse und mein Mitgefühl nicht nur den im Verzweiflungskampf stehenden Soldaten an den verschie­denen oberschlesischen Fronten zu widmen, sondern im gleichen Rah­men dieser Schilderungen auch aufzuzeigen, wie unglaublich grausames die Zivilbevölkerung im Kampfgebiet sowie auf der Flucht getrof­fen hat, wenn die Furie des Krieges, angefeuert vom fürchterlichen Vergeltungsdrang des Gegners, sie überrollte. Es sollte einfach aus­nahmslos über alles, was der verdammte Krieg an mehr oder weniger Schrecklichem hervorbrachte, gründlich, genau und minutiös berichtet werden.

Das bedeutete auch, meinen Blick über den »Abschnitt« Oberschle­sien hinaus zu richten, zumal, wenn ich Zusammenhänge erkannte oder um den Leser jeweils über die Situation an den benachbarten Fronten in Mittel- und Niederschlesien und mehr noch: exakt chronologisch über die gleichzeitige Entwicklung am westlichen Kriegsschauplatz zu informieren.

Der Blick von den einzelnen Geschehnissen an der oberschlesischen Front auf die »Gesamtlage« sollte den Leser besonders gegen Ende des Buches, wenn sich die Ereignisse auch an allen anderen Fronten bis zur Kapitulation der deutschen Streitkräfte dramatisch zuspitzten, das ganze Ausmaß der deutschen Tragödie vor Augen führen. So entstand eine sehr umfassende Darstellung der Ereignisse der letzten Kriegs­monate.

Während der langwierigen Arbeit an dem Buch – hauptsächlich in den 60er Jahren – hatte ich die Gelegenheit, noch lebende Personen, die das Geschehen miterlebt haben, zu befragen. Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Berichte stellen einen wesentlichen Teil der Unterlagen für die Schilderungen dar. Bei der Gestaltung des umfangreichen Stoffes kam es dann darauf an, die wahrheitsgetreuen Aussagen der lebenden Zeugen und die dokumentarischen Zeugnisse der Historie in eine Form zu bringen.

Die VORGESCHICHTE beginnt mit der Schilderung des ersten und massiven Luftangriffs alliierter Bomberverbände auf die kriegswich­tigen Oberschlesischen Hydrier- und Synthesewerke im Raum Heydebreck.

Das war am 7. Juli 1944. (Nach dem Kriege waren amerikanische und britische Bomberbesatzungen erstaunt darüber, daß die schweren Flie­gerabwehrkanonen im Bereich der Angriffsziele von 15- und 16jährigen Oberschülern bedient wurden, den sogenannten »Flakhelfern«).

Zur gleichen Zeit war im Verlauf der sowjetischen Sommeroffensive vom 22. Juni 1944 die deutsche Abwehrfront im Osten unter schwersten Verlusten zusammengebrochen. Nach der Katastrophe im Mittelabschnitt erfolgte auch der Durchbruch an der Südfront. Somit stand die Rote Armee noch vor Ende des Monats Juli an der Weichsel. Außerdem hatten sich die Sowjets der Grenze Ostpreußens genähert.

Von der Weichsel bei Baranow, wo die Russen bald starke Angriffs­kräfte versammelt hatten, zielte die spätere Stoßrichtung in 150 Kilometer Entfernung direkt auf Oberschlesien. Bis Ende 1944 standen im Osten gegenüber den hoffnungslos unterlegenen deutschen Vertei­digern auf sowjetischer Seite insgesamt 400 Divisionen und 100 Pan­zerverbände zum entscheidenden Schlag bereit.

Noch kurz vor Angriffsbeginn hatte Hitler in völliger Verblendung alle Warnungen und Beschwörungen seiner Heerführer mißachtet und den gewaltigen Aufmarsch der sowjetischen Offensivkräfte als »größten Bluff seit Dschingis Khan« bezeichnet …

Der Angriff der russischen Sturmtruppen begann nach einem stun­denlangen Trommelfeuer ihrer Artillerie aus dem Baranow-Brückenkopf heraus am 12. Januar 1945 und führte, wie von den deutschen Front­befehlshabern befürchtet, zu einer grausamen Zersplitterung der Stellungsverbände. Regimenter von Soldaten gingen reihenweise zu­ grunde und die ersten, von russischen Panzern niedergewalzten Flüchtlingstrecks säumten die Rückzugsstraßen und verwandelten sie zu Stätten des nackten Grauens.

Mit einigen neu zugeführten Verbänden und den nach Westen trei­benden Heerestrümmern der Weichselfront versuchten die Deutschen, dem russischen Vormarsch zur Reichsgrenze hauptsächlich in Schwer­punkträumen entgegenzuwirken. Sämtliche »Gegenmaßnahmen«, an deren Ende dann der Aufbau einer relativ zusammenhängenden Abwehrfront stand, konnten sich bei dem akuten Mangel an genügend Kämpfern und Kampfmitteln nur allmählich entwickeln. Bis zum 17./18. Januar waren die Russen bereits auf breiter Front zur oberschlesischen Grenze nördlich des Industriereviers und mit Angriffskeilen zum Teil schon ins Landesinnere vorgedrungen.

Was folgte – und darüber wird im Hauptteil des Buches, der GESCHICHTE DER KÄMPFE IN OBERSCHLESIEN, umfassend und in allen Details berichtet –, waren von deutscher Seite mit größtem Opfermut geführte Stellungskämpfe, Rückzugsgefechte und Angriffs- und Abwehr­schlachten beiderseits der Oder und an ihren Nebenflüssen. Insgesamt mehr als hundert Tage dauerte das blutige Ringen. Der Oder–Oppa­ Abschnitt im Süden Oberschlesiens war am 25. April 1945 noch zäh verteidigtes Frontgebiet, als sich an diesem Tage 400 Kilometer westlich davon schon Russen und Amerikaner bei Torgau an der Elbe die Hände reichten.

Das Buch enthält sechs Divisionsgeschichten in Kurzform. Im ganzen erfährt der Leser viel Wissenswertes über die an den Kämpfen beteiligten Einheiten und Divisionen.

Auf Fußnoten mit Quellenhinweisen habe ich verzichtet, weil Fußnoten meines Erachtens den Fluß des Lesens erheblich stören würden.

Notwendige »Anmerkungen« – in Reihenfolge der Kapitel zusammenge­faßt – habe ich an den Schluß des Buches gesetzt.

Die Pfeile auf den Karten sind entsprechend den Hinweisen und Lagemeldungen im Buchtext maßstabgenau eingezeichnet und geben exakt Auskunft zum Beispiel über den jeweiligen Stand der Truppen­bewegungen.

Noch ein Wort zum Titel des Buches. Im allgemeinen wird er von den Lesern richtig gedeutet. Ich habe also bei der Wahl des Titels keinen Augenblick an einen »Siegeslorbeer« gedacht und auch nicht denken können. Eher dachte ich an den letzten Lorbeer, mit dem man das Haupt eines sterbenden Kämpfers schmückt, der auch angesichts der Niederlage Treue bewahrte.

 

Georg Gunter im Juli 2006

 

Inhaltsverzeichnis

 

Vorgeschichte

 

7. Juli 1944

Von der »Sechs« und »Fünf« zur »Acht-Acht«

Sonnenwende

Ostwall

Stürmischer Monat August

Bodenverhältnisse an der Malapane und anderswo

Dramatische Zuspitzung bis Mitte Oktober

Die Endzeit richtete sich ein

In den letzten acht Wochen des Jahres 1944

Worte und Wirklichkeiten

»… den schlagen die Götter mit Blindheit«

Es war schon fünf Minuten vor zwölf

12. Januar 1945

Ausweitung der sowjetischen Offensive und Durchbruch zur Reichsgrenze nach Schlesien

 

Geschichte der Kämpfe in ­Oberschlesien

von Januar bis Mai 1945

 

Erster Gegenstoß von Sturmartillerie und Jägern ostwärts des ­Industriereviers

Allgemeine Entwicklung der Frontlage bis 20. Januar

»Fliehe, wer noch fliehen kann oder darf!«

»Sie sind da!«

Verstärkter Druck von Norden ­gegen die Westflanke des ­Industriegebiets

22. Januar: Russen am Westufer der Oder!

23. Januar: Nacht über Gleiwitz und Oppeln

Eine Panzerdivision

Walstatt Oberschlesien 1945

Verteidigungsvorbereitungen im Raum Cosel – Ratibor – Rybnik

»Bis hierher und nicht weiter!« Brennende Panzerwracks an der Oder und an der Ruda

Kurz vor »Torschluß« südlich des Industriereviers

Die Jahrhunderte und der eine Tag von Rauden

Für Leutnant Thamm schienen nicht golden die Sterne

Die Skijäger kommen!

Ende für die Front im O/S-Industriegebiet am 27./28. Januar 1945

Was die einen durften und die anderen mußten

Konzentration der Abwehrkräfte und Stabilisierung der Lage bei Rybnik – Nordraum Ratibor zwangsläufig ohne ausreichenden Schutz

Schwarzer Tag für die 8. Panzer-Division –

Die dramatischen Ereignisse um die Entstehung des sowjetischen Oder-Brückenkopfs nördlich Ratibor

»Jaga san ma!«

Nächtlicher Feuerschein vor neuem Morgenrot über der Oder

Verzweifelte Gegenstöße der Deutschen nördlich Ratibor

Gesamtsituation Anfang Februar

Angriffs- und Abwehrkämpfe an der Glatzer Neiße

Zusammenbruch der ­Oderverteidigung in Mittel- und ­Niederschlesien – Linke Flanke der ­oberschlesischen Front weit überflügelt

Mißlungener Durchbruchs­versuch der Russen im Raum Ratibor – Rybnik am 8./9. Februar

Mißlungene Durchbruchs­versuche der Russen an der gesamten Front der 1. Panzer-Armee

Zeit zum Atemholen

Befehl zum Angriff für das deutsche XI. Armee-Korps

Ein Soldatentod

Angriff des XI. Armee-Korps

Sowjetische Schwarzwasser-Offensive vom 10. März 1945

Kurz vor der großen ­Entscheidungsschlacht in ­Westoberschlesien

Die Entscheidungsschlacht in Westoberschlesien

… bis zum Verlust von Neisse und Leobschütz

Anhaltende Kämpfe westwärts und südöstlich von ­Leobschütz – Sowjetischer Vorstoß auf Loslau

Ratiborer Karfreitag

Abwehr sowjetischer ­Durchbruchsversuche vor Jägerndorf – Troppau und im Oppa-Oder-Olsa-Abschnitt

Gezählte Tage

Die Stunde Null

Literaturhinweise

Einige Erläuterungen

Abkürzungen

Anmerkungen

Bildanhang

 

 

Vorgeschichte

 

7. Juli 1944

 

Pausenlos hatte der Gegner seit dem ersten Tageslicht angegrif­fen. Durch das Flakfernrohr beobachtete ich angestrengt den grauen Himmel. Es wurde 7.30 Uhr – plötzlich öffnete sich vor uns die Hölle: Rasendes Trommelfeuer aller Kaliber überschüttete unsere Stellungen. Vor dem Flugmeldestand, einem primi­tiven Erdloch, dann links, rechts und dahinter wurde der Boden aufgewühlt. In ­kurzen Abständen explodierten Bomben. Der starke Luftdruck – ich spürte Schmerz in den Ohren. Glaubt mir, es war schwer, in dieser Situa­tion nicht die Nerven zu ­verlieren.«

Das schrieb ein Soldat von der russischen Front an seine Ange­hörigen in Oberschlesien. Für die Empfänger hätte es ein Brief werden können wie ­mancher andere, und er hätte sein Ziel viel­leicht an einem Tage erreichen können, der sich nicht ­wesentlich von anderen Tagen unterschied. Aber das Datum der Eintragung auf dem Briefumschlag: »Erhalten am 7. 7. 1944« ist rot unter­­­stri­chen, denn jener Tag war kein gewöhnlicher Tag; er sollte vielmehr für die Leute und für alle, die ihn unter Todesängsten überlebt hatten, unvergeßlich bleiben.

