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"Mein Name ist Lia Winter und ich bin Magie. Ich wurde geboren aus Magie und Wahnsinn, aus Liebe und Hass, und wenn ich durchdrehe, geht die ganze Welt den Bach runter. Ich erinnere mich wieder. Ich weiß wieder, wer ich bin! Ich bin Lia Winter und ich habe mich entschieden, mein Leben zu vergessen, bis ich es wieder ertragen kann. Keine Ahnung, ob ich das inzwischen tatsächlich kann, aber ich bin wieder hier!" War der Tod von Lias Großmutter wirklich ein Unfall? Bekommt sie ihre chaotische Magie in den Griff? Und warum geht ihr Jonas als Erwachsener eigentlich noch genauso auf den Geist wie damals mit acht? Magische Wesen in Norddeutschland... Tattoos, die ihre Träger beeinflussen... Liebe, Freundschaft und Basenjis... WILLKOMMEN IM REICH DER QUELLE!
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Seitenzahl: 608
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Maren Rausch
LIA
Quelle der Magie
Maren Rausch
LIA
Quelle der Magie
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Maren Rausch
Umschlag:© 2023 Copyright by Maren Rausch
Verantwortlich
für den Inhalt:Maren Rausch
Karlstraße 4
49716 Meppen
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
STURMAUGE
Ich werfe die Tür hinter mir zu und schließe die Augen.
Was für ein Tag!
Tief durchatmen und realisieren, dass ich jetzt zu Hause bin und keine Termine mehr habe, kein nervtötendes Telefonklingeln mehr, ich muss mit niemandem mehr sprechen, keine Fragen beantworten und vor allem nicht mehr denken. Ich habe mich den ganzen Tag auf diesen Moment gefreut, es mir schön machen und den Beginn meines neuen Lebens feiern. Das Ende des lebenfressenden Vollzeitjobs, den Beginn von etwas Wunderbarem.
Lecker essen, vielleicht ein Glas Wein, eine heiße Badewanne, schöne und stilvolle Schlafsachen anziehen und mich dann abends glücklich in ein frisch bezogenes Bett fallen lassen. Entspannt und zufrieden sein und voller Vorfreude.
Ich streife mir noch an der Tür meine Schuhe von den Füßen und lasse sie mitten im Flur stehen. Damit sie nicht so einsam sind, lasse ich ihnen meine Jacke da, die kann ihnen ja etwas Gesellschaft leisten.
Ich schlurfe ins Wohnzimmer. Meine Kaffeetasse steht noch genauso da, wie ich sie heute morgen stehen gelassen habe. Die Sofakissen sind im ganzen Raum verteilt und die Kuscheldecke liegt halb auf der Erde. Urgh, haben meine Hunde etwa ihre Kauknochen in ihr verbuddelt? Am besten schmeiße ich sie direkt in die Wäsche.
Ich steige über die Decke und dann über meine dreckigen Turnschuhe, die vom Morgenspaziergang noch mitten im Wohnzimmer stehen und lache über meine Vorstellungen von einem schicken Zuhause, leckerem frischen Essen und einer motivierten und ausgeglichenen Lia. Hab’ ich das echt geglaubt?
Na ja, solange ich arbeiten bin, unterwegs bin, Termine habe, mit normalen Leuten normale Alltagsdinge tue, glaube ich das tatsächlich. Bin ich aber erstmal zu Hause nach einem solchen Tag, ist mir das alles egal.
Ich lasse alles stehen und liegen, wie es ist und will einfach nur noch die Welt aussperren.
Jogginghose an, Tiefkühllasagne in den Ofen und irgendwas Doofes im Fernsehen gucken – das ist meine Realität.
Wenigstens sehen die Hunde das nach einem langen Bürotag genauso und kuscheln sich mit mir in die Decke und sie machen auch, dass ich mich langsam besser fühle. Meine Wohnung ist immer noch unaufgeräumt und ich völlig unmotiviert, aber ich habe warmes, weiches Fell unter meinen Fingern und der gleichmäßige Atem von Izzy und Jax beruhigt mich ungemein.
Morgen.
Morgen werde ich früh aufstehen, die Wohnung in Ordnung bringen und mit den Hunden zu Fuß in die Stadt und auf den Markt gehen.
Frische Produkte einkaufen, sie in Jutebeuteln nach Hause tragen, etwas Leckeres, Gesundes und Nachhaltiges kochen, Freundinnen anrufen, die ich ewig nicht gesprochen habe und mein neues Leben beginnen. Aber heute bin ich noch faul und unordentlich und esse ungesunden Tiefkühlfraß vor dem Fernsehen.
*****
Die Dämmerung zieht herauf und taucht Lias Garten in Zwielicht.
Max springt seufzend und kopfschüttelnd von der Fensterbank auf, streckt seine Flügel und fliegt dann quer durch den Garten zu seinem eigenen kleinen Heim.
Warum nur macht sie sich das Leben selbst so schwer? Warum ist sie nicht einfach wieder, wie sie ist?
Aber eigentlich weiß Max das ganz genau.
Sie erinnert sich nicht mehr!
Etwas fehlt und sie weiß nicht was. Diese Lücke kann sie nicht füllen und ist deshalb unzufrieden. Aber dennoch - sie ist doch nie der Typ für Selbsthass oder Antriebslosigkeit gewesen. Für Unordnung und kreatives Chaos – das auf jeden Fall. Aber auch für sprühende Lebensfreude, Optimismus und ihre einzigartige ansteckende Energie.
Wie soll er sie nur aus ihrer Lethargie befreien? Sie hat sich für dieses Leben entschieden. Darf er sich darüber überhaupt hinwegsetzen und sie mit der Wahrheit konfrontieren? Sie zurückholen?
Oder ist es vielleicht sogar endlich Zeit? Zeit sie zurückzuholen? Sie hat gesagt, er würde wissen, wenn es so weit ist.
Und wenn er ehrlich zu sich selbst ist, weiß er ganz genau, dass sie noch Zeit benötigt.
Nur hat er davon wirklich die Nase voll.
Er vermisst sie so sehr. Seine Freundin, Vertraute, Schwester...seine Lia.
Aber das ist selbstsüchtig. Er hat es verdammt noch mal versprochen. Er will nur etwas tun, irgendetwas, damit es ihr wieder besser geht.
Max ist hin- und hergerissen, wie immer in den letzten Wochen und Monaten. Er muss unbedingt mit Ella sprechen.
Seufzend fliegt er in die wilde Ecke am Rande von Lias kleinem Garten, taucht durch die Brennnesseln hindurch und hinein in seine eigene kleine Welt.
Hinter den Brennnesseln, umrahmt von Unmengen von Wildblumen steht ein großes Vogelhaus.
Lia zuliebe sind sie im letzten Sommer umgezogen. Sie hat sich immer Sorgen um ihn und Ella gemacht und fand die Vorstellung, dass die zwei in einem Erdloch hausten, einfach furchtbar, war seine Familie doch den großen Obstgarten ihrer Oma gewohnt. Und im Winter hatten sie den Dachboden ihrer Oma bevölkert. Besuchern von außerhalb hatte Greta früher immer verkauft, es seien Mäuse, die sie des Nachts hinter dem Holz hörten. Mehr als einmal waren es aber Lia und Max selbst gewesen, die einen Riesenlärm hinter der Holzvertäfelung verursachten, und Bilder von Riesenratten in den Köpfen der Besucher heraufbeschworen. Na ja, solange bis Max’ Eltern sie erwischt hatten. Danach war der Spaß definitiv vorbei. Max muss bei dem Gedanken daran schmunzeln.
Eigentlich fühlten Max und Ella sich nach dem Umzug in die Stadt in ihrer Höhle sogar sehr wohl. Kuschlig und irgendwie intim. Genau das Richtige für ein frisch verheiratetes und verliebtes Paar. Davon wollte Lia allerdings nichts wissen.
Und anfangs wollte Max wiederum nichts von Lias Hausbauplänen wissen, war furchtbar beleidigt und schmollte, weil er sich bevormundet fühlte. Ella hingegen war sofort Feuer und Flamme. Sie hat Wochen damit verbracht, gemeinsam mit Lia ihr neues Heim zu planen. Der Tischler, der das Haus schlussendlich in Lias Auftrag gebaut hat, hält sie sicher noch heute für völlig bescheuert.
Ein Vogelhaus mit Möbeln? Puppenmöbeln?
Wie soll man seine kleinen Meisterwerke denn dann jemals sehen?
Und eine Miniveranda, Leitern, Kletterseile, Dachfenster?
So eine Kundin hat er vorher sicher noch nie gehabt! Da sie ihn aber sehr gut bezahlte und seine zweifelnden Blicke mit ihrem Lia-Lachen einfach weggelacht hat, bekam Ella ihre perfekte kleine Himmelsvilla.
Aus den Fenstern strahlt Max ein warmes Licht entgegen, der Schornstein raucht und es riecht köstlich nach gegrillten Lavendelblüten und gerösteten Brennnesseln.
Ella liebt das Haus noch immer und der Göttin sei Dank, liebt sie es auch, sich um ihn zu kümmern.
Lächelnd und seine Sorgen um Lia für einen Moment vergessend tritt er durch die Haustür, wo ihn der Duft nach zu Hause, nach Ella und Essen begrüßt.
