Levi - Carmen Buttjer - E-Book

Levi E-Book

Carmen Buttjer

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Beschreibung

Levi hat auf der Beerdigung seiner Mutter die Urne geklaut. Jetzt versteckt er sich auf einem Hausdach mitten in Berlin. Zwar wohnt ein paar Stockwerke unter seinem Lager immer noch sein Vater, aber von dem hat er noch nie viel mitbekommen. Und jetzt, nachdem er die Urne seiner Mutter auf der Beerdigung gestohlen hat, kann er sich sowieso nicht mehr blicken lassen. Tigerschatten springen zwischen den Dächern, sitzen Levi im Nacken und streifen um die Urne – derselbe Tiger, der seine Mutter getötet hat, davon ist Levi überzeugt, auch wenn er in letzter Zeit viel zu schnell erwachsen werden musste und es eigentlich besser weiß. Im Kampf mit dem Verlust sucht der Junge sich seine eigenen Verbündeten: Da ist der mysteriöse Vincent, der mit ihm durch die Stadt fährt und im selben Haus wohnt, aber bis auf ein paar zwielichtige Geschäfte kaum etwas von sich preisgibt. Und Kolja, der Kioskbesitzer, für den Gedächtnisschwund noch immer die beste Art ist, sein Leben zu bewältigen – ausgelöst durch jede Menge Whiskey. Aber die Erinnerungen tauchen genauso hartnäckig aus der Vergangenheit auf wie Koljas Bilder aus seiner Zeit als Kriegsfotograf, die er in einem Hinterzimmer seines Kiosks immer noch entwickelt.

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Seitenzahl: 256

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Carmen Buttjer

LEVI

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Carmen Buttjer

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30
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Kapitel 1

Merkwürdig. Genau so war es. Überall in der Luft waren weiße Pollen. Sie blieben in watteartigen Knäueln aneinanderhängen und flogen langsam zwischen den Gästen hin und her. Es war schwül und mindestens vierzig Grad, obwohl am Himmel nicht einmal die Sonne zu sehen war. Stattdessen war er dunkelgrau und die Wolken hingen so tief, als würden sie jede Sekunde abstürzen. Weiter hinten kamen die nächsten und türmten sich über die, die schon da waren. Das T-Shirt, das ich trug, klebte an meinem Rücken. Das war das Ende der Welt. Nicht der Moment, in dem sie anfängt.

 

Bestimmt hundert Leute waren da, liefen durcheinander und suchten irgendwen. Ich wusste nicht, was ich hier sollte, und kletterte über die Stühle hinweg, die in mehreren Reihen hintereinander standen, um in die letzte zu gelangen. Ihre Holzbeine knackten als würden sie brechen, ich sah, wie sie sich unter meinem Gewicht ins trockene Gras bohrten. Schwarze Vögel saßen in den Ästen, sie starrten mich an, als würden sie auf mich warten. Irgendwer packte mich bei den Schultern und schob mich vor sich her wieder nach vorne bis in die erste Reihe. Auf einen der letzten zwei freien Stühle. Mit beiden Ellbogen auf der Rückenlehne abgestützt, kniete ich mich auf ihn und sah nach hinten. Hinein in die Gesichter, die nun nebeneinander saßen. Ich kannte keins von ihnen und damit meine ich, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, doch nicht mehr über sie wusste. Sie lächelten mir seltsam zu, ich lächelte halb zurück. Den Rest behielt ich für mich.

 

Neben mir erkannte ich das Gesicht des Mannes, der mein Vater war. Er roch anders als sonst, nach Whiskey, vielleicht waren es auch die anderen. Wenn ich an ihn dachte, war das Erste, was mir einfiel, wie merkwürdig er war. Bei meiner Mutter war das anders. Sie war von außen viel kleiner als von innen, sodass ich jedes Mal, wenn sie zu spät kam, darüber nachdachte, ob sie »Wonder Woman« war, ohne es mir verraten zu haben. Ihre dunkelbraunen Haare waren so lang, dass ich ihr Gesicht darunter verstecken konnte, die Sommersprossen dahinter erinnerten mich an das Sternensystem. Es war unmöglich, nicht daran zu denken. Manchmal zog sie sich dasselbe wie mein Vater an. Sein Jackett, die Hose, auch das weiße Hemd, aber nur halb zugeknöpft, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und die Krawatte locker um den Kragen gewickelt. Wie eine Möglichkeit von ihm, die es in Wirklichkeit nicht gab.