Der Vater des Frontsoldaten nannte es in einer wenig später dem Briefumschlag beigegebenen Notiz einen »merkwürdigen Zufall«, daß er damals den zusammengefalteten Feldpostbrief ­gerade noch in der Hand gehalten hatte, sich in Gedanken damit beschäftigte, um das Leben seines Jungen bangte, sich fragte, »wie lange wohl noch wir zu Hause den blauen Himmel behalten dür­fen«, – und daß seine Gedanken jäh unterbrochen und heftig aufgewirbelt wurden durch das Sirenengeheul in Reigersfeld und von weiter nördlich in Alt-Cosel und Birken und Heydebreck. »Die Hölle des Krieges, die ich eben erst in den schaurigsten Farben geistig ausgemalt bekam, wurde also nun auch schon bei uns an der Oder Wirklichkeit.«

Im Tagebuch des 16jährigen Luftwaffenhelfers Alfred Divisch von der schweren Heimatflak-Batterie 246/VIII in Heydebreck-Süd ist unter dem ­Datum 7. 7. 1944 vermerkt: »Feuertaufe unserer Bat­terie. Amerikanischer Großangriff, zwei Wellen. Wir sind auf Ge­schütze, Kommandogeräte und Funkmeß­geräte aufgeteilt. Wir schießen aus allen Rohren. Zuerst ist es spannend, am Funkmeßgerät den Massenanflug der Bomberverbände zu beobachten. Dann wird die Spannung abgelöst von den schrecklichen ­Erlebnissen – Bombenteppich, Qualm. Heydebreck ist bald ein Feuermeer.«

Das große Benzinsynthesewerk mit dem ausgedehnten Betriebs­stofflager brannte den Berichten zufolge trotz des ­beherzten Ein­greifens der Feuerwehren zwei Tage. Der Himmel im Umkreis war tagsüber so dunkel wie in der Nacht. Menschen liefen planlos und wie irrsinnig umher, rannten einfach davon, ohne Ziel, über Felder, durch die nahe gelegenen Wälder, nur fort!

Die Verluste unter der Zivilbevölkerung in den umliegenden Ortschaften waren beträchtlich. Manche Dörfer wurden in ihrer ganzen Ausdehnung schwer getroffen. Augenzeugenberichte spre­chen davon, daß der riesige »Bombenteppich«, der sich todbrin­gend über das ­Ansiedlungsgebiet der kriegswichtigen Oberschle­sischen Hydrier- und Synthesewerke um Blechhammer – Odertal – Heydebreck legte, mehr Wohnbezirke als Industrieanlagen erfaß­te.

Bis zu diesem denkwürdigen 7. Juli 1944 mochte das Land bei­derseits der jungen Oder die Bezeichnung »Reichsluftschutzkeller« voll verdient haben. Mütter in Hamburg, Köln oder Berlin mußten sich nun damit abfinden, ihre Kinder nicht mehr »auf jeden Fall« in Schlesien in Sicherheit zu wissen. Seit der Besetzung Roms dureh die Alliierten – vier Wochen zuvor – und der darauffolgen­den Übernahme der Flugfelder nördlich der Ewigen Stadt verfüg­ten die Piloten der viermotorigen »Fortress«- oder »Liberator«-Maschinen über einen wesentlich günstigeren und verkürzten An­flugweg in den südöstlichsten Zipfel Deutschlands.

 

 

Von der »Sechs« und

»Fünf« zur »Acht-Acht«

 

Daß der totale Vernichtungskrieg eines Tages mit einem derart massiven Feuerschlag aus heiterem Himmel Einzug zwischen Mährisch-Ostrau und Oppeln halten würde, war voraus­zusehen. Insbesondere die damaligen Schüler der Mittel- und Oberschulen des Oderlandes können bestätigen, daß sie schon lange vor jenem fürchterlichen Ereignis psychisch und mit Haut und Haaren auf den zu erwartenden Tag X hin »gedrillt« wurden. Sie waren es, die eine der wohl seltsamsten Doppelrollen im entfesselten Kriegs­theater zu spielen hatten: Braver Schüler – Rauher Soldat. Die Einstimmung darauf erfolgte bereits am 11.Februar 1943 durch eine vom Deutschen Nachrichtenbüro veröffentlichte ­»gemeinsame Anordnung« des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, des Leiters der Parteikanzlei, des Reichsministers des Innern, des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und des Reichsju­gendführers. Darin wurde fest­gestellt, »daß die höheren Schüler als Luftwaffenhelfer in den luftbedrohten Gebieten eingesetzt werden sollen, wobei die Luftwaffenhelfer im Heimatort und in dessen unmittelbarer Nähe verbleiben«. (Wie sich bald herausstellen soll­te, erforderte die Praxis auch einen Einsatz weit außerhalb der Heimatorte. So wurden zum Beispiel ganze Klassen aus Nord- und Süddeutschland zu Heimatflak-Batterien nach Oberschlesien ver­legt.) Neben der oben zitierten »gemeinsamen Anordnung« vom 11.Februar 1943 wird noch die »Verordnung über die Heranziehung der deutschen ­Jugend zur Erfüllung bestimmter Kriegsaufgaben«, vom 2.12.1943, erwähnt. Unter dem Begriff »bestimmte Kriegsauf­gaben« konnte manches und viel verstanden werden; man mußte sich jedenfalls fortan mehr und mehr an den Anblick von Halb­wüchsigen im Waffenrock gewöhnen. Wie einfach es im Grunde genommen damals war, aus blutjungen »Rittern des Latein« bin­nen kurzer Zeit vollwertige Flaksoldaten zu machen, soll an Hand von Aussagen ehemaliger Schüler des Ratiborer Dietrich-Eckart­-Gymnasiums nachfolgend dargelegt werden.

Alfred Divisch, seinerzeit Schüler der Klasse 6 (Untersekunda), notierte unter dem Datum 8. August 1943: »Im Hofe der Siemens-­Pla­nia-Werke zu Ratibor für den Dienst als Luftwaffenhelfer für taug­lich befunden. Dienstantritt für nächsten Tag angesetzt.«

Draußen an den Oderwiesen begann die Ausbildung zunächst an kleinen 3,7-cm-Fliegerabwehrkanonen. Daß auch jeder Handgriff bald in Fleisch und Blut überging, dafür sorgten erfahrene Flak­-Unteroffiziere und -Gefreite. Der zivile Schulbetrieb lief ­nebenher weiter: Bis mittags Cicero und Seneca am staatlichen Humanisti­schen Gymnasium, dann bis abends Kanonenlatein bei Wachtmei­ster Preuß an der grünen Peripherie der Stadt. Des Nachts zu Hause im eigenen Bett noch die Illusion von süßer ­Geborgenheit.

»Nach einer Woche wohnten wir dann in zwei neu erstellten Baracken unweit der Stellung«, erinnert sich Alfred Divisch und deutet bereits die innere Wandlung zum Nur-Soldaten an: »Täglich gingen wir zwar noch in die Schule, waren aber wenig begeistert davon, denn wir fühlten uns als Soldaten.«

(Hier wäre anzumerken, daß die Jugendlichen dem Gesetz nach zum »Wehrmachtsgefolge« zählten, rechtsmäßig also keine Solda­ten waren; sie ­trugen Luftwaffenuniform mit HJ-Armbinde. Der Tagessold betrug 50 Pfennig.)

Am 15. September 1943 heißt es dann schon: »Unsere Batterie an den Siemens-­Plania-Werken wird mit nachfolgenden Jahrgängen der Ratiborer Schulen belegt. Wir kommen nach Heydebreck-Süd!«

Dort wurde die Klasse aufgeteilt: Ein Teil der Schüler kam in eine Batterie mit 7,65-cm-Kanonen, für die meisten anderen ­je­doch begann gleich die gründliche Ausbildung an größeren Kali­bern, und zwar an englischen 9,4-cm-Beutegeschützen. Auch hier wieder: Batteriechef, Hauptwachtmeister, Zugführer, Funktions­unteroffiziere und Ausbilder waren erfahrene Flaksoldaten. ­Ge­wöhnlich stellten die Schüler für jedes Geschütz den Geschütz­führer. Mitunter reizte der Altersunterschied zwischen der Bedie­nungsmannschaft und manchem in Ehren ergrauten Wehrmachts­vorgesetzen zu Betrachtungen wie dieser: »Unser Hauptwacht­meister, von väterlicher Art und ein wenig bieder. ­Unser Haupt­mann und Batteriechef, ein alter, fast seniler Opa.«

Der Schulunterricht ging wacker weiter. Insgesamt 10 Kilometer mußten deshalb täglich marschiert werden. Während der Abwesen­heit der Flakhelfer hatten ältere, kriegsuntaugliche »Flakwehrmän­ner« Bereitschaftsdienst in der Stellung. Deutsch, Englisch, Latein, Mathematik und andere Fächer wurden in einer geräumigen Ba­racke bei den Hydrierwerken gelehrt. Es konnte sich dabei selbst­verständlich nur um einen verkürzten Unterricht handeln – immer in ­Erwartung des nächsten Fliegeralarms. Die unterrichtenden Studienräte, zum Teil regelrechte Wanderlehrer, die sich redlich darum bemühten, den Jungen nach wie vor das nötige Rüstzeug für friedlichere Zeiten zu vermitteln, stammten – ähnlich wie die Flakhelfer in den Batterien um Heydebreck herum – aus verschie­denen Orten des Landes, so aus Kreuzburg, Neisse, Oberglogau, ­Oppeln, Ratibor oder Troppau.