Sie werkelt am Herd und summt leise vor sich hin. Max beobachtet sie still und hängt seinen Gedanken nach.
Ellas Flügel schlagen im Takt ihrer gesummten Melodie und sie hebt zwischendurch vom Boden ab, ohne es zu merken. Als sie sich schließlich umdreht und ihn in der Ecke stehen sieht, stößt sie einen kleinen Schrei aus, und legt die Hand an ihr Herz. Max wappnet sich für eine Standpauke. Ella hasst es, wenn er sie heimlich beobachtet.
Sie jedoch schwebt zu ihm herüber und lächelt ihn an.
„Na, du Stalker.", begrüßt sie ihn mit einem Kuss auf die Wange. „Irgendwas Neues bei Lia?“
„Weißt du, genau darüber wollte ich mit dir reden, Ella. Vielleicht..."
Ella runzelt die Stirn und sieht ihn böse an.
„Wenn du darüber reden willst, bist du dir nicht sicher. Und wenn du dir nicht sicher bist, ist es noch nicht Zeit. Ein Vielleicht hilft hier niemandem! Gib ihr Zeit, Schatz. Sie muss heilen und sie muss sich erinnern wollen! Das ist nicht deine Entscheidung!"
Max lässt ihre Hand los, rauft sich die Haare und geht auf Abstand.
„Ach Mensch, Ella! Das hilft mir echt nicht. Du verstehst das nicht!! Sie so zu sehen...! Es geht ihr nicht gut und wir können ihr helfen! ICH kann ihr helfen - warum warten? Und woher soll ich überhaupt wissen, wann es so weit ist. Ich kann ihr doch nicht in den Kopf gucken und wenn ich den Zeitpunkt verp...."
Ella unterbricht seinen Redefluss mit einem Kuss.
„Lia vertraut dir und das tue ich auch. Es bricht mir doch auch das Herz, sie zu sehen und nicht mit ihr sprechen zu können. Aber wir müssen ihre Wünsche respektieren. Das weißt du."
Ella umarmt ihn und schmiegt ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Haar duftet so wunderbar nach Sommer und Licht. Ihr ruhiger Herzschlag beruhigt auch ihn. Der sinnlose Drang, einen Streit vom Zaun zu brechen, verschwindet und seine Gedanken hören auf zu rasen.
Komisch, wenn er Ella so anfährt wie eben gerade, kommt er eigentlich nicht mit einem Kuss davon...
„Setz dich, ich habe für uns gekocht. Lass uns die Sorgen für heute vergessen und etwas zur Ruhe kommen, ja?"
Er kommt spät nach Hause, hat wieder einmal Lia beobachtet, stundenlang. Hat auch Ella nur stumm betrachtet und statt sich zu entschuldigen, überfällt er sie mit dem immer selben Thema. Damit nicht genug vergreift er sich auch noch im Ton. Und sie will mit ihm gemütlich essen...?
Und irgendwie strahlt sie auch so und was soll das Gesumme und Geschwebe. Hat sie getrunken?
Ella bemerkt seine Verwirrung sehr wohl, ignoriert sie aber. Sie dimmt das tagsüber eingefangene Sonnenlicht und legt ein paar Rosmarinzweige auf den Kamin.
Wieso brennt eigentlich der Kamin? Es ist Spätsommer!
Ella ignoriert ihn weiter, setzt sich an den - von Kerzen erleuchteten - Esstisch.
Ella müht sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch Max bleibt misstrauisch und überlegt inzwischen, ob er irgendetwas Wichtiges vergessen hat. Ella feiert Jubiläen und Jahrestage, wie keine andere (beispielsweise den Geburtstag ihres Hauses oder den Einzugstag von Lias Hunden), da kann man ja schon mal den Überblick verlieren.
Seufzend und Augen rollend lässt Ella schließlich ihre Gabel sinken.
„Max, du Depp! Warum kannst du denn nicht einmal mitspielen?! Ich hatte alles so schön geplant. Einen wundervollen Abend mit dir, ein leckeres Essen, Nachtisch auf der Veranda und dann… Dann wollte ich dir sagen, dass ich schwanger bin!"
Max erstarrt und sieht seine Frau aus ungläubig aufgerissenen Augen an. „...und eigentlich solltest du dich darüber freuen!"
Als Max sich noch immer nicht regt, schiebt Ella schwungvoll ihren Stuhl zurück, so schwungvoll, dass er mit einem lauten Knall hintenüberfällt und flüchtet sich wutentbrannt aus der Tür und auf die Veranda. Nie funktioniert dieser Mann so, wie sie es sich ausmalt.
Die Tür hinter Ella wird aufgerissen. Max fliegt in einem Affenzahn auf sie zu, seine Flügel leuchten und funkeln, sein Kopf ist knallrot und er singt und jubelt aus voller Kehle. Er schwingt Ella wild im Kreis und zieht sie dann mit sich - im Steilflug in die Wolken, Pirouetten drehend und tanzend zurück zur Erde und noch einmal quer durch den kleinen Garten. Ella flucht und schimpft und lacht Tränen.
Völlig außer Atem landen die zwei einige Zeit später wieder auf ihrer Veranda, sehen sich tief in die Augen und versinken in einem liebevollen langsamen Kuss.
Bald darauf machen Ella und Max sich in stummem Einverständnis auf in ihre kleine Höhle, die es nach wie vor gibt. Und dort endet der Abend dann zumindest genauso, wie Ella es sich vorgestellt hat.
"Au!! Verdammt, runter von mir!!"
Izzys Pfoten drücken unsanft in meine Weichteile. Sie turnt auf mir herum, dreht sich im Kreis und will es sich offensichtlich auf meinem Bauch erneut bequem machen. Ich schiebe sie unsanft und keuchend von mir herunter. Sie landet auf Jax, der neben mir friedlich schlummert. Das darauffolgende Geknurre und Gekeife gibt mir den Rest. Ich schwinge meine Beine über die Bettkante. Die Welt kippt ein wenig und ich fahre mir müde durchs Gesicht.
Eine erste Bestandsaufnahme zeigt mir, dass ich den Weg ins Bett gestern Abend scheinbar doch noch gefunden habe. Es ist schon hell. Das Sonnenlicht scheint durch das Fenster und mein hämmernder Kopf erinnert mich daran, dass ich mir zu meiner königlichen Fertiglasagne doch noch das eine oder andere Gläschen Wein gegönnt habe.
Izzy und Jax haben ihren Kampf beendet und versuchen nun beide mir auf den Schoß zu klettern. Tja, wer mit Basenjis lebt, ist dem Wahnsinn eben machtlos ausgeliefert und kann sich keinen zusätzlichen Kater leisten. Eloquentes Wortspiel am Morgen. Das kann ja heiter werden!
Auch wenn ich gerne noch etwas länger im Bett gelegen hätte, um nichts in der Welt würde ich diesen Augenblick ändern wollen. Ich liebe meine beiden Hunde einfach abgöttisch und würde für sie auf wesentlich mehr verzichten als auf einen langen Morgen im Bett. Sie sind einfach das Beste, was mir passieren konnte und haben mich in den letzten Monaten am Leben erhalten. So übertrieben dramatisch das auch klingt, ohne sie hätte ich wohl schon vor ein paar Wochen in die Geschlossene gemusst und hätte nicht nur ein Burn out bekommen, sondern quasi auch ein "Fire on" in meinem Hirn tanzen sehen. Oder so ähnlich, morgens kann ich mich nicht immer so richtig artikulieren... Aber Wortspiele hab’ ich drauf!
Mit meinen beiden Chaoten gibt es doch immer Licht am Ende des Tunnels. Fast immer. Kurz schweife ich in Gedanken ab, die Dunkelheit lauert immer noch direkt um die Ecke, manchmal kann ich sie aus dem Augenwinkel sehen, wie sie nur auf einen passenden Moment wartet, um sich anzuschleichen und mich dann zu verschlucken.
Depression, hatten sie gesagt. Zusammenbruch nach emotionalem Trauma...
Erinnern kann ich mich nicht. Natürlich weiß ich noch, dass Oma gestorben ist, wie traurig und wütend und verzweifelt ich war, aber ich kam damit klar. Dann bin ich den Sommer über nach Hause gefahren. Meine Erinnerung verschwimmt. Klar sehe ich erst wieder ab dem Moment, in dem ich meine Augen aufschlage, in einem Krankenwagen.
Ich habe damals ganze zwei Wochen in einem Krankenhaus verbracht, Tag und Nacht geweint und mich so einsam gefühlt wie nie zuvor in meinem Leben. Bis ich es nicht mehr ausgehalten habe, ich brauchte Jax und Izzy. Ich bin mir noch immer nicht sicher, wie es damals dazu gekommen ist, dass Jonas („Dschoooouunässs", macht der Kindskopf in mir) sich in dieser Zeit um meine beiden Schätze gekümmert hat. Ich hasse den Gedanken, ihm etwas schuldig zu sein.