 

Mein Vater war anders. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto weniger wusste ich über ihn. Eigentlich nur drei Dinge: Er war Anwalt und stritt gerne und kam meistens erst nach Hause, wenn ich schon eingeschlafen war, wohingegen es morgens andersherum war. Da war er schon weg, obwohl er noch in der Küche stand. Dann kannte ich noch seine Adresse, es war dieselbe wie meine.

 

Ich ließ meinen Kopf so weit nach unten sinken, dass ich mit dem Kinn meine Arme berührte und hörte, wie mein Vater sich räusperte. Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt, woraufhin er es wiederholte und mit einer kurzen Handbewegung durch die Luft streifte. Nicht mehr als eine Sekunde. Das bedeutete Ungeduld. Zwei dagegen waren Ärger, vier und fünf bedeuteten Wut, und wenn er sechs oder sieben Sekunden und dann auch noch mit beiden Händen durch die Luft fuchtelte, sodass es aussah, als würde er Wörter hineinschreiben, begann er normalerweise zu schreien. Hochexplosiv wurde es, wenn er seine Hand so schnell durch die Luft bewegte, dass die Wörter nicht länger zählbar waren und sich in einen unendlichen Text verwandelten. Ich glaube, dann wusste er selbst nicht einmal mehr, ob er wütend, verärgert, ungeduldig oder noch irgendetwas anderes war, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er, wenn er es gewusst hätte, noch wütender geworden wäre. Manchmal sah er mich nur an und wurde wütend, einfach so, als würde er gar nicht mich, sondern irgendjemand anderen sehen. Ich hörte, wie er meinen Namen sagte, seine Stimme klang müde und gereizt. Also wie immer, also drehte ich mich um und schaute nach vorne. Da stand die Urne.

 

Wer tot war, der kam nicht mehr zurück, wer tot war, für den ging es nicht weiter. Meine Haut begann noch stärker zu kribbeln als vorher. Erst im Nacken, dann auf den Innenflächen meiner Hände, als wären die Linien, die sich auf meiner Haut von den Fingern zu den Gelenken zogen, zu Wellen geworden. Ich kratzte mich an den Armen, das T-Shirt und auch das Jackett darüber waren enger geworden. Auch meine Stirn juckte, das Kinn, die Ohren, selbst zwischen meinen Rippen fing es an zu jucken, unendlich langsam drängte ich mich gegen die Stuhllehne, fühlte diese Dinge, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte, und versuchte mich zu kratzen; dann waren es die Knie, und als es unter meinen Zehen auch noch anfing, beugte ich mich so unauffällig wie es ging nach unten und zog mir die Schuhe von den Füßen. Trotzdem hörte es nicht auf zu jucken. Blau schimmernde Insekten preschten durch meine Blutbahnen, so viele, dass sie meine Adern verstopften, die schwarzen Vögel unruhig ihre Flügel gegeneinanderschlugen, mein Vater fing an zu husten. Ich fragte mich, ob es ihm genauso ging, konnte meinen Puls nicht nur in den Handgelenken, sondern auch in meinem Hals spüren und lehnte mich zurück, immer weiter nach hinten, bis der Stuhl nur noch auf zwei Beinen stand. Aus den Augenwinkeln sah ich meinen Vater ausholen, ein weiter Bogen, es hätte auch ein Schatten sein können, dann schlug er mit der Handfläche auf die Stuhlkante, sodass ich mit einem Ruck nach vorne kippte und mich verschluckte. Jetzt juckte es überall. Nicht nur an den Beinen, sondern auch an den Armen und Händen, dann an den Ellbogen. Am Rücken war es am schlimmsten, ich wusste ganz genau, was passieren würde, wenn ich jetzt aufstehen oder anfangen würde, wieder auf dem Stuhl nach unten zu sinken, und blieb regungslos sitzen, den Blick auf die Urne gerichtet und erinnerte mich daran, was mein Vater zu mir gesagt hatte, als wir zum Krematorium gefahren waren. Im Auto. Das war der einzige Ort, an dem wir noch miteinander redeten. Wenn keiner von uns wegkonnte, er hinter dem Lenkrad und ich daneben.