Im Januar 1944 erhielt die Batterie, der Alfred Divisch angehör­te, anstelle der vier englischen 9,4-cm-Geschütze sechs moderne deutsche 8,8-cm-Sockelkanonen und trug von da ab die offizielle Bezeichnung »Schwere Flak-­Batterie«.

Schließlich erfolgte später noch, als die amerikanischen Bom­benangriffe auf Ziele im Raum um Cosel – Heydebreck an Härte und Zahl zunahmen, der Ausbau von Batterien zu sogenannten Großkampf-Batterien mit jeweils 18 schweren Flakgeschützen, zwei kleinen Funkmeßgeräten (FuMG) und ­einem sogenannten »Würzburg-Riesen« von 9 Meter Spiegeldurchmesser. ­Parallel ­damit ging die Verteilung der enorm schlagkräftig gewordenen Fliegerabwehr auf ein größeres Gebiet.

Einer solchen Großkampf-Batterie – sie stand bei Klein-Nims­dorf, westwärts von Cosel – gehörte auch der Luftwaffenhelfer Guido Jaskolka an. In seinem Bericht wird erwähnt, daß neben den LWH’s aus Oberschlesien eine Schulklasse aus Weiden in der Oberpfalz der Batterie 247/VIII zugeteilt war. Weiter heißt es: »Dann stießen noch eine Menge Luftwaffenhelfer aus Hamburg zu uns.« Bezeichnend für die damalige Situation an allen Fronten, in diesem Fall an der Heimatfront, dürfte sein, daß Guido Jaskolka, als er am 12. 1. 1944 von der Schulbank weg zunächst nach ­Birken, südlich Heydebreck, zur Flak einberufen wurde, erst die Klasse 5 des Gymnasiums besuchte. Er erinnert sich: »Der Großteil der Einberufenen war damals erst knapp 15 Jahre alt!«

Militärische Ausbildung und verkürzter Schulunterricht gehör­ten fortan auch bei ihm und seinen Kameraden zum normalen Tagesablauf. Genauso wie Alfred Divisch berichtet Jaskolka: »An­fangs machten wir an englischen 9,4-cm-Wellington-Beutegeschüt­zen Dienst, später an modernen deutschen 8,8-cm-­Kanonen.« Dann folgt ein Satz, der zu den typischen Äußerungen aller befrag­ten ehemaligen Luftwaffenhelfer gehört: »Uns gefiel diese Art Leben zunächst ganz ausgezeichnet – bis eines schönen Tages die Amis gleich massenhaft ihre ›Fliegenden Festungen‹ zu uns rüber­schickten« .

7. Juli 1944. Im August sollte es um Heydebreck herum noch um einiges härter zugehen. »Es waren furchtbare Erlebnisse«, meint Alfred Divisch rückblickend. »Nach so einem Angriff hatte man das Gefühl, als wäre das Ende der Welt nicht mehr fern. Und doch vergaß man schnell wieder alle diese grausigen Dinge und konnte einen Tag später erneut lachen und Witze erzählen. So sind die Menschen..«

Sie fürchteten sich oft, die 16jährigen oder erst 15jährigen Flak­helfer, aber selten ließen sie sich’s anmerken und blieben stets tapfer auf ihrem Posten (»Angst hatten wir oft, aber feige waren wir nie.«). So mancher von ihnen wurde damals in der Stellung, neben den Waffen und Geräten, vom Tod ereilt. Also durften sie doch zumindest sterben wie ganze Soldaten, obschon sie amtlich nur »halbe« Soldaten waren.

 

 

Sonnenwende

 

Während in den Oberschlesischen Hydrierwerken die Löschzüge der Feuerwehren noch gegen die gewaltige Glut anzukämpfen hat­ten, besiegelte sich im Mittelabschnitt der russischen Front unter den schweren Schlägen der sowjetischen Sommeroffensive vom 22. Juni 1944 das Schicksal der Heeresgruppe Model (zum Offensiv­beginn von Generalfeldmarschall Busch ­geführt). Die Beresina und ihre Nebenflüsse sollten erneut in die jahrhundertealte Leidens­geschichte des Frontsoldaten eingehen. »Viele meiner Kameraden ­ertranken kurz vor Erreichen des rettenden Flußufers«, erzählt ein Überlebender der hessisch-thüringischen 20. Panzer-Division, die später zu den ersten O/S-Front-Divisionen zählen wird.

Nach der Katastrophe von Bobruisk sammelten sich die zer­sprengten ­Divisionsteile ab 9./10. Juli im Raum nördlich Czyzew (Polen). Nur etwa 15–20 Prozent der Kampfeinheiten waren ­übriggeblieben.

Am 16. Juli gelang den Sowjets unter Marschall Konjew in Südpolen und Galizien auch der Durchbruch bei der Heeresgruppe Nordukraine, die nach dem Weggang Feldmarschall Models an die Mittelfront weiterhin seinem ­Kommando unterstellt blieb. Noch vor Ende des Monats gingen Lemberg und Brest-Litowsk verloren; mit dem Vorstoß der Roten Armee bis zur Weichsel und zum San kam die ganze Ukraine wieder in sowjetischen Besitz.

Mit den zunehmenden Erfolgen der Russen wuchs auf deutscher Seite die Zahl derer, die ihre lang gehegte Illusion von der Unbe­siegbarkeit des Hitler­reiches schon vom Winde verweht ­sahen. Der Zwang, ernsthaft über Dinge nachzudenken, die man bis dahin noch als absurd betrachtete oder betrachten mußte, trat nun offen zutage. Erstmals wurde von führenden Verwaltungsfachleuten die Möglichkeit eines Übergreifens der Kampfhandlungen auf reichs­deutsche Gebiete »offiziell erörtert«. In Oberschlesien fand ein solches Treffen hoher Staatsbeamter zufällig am gleichen Tage statt, an dem Oberst Graf Schenk von Stauffenberg seine Bombe im Führerhauptquartier in Rastenburg ­legte. Welchen Einfluß das Stauffenberg-Attentat und die sich überstürzenden Ereignisse in den Stunden danach auf den ­Gesprächsverlauf hatten, ist nicht bekannt. Bekannt ist nur, daß zwischen dem Staatssekretär Stuckart vom Reichsinnenministe­rium und den Regierungspräsi­denten von Oppeln und Kattowitz, Dr. Mehlhorn und Springorum, am 20. Juli »an Ort und Stelle eine wichtige Besprechung statt­fand, die der Regelung jener ­Aufgaben diente, die beim Heran­nahen oder schließlich beim Eindringen des Feindes in Oberschle­sien mit Bestimmtheit entstehen würden«.

Was man dabei an möglicher Zukunftsbewältigung am düsteren Horizont aufgetürmt sah, läßt sich heute erst recht ermessen, nach­dem alles Geschichte geworden ist. Eine Fülle von Fragen, die damals noch unbeantwortet bleiben mußten, steckte natur­gemäß im Problem der Evakuierung. Es ging ja um ­Millionen von Men­schen, die »in Bewegung gesetzt« werden sollten, um ­Menschen, die größtenteils fest mit ihrer Heimat verwurzelt ­waren und nur denkbar schlecht in das Schema einer Masse ­paßten, deren Reak­tionen man im voraus genau berechnen konnte. Wenn später, in den »Tagen der bitteren Wahrheit«, vieles nicht ganz nach Plan lief, so sind die Grunde dafür auch nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen, sondern immer nur von Fall zu Fall erklärbar. Der häu­fige Wechsel von Situationen und Begleitumständen, und zwar ­solcher von mehr oder weniger ­tragischer Art, wie dies als Tatsache aus den zahllosen Dokumenten ersichtlich wird, führt eben zu mehreren Schluß­folgerungen. Darüber wird im einzelnen noch zu berichten sein.

Aber bei allem nachweisbaren guten Willen: Das Haupt­problem war, daß die planenden Verwaltungsbeamten jeglicher Rangord­nung im Banne des ­allmächtigen Parteiapparats standen. Wo auf der einen Seite bewußt oder ­unbewußt Vorsorge für den 1. Akt des Untergangs getroffen wurde, war man andererseits in der Nähe Bormanns und der Reichskanzlei eher darauf ­bedacht, den einfa­chen Bürger möglichst lange in der falschen Gewißheit zu halten, daß der Zustand der Front zu keiner Besorgnis Anlaß gebe. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn Berlin wenig Sinn für die Not­wendigkeit aufbrachte, zur rechten Zeit die entscheidenden Be­fehle den Provinzverwaltungen zuzuleiten.

Wohl niemand, der die geschichtliche Wirklichkeit aus den nach­gelassenen Schriften kennt, wird ehrlich sagen können, den Mit­gliedern der Parteihierarchie mangelte es an Erkenntnismöglich­keiten, um das Schlimmste vorauszu­sehen. Daß nun Hitler – sehr zum Ärger seiner hohen Militärs – oftmals wider bessere Erkennt­nis handelte und lange zögerte, die Konsequenzen aus der ­einmal vorgenommenen richtigen Einschätzung einer Situation zu ziehen (»sich an seine eigenen Grundsätze zu halten«, wie es in einer Studie über ihn heißt), gehörte zu seiner typischen Wesensart.

Liddell Hart sieht Hitlers Charakter so verwickelt, »daß keine ein­fache ­Erklärung die Wahrscheinlichkeit hat, wahr zu sein«. Carell verweist auf Hitlers »Krisenempfindlichkeit«, seine »Panik und seine Neigung zu übereilten ­Entschlüssen. Überraschende und unangenehme Ereignisse warfen ihn aus dem Gleichgewicht. Er verlor dann die Nerven und beurteilte die Lage ganz unrea­listisch«. Und an anderer Stelle heißt es, daß Hitler seit Stalingrad »mit einem geradezu pathologischen Starrsinn« führte. General Warli­mont sagt konkret über Hitlers Verhaltensweise in der entscheiden­den letzten Phase des Krieges aus: »Redend und ­redend, das Ver­nünftige verwerfend und das Unmögliche ­fordernd, hielt er unent­wegt an seinen statischen Grundsätzen fest und war zu freiwilligem Aufgeben und selbst zu den nächstliegenden vorausschauenden Plänen kaum irgendwo zu bewegen.«

Im Hinblick auf die Lage an der Ostfront mußte sich diese ­Neigung zur ­Inkonsequenz, diese Entschlußlosigkeit in entschei­denden Augenblicken, geradewegs katastrophal auswirken. Zeit­weise war sogar der Eindruck vorherrschend, daß für Hitler im Westen unvergleichlich mehr auf dem Spiele stand. Welches ­Ge­wicht man im Führerhauptquartier der Entwicklung dort ­zusprach, läßt sich aus folgendem ersehen.