Jonas ist so etwas wie ein Relikt aus meiner Kindheit. Er hat den Sommer oft bei seinem Großvater Paul verbracht, der den gemütlichen Pub in unserem Dorf betrieb, während seine Eltern die Welt bereisten. Im Grundschulalter waren wir sogar einmal für einige Zeit auf der gleichen Schule. Cres und er waren in der dritten Klasse, Linda und ich in der ersten. Die Jungs waren sich ja damals so groß und erwachsen vorgekommen. Wir fanden sie einfach zum Kotzen. Nach diesem einen Jahr haben ihn seine Eltern wieder eingesammelt und ich habe ihn nur noch in den Ferien gesehen.
Seine Eltern sind Iren und erst kurz nach Jonas’ Geburt nach Deutschland gezogen, weshalb sein Name auch englisch ausgesprochen wird. Schon damals hat er einfach total genervt. Er schien auf irgendetwas furchtbar neidisch zu sein und war einfach immer nur blöd zu mir. Ich habe den kleinen Wichtigtuer im Gegenzug immer mit der deutschen Aussprache seines Namens geärgert, woraufhin er sich jedes Mal furchtbar aufgeplustert und mich in dem klugscheißerischten Dreikäsehochton überhaupt korrigiert hat. "Dschoooouunäss" hallt es mir schon wieder durchs Hirn. Schmunzelnd stehe ich auf.
Komisch, ich habe schon seit Monaten nicht mehr an Jonas gedacht oder an die wenigen Wochen vor meinem Zusammenbruch, an die ich mich einfach nicht erinnern kann.
Ich schlurfe hinüber in die Küche. Erstmal Kaffee, vielleicht funktioniert das mit dem Denken dann ja langsam besser. Izzy tanzt hinter mir her und schlägt mir mit ihren Pfoten von hinten in die Hacken, um mich zum Spielen zu animieren. Jax hat sich wahrscheinlich wieder in die Kissen gekuschelt und die Augen fest zugekniffen. Noch ein Pfotenhieb! Diese kleine Hexe! Natürlich kriegt sie mich aber damit – wie immer – und ich jage sie durch das Erdgeschoss und hinaus in den Garten.
In meinen kuschligen Bademantel gehüllt sitze ich barfuß (meine Füße liegen natürlich auf dem Tisch, es ist viel zu kalt, um seine nackten Füße auf den Boden zu stellen) auf meinem alten Holzstuhl an dem ebenso alten und verwitterten Holztisch.
Mein Kaffee dampft und Jax und Izzy kuscheln sich zähneklappernd aneinander. Natürlich nicht im taufeuchten Gras, sondern auf der schönen und relativ neuen Hollywoodschaukel mir schräg gegenüber. Es ist frisch, aber nicht richtig kalt. Die Basenjis allerdings müssen sich noch daran gewöhnen, dass es wieder kühler wird. Ich muss ihnen natürlich zugutehalten, dass das Klima in Afrika doch ein anderes ist als in Norddeutschland.
Basenjis sind afrikanische Urhunde und ihre Gene sind andere Temperaturen gewohnt. Außerdem haben sie furchtbare Drama-Queen-Allüren. Da ich meine Pappenheimer ja aber kenne, habe ich ihnen natürlich eine Decke mitgebracht, die ich nun über ihnen ausbreite. Ihre Blicke sind gleich etwas weniger vorwurfsvoll.
Irgendwie fühle ich mich heute Morgen anders. Wacher. Ich fühle mich echter, mehr nach mir selbst. Hmm, vielleicht wird meinem Unterbewusstsein ja gerade bewusst, dass ich ab sofort nicht mehr Vollzeit in meiner ganz persönlichen Bürohölle arbeiten werde, sondern tatsächlich wieder Freiberuflerin bin, wieder fotografieren, schreiben und recherchieren kann. Meine Chefin traut mir wieder zu, kreativ zu sein und erlöst mich von den Verwaltungsarbeiten. Allerdings will sie mich nicht überfordern und besteht darauf, dass ich zunächst nur kleine Projekte übernehme. Immerhin HABE ich so wenigstens Aufträge, seien sie auch noch so winzig. In der kommenden Woche werde ich mich auf die Suche nach passenden Motiven für eines der Lifestyle-Magazine unseres Verlages machen.
„Zauber der Natur" - ich soll den Artikel mit einer passenden Fotostrecke unterfüttern. So ein langweiliges Thema, aber eben auch ein Kinderspiel für mich, was meine Chefin - ich sollte sie jetzt wohl besser wieder Kundin nennen - sehr wohl weiß. Nicht umsonst lässt sie mich mit diesem Auftrag und einem mehr als angemessenen Honorar starten. Ich geb’s zu, ich bin ein bisschen verliebt in sie.
Mein Blick fällt auf das absurd große Vogelhäuschen hinten rechts im Garten. Umwuchert von Brennnesseln und Wildblumen ruht diese Monstrosität auf ihrem Ständer und sieht im Morgenlicht irgendwie unwirklich aus. Keine Ahnung, was mich da geritten hat? So viel Geld für so etwas derart Unnützes auszugeben. Aber ich bin nun mal eine Träumerin und ich mag eben schöne Dinge, ob ich sie auch benutzen kann und sie einen tatsächlichen Zweck erfüllen, ist eher nebensächlich. Und schön sieht sie aus, die kleine Himmelsvilla. In diesem Licht wirkt sie beinahe bewohnt und ich glaube fast, Stimmen zu hören. Lachen und Singen und das Geräusch von klapperndem Geschirr.
Waren es wirklich nur ein paar Gläser Wein gestern Abend?
Ich nippe an meinem Kaffee und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich halte mein Gesicht in die aufgehende Sonne, genieße es, den Tag in Ruhe auf mich zukommen lassen zu können.
Aber, wenn ich mich heute schon mal so gut fühle, so ganz und so richtig, dann will ich auch mal wieder tun, was ich mir sonst nur wünsche, wenn ich den Arsch nicht hochkriege und den Tag vertrödele. Also ab unter die Dusche und dann pack ich die Hunde ein und auf geht’s in die Stadt. Samstag ist Markttag und ich liebe unseren Markt.
Eigentlich... Ich war lange nicht mehr dort.
Heute wird es mal wieder Zeit für etwas Normalität. Vielleicht koche ich mir ja nachher sogar was oder räume mein Chaos auf.
*****
Lia bekommt also tatsächlich ihren Hintern hoch und vergräbt sich mal nicht zu Hause.
Unbemerkt von Max und Ella, die viel zu sehr mit sich und ihrer eigenen tollen Neuigkeit beschäftigt sind. Wie zwei Frischverliebte können sie kaum die Hände voneinander lassen, sind einmal ganz bei sich.
Max sprüht vor Tatendrang und will am liebsten heute schon das Gästezimmer, das sie ohnehin nicht brauchen, zum Kinderzimmer umbauen. Ella, wie immer die Vernünftigere von beiden, treibt ihn allerdings schließlich aus dem Haus und zur Arbeit.
Als Ella und Max vor einigen Jahren mit Lia in die Stadt zogen, hatten sie sich zuerst nur um Lias kleine Garten gekümmert. Da sie aber die weiten Ländereien des Klans gewohnt und außerdem auch immer kräftig von Lias Oma - eigentlich vom ganzen Dorf - für alle möglichen Arbeiten eingespannt worden waren, langweilten sie sich schnell. Und der Minigarten warf natürlich auch nur das Nötigste ab. Der Speiseplan war längst nicht so abwechslungsreich, wie sie es gewohnt waren.
Gemeinsam mit Lia hatten sie sich also die nahegelegenen Grünanlagen und Parks näher angesehen. Tatsächlich fanden sie in dem wenige Kilometer entfernten Stadtpark eine lose Gemeinschaft von kleinen Leuten, die diesen bewohnten und bewirtschafteten. Max und Ella sind nicht nur fleißig, sondern auch wirklich gut darin, neue Freunde zu finden und so handelten sie mit der örtlichen Kolonie des Volks eine Anstellung aus. Sie halfen bei der Bewirtschaftung und Aufrechterhaltung der Magie des kleinen Parks und bekamen ihren Teil der Ernte ab.
Ella kümmert sich um Lias Garten und geht einmal die Woche mit Max gemeinsam zu Arbeit. Früher ist er oft mit Lia gemeinsam gefahren, hat seine Mittagspausen mit ihr verbracht oder ist auch mal mit ihr zu Foto- und Recherchetouren unterwegs gewesen. So war es jedenfalls früher.
Heute fährt Max nicht mehr mit dem Bus oder hängt mit Lia bei ihrer Arbeit rum, es sei denn er vermisst sie so sehr, dass er ihr als stummer Schatten durch den Tag folgt.
An den meisten Tagen aber fliegt Max in den Park und lässt sich die frische Luft um die Nase und durch seine dunkelblonden Locken wehen. Fliegen geht sowieso viel schneller...
Max hat viele Freunde im Park und ist heute so guter Laune, dass er alle anderen ansteckt. Verraten will er sein süßes Geheimnis allerdings noch nicht, er genießt es, zu wissen, dass er Vater werden wird (es fühlt sich sogar unwirklich an, auch nur daran zu denken, aber auch so schön) und vibriert innerlich vor Glück und Freude. Irgendwie will er das noch nicht mit den anderen teilen. Außerdem wäre es nicht richtig gewesen, Ella zu übergehen. Sie würden es gemeinsam verkünden, aber erst einmal gehört, diese Neuigkeit nur ihnen ganz allein.