»Was hast du da an?«

»Was meinst du?«

»Unter dem Jackett. Wo ist das weiße Hemd, das ich dir heute Morgen in dein Zimmer gelegt habe? Warum hast du es nicht angezogen?«

»Das war zu eng.«

»Es hat dieselbe Größe.«

Erst danach hatte er bemerkt, welches T-Shirt ich mir übergestreift hatte. Es war grau verwaschen, früher war es einmal schwarz gewesen. Darüber zogen sich dicke rote Buchstaben: »Another one bites the dust«. Er hatte mitten auf der Straße gebremst. Entweder Queen oder wir hätten die Beerdigung verpasst.

»Warum hast du es nicht einfach angezogen?«

»Ich zieh es noch an.«

»Wann denn?!«

»Bei deiner Beerdigung.«

»Verdammt, Levi, sieh mich an … siehst du mich an? Und hör auf damit, den Gurt um dein Knie zu wickeln. Leg ihn richtig an. Wenn wir ankommen, möchte ich, dass du dich neben mich setzt, hast du das verstanden? Du setzt dich neben mich und stehst nicht auf.«

Dass er seinen Blick, während er das gesagt hatte, immer wieder von der Straße abwandte und mich ansah, hatte ich spüren können, ohne ihn anzuschauen. Dennoch war ich stumm geblieben und hatte so getan, als hätte ich nichts davon mitbekommen.

»Das ist die erste Regel für heute …«

Pollen verfingen sich in meinen Wimpern, bei dem Versuch, sie wegzuwischen, blieben sie in meinen Augen hängen. Tränen liefen mir über die Wangen und ich spürte eine Hand auf meinem Rücken, sie kam von irgendjemandem, der hinter mir saß. Eklig warm und in einer unendlich langsamen Bewegung strich sie über meinen schweißnassen Rücken, und ich fürchtete, dass ich sie nie wieder loswerden würde. Nicht nur das, ich fürchtete, dass auch die Hände der anderen um mich herum, in meinem Nacken landen und an mir kleben bleiben würden. Bevor ich wusste, was passierte, stand ich auf den Beinen und löste mich aus der ersten Reihe. Es war wie bei einem Gewitter, das einfach so aus den Wolken brach, als wenn grelles Licht und Donner direkt durch meine Knie zucken würden, und während ich nach vorne rannte, erinnerte ich mich an die zweite Regel, die mein Vater aufgestellt hatte.

»Ich will nicht, dass du die Urne anfasst. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Du fasst sie nicht an, auch nicht kurz, du kannst sie ansehen, aber ich will nicht …«

Vorne angekommen riss ich die Urne an mich.

»Und ich möchte, dass du in meiner Nähe bleibst.«

»Das hast du schon gesagt …«

»Drei Regeln, drei einfache Regeln und zieh auf keinen Fall dein Jackett aus.«

Das war es, was er gesagt hatte, und ich hatte es verstanden, und dennoch rannte ich mit der Urne unter dem Arm zwischen den Stühlen entlang durch die Beerdigungsgesellschaft.

 

Jetzt, wo ich sie in den Händen hielt, wirkte sie kleiner als vorher. Meine Arme zitterten so sehr, dass ich die Asche verschüttet hätte, wenn die Urne offen gewesen wäre, und irgendwie fühlte ich auch gar nichts, selbst als ich die Augen schloss, war da nichts, auch die Geräusche verschwanden. Es regnete in meinen Ohren. Wie sie in den schwarzen Anzügen von ihren Plätzen aufsprangen, sahen sie aus wie die langsamsten Tiere. Es roch nach Gras und Schweiß, eine Hand schloss sich um eins meiner Beine, hielt mich fest, zog mich zurück, mit zusammengepressten Lippen kniff ich die Augen zusammen, trat zu und riss mich los. Wenn ich bis zur Tür des Krematoriums am Ende der Wiese kommen würde, dann wäre die Hälfte geschafft oder wenigstens ein Viertel, vielleicht auch nur ein Zehntel, so genau hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, das war der einzige Ausgang. Erst, als meine Hand die Türklinke nach unten schlug, atmete ich wieder aus. Kaum war ich im Krematorium, wurde es kühl und das Kribbeln auf meinem Rücken verschwand unter den grauen Steinplatten, auf denen meine Füße entlanghasteten. Die Wände waren glatt, auch der Boden war glatt, wer hier ausrutschte, schlitterte weiter. Mit diesem Gedanken schaffte ich es bis zu den Stufen, durch die Halle mit den Säulen und hinaus bis auf die betonierte Auffahrt. Hier blieb ich stehen und drehte mich um. Die trägen Tiere waren noch bei den Säulen, ihre Schritte waren so laut, dass ich dachte, sie seien direkt hinter mir. Mein Vater lief vor ihnen, kam immer näher und rief meinen Namen. Als er wenige Meter vor mir war, blieb er stehen, vornübergebeugt, die Hände abgestützt auf den Knien. Für eine Sekunde sah es so aus, als würde Rauch aus seinem Anzug steigen. Wenn Menschen traurig waren, dann taten sie ganz unterschiedliche Dinge. Manche heulten. So lange, bis sie nicht einmal mehr bemerkten, dass sie es taten. Andere wurden ganz laut oder leise, wütend für ein oder zwei Jahre, versteckten sich, tranken, aßen, bis sie fett waren, oder zogen in ein anderes Land. Irgendeins, das sie vorher noch nie gesehen hatten. Mein Vater tat nichts davon, und während er das tat, versuchte ich, ihn nicht zu stören.