Der eben schon erwähnte General Walter Warlimont, ehemals stellver­tretender Chef des Wehrmachtführungsstabes, zitiert ­einen Ausspruch Hitlers vom 20. Dezember 1943: »Wenn sie im Westen angreifen, dann entscheidet ­dieser Angriff den Krieg.« Wiederholt hatte danach der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht in Anwe­senheit Warlimonts geäußert: »Wenn wir die Invasion nicht zum Halten bringen und den Feind nicht ins Meer ­zurückwerfen, ist der Krieg verloren.« Hitler hatte richtig erkannt. Kurz vor Beginn der Invasion ­präzisierte er noch seine Gedanken: »Wenn es uns ge­lingt, die Invasion zurückzuwerfen, wird man einen solchen Ver­such in kurzer Zeit nicht wiederholen, auch nicht können. Das bedeutet, daß unsere Reserven dann frei werden für die Verwen­dung in Italien oder im Osten. Dann können wir die Front im Osten stabilisieren und vielleicht in diesem Sektor zur Offensive zurückkehren. Wenn wir die Invasion nicht zurückwerfen, können wir einen Stellungskrieg nicht gewinnen, denn auf lange Sicht wird das Material, das unsere Feinde aufbringen können, das übertref­fen, was wir zur Front senden können. Wir können einen Stel­lungskrieg im Westen aus dem weiteren Grund nicht gewinnen, weil jeder Schritt rückwärts die Frontlinie mitten durch Frank­reich ausdehnt. Ohne strategische Reserven von irgendeiner Be­deutung wird es unmöglich sein, eine solche Linie in genügender Stärke zu errichten. Daher muß der Angreifer bei seinem ­ersten Versuch zurückgeschlagen werden.«

Am 6. Juni 1944 waren die Alliierten im Raum zwischen der Seine-Mündung und Cherbourg an Land gegangen. Die Invasion im Westen war nicht ­abgeschlagen worden. Logischerweise hätte Hit­ler jetzt schlicht eingestehen müssen: »Der Krieg ist verloren.« Daß er sich zu diesem Eingeständnis nicht durchringen konnte, war wiederum typisch für ihn. Der merklich dem körperlichen Verfall zusteuernde Reichskanzler machte sich nun seit neuestem wohl nicht ganz unbegründete, so doch übertriebene Hoffnungen auf Zerwürfnisse im alliierten Lager und nicht minder auf die Wirkung seiner erst entwickelten oder noch zu entwickelnden »Wunder­waffen«. Kaum eine Spur von Wirklichkeitssinn, bald nicht einmal mehr der Anschein jener durchaus nüchternen und, sofern die Feststellung allein auf seine Welt bezogen bleibt, ­vernünftigen Be­trachtungsweise war noch aus dem, was er sagte, herauszulesen. Hitler ­erklärte: »Wer mir vom Frieden ohne Sieg spricht, der ver­liert seinen Kopf, ganz gleichgültig, wer er ist oder wo er steht.«

Was hätte der Soldat draußen an der Front dazu zu sagen ­ge­habt? Ein ehemaliger Landser beantwortet diese Frage so: »Uns blieb in der Regel ohnehin keine andere Wahl, als innerhalb der Kompanie oder des Zuges, also im Rahmen einer Schicksals­ge­meinschaft, wo jeder auf jeden angewiesen war, seinen Mann zu stehen.« Der Antrieb dazu wurde zuweilen noch kräftig angeheizt, nachdem die gegnerische Seite den Spieß energisch umgedreht hatte und nun, tausendfach vergeltend, immer maßloser das ver­werflichste Mittel der Kriegführung geradezu in die Rangordnung des Selbstverständlichen hob: den offenen und vor nichts halt­machenden Terror gegen die Zivilbevölkerung. Wenn der ­deutsche Landser – und vornehmlich der Ostfrontsoldat – das nun als Beweis dafür auffaßte, daß die ehrenhafte Erfüllung ­seines Auf­trags bis zur letzten Stunde nicht sinnlos war, so ist dies aus heu­tiger Sicht ein Standpunkt, der ­gemessen an der ­damaligen Kon­fliktsituation wohl auch begreiflich erscheint. »Wir konnten immer nur auf den Feind blicken, der oft unvorstellbar grausam unter den Zivilisten hauste und Rache übte«, ­erklärt ein ehemaliger Front­offizier. »Frieden mit Sieg oder ­Frieden ohne Sieg, was bedeutete das noch in ­unserer Situation? Nur das dauernde Erlebnis der Front, dieses durchaus neue ­Gefühl, nur noch Beschützer zu sein, formte unser Denken. ­Wollten wir überhaupt noch für Hitler in den Tod gehen? Nein. Wer war überhaupt noch Hitler? Wir dach­ten an die Frauen und Kinder, immer nur an sie, was mit ihnen allen ­geschehen würde, wenn der Gegner immer weiter vordringt. Das war es, was uns noch hielt. Das erklärt vielleicht, warum wir den Eid nicht ­brechen konnten und auch nicht brechen wollten.« Für die Reste der 20. Panzer-Division im Sammelraum Czyzew kam in den letzten Julitagen der Befehl zum Abtransport nach Rumänien. Malkinia war Verladestation. Dann folgte eine lange Bahnfahrt. ­Zuerst durch Polen. Danach auch durch Oberschle­sien. »Keiner der Divisionsangehörigen konnte damals ahnen, daß das oberschlesische Industrierevier und der Raum westlich der Oder in sechs Monaten schon Einsatzgebiet für uns sein würde«, heißt es in einem Bericht. »Und es sollte wieder besonders bitter ­werden!«

Indessen lastete über allem noch der Schatten der Ereignisse zwischen Düna und Beresina.

Im thüringischen Rudolstadt wurde nach Beendigung der sow­jetischen Sommeroffensive von der Wehrmacht eine sogenannte Abwicklungsstelle ­eingerichtet. Es galt, 12000 Namen zu ermit­teln. Namen von 12000 Soldaten, die in der Hölle bei Witebsk untergegangen waren – gefallen oder zum gerin­geren Teil in Ge­fangenschaft geraten. Oder wie Vieh erschlagen oder erstochen oder ertränkt. Wer kennt all die Tode, denen der ­Ostfrontkämpfer ausgeliefert war! 12000 Soldaten. Die ganze ostpreußische 206. Infanterie-Division wurde für tot erklärt. Amtliches Todesdatum: 18. Juli 1944. Mit den kostbaren ­Menschen gingen auch die Akten und Unterlagen der Division ver­loren. So wurde in Rudolstadt mühsam erforscht und ermittelt, um die Angehörigen der 12000 benachrichtigen zu können.

Rudolstadt war aber nur eine der »Abwicklungsstellen«. Die Bilanz der ­entscheidenden deutschen Niederlage im Ostsommer 1944 sah erschreckend aus: Feldmarschall Models Heeresgruppe Mitte vernichtet. Von den 350000 bis 400000 deutschen Solda­ten, die als gefallen, verwundet und vermißt galten, fanden nach russischen Angaben 200000 den Tod, 85000 gerieten in Gefangenschaft. 28 der 38 eingesetzt gewesenen deutschen Divisionen wurden ­zerschlagen.

Der sowjetische Offensivstoß war nach den vorliegenden Anga­ben mit ­einer fast unvorstellbaren Übermacht vorangetrieben wor­den – mit 185 Divisionen, 6100 Panzern (die Deutschen konnten dem nur eine einzige Panzer­division entgegenstellen), 7000 Flug­zeugen (gegen 40 deutsche), insgesamt 2,5 Millionen angreifende Sowjetsoldaten.

Wie es heißt, hätte die Katastrophe in diesem verheerenden Aus­maß verhindert werden können, wenn dem deutschen Oberkom­mando nicht eine komplette Fehlbeurteilung der tak­tischen Ab­sichten des Gegners unterlaufen wäre: Der sowjetische Angriffs­schwerpunkt wurde an der Südfront erwartet, wo auch die Masse der Panzerkräfte zur Verfügung stand.

Jedoch als nicht minder ausschlaggebend erwies sich letzten Endes die ­eigene Ohnmacht gegenüber einem Feind, der die mate­rielle Unterstützung starker westlicher Verbündeter genoß und im übrigen seine Kräfte und Mittel nicht auf mehreren Kriegsschau­plätzen zu verzetteln brauchte. Die deutsche Luftwaffe wurde sogar nahezu restlos von der Ostfront abgezogen. Models Divisio­nen, besonders seine Artillerie, seine wenigen Panzer und Sturmgeschütze waren des notwendigen Schirms ­beraubt. Das konnte nicht gut­gehen.

So kam, was zwangsläufig kommen mußte: Die sowjetischen Armeen standen Ende Juli 1944 südlich Suwalki kaum 50 Kilome­ter vor der Grenze ­Ostpreußens. Und sie standen an der Weichsel.

Allein dort war der Gegner mit 4 Heeresgruppen aufmarschiert. Hauptsächlich bei Baranow – von wo aus die spätere Angriffsrich­tung in 150 Kilo­meter Entfernung direkt auf Oberschlesien zielte –, dann in kleinerem Umfang bei Pulawy und Magnuszew gelang ihm der Ausbau starker Brückenköpfe: ­Ausgangsbasen für seinen letzten großen Sprung. Damit hatte die Schlacht um Deutschland schon begonnen. »Nach Berlin!« lau­tete von nun an die Parole der Rotarmisten. Und wenn sie bei ­ihrem Vormarsch deutsche Sied­lungen und Dörfer berührten, hörte man den Racheruf: »Tötet! Tötet!« Schreckensbilder apo­kalyptischer Ausmaße, die sich dem Landserauge zunächst in den zurückeroberten ostpreußischen Ort­schaften boten, forderten auf geradezu makabre Weise den Kampf­geist der rettungslos in die Defensive gedrängten Fronttruppe heraus. Stalin, vom Siegeszug seiner Armeen berauscht, die Ziele des Vater­ländischen Krieges nun bewußt in die nie verhehlten Ziele des Bolschewismus einordnend, ließ die Losung verkünden: »Der Zweite Weltkrieg muß uns helfen, in ganz Europa Fuß zu fassen.« Deutschland sollte »schlankweg und endgültig vernichtet werden«, schrieb Ernest ­Bevin, damals Mitglied im Kriegskabinett Churchill, in bezug auf die Wunschvorstellungen der Kreml-Füh­rung. Ebenso glaubten maßgebliche Kreise auf seiten der West­mächte, in ihren Gedanken und Zielsetzungen von der Formel »I’ll crush Germany« als dem Grundzug ­aller Weisheit ausgehen zu müssen, wonach schon von selbst, so meinten sie, eine dauerhafte und befrie­digende politische Lösung für Europa und die Welt in Aussicht stehen würde. Sichtbares Zeichen dieses allüberall verbrei­teten ­Ungeistes waren bereits die von Fliegerbomben ausradierten Wohnbezirke deutscher Großstädte mit der rapide ansteigenden Zahl getöteter Zivilisten. An den vereinzelt und noch unter der hohlen Hand im westlichen Lager geäußerten Befürchtungen, daß Bombenteppiche nun auch einer anderen erbarmungslosen Dik­tatur den Weg in das Herz Europas ebnen würden, konnte sich im Juli 1944 noch keine Hoffnung auf eine weitsichtige Neuorientie­rung im West-Ost-Verhältnis so recht entzünden. Die Beseitigung des Hitlerstaates blieb selbstverständliches Ziel der sonderbaren Allianz zwischen Kapitalisten und dem »Revolu­tionshäuptling«, wie Stalin gelegentlich von Churchill genannt wurde. Die Roten Heere sollten weitermarschieren, ausgestattet ganz besonders mit der Hilfe und dem Segen des demokratischen US-Präsidenten Roo­sevelt, der gegenüber Stalin eine Arglosigkeit an den Tag legte, wie sie sich ein Mann in seiner Position, dessen entscheidende Einfluß­nahme auf die Schicksale ganzer Völker und Kontinente unbestrit­ten feststand, eigentlich nicht hätte leisten dürfen.