...ihnen und Lia.
Bei aller Ausgelassenheit und Freude versetzt dieser Gedanke Max dann doch einen Stich und trübt seine Euphorie ein wenig. Eigentlich müsste Lia diese besondere Zeit mit ihnen teilen. Dass sie die Bewacherin seiner Kinder würde, war schon immer klar. Aber was, wenn sie nicht rechtzeitig zu ihnen zurückkehrt?
Grübelnd biegt er am späten Nachmittag in die schmale Hauseinfahrt ein und fliegt vorbei an Lias altem VW-Bulli in seinen heimischen Garten. Ella kommt ihm bereits aufgeregt entgegen.
„Max! Du wirst es nicht glauben..."
Max hält sie in der Luft an und greift ihre Hände. Sie ist ganz aufgewühlt, das kann doch nicht gut für die Babys sein! Doch dann fällt sein Blick auf Lia, die im Garten arbeitet.
„Ella, was macht sie da?"
„Schatz, sie war heute Morgen auf dem Markt, sie hat gekocht und ist mit Jax und Izzy stundenlang im Wald unterwegs gewesen. Sie lacht! Und jetzt erntet sie. Wintervorräte für kleine Leute...
Ich glaube, sie hat keine Ahnung, was sie da genau tut, aber sie tut es."
Ellas Augen schimmern feucht und ihr ganzes Gesicht leuchtet vor Hoffnung.
Max umarmt sie und ihm wird etwas leichter ums Herz.
Meine neue, alte Arbeit tut mir gut. Ich hänge abends nicht mehr antriebslos herum, fühle mich nicht mehr ganz so sehr wie ein Fremdkörper in einer ansonsten homogenen Welt.
Auch heute Morgen bin ich gut aus dem Bett gekommen, habe gefrühstückt und mich bereits für den Tag angezogen. Ich werfe gut gelaunt einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor ich Jax und Izzy aus dem Bett schmeiße. Die beiden haben mich vorhin geflissentlich ignoriert und stellen sich schlafend, seit ich aufgestanden bin. Ihre kleinen afrikanischen Hintern verstecken sie unter meiner warmen Bettdecke, nur die Ringelschwänzchen gucken an einer Stelle hervor.
Mein Spiegelbild gefällt mir nicht! Ich sehe so artig aus, spießig irgendwie... Okay, ich bin spießig und langweilig und brauche schon lange keine wilden Partys und durchzechten Nächte mehr. Aber seit wann sehe ich denn auch so aus? Geglätteter Langweilerbob, die grauen Augen dezent geschminkt. Rosa Lipgloss unterstreicht meinen einigermaßen frischen Teint. Meine Nägel sind unlackiert und kurz. Ich trage einen leichten Blazer über einer dunklen Bluse, Jeans und flache Ballerinas. Die alltägliche Arbeitsuniform, so nichtssagend und austauschbar.
Ich schiebe die Ärmel meiner Bluse hoch und betrachte meine tätowierten Arme. Wie lange habe ich meine Tattoos nicht mehr angesehen? Sie schienen so unwichtig in den letzten Monaten. Wirklich gesehen, habe ich sie jedenfalls schon lange nicht mehr. Was sehr schade ist, denn sie sind richtige Kunstwerke.
Mein linkes Handgelenk ist ganz warm, brennt schon fast, wie so oft in den letzten Tagen. Als wäre das kleine Zeichen an meinem linken Handgelenk lebendig, als wollte es Kontakt mit mir aufnehmen. Meine Gedanken wandern zu Cres, der heute in London lebt und dort mit zwei Freunden ein Tattoo-Studio betreibt. Alle meine Tattoos hat er mir gestochen. Crash Boom Bang, so hat er das Studio genannt als Anspielung auf seinen Namen. Ernie und Sean streiten sich bestimmt noch immer darum, wer von ihnen Boom und wer Bang ist. Eine wilde Sehnsucht erfüllt mein Herz. Wie albern! Er ist doch nur ein alter Bekannter aus früherer Zeit, nicht etwa eine verflossene Liebe oder so. Woher kommt der nagende Schmerz, das Gefühl als hätte ich etwas Wichtiges verloren?
Mein Handgelenk prickelt und sticht.
Kurzentschlossen strecke ich meinem Spiegelbild die Zunge heraus und wühle in meinem Schminkschränkchen nach dem schwarzen Kajal. Ich ziehe mir einen Lidstrich und tusche mir kräftig die Wimpern nach. Schon besser.
Aber diese Frisur nervt. Und dieser Blazer ist doch irgendwie ungemütlich. Ich fühle mich darin erwachsener, als ich sein will und irgendwie verkleidet. Ich will auf Fototour, da könnte es doch ruhig etwas gemütlicher sein. Ich schäle mich aus Blazer und Bluse, die ich über die Basenjibeule auf meinem Bett schmeiße. Noch immer keine Regung, aber ich meine, ein leises Unmutsgeräusch zu hören. Faule Bande!
Ich wühle in meinem Schrank und entscheide mich schließlich für eine einfach schwarze Schlupfbluse mit Dreiviertelarm (hey wozu bin ich denn tätowiert, wenn es nie einer sieht??) und kicke meine dezenten grauen Treter dezent unter mein Bett. Wo waren noch gleich meine weinroten Chucks?
Über Tag streife ich durch die Parks und Grünanlagen in der Nähe und schieße einige Fotos für meinen aktuellen Auftrag. Allerdings mache ich viel mehr Fotos von den Hunden als von der Umgebung. Die Natur ist mir hier viel zu glatt. Ihren wahren Zauber habe ich noch nicht vor die Linse bekommen, obwohl wir hier so viele tolle grüne Ecken haben. Etwas fehlt. Das Licht ist es nicht. Die spätsommerliche Sonne zaubert genau die richtige Stimmung. Gegenlicht, Sonnenflecken, daraus kann man doch was machen! Aber alles sieht viel zu gewollt aus.
Unzufrieden kehre ich mittags in ein kleines Café ein. Ich sitze draußen mit Blick in den Park, Izzy und Jax liegen unter dem Tisch und lassen sich die mitgebrachten Kauknochen schmecken, während ich gedankenverloren in meinem schicken Fruchtsalat rumstochere.
Vielleicht sollte ich nach Hause fahren und dort ein paar Fotos schießen? Ich war schon so lange nicht mehr dort und Omas Haus kann doch sicherlich eine Stippvisite vertragen. Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen, ob erwartungsvoll oder ängstlich kann ich nicht wirklich sagen.
Und dieses verdammte Handgelenk juckt! Hat mich da etwas gestochen? Ein ganzer Mückenschwarm oder so? Zum hundertsten Mal inspiziere ich die Haut.
„Juhuuuu, Lia!! Das ist aber schön dich hier zu treffen!"
Steffi Schmitz. Abteilungsleiterin Layout. Bitte nicht!
Affektiert und mit einem künstlichen Lächeln stöckelt sie auf ihren High Heels an meinen Tisch. Sie nimmt natürlich sofort Platz und verscheucht die warnend brummelnde Izzy von ihrem Platz zu meinen Füßen.
Wir trinken gemeinsam einen Kaffee und sie quatscht mich mit dem neuesten Bürotratsch voll. Steffi ist wie eine Lawine, die alles mit sich reißt und in einem Berg aus Klatsch und Lästereien unter sich begräbt. Ich habe keine Lust zu diskutieren und lasse sie gewähren. Wenigstens denke ich nun nicht mehr an zu Hause und sie lenkt mich auch von diesem Phantomjucken ab.
Zum Abschied überredet Steffi mich, am Wochenende zum Seefest zu kommen und mal wieder richtig einen drauf zu machen mit den Kollegen. Eigentlich lasse ich sie nur reden und versuche an den richtigen Stellen zu nicken. Nicken klappt super, das mit den richtigen Stellen üben wir besser noch, denn eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor, am Wochenende auszugehen. Immerhin soll es Live-Musik geben, und dieses Mal spielt keine 90er-Coverband oder die Schlagertruppe vom letzten Schützenfest, sondern eine angesagte Punkrockband.
„Mach dir nichts draus.", tröstet Steffi mich, „Dann trinken wir eben ein Piccolöchen mehr, um das Gegröle besser zu ertragen."
Augenzwinkernd und Luftküsschen neben meine Wangen hauchend, stöckelt sie schließlich von dannen und ich kann mir ein genervtes Augenrollen so grade noch verkneifen.
Jax und Izzy springen an mir hoch und legen mir, jeder auf einer Seite, die Pfötchen auf die Oberschenkel. Sie mustern mich mit fragendem Blick. Ein leicht hysterisches Lachen blubbert in meiner Kehle. Selbst meinen Hunden ist klar, dass die Musik das Einzige ist, was mich durch diesen Abend bringen wird.
Steffi scheint ein gänzlich falsches Bild von mir zu haben. Sie und meine anderen Kollegen sind nett und entspannt, trotzdem habe ich außerhalb des Jobs noch nie Zeit mit ihnen verbracht und mit ihnen feiern möchte ich schon gar nicht.
Schon wieder wandern meine Gedanken zu Cres und meinen anderen alten Freunden. Wer war denn noch mal Max?