»Was zur Hölle …«, rang er nach Luft. »Was ist los mit dir? Was denkst du dir? Kannst du mir das mal verraten?!«

Er schrie so laut, dass alle anderen hinter ihm stehen blieben. Stirnrunzelnd blinzelte ich in die Sonne, die zwischen den dunklen Wolken hervorkam, und blickte ihn an. Ich konnte seine Spucke im Licht sehen.

»Kannst du dich daran erinnern, was ich dir im Auto gesagt habe, oder hattest du das schon wieder vergessen, noch bevor wir angekommen waren? Hast du überhaupt irgendein Wort davon mitbekommen? Wozu hast du diese verdammten Ohren, wenn du nicht zuhörst?«

Das war es, was er wissen wollte, und ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Da waren die Dinge, die ich ihn gerne gefragt hätte. Es war eine ganze Liste, und auch, wenn es schon immer etwas gegeben hatte, das ich nicht so richtig verstanden hatte, war diese Liste in den letzten Wochen um das Doppelte, wenn nicht sogar um das Dreifache gewachsen. Mindestens. Vielleicht auch um das Fünffache. Aber immer, wenn ich ihn etwas fragte, war da dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Also behielt ich die Liste für mich, und je länger wir dastanden, desto weiter füllte sich die Luft mit den Dingen, über die wir nicht sprachen.

»Weißt du, was du jetzt tun wirst? Du kommst hierher und stellst die verdammte … du stellst … du wirst sie … diese …«, begann er und brach immer wieder ab, als hätte er den Rest des Satzes vergessen.

Dabei zeigte er abwechselnd auf die Urne und hinter sich. Ich tat es nicht, und als hätte ich das laut gesagt, richtete er sich auf und kam mir entgegen. Er packte mich an der Schulter, sodass wir beide hinfielen. Um die Urne nicht zu verlieren, behielt ich sie in meinen Armen und ließ mich ungeschützt auf die Steine fallen.

 

Dass es wehtat, merkte ich erst, als ich das Blut auf meinem Knie sah. Es war viel dünner, als ich es mir vorgestellt hatte, fast so wie Wasser, wenn das Rot nicht gewesen wäre. Es quoll durch den Riss meiner Hose, ich wischte das Blut, dann den Schweiß von meiner Stirn und rieb mir beides versehentlich in die Augen. Die Welt war dunkel und hell zugleich. Der Rest blieb an meiner Hand und auf dem Hemd meines Vaters kleben. Genauso wie ich, hielt er für eine Sekunde inne, strich mit einer kurzen Bewegung über mein Knie, bis ihm wieder einfiel, was er eigentlich vorgehabt hatte, und er es wieder versuchte.

»Wenn du sie mitnimmst … wenn du das wirklich tust, dann …«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor.