»Es geht überall nur noch um das nackte Leben«, hieß es in ­einem Brief von der Front. Denn die großen Parolen des Krieges waren verstummt. Und der ­geschundene Landser bekannte: »Doch hat auch der Krieg um so zurück­gesteckte Ziele seine Größe und seine erhabenen Freuden, mehr als irgendein ­anderer, weil er uns überall bewußt an den Rand der Dinge führt, die Schein­werte dahinsinken und das wirklich am Herzen Liegende, Ihr und die Heimat, ­allein mächtig bleibt. Das sind mehr als ­Gemeinplätze. Stündlich erleben wir die befeuernde Liebe zu Euch und zum Vaterland als die treibenden Wirklichkeiten.«

Man kann geteilter Meinung darüber sein, in welchem Maße eine solche Geisteshaltung damals unter der Fronttruppe verbreitet war. Trotzdem: Wenn der deutsche Soldat zuvor, im »Hochgefühl« seines Leistungsvermögens (das alle Welt gleichwohl ­bewunderte wie mit Unbehagen erfüllte), es mitunter auch als moralisch bela­stend empfunden hatte, Werkzeug überspannter Großmachtpolitik zu sein, so konnte er sich doch jetzt befreit fühlen von dieser geheimen Bürde. Er mußte also neuerdings doch eine ziemlich sichere und – abgesehen von der überall und ewig bestehenden Problematik des unbedingten Gebundenseins an den Eid – zwei­felsfreie Vorstellung davon bekommen, wofür er sein Leben ein­setzte. »Dem« Soldaten, dem denkenden Einzelwesen natürlich, mußte inzwischen klar geworden sein, was er von der ganzen Clique der ­politisch Mächtigen unter den Zeit­genossen zu halten hat, »die mit ihrem Atem die Welt verpesten und den Menschen zum Narren und unter das Vieh erniedrigen möchten«, wie es im schriftlichen Nachlaß eines gefallenen Leutnants heißt. Und auch der junge Offizier sah die Dinge ähnlich wie der oben zitierte und später ebenfalls gefallene Landser. Freimütig bekannte er: »Für diese Scheinwelt lohnt es sich nicht zu kämpfen und zu sterben! Für Deutschland? Selbstverständlich für das verborgene ewige Deutschland!«

Soweit man es an Hand der überlieferten Dokumente und Auf­zeichnungen beurteilen kann, hielten an diesem Begriff wohl alle Soldaten unerschütterlich fest. Der rebellierende Oberst Graf Stauffenberg, der mit dem Ruf »Es lebe unser heiliges ­Deutsch­land!« unter den Kugeln des Hinrichtungskommandos zusammen­brach, oder die dem mörderischen Feindfeuer ausgesetzten namen­losen Kämpfer um General Völcker, Bayern und Württemberger genauso wie Schlesier und Danziger, die am 5. Juli 1944 nachts zum Sturm gegen den russischen Einschließungsring im »blutigen Dreieck« Minsk – Tscherwen – Borissow antraten und dabei das Deutschlandlied anstimmten. Oder die Franken und Sudetendeut­schen der 17. Infanterie-Division des jungen Generals Sachsen­heimer, die sich im Januar 1945 durch die sowjetischen Panzerrie­gel nach Schlesien zurückkämpften und den Schlachtenlärm mehr­mals mit dem ­Gesang der Nationalhymne zu übertönen versuchten.

Und dann auch noch mehr als zehn Jahre später die Rußland­-Heimkehrer – von Bundeskanzler Adenauer in Moskau ausgehan­delt –, die mit dem ersten größeren Transport am 9. Oktober 1955 im Lager Friedland eintrafen, in ein verändertes Deutschland zurückkehrten, diese Männer, die über lange schwere Jahre hin­durch ihr Bild vom Vaterland in ihren Herzen ­bewahrt hatten, die mit Tränen in den Augen die Nationalhymne sangen, die noch nicht wußten, daß die 1. Strophe längst nicht mehr zum Volksgut gehörte.

 

 

Ostwall

 

Bis kurz vor Eintritt der Katastrophe an der Mittelfront des östlichen Kriegsschauplatzes war es dem deutschen Generalstab untersagt worden, Pläne für den Fall eines erzwungenen Rückzugs zu erörtern oder gar vorzubereiten, geschweige denn den Ausbau rückwärtiger Stellungen anzuordnen. Wie es heißt, wollte Hitler nichts wissen von den Vorteilen einer elastischen Vertei­digung im Gegensatz zu dem oft übermäßig Kräfte zehrenden und unnützen »Widerstand um jeden Preis«. Im Hinblick auf die immer bedroh­licher ­werdende Lage an den Ostgrenzen des Reiches sah sich aber der Wehrmachtführungsstab im Juli 1944 nun unausweichlich vor die Aufgabe gestellt, die ­»befehlsmäßige Grundlage« zum Bau von Verteidigungsstellungen zu schaffen. Darüber hinaus mußten mit den Spitzen von Staat und Partei die Fragen der Gewaltenteilung für den Fall eines Übergreifens der Operationen auf das Reichsge­biet neu geregelt werden. Zu »Bauherren« für die Stellungsbauten wurden die jeweiligen NS-Gauleiter ausersehen, »da ihnen im Sinne der Parteidoktrin die Menschenführung zufiel«. Als Bauleute kamen vorwiegend nur die älteren oder wehruntauglichen Männer und die staatlich organisierte männ­liche Jugend (HJ) der deut­schen Ostprovinzen in Betracht. Frauen und ­Mädchen sollten die Gulaschkanonen anheizen und die sonstige Verpflegungsarbeit für das Heer der Schipper übernehmen.

Auffallend an jenen Befehlen vom 19. Juli 1944, die die »Vor­bereitungen für die Verteidigung des Reiches« betrafen, war das Hervorheben der Parteibefugnisse. Dabei ergab sich der paradoxe Zustand, daß es oftmals den örtlichen Wehrmachtsdienststellen bestenfalls auch erlaubt blieb, die mit militärischen Aufgaben betrauten Parteifunktionäre als Sachverständige zu unterstützen.

Ein Stabsoffizier meinte dazu ironisch: »Denn noch hatte niemand in der Parteikanzlei ein Rezept dafür erfunden, wie sich der Kampf um Deutschland zur Not auch ganz ohne Mitwirkung der Wehr­macht führen ließe.«

Unter den Frontbefehlshabern und Generalstäblern gab es nicht wenige, die hinsichtlich des wesentlichen Teils der Anordnungen von purem Unfug ­sprachen. Proteste gingen im Führerhauptquar­tier ein. Ohne Erfolg. Der hinter allem und jedem zunehmend Verrat und Defätismus witternde Diktator, den das ständig wach­sende Mißtrauen gegenüber der Generalität zum Ausspruch veran­laßte: »Der Generalstab ist die letzte Loge, die ich leider vergessen habe ­aufzulösen«, war von vernünftig argumentierenden Leuten – sofern sie überhaupt in seine Nähe gelassen wurden – kaum noch zu beeinflussen. Allein schon die Tatsache, daß die Gauleiter zu »Reichsverteidigungskommissaren« ­ernannt wurden, ließ bereits Schlüsse auf die ihnen zugedachte große Rolle zu, die sie später im Endkampf neben den Kommandeuren und Befehlshabern der Wehrmacht spielen sollten, dann allerdings wegen Unfähigkeit niemals spielen konnten.

Zwischen Weichsel und Oder entstanden mehrere Verteidigungs­linien, ­ausgestattet mit Kampfständen, Schützengräben, Artillerie­stellungen, durchlaufenden Panzergräben sowie Drahtsperren. Das am weitesten ostwärts gelegene Grabensystem im Vorfeld des oberschlesischen Industriegebiets bildeten die Hubertus- und A-1-Linie unmittelbar hinter der Front am starken sowje­tischen Brückenkopf bei Sandomierz-Baranow. Es folgte dahinter die größere, gegen Norden am Pulawy- und Magnuszew-Brückenkopf vorbeiführende und bis westlich Warschau verlaufende A-2-Stel­lung. Schließlich waren noch als letzte Verteidigungsgürtel die sogenannten B-Stellungen vorgesehen, B-1 und B-2, wobei der B-2-Stellung entscheidendes Gewicht im Falle einer direkten Be­drohung des Industriereviers zukam.

Das alles waren Verteidigungsbauten, die ihren Zweck voll er­füllt hätten, wenn dann auch die Kampfstände und Gräben insge­samt mit Truppen belegt und die Artilleriestellungen mit Rohren bestückt worden wären. Das geschah nicht. Gerade im entscheiden­den Augenblick, »fünf Minuten vor zwölf«, fehlten einige hun­derttausend der dafür so dringend benötigten gut ausgerüsteten und ausgebildeten Kämpfer. Dabei ist noch nicht einmal sicher, ob Hitler diese zusätzlichen Soldaten, wären sie vorhanden gewesen, auch tatsächlich im Osten eingesetzt hätte. »Dort kann ich noch Raum verlieren, im Westen nicht«, soll er gegenüber dem verzwei­felten Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Guderian, geäu­ßert haben. Dieser hatte ihn mit beschwörenden Worten auf die von Osten heraufziehende Gefahr hingewiesen. Er hatte ihm immer wieder und rechtzeitig klarzumachen versucht, daß »dra­stische Maßnahmen« unbedingt erforderlich seien. Dazu zählte nach Guderians Meinung ein strategischer Rückzug aus dem Balti­kum sowie aus dem Balkan, das heißt, eine ­allgemeine Frontver­kürzung, die dem Ziel dienen sollte, freiwerdende Divi­sionen der Front in den Mittelabschnitten zuzuführen. Der Generalstabschef rechnete seinem obersten Kriegsherrn vor, daß die Russen doppelt so viele ­Divisionen wie die Westalliierten hätten, »und trotzdem stünden die meisten deutschen Divisionen Eisenhower gegenüber«. Aber Hitler ließ sich nicht belehren; es blieb dabei: Immer noch Verlagerung des militärischen Schwergewichts nach dem Westen.