Dieser Name geistert mir durch den Kopf, aber ich kann ihn einfach keinem passenden Gesicht zuordnen. Ich sollte mal wieder mit Linda telefonieren, vielleicht weiß sie, wohin mit dem Namen. Außerdem haben wir uns ewig nicht gesprochen und ich will den Kontakt zu ihr nicht gänzlich verlieren.
Auf dem Nachhauseweg stoppe ich an einem kleinen Friseurladen, in dem ich früher häufiger gewesen bin. Wenn schon Seefest mit Steffi dann wenigstens nicht mit glattem Langweilerbob.
Zu Hause angekommen betrachte ich mich erneut im Spiegel. Das sieht doch schon eher wieder nach mir aus. Endlich wieder ein Undercut! Und das Glätteisen schicke ich heute noch in Rente. Meine natürlichen Wellen gefallen mir so viel besser!
Statt mit Linda zu telefonieren, streife ich am Abend rastlos durch mein kleines Haus. Fernsehen nervt und auch aufs Lesen kann ich mich nicht konzentrieren. Irgendwann finde ich mich auf der Treppe ins Obergeschoss wieder. Dort befindet sich mein Atelier und mein Rumpelzimmer, in dem alles landet, was keinen richtigen Platz hat und mich im Alltag nur nervt.
Da ich in den letzten Monaten in der Verlagsverwaltung gearbeitet und auch keines meiner Bilder in irgendwelchen Ausstellungen gezeigt habe, bin ich lange nicht hier oben gewesen. Jedenfalls nicht, um mich wirklich umzusehen. Ich betrachte die gerahmten Bilder, die an den Wänden lehnen. Sie sind allesamt von mir, ganz altmodisch auf Film gebannt und selbst entwickelt. Leider habe ich hier keine Dunkelkammer. Die Handarbeit fehlt mir, das Warten auf den Moment, wenn sich das Motiv wie durch Magie aus der Schwärze des Untergrundes erhebt und seine Geschichte preisgibt.
Heute bekomme ich nicht mal mehr schöne Naturfotos mit der digitalen Spiegelreflex hin! All die Bilder hier reiben mir unter die Nase, wie gut ich mal war und was davon noch übrig ist. Absolut fucking gar nichts!
Heute Abend schaffe ich es nicht, mich lange gegen dieses lähmende, alles verschlingende Loch in meinem Herzen zu wehren.
Ich verziehe mich früh ins Bett und sperre die Welt aus. Wieder ist das warme weiche Gefühl von Fell unter meinen Fingern das Einzige, was mich im Hier und Jetzt hält und am Ertrinken hindert.
Der Rest der Woche plätschert so dahin. Ich habe mich einigermaßen gefangen, fühle mich aber als würde ich auf Autopilot laufen. Die Welt um mich herum ist so unecht. Als wäre ich einem Film gefangen, dessen Drehbuch ich nicht kenne.
Auf Menschen habe ich so gar keine Lust. Viel lieber durchstreife ich die nahegelegenen Wälder mit Jax und Izzy. Das Rauschen der Blätter im Wind, die Sonne, die durch die Baumkronen scheint, der Geruch nach Erde, Gras und Harz, das weiche Gefühl meiner Schritte im Sand - das sind die Dinge, die ich wirklich fühle und die ich genießen kann. Ich habe sogar einige brauchbare Fotos geschossen. Nichts, was mich wirklich umhaut, aber ein Rettungsanker, falls ich nichts Besseres mehr auf die Reihe bekomme.
Der Spätsommer ist mild und warm. Die Natur ist so lebendig und beschenkt uns mit ihren reifen Früchten, bevor sie sich auf den Winterschlaf vorbereitet.
Die Abende verbringe ich am liebsten auf meiner Terrasse mit einem guten Buch und einem heißen Kakao. Seltsamerweise fühle ich mich zu Hause in meinem Garten so gar nicht allein, sondern irgendwie beschützt und geborgen, fast als würde meine Familie (als ob ich noch eine hätte) über mich wachen. Ich möchte dieses Gefühl nicht hinterfragen, sondern nehme es dankbar an.
Heute Abend kann ich meine Terrasse allerdings vergessen.
Schon seit Tagen überlege ich hin und her, dieses dämliche Seefest einfach abzublasen. Ich fürchte allerdings, dass Steffi dann womöglich noch hier aufkreuzt, um mich abzuholen.
Da die Abende langsam kühler werden, entscheide ich mich für derbe Boots, eine enge Jeans, ein altes Bandshirt mit abgeschnittenem Kragen und meine Wildlederjacke. Dazu ein leichtes Tuch, das mir die Illusion gibt, mich in ihm verstecken zu können.
Eine Seite meiner kurzen Haare flechte ich mir nach hinten, sodass man den neuen Undercut auch vernünftig sehen kann. Schwarze Fakeplugs in den Ohren und ein dramatischeres Augen-Make-Up als die anderen je an mir gesehen haben. Steffi wird es hassen, also ist es genau richtig.
Wie ich mich so im Spiegel betrachte, drängen sich schon wieder Erinnerungen an Cres in mein Bewusstsein, den riesigen tätowierten Wikinger. Was habe ich nur immer mit ihm in letzter Zeit? Ich brauche echt wieder ein Leben! In der Gegenwart.
Mehr unter Leute zu gehen, ist ein guter Anfang, um nicht andauernd in die Vergangenheit abzudriften.
Steffi wartet bereits an der Haltestelle auf mich und fällt mir überschwänglich um den Hals. Keine Ahnung, warum die so einen Narren an mir gefressen hat.
Steffis Locken sind heute auf eine Weise kunstvoll verwuschelt, die nach Unmengen Haarspray schreit, und werden von einem breiten, pinken Tuch aus ihrem hübschen Gesicht gehalten. Sie trägt ein kurzes Kleid mit dunklen Leggings und Overkneestiefeln mit - ich kann es kaum glauben - flachen Absätzen und dazu eine hippe Jeansjacke mit fiesen glitzernden Strasssteinchen - pinken Strasssteinchen. Das geht ja noch.
Steffi mustert mich nun ihrerseits von oben bis unten. Hat was Raubtierhaftes dieser Blick.
„Coole Idee, ne Mottoparty daraus zu machen.“
Vorsichtig streicht sie über die kurzrasierte Seite meines Kopfes. Individualdistanz ist echt ein Fremdwort für sie.
„Aber ist das nicht ein bisschen zu viel Einsatz?“
Hallo, ich trag doch keinen bunt gefärbten Iro?! Und selbst wenn! Ich wedele mir ihre Hand aus dem Gesicht und beiße mir auf die Zunge. Ich will nicht gleich zu Beginn des Abends mit ihr diskutieren. Ist eh verschwendete Lebensenergie.
Steffi zieht mich unaufhörlich plappernd hinter sich her.
Der kleine Fußweg zum See hinunter ist voller Menschen. Vom See herauf dringen uns die ersten Gitarrenklänge entgegen. Der Fußweg macht einen Knick und gibt den Blick auf den See frei. In den Bäumen hängen bunte Lampions und auf dem Wasser treiben tausende von leuchtenden Kugeln. Die tiefstehende Abendsonne, in der die Mücken über dem Wasser tanzen, taucht alles in ein sanftes und doch dramatisches Licht. Wow!
Akustisch untermalt mit fröhlichen Stimmen und wummernden Bässen. Etwas in meinem Blut antwortet auf die Musik und dieses perfekte Bild vor meinen Augen.
„Hey, wo bleibst du denn?“
Steffi hat nach ein paar Schritten mitbekommen, dass ich nicht mehr neben ihr laufe und gestikuliert, dass ich mich beeilen soll.
„So wunderschön."
Ich kann den Blick gar nicht lösen von der Kulisse vor mir.
Steffi sieht mich verdutzt an. „Ja, schon ganz okay. Haben die ganz gut hingekriegt. Ich hoffe aber die Toiletten sind nicht zu primitiv. Immerhin sind wir ja hier mitten in der Pampa. Komm schon, lass uns weitergehen, die anderen warten sicher schon."
„Ach Steffi. Jetzt schau doch mal richtig hin. Lass es auf dich wirken. Glaub mir, du verpasst was, wenn du einfach so weiterhetzt, ohne wirklich hinzusehen.“
„Typisch Künstler!“ seufzt sie. „Lass mich raten, Süße - du wünscht dir jetzt sehnlichst deine Kamera!" Steffi lacht mich gutmütig an. „Vergiss es - heute wird gefeiert. Jetzt mach hinne.“
Wir landen an einem hübsch dekorierten Tisch unter einer alten Eiche, zu meiner Enttäuschung der Platz, der am weitesten von der Bühne entfernt ist.
Christiane aus der Buchhaltung prostet mir fröhlich zu. Oh Mann, die scheint aber schon einige Cocktails intus zu haben. Oder hat sie immer schon geschielt? Sicher bin ich mir nicht. Ich kenne sie ja kaum.