»Was?! Dann was?«

Die Wörter kamen lauter aus meinem Mund als ich es gewollt hatte, mit einer Stimme, die ich nicht kannte, und er sah mich überrascht an, bis sich seine Augen begannen zu schmalen Schlitzen zu verengen. In diesem Moment hasste er mich, das konnte ich sehen, so sehr, dass ich mir nicht länger sicher war, ob er überhaupt irgendwann so alt wie ich gewesen war. Während ich blind um mich trat, versuchte ich hochzukommen. Ich folgte seinem Blick, der auf die Urne in meinen Armen gerichtet war. Ich wollte noch etwas sagen, irgendetwas, doch ich wusste nicht, was, dafür sah ich, dass er etwas sagte, das ich, unter meinen eigenen Gedanken, nicht hören konnte. Zurückgehen wäre jetzt gut, dachte ich noch und lief los. Wie merkwürdig er aussieht, dachte ich und rannte weiter, und wie leicht die Urne ist. Ich dachte, ich falle gleich um und rannte weiter, ich dachte, ich kann nicht mehr und rannte noch schneller. Meine Ohren rauschten so laut, dass ich nicht einmal mehr hören konnte, ob er noch hinter mir war und mich in der nächsten Sekunde einholen würde. Dennoch drehte ich mich nicht um. Pollen und Fliegen klatschten mir ins Gesicht und blieben dort kleben. Ich hatte meine Schuhe vergessen.

 

Ich wusste nicht, wohin, und wenn man nicht wusste, wohin, dann wusste man auch nicht, wie weit es noch war. Eine halbe Stunde lang pirschte ich mich an ein Fahrrad heran. Da waren zwei Gründe, die dafür sprachen, es zu stehlen: Ich war zu langsam, und wer verfolgt wurde, musste schneller sein als die anderen. Die Hitze quoll aus dem Asphalt unter meinen Füßen, er war viel wärmer als das Plastik der Pedalen. Andererseits war Klauen verboten. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich bereits etwas Verbotenes getan hatte, schließlich war ich es, der die Urne gestohlen hatte. Ich wollte kein Dieb sein, wirklich nicht, aber immerhin blieb ich einer, wenn ich das Fahrrad nahm. Nachdem ich die Urne auf den Gepäckträger geschnallt hatte, beugte ich mich nach vorne und über den Fahrradlenker. Es dauerte, bis ich keine Schlenker mehr fuhr, die Räder quietschten. Je schneller ich wurde, desto mehr brachte mich der Wind in die Spur. Kühl und leicht strich er mir durch die Haare und legte sich über den Schweiß auf meiner Stirn.

 

Ich hasste diese Stadt, ich wollte irgendwo anders leben, in der Wüste, im Regenwald oder wenigstens in einer Stadt, die am Meer lag. Es war egal, in welche Richtung ich ging, die Häuser hörten niemals auf. Da waren immer noch mehr. Dicht aneinandergereiht standen sie entlang der Straßen. Einige von ihnen waren so hoch wie Mammutbäume. Manchmal regnete es im Süden der Stadt, während im Norden die Sonne schien. Unten dagegen war da, wo kaum Licht hinkam, und dazwischen bewegten sich die Menschen und brüllten sich an. So wie Vögel, die immer zu hören waren, selbst dann, wenn man sie nicht sah. Wenn es so heiß war wie jetzt, dann roch es aus den Straßen wie Sumpf. Jedenfalls stellte ich mir das so vor. Eine vor sich hin wabernde Oberfläche, aus der Gase und Rauch aufstiegen. In Wirklichkeit war ich noch nie im Sumpf gewesen und hatte keinen Schimmer, wie es dort roch. Dann war da noch ein Fluss, der wie eine nasse mehrspurige Straße durch die Stadt floss. Die U-Bahn wurde vom Wind angetrieben, der irgendwo aus dem Inneren der Tunnel kam. Darunter fing der Ozean an. Wenn es regnete, sickerte das Wasser durch die Metallstreben der Abflüsse bis unter die Stadt und sammelte sich in ihm. Erst an den Küsten war er zu sehen, da wo die Kontinente endeten. Bei richtig starkem Regen drangen fremde Geräusche von unten nach oben. Sie hörten sich an wie Walflossen, die gegeneinanderschlugen, vielleicht waren es auch Haie, die sich im warmen Regen auf den Bauch drehten. Und wenn es ihnen mit dem Regen zu viel wurde, verstopften sie die Abflüsse mit ihren kantigen Schnauzen, sodass sich flache Seen entlang der Straße bildeten.