Anfang August wurden die ersten größeren Transporte mit Ostwall-»Schippern« zusammengestellt. Von der Gleiwitzer und Ratiborer Hitlerjugend ist ­bekannt, daß sie den Monat über zu Schanzarbeiten in der unruhigen Gegend von Brzezinka, 15 Kilo­meter westlich von Krakau, eingesetzt wurde.

Etwa gleichzeitig mit dem abfahrenden Transport der Schanz­kolonnen setzte sich von Galizien aus eine zweite spätere O/S­-Front-Division Richtung Krakau in Bewegung: die westfälische 16. Panzer-Division. Als neuer Kommandeur hatte eben erst Oberst Dietrich von Müller die Führung der Division übernommen. Krakau wurde im Landmarsch erreicht. Von dort aus ging es dann weiter zur Front am gefährlichen sowjetischen Baranow-Brückenkopf.

 

 

Stürmischer Monat August

 

Der Monat August wird in der Geschichte des Bombenkrieges als »besonders stürmisch« bezeichnet. Am 7. August 1944 gab es nach einem Großangriff der Amerikaner im Raum Blechhammer–Odertal–Heydebreck erneut zahlreiche Tote und Verwundete unter der Zivilbevölkerung, aber auch unter den Luftwaffenhelfern. Wieder berichtet Alfred Divisch, Schwere Flak-Batterie 246/VIII: »Von benachbarten Batterien kamen auch diesmal mehrere LWH’s ums Leben. Zum Beispiel bei der leichten 2-cm-Flak, die durch den Luftdruck der großen Bomben einfach von den Türmen heruntergefegt wurde. Die verwun­deten und toten Flakhelfer waren zumeist aus Kreuzburg, Neisse, Oberglogau und Ziegenhals. Aber auch die Hiwis, die russischen ›Hilfswilligen‹, die bei uns als Munitionsreicher oder -putzer tätig waren, hatten Tote zu beklagen.«

Indessen wurde an der Weichsel mit den vorhandenen schwa­chen Kräften der Aufbau einer wenigstens halbwegs stabilen Ab­wehrfront versucht. Erstes und bis zuletzt fortbestehendes Pro­blem waren die überdehnten Frontbereiche. Das galt insbesondere für den Teil nördlich des Baranow-»Balkons«, wo eine Frontzu­rücknahme den stark gelichteten Reihen der Verteidiger merkliche ­Erleichterung verschafft hätte. Ebenso wäre rein strategisch gese­hen eine ­Begradigung der Abwehrlinie nur von Vorteil gewesen, denn der Winter würde mit Sicherheit kommen, und die zugefro­rene Weichsel bildete dann ohnehin kein nennenswertes Hindernis für die Sowjets. Deutlich vertrat Generaloberst Harpe, der Ober­befehlshaber der Heeresgruppe A zum Zeitpunkt des sowje­tischen Baranow-Angriffs, seine Forderung nach Aufgabe des Weichsel­ufers, dessen Verteidigung er schon wegen der starken russischen Brückenköpfe für undenkbar hielt.

Es hätte allerdings eines wunderbaren Sinneswandels bei Hitler bedurft, um ihn für die Vorstellungen der Front-Befehlshaber em­pfänglich zu stimmen. Von einer derartigen Erleuchtung war aber in der unseligen Bunkeratmo­sphäre des Führerhauptquartiers nichts zu spüren. Vielmehr wurde um so ­entschiedener darauf ge­drängt, den gegnerischen Brückenkopf durch eigene Aktionen ein­zudrücken. Das erwies sich bei dem ungleichen Kräftegewicht, das in der Folgezeit auch immer mehr zu Ungunsten der Deutschen ausschlug, bald als völlig unmöglich. Trotzdem versuchten die tap­feren Heeresverbände alles; sie gingen unentwegt zu Angriffen über.

In diesem Zusammenhang ist in den vorliegenden Berichten die Rede von zwei weiteren guten Panzerdivisionen, die später den Ablauf der Kämpfe im oberschlesischen Raum in zum Teil erheb­lichem Maße mitbestimmen sollten: die brandenburgische 8. und die schwäbisch-bayerische 17. Panzer-Division. Von der letztge­nannten Division namentlich das traditionsreiche Augsburger Panzer-Grenadier-Regiment 40.

Und auch eine Infanteriedivision rückt nun in das Blickfeld: General ­Niehoffs rheinisch-westfälische 371. I.D., die im Februar/­März 1945 einen ­besonders schweren Stand bei den Kämpfen an der Oderfront haben sollte. In der Ergänzung zum Wehrmacht­bericht vom 11. August 1944 hieß es über diese Division, daß sie sich »hervorragend bewährt« hat. Generalleutnant Niehoffs Grenadiere standen in jenen Tagen noch an der galizischen Front im Raum Przemysl.

Der Monat August 1944 verlief auch in anderer Hinsicht recht stürmisch und dramatisch. Am 17. August traf der seitherige Oberbe­fehlshaber der ­zerschlagenen Ostfront-Heeresgruppe Mitte und der Heeresgruppe Nord­ukra­ine, Generalfeldmarschall Walter Model, überraschend an der Westfront im Hauptquartier des Generalfeld­marschalls von Kluge ein, um ihn vom Posten des Oberbefehls­habers West abzulösen. Feldmarschall von Kluge wurde zum Vor­wurf gemacht, zusammen mit mehreren anderen hohen Offizieren seiner Umgebung aktiv an den Vorgängen vom 20. Juli beteiligt gewesen zu sein. ­Richtig ist, daß v. Kluge zwar von der Verschwörung gegen Hitler wußte, aber eine aktive Beteiligung daran abge­lehnt hatte. Zwei Tage nach seiner Ablösung war der Feldmar­schall tot: Selbstmord durch Gift. Zuvor hatte der bekannte Heer­führer noch einen Abschiedsbrief an Hitler geschrieben, in dem er seine stete Treue ihm gegenüber nochmals bekundete, in dem auch die Rede ist vom Bewußtsein, seine Pflicht als Soldat »bis zum äußersten« getan zu haben, und der in der Forderung gipfelte, den Krieg zu beenden. Eine ähnliche, telephonisch dem Führerhaupt­quartier vorgetragene Auffassung war bereits dem ­Vorgänger v. Kluges, Feldmarschall von Rundstedt, beinahe zum Verhängnis geworden. Hitler begnügte sich aber damit, den alten treuen Hau­degen für zwei Monate seines Postens zu entheben. Schon bald sollte v. Rundstedt wieder OB West sein.

An den sowjetischen Weichsel-Brückenköpfen waren die Ver­bände pausenlos in erhebliche Kämpfe verwickelt. Der Wehrmacht­bericht meldete für den 22. August: »Nordwestlich Baranow zerschlu­gen unsere Truppen, durch Artillerie und Werfer hervorragend unterstützt, stärkere sowjetische Kräftegruppen.« ­Ernüchternder klingt die Eintragung in einem Gefechtsbericht vom selben Tage: »Wir versuchten mit allen verfügbaren Kräften, den Feind bei Bara­now über die Weichsel zurückzudrängen. Der in den frühen Mor­genstunden zügig ­anlaufende Angriff, an dem sich vier Panzerdivi­sionen beteiligten, kam zunächst gut voran, blieb dann aber kurz vor Erreichen des Endziels im feuchten, sumpfigen und reichlich mit Buschwerk (und russischer Infanterie) durchsetzten ­Gelände stecken. Die Stoßkräfte waren erschöpft.«

Im Heimatgebiet versahen am gleichen 22. August die aus Rati­bor stammenden drei blutjungen Flakhelfer Joseph Czapla, Heinz Gerd Hallermann und Udo Karls ihren Dienst bei der Odertaler Flak-Batterie 213. Was die Ameri­kaner an diesem Tag an viermot­origen Bombern aufboten, hatte man bis dahin noch nie erlebt. Es wurde der bisher schwerste Angriff auf die Oberschle­sischen Hydrier­werke und die umliegenden Ortschaften. Er dauerte eine ­Stunde. Czapla, Hallermann und Karls überlebten ihn nicht. Nach einem ­Bericht von Georg Rosmus waren es innerhalb von dreißig Minuten 220 Bomben, die allein auf die Batterie 213 niedergingen!

»Czapla, Hallermann und Karls arbeiteten auf der Batteriebefehls­stelle; diese wurde von drei Volltreffern vernichtet. Es fielen 9 Mann, der jüngste im ­Alter von 15 Jahren. Fast alle anderen, etwa 30, wurden schwer oder leicht verletzt.«

Glück hatte die Flak-Batterie 246/VIII, die kurz zuvor von Hey­debreck-Süd in eine neue Großkampf-Stellung 6 Kilometer süd­westwärts nach Reinschdorf, an das Westufer der Oder, verlegt wurde. Alfred Divisch erinnert sich: »Am Tag nach dem Großan­griff besichtigten wir den Platz, wo vor kurzem noch unsere Kano­nen und unsere Unterkünfte standen. Es wurde ein böses Wieder­sehen. Uns lief es eiskalt über den Rücken: Die ehemalige Stellung hatte einige Volltreffer ­erhalten. Wir blickten über ein Trümmer­feld.« Weiter heißt es in dem Bericht: »Es war einfach grauenhaft. Im Geäst der Bäume hingen zerfetzte Leiber – auch von Frauen. Unweit von unserer alten Stellung war eine Wohnsiedlung völlig ­vernichtet worden, eine Baracke von etwa 100 Meter Länge samt Insassen ebenfalls. – Wir krochen von einem Bombentrichter in den anderen. Vorher verliefen dort Straßen, von Häusern um­säumt …« Keiner achtete der umherirrenden ­Zivilinternierten und Kriegsgefangenen: »Jeder, ob Deutscher, Russe oder ­Franzose, mußte zusehen, wo er blieb«.

Ein Datum, das im Hinblick auf die ­Gesamtlage erwähnenswert erscheint, ist dann der 23. August 1944. Die ­Geschichte verzeich­net hier den politischen Umsturz in Rumänien. Nur zwei Tage später erklärte der einstige Bundesgenosse Deutschland den Krieg. Bald würden sich auch die zum Teil neutral gebliebenen Bulgaren dem Schritt ­Rumäniens anschließen und unter sowjetischem Druck ihre Truppen gegen den Freund von gestern marschieren lassen.