Steffi gleitet elegant zwischen die Zeitschriftenredakteure Sascha und Michael. Michael starrt ihr so auffällig ins Dekolleté, dass es mir schon unangenehm ist, aber Steffi fühlt sich anscheinend geschmeichelt. Sie stützt sich mit einer Hand an seinem Knie ab und grinst ihn lasziv an, als seine Augen endlich mal den Weg zu ihrem Gesicht hinaufschaffen. Lutz winkt mir hektisch zu und bedeutet mir, mich zu ihm zu setzen. Ausgerechnet dieser Marketing-Fuzzi.
Einzig Sascha kenne ich ein wenig näher. Ich mag seine Artikel und seine freundlich-fröhliche Art. Er ist angenehm unkompliziert und es ist leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Und doof ist er auch nicht, denn meine hilfesuchenden Blicke hat er eindeutig aufgefangen und mit einem halben Lächeln quittiert.
„Ich hol uns mal ‘ne neue Runde. Mädels, ihr bleibt bei Holunder-Hugo? Lia du auch?"
„Kannst du mir einfach ein Wasser mitbringen? Ich steh nicht so auf das süße Zeug."
„Quatsch. Du alte Spaßbremse. Nüchtern bleiben steht heute nicht auf dem Programm. Du musst nicht fahren und kannst morgen ausschlafen. Bring ihr auch ‘nen schnuckeligen Hugo, Sasch.", fällt Steffi mir ins Wort.
Sascha sieht mich fragend an.
„Ein Bier?" lächle ihn an.
„Gott sei Dank! Ich dachte schon, du tappst jetzt auch noch in die Tussifalle. Steffi hat überall klebrige kleine Fallstricke ausgelegt. Pass bloß auf!"
Sascha ignoriert Steffis säuerlichen Blick und grinst mich frech an. „Ein Bier also. Zu Befehl!"
Sascha kehrt, eine Kellnerin ein Tablett voller Gläser balancierend im Schlepptau, mit vollen Händen an den Tisch zurück. Um die mitgebrachten Bierflaschen für die Jungs und mich abzustellen, zwängt er sich zwischen Lutz und mich und lässt sich dann zwischen uns auf die Bank fallen. Lutz, der dadurch unsanft zur Seite geschoben wird, flucht lauthals und durchbohrt Sascha mit bösen Blicken. Sascha hingegen ignoriert ihn völlig und zwinkert mir verschwörerisch zu.
Sascha ist toll. Wir trinken miteinander und quatschen völlig unbeschwert und ungekünstelt. Den Rest blenden wir aus. Ich erfahre, dass er den Artikel zu meiner aktuellen Fotostrecke schreiben soll und bin überrascht, wie sehr er in diesem Thema aufgeht. Seine Augen strahlen, als er von der wahren Magie der Dinge spricht und mir erzählt, dass er diesen Artikel viel lieber in Island als im langweiligen Norddeutschland ansiedeln würde. Er schwärmt von Naturgeistern und höheren Mächten. Mir ist das alles irgendwie suspekt. Ist ja echt süß, wie sehr er sich für das Thema begeistern kann, aber irgendwie frage ich mich auch, ob er mehr als nur ein bisschen spinnt und ich lieber das Weite suchen sollte. Dazu ist er allerdings viel zu lustig. Sein Grübchen am Kinn ist mir bisher nie aufgefallen, jetzt kann ich den Blick kaum davon lassen. Immer wieder berührt er mich scheinbar aus Versehen und ich aale mich in seiner Aufmerksamkeit. Ob Izzy und Jax wohl was gegen männlichem Übernachtungsbesuch haben werden?
Ich wechsle von Bier zu Whiskey-Cola und die Stunden fliegen nur so dahin. Doch gut, dass ich nicht abgesagt habe.
Steffi nörgelt schon seit geraumer Zeit, dass sie gleich unbedingt noch in irgend so einen hippen Club in der City möchte. Leider ist Michael inzwischen zu betrunken ihr nach dem Mund zu reden und vollends damit beschäftigt sie zu betatschen. Multitasking ist eh schon nicht so sein Ding, jetzt aber erst recht nicht mehr möglich. Christiane findet alles lustig und redet pausenlos auf Steffi ein. Die Arme hatte sich den Abend offensichtlich anders vorgestellt.
Lutz habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Anfangs hat er noch einige Versuche unternommen, mich von Sascha fernzuhalten und mir Gespräche aufzuzwingen. Irgendwann ist er dann verschwunden. Um ehrlich zu sein, habe ich das nicht einmal mitbekommen.
„Was hältst du davon, wenn wir zwei Hübschen mal zur Bühne rüber schlendern und uns ins Getümmel stürzen?"
Sascha kommt mir sehr nahe und raunt mir ins Ohr: „Da habe ich dich dann ganz für mich."
Wie zufällig streift er dabei meine Wange mit seinen Lippen und mir schlägt das Herz bis zum Hals. Verdammt, ich kichere sogar albern vor mich hin. Der Alkohol tut seine Wirkung. Ich bin doch keine 15 mehr! Aber warum eigentlich nicht? Mit 15 hatte ich jedenfalls mehr Spaß als in letzter Zeit!
Hand in Hand suchen wir das Weite.
„This is just a Punk Rock Song!“ grölt es uns von der Bühne entgegen.
Ich recke die Arme in die Luft, wiege die Hüften und stimme mit ein.
„Textsicher bei Bad Religion. Nicht schlecht, Lia. Gar nicht schlecht.“, lacht Sascha mich an, legt mir den Arm um die Schulter und springt mit mir gemeinsam durch die Menge.
Kaum ist die letzte Zeile verklungen, schreit der Leadsänger ins Mikro:
“Killing in the name of!”Gitarre, Bass und Schlagzeug setzen gleichzeitig ein und die Menge rastet aus. Genau wie ich! Ich drehe mich zur Musik, verliere mich in ihr. Sascha verliere ich völlig aus den Augen.
Beim dritten mitgebrüllten Chorus macht meine Stimme fast schlapp. Eine Hand zieht mich aus der pogenden lärmenden Masse an den Rand. Ach, da ist Sascha!
„Lia Winter hätte ich gewusst, wie du abgehst, wäre ich schon viel früher mal mit dir feiern gegangen!“, brüllt er über den Lärm und dreht mich um meine eigene Achse.
Lachend und nach Luft ringend halte ich mich an ihm fest.
„Wie kann man denn bitte bei Rage Against The Machine nicht ausrasten?“
Als die Band eine zehnminütige Pause ankündigt, laufen Sascha und ich zum See hinunter, wo es ein bisschen ruhiger ist. Wir machen es uns am Ufer bequem. Sascha sieht mir tief in die Augen, nimmt mein Gesicht in seine weichen warmen Hände und streichelt mit seinen Daumen sanft über meine Wangen. Er kommt mir langsam und fragend immer näher. Zu langsam! Ich ziehe ihn am Kragen zu mir heran und küsse ihn stürmisch.
Hinter meinen Lidern blitzt es, mein Herz rast, mein Handgelenk brennt. So sehr, dass ich überrascht aufschreie, mich von Sascha löse und es bestürzt anstarre.
Zu sehen ist nichts und der Schmerz verblasst auch bereits wieder. Ich hab’ doch echt nicht mehr alle Latten am Zaun!
Ich blicke zu Sascha auf, der mich verwirrt ansieht. Seine verführerischen Lippen sind leicht gerötet von meinem stürmischen Kuss. Ich verliere mich erneut in seinen Augen und dann schnürt es mir plötzlich die Luft ab.
Ich empfinde viel zu viel, ich kann nicht atmen und weiße Schlieren ziehen an den Rändern meines Blickfeldes vorbei.
Der Boden unter meinen Füßen bewegt sich, ich kann kaum das Gleichgewicht halten. Sascha greift nach mir, um mich zu stützen.
Es ist, als würden alle Gefühle, die ich so sorgsam weggeschlossen hatte, plötzlich überkochen und mich mit sich reißen.
Ich kann nicht mehr denken.
Saschas sanfte Berührung ist zu viel - viel zu viel.
Meine Nervenenden sind zum Zerreißen gespannt, ich ertrage seine Berührung nicht. Ich weiche vor ihm zurück. Plötzlich macht er mir Angst, so wie alles um mich herum.
„Fass mich nicht an!“
Sascha streckt weiterhin die Hände nach mir aus und ich mache einen Riesensatz nach hinten, hinein ins kühle Wasser des Sees.
„Ich hab’ gesagt, du sollst deine verdammten Finger von mir lassen!“, brülle ich.
Um uns herum bildet sich schnell eine Traube von Menschen, die mir zur Hilfe eilen wollen.
„Spinnst du?!"
Mein Gesicht verzieht sich zu einem Fletschen und fauche ihn unartikuliert an.
„Bist du bekloppt? Was soll das Theater denn jetzt?!"
In meiner Hand nagt und beißt der Schmerz, als würde sie mir abgesägt. Ich wimmere. Sascha stößt ein paar Typen von sich, die mich vor ihm beschützen wollen, und verschwindet durch die Menge.
Die Leute kommen mir immer näher. Sie wollen mir helfen, glauben, dass er mich angegriffen hat.
Luft!
Ich bekomme keine Luft!
Die sollen wegbleiben von mir.
Ich schlage um mich wie eine Furie.
Weg, nur weg hier!
Schluchzend drehe ich mich um und versuche den helfenden Händen zu entkommen.