 

Ich war nicht der Einzige in dieser Stadt, hier wohnten noch 3,8 Millionen andere, von denen ich niemanden kannte. Ich wusste auch nicht, ob es wirklich 3,8 Millionen waren oder ob sich jemand verzählt hatte, meine Welt war nur eine Straße. Der Altbau, in dem ich lebte, lag in ihrer Mitte. Wenn ich mich vor die Haustür stellte und nach oben schaute, schien es nach vorne zu kippen. Links daneben, und das war selten, stand kein weiteres. Auch wenn es so aussah, als wäre dort einmal eins gewesen und von einem Tag auf den anderen gestohlen worden. Da war ein leerer Platz aus dichten Pflanzen, hellem Sand und zerbröckelten grauen Steinen, aus denen Metallstangen ragten, zur Straße hin war er durch einen rostigen Drahtzaun abgegrenzt. Er war mit Plakaten beklebt, vom Regen vollgesogen, so viele übereinander, dass ich meinen Finger in die unterschiedlichen Schichten bohren konnte, ohne dass ich den Zaun dahinter berührte, stattdessen krochen dunkle Käfer heraus und verteilten sich wie Satzzeichen auf den Plakaten. Sie klebten so dicht nebeneinander, dass das heruntergekommene Schwimmbecken dahinter von der Straße aus nicht zu sehen war.

 

Bevor ich in die Straße einbog, in der ich wohnte, schloss ich für eine Sekunde die Augen, atmete die warme Luft ein und presste meine Zehen gegen die warmen Pedalen. Ich war darauf gefasst, meinen Vater vor dem Haus stehen zu sehen. Dann atmete ich aus und schlug die Augen auf. Niemand war zu erkennen. Das Einzige, was ich hörte, war das Radio von Kolja Černý. Sobald er im Morgengrauen seinen Kiosk aufschloss, schaltete er es an und ließ es, wie heute, den ganzen Tag bis in die Nacht hinein laufen. Manchmal auch dann, wenn er den Kiosk geschlossen hatte und selbst schon gegangen war. Meistens saß er, umgeben von mehreren Stapeln verschiedener Zeitungen, auf einem weißen Plastikstuhl vor seinem Kiosk, und wenn er das nicht tat, tauchte er aus dem Nichts irgendwo auf dem Gehweg auf. Auch jetzt saß er unter dem Sonnenschirm, mit einem Gesicht, das vergessen hatte, älter zu werden. In Wirklichkeit war er schon mindestens sechzig. Er trug einen Strohhut und ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, dessen Säume verdreckt waren. Im letzten Winter hatte er den Strohhut durch eine rote Mütze ersetzt und ein weiteres Hemd über dem ersten getragen. Darin war er geboren worden. Wenn er müde war, setzte er sich vor den Laden, nahm seinen Schlüsselbund in die Hand, schloss die Augen, und sobald sie ihm entglitten und herunterfielen, war es Zeit, wieder aufzuwachen. Jedenfalls sagte er das immer. Ich hatte ihm nie verraten, dass ich es war, der seine Schlüssel nach der Schule aufhob, um sie so lange neben ihm auf den Asphalt zu schmeißen, bis er aufgewacht war. Manchmal half nicht einmal das, und ich schleuderte sie neben ihn gegen die Mauer, während ich überlegte, ob er tot war. Genauso wie ich lebte auch er erst seit einem knappen Jahr hier.

 

Auf einigen Zeitungen in seinem Kiosk prangten Titel in Sprachen, die ich nicht kannte, und dann waren da noch die mit den Tagesmeldungen. Gerüchte nannte Kolja die, und wenn er das sagte, knüllte er die Zeitung zusammen, um sie direkt danach wieder glatt zu streichen.

»Levi?«, hörte ich ihn rufen.

Das war ich, Levi, mein Nachname war Naquin. Jedenfalls stand das auf unserer Klingel und meine Eltern hießen genauso, nur ihre Vornamen waren andere. Mein Vater hieß David und meine Mutter Katharina, doch so nannte ich sie nie, und jedes Mal, wenn sie von anderen so genannt wurden, fühlte es sich merkwürdig an. Als wäre jeder von ihnen noch wer anders, an einem Ort, den ich noch nicht entdeckt hatte. Kolja rief mich noch einmal, widerwillig bremste ich ab. Ich hatte keine Zeit. Hatte ich nicht. Das Fahrrad ließ ich auf dem Weg liegen, die Urne stellte ich vorsichtig daneben. Ob Kolja genauso schlecht sah, wie er hörte, wusste ich nicht. Er fragte mich, wo ich gesteckt hätte. Erst als er beim Fragezeichen angekommen war, sah er von der Zeitung, die er auf seinen Knien liegen hatte, auf. Sein Blick blieb erst an meiner aufgerissenen Hose, danach an meinen Füßen hängen, bevor er weiterredete, faltete er die Zeitung zusammen.