Daraus ergab sich für die deutsche Ostfront folgende Situation: Zwischen den Karpaten und der Donau war eine riesige Lücke entstanden, die so schnell nicht geschlossen werden konnte. Ganz Rumänien und Siebenbürgen wurden von der Roten Armee be­setzt. Die deutschen Verbände in Griechenland mußten damit rechnen, abgeschnitten zu werden.

An den Weichsel-Brückenköpfen kam es auch weiterhin zu auf­reibenden Angriffs- und Abwehrkämpfen. Zur Verstärkung der dortigen Front war die bayerische 97. Jäger-Division herangeführt worden – ein Heeresverband, der im Frühjahr 1945 als tragende Kraft im verbissenen Ringen um oberschle­sischen Boden hohe Gelt­ung erlangen sollte.

Genauso wie vor ihnen schon die Panzerleute und Panzergrena­diere der 20. P.D. hatten auch die bayerischen Jäger auf ihrem Marsch in den neuen ­Einsatzraum oberschlesisches Gebiet durch­quert. Über die Karpaten, ­Budapest, Preßburg und Oderberg war die Division eiligst in die Gegend von Kielce transportiert worden. Südostwärts Kielce erfolgte zunächst der Aufbau einer Sicherungs­linie. Am 26. August traten die Jäger zusammen mit der links eingesetzten 1. Panzer-Division zum Angriff nach Südosten an. Gleichzeitig stießen von Südwesten her die Panzer und gepanzerten Grenadiere der 16. P.D. todesmutig in den russischen Feuerriegel. Das Angriffsunternehmen endete ähnlich wie das vom 22. August: Vorstoß bei empfindlichen Verlusten ohne durchschlagenden Er­folg. Es bestand keine zusammenhängende Front. Die Kräfte reich­ten oft nicht einmal dafür aus, um in einem schwer erkämpften ­Geländeabschnitt für längere Zeit festen Fuß zu fassen. Das Dilem­ma auf der Erde wurde noch durch die starke Aktivität der sowje­tischen Luftwaffe erheblich verstärkt.

Jedoch gelang es im weiteren Kampfverlauf den Spielhahn­jägern, wie man die Männer der 97. Jäger-Division in Anlehnung an ihr Divisionszeichen ­nannte, den zugewiesenen Abschnitt – nach zum Teil erbitterten Waldgefechten und Nahkämpfen mit blanker Waffe – in die Hand zu bekommen. Der dafür entrichtete Blutzoll war hoch: In wenigen Tagen hatte die Division 1000 Verwundete und Tote zu beklagen. Trotz dieses rapiden Absinkens der Kampf­stärke konnte die Frontlinie gehalten und sogar noch nach links verlängert werden. Aber das eigentliche Ziel, den sowjetischen Brückenkopf einzudrücken, schien weiterhin unerreichbar zu sein.

Als Beweis für die Härte der August-Kämpfe am östlichen Kriegs­schauplatz, also nicht nur im Bereich der 97. Jäger-Division, lassen sich vielleicht noch die Verlustzahlen der Gegenseite anfüh­ren. Demnach verloren die Sowjets im ­genannten Zeitraum insge­samt über 4200 Panzer und rund 5000 Geschütze.

Ob an der Weichsel-Front oder in den Flakstellungen beiderseits der Oder – es war überall das gleiche: Pausenlose Einsätze. In einer Tagebuch-Eintragung von Ende August 1944 heißt es: »Die 15­- und 16jährigen Flakhelfer übertreffen sich gegenseitig im Ehrgeiz und Eifer. Täglich kommen die Amerikaner. Unsere Batterie hat 12 Abschüsse zu verzeichnen. Wir werden befördert, werden ­An­wärter auf das Flak-Kampfabzeichen; mancher hat schon das Eiser­ne Kreuz. Ab und zu müssen wir erleben, wie Kameraden von Bombensplittern zerrissen werden, oder wir müssen zusehen, wie sie durch Splitterverletzungen verbluten.«

 

 

Bodenverhältnisse

an der Malapane und anderswo

 

Oberschlesiens Gauleiter und neuernannter Reichsverteidigungskommissar Fritz Bracht sorgte dafür, daß die Spitzhacken und Spaten keinen Rost ansetzten.

Nun wurde auch westlich von Lublinitz, in den ausgedehnten Waldgebieten an der schönen Malapane, mit dem Bau eines Teil­stücks der O/S-Stellung ­begonnen. Wieder hatte – neben anderen – ein großes Kontingent von 14- bis 17jährigen Ratiborer HJ-Jun­gen (sie trugen »aus Tradition« die Nummer des alten Ratiborer Garnisons-Truppenteils, des oberschlesischen Infanterie-Regiments 62, auf den Schulterklappen) ihre Tornister packen müssen. In Groß-Zeidel trafen sie mit einem kleineren Einsatzkommando aus Ostoberschlesien zusammen.

Als nicht gerade angenehme Überraschung empfanden es die wackeren ]ungschipper, daß sie sich neben dem harten Arbeits­dienst nun zusätzlich ­einer vormilitärischen Ausbildung im be­kannt-berüchtigten 08/15-Stil unterziehen mußten. Im Frontein­satz rauh gewordene Unteroffiziere standen dafür zur Verfügung. Zudem lernte der überwiegende Teil der Jugendlichen erstmals die einschneidende Wirkung des Luftkriegs kennen. Doch konnten sie sich in dieser Beziehung weit weniger beklagen als ihre gleichaltri­gen Kameraden von der Flak. Die mußten, nachdem sie ihre Rohre am Tage gegen die Amerikaner heißgeschossen hatten, das gleiche neuerdings ab und zu in der Nacht wiederholen – nun gegen die Engländer.

Über Groß-Zeidel liegt ein Bericht vor, der in knappen Sätzen einige Einzelheiten aus dem schweren Alltag der Einsatzgruppe schildert. Von der Arbeit am Panzergraben wird erzählt: »Waldge­gend. Schlechte Bodenverhältnisse. Hoher Grundwasserspiegel. Durch den vielen Regen immer mehr ansteigend. Die Panzergra­benwände krachten schließlich streckenweise zusammen, als wir schon nach Hause geschrieben hatten: ›Wir kommen bald!‹

Neuer, böser Beginn. Arbeiten im Wasser. Bäume über Bäume fäl­len. ­Unmengen von Tannenreisig zu Bündeln zusammendrahten. Sich dabei die ­Finger kaputtreißen. Die hergerichteten Baumstäm­me in dichtem Abstand an die Grabenwände legen. Die Reisigbün­del zwischen Stämme und Grabenwand stopfen. Und alles befesti­gen. Einen ganzen Wasserpanzergraben lang. Faschinieren nannte man das.«

»Einiges war also ›nicht vorgesehen‹. Schwierigkeiten bei der Heranschaffung von Material (Bindedraht z.B.) mußten überwun­den werden. Gummi­stiefel ­waren nie ausreichend vorhanden. Man ging dann eben barfuß ins kalte Wasser. Das normale Schuhwerk war vom endlosen Hüpfen – einem besonders gern ­angewandten Übungsteil der ›Wehrertüchtigung‹ – oft total in die Brüche ­ge­gangen. Der häufige Kontakt mit staubigem und schmierigem Erd­reich ging merklich an die dunklen Uniformen sowie an die kost­baren Nieren.«

In dem Bericht heißt es weiter: »Manchen von den jungen Bur­schen (oder Büblein) setzte der harte Umtrieb derart zu, daß sie am Abend wie ausgepumpt auf ihr Strohlager sackten und nicht mehr ansprechbar waren. Weder das nächt­liche starke Motorenge­brumm englischer Bomber noch das Ballern der Eisenbahnflak und der Explosionskrach konnten sie ganz aus ihren fernen Träumen reißen. ­Einzelne drehten auf Grund der physischen Überbelastung einfach durch, hauten ab, wurden gefaßt und bekamen zur Strafe Glatze und Bunker. Den ­meisten ­anderen wuchs bald ein dickes Fell, und sie verstanden es sogar, noch ­genug bescheidene Freude aus rauhem Wind zu zaubern. Der kameradschaftliche Zusammen­halt ließ vieles in dieser schweren Zeit leichter überwinden. ­Wahr­scheinlich sind wir auch nur deshalb so relativ gut ›über die Run­den‹ ­gekommen.«

Bei der obersten Heeresleitung war man zu Beginn des Monats September nach Vergleich der Meldungen von den verschiedenen Armee-Befehlsbereichen zu der Auffassung gelangt, daß es nun­mehr gelungen sei, die sowjetische ­Sommeroffensive in einer zu­sammenhängenden Front zwischen den Ostkarpaten und dem Fin­nischen Meerbusen aufzufangen. Von einem Abflauen der schweren Kämpfe konnte indes noch keine Rede sein. Zwischen dem 1. und 5. September führten deutsche Angriffe westlich und nordwestlich von Baranow zu gewissen Frontverkürzungen, die aber von keiner ent­scheidenden ­Bedeutung waren. Die angreifenden Verbände stießen überall auf zähen Widerstand.

In mancher Hinsicht war es ein anderer Gegner, dem der deut­sche Landser im Sommer und Herbst 1944 auf dem Schlachtfeld begegnete. Es konnte nicht mehr die Rote Armee der Jahre 1941/42 sein. Nicht nur, daß viele sowjetische Divisionen sich komplett auf amerikanischen Lastwagen fortbewegten, daß die Rotarmisten Uniformen aus amerikanischem Tuch trugen, in ver­schwen­derischer Zahl Granaten gleicher Herkunft verfeuerten oder aus westlichen Verpflegungsdepots versorgt wurden – ebenso hat­ten sich in der Zwischenzeit in bezug auf die Kampfführung ent­schieden modernere Ansichten bei den ­sowjetischen Truppenbe­fehlshabern durchgesetzt. Unbestritten ist, daß sie ­dabei vom deut­schen Gegner einiges gelernt hatten. Das betraf sowohl den weit­tragenden Einsatz schneller Truppen wie auch den Masseneinsatz ­geschlossener Panzerverbände. »Klotzen« nannten das die berühmten ­deutschen Panzerführer. Der gelungene Sprung bis vor die Tore Moskaus und in den Kaukasus bestätigte die Richtigkeit ihrer Taktik. Indessen hatte sich aber die Szene gründlich gewandelt. Bei den überstrapazierten deutschen Panzer­divisionen wurden im Laufe der Zeit die Fehlbestände an Kampfwagen so groß, und das Maß der dauernden Zuführung von Ersatz erfüllte insgesamt so ­unvollkommen die Wünsche der Truppe, daß man bei diesem Zu­stand und den dazu noch lauter werdenden Hilferufen von allen möglichen Front­abschnitten den durchschlagenden Erfolg vielfach nur noch auf gut Glück ­erhoffen konnte. Was nützten noch der Mut zum äußersten Wagnis und das Vertrauen auf die überlegene Kampfmoral der Panzerbesatzungen? Gegen ­einen Feind, der die leistungsfähigste Wirtschaftsmacht der Erde auf seiner Seite hatte und dazu über beachtliche eigene Kraftreserven verfügte, in einem solchen Krieg, dessen entscheidende Schlachten vom Material und nicht mehr von Soldaten gewonnen wurden, mußte letzten Endes selbst der tapferste und klügste Kämpfer ­unterliegen.