Ich renne.
Ich weiß nicht einmal wohin.
Fort vom See, fort von all den Menschen.
Auf dem Weg zurück zur Straße steht plötzlich Lutz vor mir und fängt mich ab. Er hält mich fest und sagt irgendetwas, das ich nicht verstehe. Blind vor Panik winde ich mich aus seinem Griff. Aber er lässt nicht locker, greift nur beherzter zu. Mein Handgelenk explodiert erneut in grellem Schmerz und Lutz fliegt einige Meter durch die Luft.
„Was zum Teufel?!"
Innerhalb eines Sekundenbruchteils verwandelt sich das Erstaunen in seinen Augen in echte, rohe Angst.
„Deine Augen! Scheiße, was ist mit deinen Augen? Komm mir nicht zu nahe, du Freak!"
Er robbt auf dem Hintern von mir weg, kommt dann auf die Beine und flüchtet. Das Entsetzen in seinem Blick lässt mich langsam wieder zu Verstand kommen.
Mein ganzer Körper steht in Flammen. Ein Brandfleck verziert mein Handgelenk. Na ja, was heißt ein Fleck? Die Konturen der kleinen Tätowierung sind feuerrot und verbrannt, ein pochender Schmerz zieht mir von dort hoch bis in den Kopf.
Auf dem Fußweg sind einige Leute unterwegs gewesen, die mich nun alle anstarren und leise miteinander tuscheln. Ich ziehe den Kopf ein und mache, dass ich hier wegkomme. Gott sei Dank hat mein Handy die panische Flucht überstanden. Sobald ich genügend Abstand zwischen mich und das Fest gebracht habe, rufe ich mir ein Taxi. Die Umgebung ist ruhig und jetzt mitten in der Nacht wie ausgestorben.
Der Taxifahrer mustert mich skeptisch von der Seite und versucht auf der kurzen Fahrt nach Hause tapfer ein Gespräch in Gang zu bringen. Aber ich bin wie betäubt und gar nicht fähig ihm zu antworten, eigentlich höre ich nicht einmal wirklich, was er sagt. Er gibt es bald auf und wir legen den Rest der Strecke schweigend zurück. Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld und schleppe mich zu meinem Haus.
Mir tut alles weh, so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ist das das abflauende Adrenalin? Das kann doch nicht sein. Dafür ist das viel zu intensiv. Und was ist da verdammt nochmal überhaupt geschehen? Ich merke nicht einmal, dass mir die Tränen über das Gesicht strömen, als ich es endlich schaffe die Hintertür aufzuschließen.
*****
Ella schreckt mit rasendem Herzen aus dem Schlaf hoch.
„Max? Komm schon, wach auf."
Sie rüttelt ihn unsanft an der Schulter.
„Was’n los?" nuschelt er unverständlich unter der Bettdecke hervor. Es ist mitten in der Nacht und er kann den Schlaf nur schwer abschütteln.
„Los komm - irgendetwas ist mit Lia!"
Max fragt nicht weiter, sondern springt aus dem Bett.
So ist es eben mit Ella. Sie weiß Dinge. Und wenn sie ihn so ansieht wie jetzt - die Augen weit aufgerissen und tiefschwarz - dann ist keine Zeit für Fragen. Dann ist es Zeit einfach nur zu tun, was sie einem sagt.
*****
Jax und Izzy stürmen mit freudig angelegten Ohren und mit tanzenden Trippelschritten auf mich zu, um mich zu begrüßen. Mein Herz zerbricht in eine Million kleine Scherben, die mir die Brust zerreißen.
Ich weiß nicht, warum. Aber ich sacke schluchzend im Flur zusammen und kralle mich in ihr Fell.
Es fühlt sich an, als würde alles auseinanderbrechen und die ganze Welt untergehen.
*****
Schon von weitem sieht Max, dass die Hintertür sperrangelweit offensteht und eine reglose Gestalt auf dem Boden kauert. Er hört das besorgte Winseln der Basenjis und fliegt so schnell wie er nur kann.
Mitten auf dem Flur hockt Lia. Sie riecht nach Rauch und Verzweiflung und bekommt offensichtlich gar nichts mit.
Scheiße, scheiße, scheiße!
Er fliegt hektisch um ihren Kopf herum und sucht sie mit schnellen Blicken nach Verletzungen ab, Ella versucht, die Hunde von ihrem Frauchen wegzulocken.
Plötzlich hebt Lia den Kopf ...
… und sieht Max direkt an.
Die Zeit steht still. Max verharrt regungslos in der Luft, Lia verdreht die Augen und wird ohnmächtig.
*****
Ich spüre den Windzug um mich herum. Ich blicke auf und sehe ...
Max.
Mir wird eiskalt und heiß und dann ist alles nur noch schwarz.
Ich erinnere mich!
Mein Name ist Lia Winter und ich bin Magie.
Magie in einer menschlichen Hülle, ich bin ein Mensch und ich bin die Quelle.
Ich weiß, wer ich bin, und ich weiß, warum ich bin.
Ich wurde geboren aus Magie und Wahnsinn, aus Liebe und Hass, reinem Licht und abgrundtiefer Dunkelheit und wenn ich durchdrehe, geht die ganze Welt den Bach runter.
Ich erinnere mich.
Ich weiß wieder, wer ich bin!
Meine Kindheit, meine Jugend. Alles ist wieder da! So präsent und klar als wäre es erst gestern gewesen. Als wären die vergangenen 29 Jahre, jeder einzelne Augenblick gestern gewesen. Wie ich aufwuchs, schließlich auszog und studierte, einen Job fand und meine Freunde alles für mich waren. Meine Freunde und Oma, mit der ich so viel meiner freien Zeit verbrachte, wie nur irgendmöglich (abgesehen von dem wilden Jahr in London bei Cres, aber das ist ein anderes Thema) und dann ist sie bei diesem blöden Unfall gestorben.
Oder?
Da war doch noch etwas, das mein wirrer Geist mich noch nicht sehen lassen wollte.
Ich bin Lia Winter und meine Familie ist tot.
Aber meine Freunde leben.
Max und Ella.
Cres - auch wenn er immer noch in London ist und mit seinen Dämonen kämpft.
Meine Sandkastenfreundin Linda, mit ihrem großen Herzen, die zuhause geblieben ist und sich um all die verlorenen Kinder, um das Erbe ihrer Eltern kümmert.
Und dann ist da noch Jonas.
Jonas, der Freund meiner Freunde, mit dem ich nie etwas anfangen konnte, der mich jedoch trotz allem, was zwischen uns steht, nach meinem Zusammenbruch gefunden und bewusstlos zu seinem Opa getragen, der meine Hunde versorgt hat, als ich es nicht konnte.
Ich bin Lia Winter und ich habe mich entschieden, mein Leben zu vergessen, bis ich es wieder ertragen kann.
Ich habe keine Ahnung, ob ich das inzwischen tatsächlich kann, aber ich bin wieder hier.
Ich komme sehr schnell wieder zu mir. Auch wenn es sich anfühlt, als sei ein ganzes Leben vergangen. Mir ist schwindelig und ich schüttele benommen den Kopf. All diese Erinnerungen sind binnen eines Sekundenbruchteils in mich zurückgeschnellt, als plötzlich Max vor mir aufgetaucht ist.
Vorsichtig öffne ich die Augen, um sie direkt geblendet wieder zu schließen. Die Luft vor mir flimmert und gleißend helles regenbogenfarbenes Licht brennt sich in meine Netzhäute. Panisch krabbele ich zurück und versuche auf die Beine zu kommen.
„Scheiße, nein! Was glaubst du, was du da tust?! Max nicht!!"
Warme, große Hände stützen mich und halten mich fest. Resigniert senke ich den Kopf und halte meine Augen geschlossen. Jax haut mir gutgelaunt seine Pfote auf mein gesenktes Haupt und ich höre Ellas perlendes Lachen. Dann werde ich wieder ohnmächtig.
„Da bist du ja wieder."
Ellas sanfte, leise Stimme.
Das Sofa quietscht leise unter mir. Ella wiegt mich in ihren Armen. Max stürmt zu uns und greift meine Hände. Sie sind also beide groß. War ja klar.
„Oh Gott, Lia! Es tut mir so leid! Wie geht es dir? Erinnerst du dich? Weißt du, wer ich bin?"
„Max, bitte. Mein Schädel platzt. Lass mich erstmal Luft holen!"
Ich entziehe ihm meine Hände und richte mich langsam auf. Sitzen funktioniert also immerhin schon mal.
Fiepend kommen meine Hunde angekrochen und kuscheln sich an meine Seite.
„Schatz, sie weiß, wie nervig du bist. Also erinnert sie sich sehr genau an dich!"
Ella sieht ihren Mann böse an.
Max wird rot und ringt die Hände.
Mir ist schlecht und noch immer schwindelig. Ich erinnere mich an alles. Und irgendwie doch an gar nichts.
Jedenfalls nicht an den letzten Sommer. Irgendetwas ist damals passiert und ich bin durchgedreht. Meine Gedanken kreisen nur um diesen Punkt und ich beginne am ganzen Körper zu zittern.
*****
Es bricht Max das Herz, Lia so zu sehen.