»Sieht aus, als hättest du einen interessanten Tag gehabt. Ich habe an dich gedacht.«

Noch bevor ich etwas sagen konnte, wechselte der Ausdruck in seinem Gesicht, als wäre ihm etwas eingefallen, an das er sich nicht hatte erinnern wollen.

»Heute war die Beerdigung, oder?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, stand er auf und ging erst einen, dann zwei Schritte, er humpelte.

»Du hast bestimmt Durst. Noch ein Grad mehr und das Bier platzt mir aus den Flaschen.«

Während er den Kiosk betrat, wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und reichte mir die Zeitung. So machten wir das immer. Er gab mir Zeitungen, und ich half ihm im Kiosk, und deswegen waren wir so etwas wie Freunde. Beim Vornamen nennen durfte ich ihn trotzdem nicht, doch ich wusste, dass er Kolja hieß. Das stand jedenfalls auf der Post, die er bekam. An Kolja Černý. Er hatte keine Ahnung, dass ich ihn so nannte. Dafür wusste er irgendwie alles andere, er konnte sogar die Zeitungen in den fremden Sprachen lesen. Das lag daran, was er getan hatte, bevor er den Kiosk gekauft hatte, doch das war ein Geheimnis, das er außer mir niemandem verraten hatte, und auch mir hatte er es nicht verraten, weil er es gewollt hatte. Es war das einzige Geheimnis, das ich von ihm kannte, auch wenn es irgendwie kein richtiges Geheimnis war, wenn niemand danach fragte.

»Willst du da draußen stehen bleiben?«

Der Asphalt brannte unter meinen Füßen. Ich konnte nicht bleiben, nicht mehr lange, und mein Vater würde zurückkommen, dennoch holte ich die Urne und schob sie zwischen die Kühlschränke. Nachdem Kolja die Flasche mit den Zähnen geöffnet hatte, schob er sie mir über den Tresen entgegen und sah mich aufmerksam an, während ich trank.

»Bist du schon einmal auf einer Beerdigung gewesen? Vorher, meine ich?«

Ich schüttelte den Kopf, und dann sagten wir lange nichts. Wir standen nur da und sahen raus auf die Straße, die Autos und die vorbeilaufenden Menschen, die in blutrotes Licht getaucht waren. Als ständen sie in Flammen.

»Und du?«

»Ein paarmal«, sagte er und schob eine Kiste Bier aus dem Hinterzimmer, in dem er die Waren lagerte, in den schmalen Gang neben dem Tresen.

»Wann war das?«, wollte ich von ihm wissen, während er zwei weitere Kisten auf die erste stapelte. Kolja lächelte.

»Alles was über gestern hinausgeht, habe ich vergessen. Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau gewesen, ich habe sie gemocht. Hier, die kannst du in den Kühlschränken verteilen. Stell sie nach hinten und die, die schon drinstehen, nach vorne.«

Er drehte sich um und ging ins Hinterzimmer zurück. Bevor ich anfing, die Flaschen einzusortieren, blieb ich in der kalten Luft stehen, die aus dem offenen Kühlschrank herausdrang. Fremde Fingerabdrücke klebten von außen und innen auf dem Glas. Ein süßlicher Geruch stieg mir in die Nase, er war eklig und dennoch konnte ich nicht aufhören, ihn einzuatmen.

»Kassierst du hier?«

Ich schrak zusammen, fast hätte ich eine der Flaschen fallen gelassen.