Und daß nicht mehr lange durchgehalten werden konnte, daraus machte nun auch Rüstungsminister Speer kein Hehl. In den ersten Septembertagen schrieb er einen Brief an Hitler und ließ ihn darin wissen, der Krieg müsse ­allein schon wegen der Verluste und Zer­störungen von unersetzlichen Werken der Pulver- und Sprengstoff­industrie »binnen kurzem« beendet werden.

Am 4. September 1944 war für einen der treuesten unter den kleinen ­Verbündeten Deutschlands jener Endpunkt erreicht: Finnland stellte den Kampf gegen die Sowjetunion ein.

Im Süden der Ostfront stand die befohlene Räumung Griechen­lands und des Balkans (Heeresgruppe v. Weichs) im Zusammen­hang mit der verschärften Situation nach der bulgarischen Kriegs­erklärung vom 8. September.

Währenddessen befanden sich die Banater Schwaben auf der Massenflucht. Die umfassendste Tragödie des Ostens warf bereits ihre dunklen Schatten ­voraus. Grauenhafte Szenen spielten sich an den Donauübergangsstellen ab, die den Andrang nicht bewältigen konnten. Man schrieb den 14. September 1944. Amerikanische und englische Flieger griffen den Fährbetrieb an, belegten den Fluß mit Minen. Tausende von erschlagenen Greisen, Frauen und ­Kindern. Nur mit Entsetzen denken die Überlebenden an Pant­schowa, wo sie vor dem wütenden, unbegreiflichen Haß einer sich tierisch gebärdenden ­Umwelt Zuflucht im letzten deutschen Brückenkopf suchten.

An der nördlichen Ostfront waren an diesem 14. September 1944 die ­Sowjets mit über 40 Schützendivisionen und zahlreichen Panzer­- und Schlachtfliegerverbänden auf breiter Front zum erwarteten Großangriff angetreten. Es kam zu erbittert geführten Abwehr­schlachten, die sich in den darauffolgenden Tagen zu größter Härte steigerten.

Ebenso hatten die Kampfhandlungen im Raum Warschau einen Siedepunkt erreicht. Praga ging nach schweren Häuserkämpfen ver­loren. Nordöstlich der Stadt standen die deutschen Verbände im Feuer starker sowjetischer Angriffe. Mehrere Versuche der Russen, bei Warschau auf das Westufer der Weichsel überzusetzen, scheiter­ten an der deutschen Abwehr. General Bor-Komorowski, der am 1. August angesichts des von ihm erwarteten unaufhaltsamen Vor­dringens der roten Stoßtruppen 40000 polnische Widerstands­kämpfer zum gnadenlosen Kampf gegen die deutsche Besatzung hatte antreten lassen, sah sich mit den Resten seiner Aufstands­bewegung in aussichtsloser Lage. Bald würde General Bor kapi­tulieren.

Bei den Kämpfen im Raum Warschau bewies die niedersäch­sische 19. Panzer-Division besondere Standhaftigkeit. Dem als vor­bildlich geschilderten, ­tapferen Kommandeur dieser Division, Generalleutnant Hans Källner, wurde wenig später das Eichenlaub mit Schwertern zum Ritterkreuz (als 106. Soldaten der Deutschen Wehrmacht) verliehen. Källner, der die 19. P. D. seit September 1943 führte, stammte aus Oberschlesien. Das Schicksal wollte es, daß er die sturmfesten Niedersachsen dann auch im Frühjahr 1945 auf seiner geliebten schlesischen Heimaterde noch ins Gefecht führen sollte.

 

 

Dramatische Zuspitzung

bis Mitte Oktober

 

Nach monatelanger erzwungener Untätigkeit hatte im Sommer Generaloberst Gotthard Heinrici den Oberbefehl über die hart be­drängte 1. Panzer-Armee und die 1. Ungarische Armee übernom­men.

Die 1. Ungarische Armee, die von Generaloberst Miklocz geführt wurde, war taktisch der 1. Panzer-Armee unterstellt worden. So ergab sich auch von selbst für beide Armeen zusammen die Be­zeichnung »Armeegruppe Heinrici«; sie bildete den rechten Flügel der Heeresgruppe A, mit nördlichem Anschluß an das 11. SS­-Armee-Korps von der 17. Armee.

Generaloberst Miklocz und Heinrici verfügten über je drei Armeekorps. In genaueren Zahlen ausgedrückt: Heinrici brachte 13 Infanterie- oder Jägerdivisionen sowie 2 Sturmgeschützbrigaden und zeitweilig eineinhalb Panzer­divisionen in die Schlacht, wäh­rend Miklocz noch etwa 7 Divisionen und 2 Gebirgsbrigaden be­fehligte.

Dem standen im Frontabschnitt der 1. Panzer-Armee am 8. Sep­tember, nach Ausbruch der heftigen Angriffs- und Abwehrschlach­ten um die Karpatenpässe im Raum südlich Sanok-Krosno, auf seiten der sowjetischen »4. Ukrainischen Front« gegenüber: 30 Schützendivisionen, 3 Panzerkorps, eine selbständige Panzer­brigade, ein Garde-Kavalleriekorps sowie ein tschechisches Armee­korps. Heinrici und 1. Panzer-Armee – später zwei untrennbare Begrif­fe im Mittelpunkt der Kämpfe in Oberschlesien. Der ostpreußische Generaloberst, siebenundfünfzig Jahre alt, anerkannter Verteidigungsexperte des Heeres, mußte nun in diesen Septembertagen 1944 eine neue Probe seines Könnens ablegen. Die offensiven Anstrengungen des Gegners zielten darauf ab, den Nordflügel der Armeegruppe Heinrici in den Beskiden zu durch­brechen und im weiteren Verlauf, südlich einschwenkend, die nach Süden gerichtete ­Abwehrfront der deutschen Heeresgruppe Süd in der ungarischen Tiefebene von rückwärts aufzurollen. Ein kühner Plan, der offensichtlich zu sehr die zahlenmäßige Unterlegenheit der deutschen Verteidigungskräfte, weniger aber ihre Entschlossen­heit, dafür mit doppelter Energie zu kämpfen, in Rechnung stellte. Am 19. September erwähnte der Wehrmachtbericht im Zusammenhang mit den schweren Abwehrkämpfen im Schwerpunktgebiet südlich Sanok-Krosno die brandenburgische 68. Infanterie-Division unter Führung von ­Generalleutnant Scheuerpflug, die sowjetische Durch­brüche vereitelte und ­dabei zahlreiche Panzer im »Nahkampf« ab­schoß. General Scheuerpflugs ­Division, von Anfang an im Osten eingesetzt, gehört mit in die lange Reihe der bis zuletzt standhaft gebliebenen 0/S-Front-Divisionen.

Für die Spielhahnjäger an der Baranow-Front hieß es am selben 19. September, in Kielce zur Verladung bereitzustehen. Dieses fortgesetzte Hin und Her wurde den Bayern bald zur Gewohnheit. Kaum hatten sich die braven Jäger eine Linie erkämpft, so mußten sie auch wieder daran denken, herausgezogen und an einem ande­ren Brennpunkt neu eingesetzt zu werden. Sie fühlten sich beinahe schon als »Feuerwehr« (Eine Rolle, die gewöhnlich den überall dringend benötigten Panzerdivisionen vorbehalten blieb.). Aber es galt, dem süd­lichen Flügel der deutschen Ostfront, der nach der Kehrtwendung des rumä­nischen Bundesgenossen mehr denn je in Bedrängnis geraten war, in der ­Verteidigung der wich­tigen Karpatenpässe eine Stütze zu geben. Andererseits verschlech­terte sich vor Baranow durch diesen Truppenabzug das Kräfte­ver­hältnis für die Deutschen nur noch mehr.

Mit der Eisenbahn erreichte die 97. Jäger-Division den Raum nordostwärts Kaschau, wo die eintreffenden Bataillone sofort in den Kampf geworfen wurden. Etwa von der gleichen Gegend aus mußte die Division im Jahre 1941 ihren Weg nach Rußland antre­ten. Der gewaltige Marschkreis, der am weitesten östlich den Kau­kasus berührte, hatte sich somit geschlossen. Die von den ­Spielhahnjägern am Czarna-Abschnitt bei Lagow geräumten Stellungen waren in der Zwischenzeit der 16. Panzer­-Division zur Verteidigung unterstellt ­worden.

Rechts von der 16. P. D. lag damals die zur Elite zählende 1. Skijäger-Division. Noch vor knapp zwei Monaten, im Juli 1944, wurde diese Einheit, die unter dem Befehl von Generalmajor Berg stand, in den offiziellen Listen als Brigade (Skijäger-Brigade 1) geführt. Sie hatte sich im zurückliegenden Winter und Frühjahr in den Wäldern und Sümpfen des Pripet wacker geschlagen, war dann südlich der Linie Pinsk – Brest-Litowsk, an der rechten Flanke des großen Frontbogens der Heeresgruppe Mitte, im Zuge der allge­meinen Absetz­bewegungen über Turja und Bug auf die Weichsel bei Annopol, westlich von Krasnik, zurückgegangen. Immer kämpfend, »ständig im Einsatz«, wie es in ­einer Eintragung im Tagebuch der 9. Kompanie/Skijäger-Regiment 1 heißt. An der Front am sowjetischen Weichsel-Brückenkopf hatte es erst recht keine Kampfruhe gegeben.

Und ehe der September zu Ende ging, mußte dann auch die 1. Skijäger-Division ihre Stellungen an der Lysa Gora auf Befehl räumen und in Kielce zur Verladung bereitstehen. General Bergs Elitesoldaten waren – ähnlich wie die Jäger der bayerischen 97. Division – im Moment für die Karpatenfront wich­tiger geworden. Am Ozenna- und Duklapaß sollte die Skidivision schwerste Bewäh­rungsproben zu bestehen haben. Oberschlesien – das lag noch weit ­hinter den Wäldern und Bergkuppen. Daß man eines Tages …

Und doch: Nichts von dem Schlimmsten würde den Skijägern bei den ­späteren Kämpfen in Oberschlesien erspart bleiben!