Die erste unbändige Freude, als sie ihn mit seinem Namen angesprochen hat, ist längst einem beklemmenden Gefühl von Angst und Schuld gewichen.
Er hätte sie nicht so überfallen dürfen. Bestimmt ist es zu früh. Er ist so ein Trottel.
Dass Ella so ruhig bleibt, macht ihn verrückt.
Er würde am liebsten schreien, weinen und Dinge zerstören, aber er reißt sich zusammen - mehr oder weniger.
Ella hat Tee gemacht und Lia versucht vergeblich, das Puzzle des letzten Jahres zusammenzusetzen oder vielmehr das Puzzle dessen, was kurz zuvor passiert ist.
Leichenblass, eiskalt und total erschöpft schläft Lia irgendwann auf dem Sofa ein.
Ella und Max wachen über ihren Schlaf. Der Morgen zieht bereits herauf. Unmittelbar bevor Max, der seine schlafende Frau im Arm hält, ebenfalls wegnicken kann, knallt lauter Donner über dem Haus. Lia wälzt sich hin und her. Sie weint und wimmert.
Ella springt auf und versucht vergeblich sie zu wecken.
Jax leckt ihr durchs Gesicht und Izzy hat sich verstört zu Max geflüchtet.
Lias Zustand ändert sich in den nächsten Stunden nicht. Das Wetter spielt inzwischen völlig verrückt und an einen Zufall glaubt Max schon lange nicht mehr.
Alles geht von vorne los. Er hat versagt.
Ella spricht einen Zauber über Lias unruhigem Schlaf, der sie tiefer gleiten lässt und ihr Bewusstsein ausschaltet. Damit läuft sie zwar auf Sparflamme und wird von alleine auch nicht wieder in die Realität zurückfinden, aber so verschafft Ella ihnen wenigstens Zeit, damit sie in Ruhe überlegen können, wie es weitergeht.
Lias Magie schläft und kann kein weiteres Unheil anrichten.
Ella steht an der Terrassentür und blickt in den Sturm, der durch ihren kleinen Garten tobt. Empfindliche Kälte kriecht ihr in die Glieder und Wolken verdunkeln den jungen Tag. Die Luft riecht nach Ozon und drohender Gefahr.
„Ich werde Cres anrufen.“
Max Kopf schnellt hoch. Er hat Lia gerade einen feuchten Waschlappen auf die Stirn gelegt und die Hunde unter ihre Decke gelassen.
„Das wirst du nicht!“ Max erhebt sich von der Couch und stampft entschlossen auf seine Frau zu.
„Was kann der schon tun, was wir nicht besser können?“
Ella senkt den Blick.
„Er kann sie binden.", flüstert sie, ohne Max in die Augen zu sehen.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Was, wenn sie nicht aufwacht oder wenn sie aufwacht, sich aber nicht beruhigt? Du siehst doch, was da draußen los ist. Das geht nicht von alleine wieder weg! Wir brauchen Hilfe, bevor sie alles in Schutt und Asche legt."
Ein Wort gibt das andere und die Diskussion wird immer hitziger. Max wird schlecht bei dem Gedanken daran, dass Cres Lia fesselt, ihre Magie endgültig und unweigerlich einsperrt. Ihr einen Teil ihrer Seele nimmt. Er wird sie verlieren, für immer.
Ella aber vertraut Cres. Wie immer! Die alte Eifersucht krallt sich in seine Brust und macht alles nur noch schlimmer.
Als der Regen eine kleine Pause macht, zieht Max den Basenjis ihre Regenmäntelchen an und dreht mit ihnen eine schnelle Pinkelrunde durch die Nachbarschaft. Vor einer halben Stunde haben sie Lia in einen noch tieferen Schlaf versetzt, tief genug, dass ihre Albträume sie nicht mehr erreichen können. Lange kann sie in diesem Zustand allerdings nicht bleiben und Max weiß, dass etwas passieren muss. Die Zeit läuft ihnen in mehr als einer Hinsicht davon. Wenn Ella und er erst wieder klein sind, wird es noch schwerer werden. Sie brauchen einen Menschen. Leider nicht irgendeinen, sondern einen, der sich auskennt. Max musste also zähneknirschend zustimmen, dass Ella Cres anruft. Aber er will nicht dabei sein. Er wird sicherlich nicht bei dem Angeber angekrochen kommen. Cres verletzt, wen er liebt. Immer und immer wieder. Max hat nicht nur Angst um Lia, sondern auch um seine Frau.
Sie werden ihn um Rat fragen, mehr nicht. Auch Max kann Zauber weben, er wird sicher einen Weg finden, ohne dass Cres aktiv werden muss.
Ella atmet tief durch und wählt.
Cres hebt nach einer gefühlten Ewigkeit ab und knurrt ein schroffes „Ja?" in den Hörer.
„Hi Cres."
„Ella?"
Ella wird es eng in der Kehle beim Klang seiner vertrauten Stimme.
„Cres, Lia ist wieder da...!”
„Ella, Schatz, bleib ganz ruhig. Ich mach mich direkt auf den Weg zum Flughafen. Ich bin so schnell wie möglich bei euch. Wie lange seid ihr schon groß?"
„Cres, alles ist gut. Wir sind nicht. Ich wollte nur..."
„Ella- stopp! Verarsch mich nicht. Wenn du mich anrufst, ist gar nichts gut. Sag mir einfach, wie lange ihr klarkommt und wie schlimm es ist. Ist Lia ansprechbar? Habt ihr sie im Griff?"
Ella holt tief Luft und schluckt ihre Tränen herunter. Es tut so gut, ihm nichts erklären zu müssen. Es ist richtig, ihn anzurufen. Soll Max doch schmollen, bis er schwarz wird.
Noch immer wütend stapft Max durch die Pfützen. Warum tut Ella ihm das an? Ausgerechnet Cres...
Creştin Nemenc, der Idiot! In seinem Kopf hämmert und rauscht es. Am liebsten würde er sich seine Frau wie ein Neandertaler über die Schulter werfen und in die nächste Höhle verschleppen, wo niemand außer er selbst an sie herankäme. Max weiß, dass er überreagiert. Eigentlich ist Cres auch sein Freund.
Eigentlich.
Als Max 16 war, hatten er und das neue Mädchen aus dem Klan, seine Ella, einen ganzen Winter als große Leute verbracht. Während der Jugend können Angehörige des kleinen Volkes mehr oder weniger beliebig die Größe wechseln. Erst im Erwachsenenalter wird es schwieriger und jede Verwandlung könnte die letzte sein. Man weiß es vorher nicht. Und das macht es besonders bitter, weil die letzte Verwandlung auch den Alterungsprozess extrem beschleunigt.
Max war von Anfang an total verschossen in die Neue, die allerdings interessierte, sich nur für Max' Freund Cres, der bei den verlorenen Kindern aufwuchs. Die verlorenen Kinder waren Waisen aus der magischen Welt, denen die Eltern von Linda, Lias bester Freundin, ein Zuhause gaben. Damals lebten nur Cres und zwei Kleinkinder bei den Werners, an die Max sich kaum noch erinnern kann. Sie waren nur kurze Zeit dort und hatten tatsächlich recht schnell Adoptivfamilien gefunden, was selten genug vorkommt. Aber Cres reichte ja auch vollkommen.
Viel weiß Max nicht über seine Vergangenheit und was ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Die Werners haben damals einen Wochenendurlaub in Rumänien verbracht und die dortige Quelle besucht. Gestolpert sind sie da dann aber über Cres bzw. die Menschen, die mit ihm rumexperimentierten. Soweit Max weiß, ist er von klein auf schwer körperlich misshandelt worden, um seinen geschundenen kleinen Körper dann im Wasser der Quelle heilen lassen. Immer und immer wieder. Körperlich war Cres unversehrt, als die Werners ihn mitgenommen haben, aber seine Seele heilte nicht so schnell und unkompliziert wie die äußeren Verletzungen. Wer diese Leute waren und warum sie Cres gequält haben, ist Max bis heute ein Rätsel.
Max, Linda, Cres und Lia waren jedenfalls dann als Teenies unzertrennlich und als Ella dann zu ihnen stieß, fügte sie sich nahtlos in ihre kleine eingeschworene Clique ein. Und verliebte sich unsterblich in Cres. Auch wenn nie etwas zwischen den beiden gelaufen ist, kann Max diese Zeit einfach nicht vergessen.
Erst als Cres dann zwei Jahre später wegzog, um auf eigenen Beinen zu stehen und die Welt zu sehen, hat Ella angefangen ihn, Max, wirklich zu sehen.
Plötzlich stemmen Izzy und Jax wie zwei kleine Eselchen alle Beine in den Boden und weigern sich, auch nur einen Meter weiterzugehen.
Es nieselt schon wieder, ohne dass Max das auch nur mitbekommen hätte. Die Basenjis hassen den Regen. Schlimm genug, dass ihre Pfötchen bei dem kurzen Gang nass und schmutzig werden, Wasser von oben ist nun definitiv zu viel des Guten. Beide blicken Max vorwurfsvoll an. Jax hebt ein Vorderpfötchen und schüttelt es angeekelt.
Max schmunzelt. Irgendwie kann er verstehen, warum Lia die zwei Terroristen so gern hat.