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Kapitel 2

Die Stimme gehörte Vincent. Er wohnte im selben Haus wie ich, ein Stockwerk über mir, im Fünften, und ich mochte ihn. Vom ersten Augenblick an. Schon als ich seinen Namen auf dem neu angeklebten Klingelschild unten an der Tür gelesen hatte. Da hatte ich ihn noch nicht einmal gesehen, und genau genommen kannte er mich auch immer noch nicht. Wir hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt, denn es war nicht leicht, ihn zu treffen. Bisher war ich ihm erst ein paarmal im Treppenhaus begegnet, doch da schien er mich gar nicht zu bemerken. Ich wusste nicht, warum, aber jedes Mal, wenn ich ihn sah, dachte ich an Cowboys aus dem Wilden Westen, manchmal auch an Batman. Ich mochte Batman. So als hätte ich ihn selbst erfunden und Vincent sah ihm wirklich ähnlich, vor allem, wenn er so gegen die Sonne dastand und seine Silhouette alles war, was ich von ihm erkennen konnte. So sah ich ihn meistens. Von Weitem. Als hätte ich ihn mit einer Schere aus einem meiner Comics herausgeschnitten. Er war nicht so richtig groß, trotzdem sah er aus wie einer von den Guten. Hätte ich ihn ausmalen müssen, dann hätte ich nur Rot, Orange und Gelb benutzt. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn in einem zerknitterten Hemd, an dessen Kragen eine dunkle Sonnenbrille klemmte, am Tresen lehnen. Er wirkte ruhig, so als wäre alles in Ordnung.

»Ist das Kriegsbemalung? Die Striche in deinem Gesicht?«, wollte er wissen und mein Knie begann zu brennen, als hätte er mit seinen Worten einen Teil der Haut abgerissen. Unwillkürlich wischte ich mir durch das Gesicht und betrachtete die Erde, die Pollen und das vom Schweiß gelöste Blut, die in meiner Hand kleben blieben. Ich hatte mir schon oft vorgestellt, wie unser erstes Gespräch beginnen würde, aber so war es nie gewesen. Er biss in den Apfel in seiner Hand und wiederholte die Frage. Kriegsbemalung, ja vielleicht war es das, und ich nickte, um gleich darauf mit dem Kopf zu schütteln. Stumm sah ich ihn an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Eine Antwort fiel mir nicht ein.

»Gefällt mir, besonders das Rot. Weißt du, was die Farbe bedeutet?«

Ich schüttelte ein weiteres Mal den Kopf.

»Früher war das die Farbe der Könige.«

»Ist das immer noch so?«

»Keine Ahnung, ich habe schon lange kein Rot mehr getragen.«

Er lächelte, während er das sagte. Im nächsten Moment bog Kolja schlurfend aus dem Hinterzimmer und klemmte sich hinter die Kasse. Vincent nahm das Wechselgeld und ging, während ich meine Stirn gegen die Fensterscheibe lehnte und zuschaute, wie er die Straße überquerte. Auf der Hälfte der Strecke schnitt ihn ein Fahrradfahrer, er holte aus, warf ihn mit seinem Apfel ab und lief weiter.

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Kapitel 3

Mit der Urne und Zeitungen in der linken Hand ging ich über die Straße und zog den Wohnungsschlüssel, der an einem roten Band um meinen Hals baumelte, über den Kopf. Hastig drehte ich ihn in der schweren Haustür, drückte mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Oben in der Wohnung angekommen, sah ich als Erstes in den Kühlschrank. Es war nichts als Licht darin. Ich schloss ihn wieder, lehnte mich mit der Stirn dagegen und blickte auf ein Bild von mir. Am Strand, mit nichts als einem Stirnband über den Ohren und einer Schaufel in der Hand, vornübergebeugt auf Fische lauernd. An diesen Tag konnte ich mich gar nicht erinnern, er war wie ein Geheimnis, das ich von mir hatte und selbst nicht kannte.

 

Im Schrank fand ich ein Zelt, Seile und eine Luftmatratze. Danach warf ich alles, was ich sonst brauchte, in einen Karton, schleppte ihn durch das Treppenhaus bis oben auf den letzten Absatz und stellte ihn vor die Tür, hinter der das Dach lag. Wäre in dieser Stadt ein Sumpf gewesen, hätte ich mich darin versteckt. Nicht weil ich sterben wollte, aber weil es dort so viele Arten zu sterben gab, dass niemand mir gefolgt wäre: stecken bleiben und ersticken, Moskitos, die Malaria hatten, Schlangen und Krokodile. Das wusste ich von Kolja. Er hatte mir auch erzählt, dass Sümpfe manchmal von darüber hinwegziehenden Helikoptern mit Benzin überschüttet und angezündet wurden. Die besten Verstecke waren die, die so gefährlich waren, dass niemand an diesen Orten suchen wollte. Niemand würde mich hier oben finden.