Licht im Mausoleum - Regine Mädje - E-Book

Licht im Mausoleum E-Book

Regine Mädje

3,8

Beschreibung

Im Bückeburger Mausoleum liegt ein Toter. Kai Müller, Polizist in der Kleinstadt, beginnt zusammen mit seinen Kollegen Heinrich Weber und Fanny Reichert, Licht in das Dunkel und die Vorgänge um ein verstümmeltes Mordopfer zu bringen. Während die drei sich zeitraubend durch eine wüste Menge an Daten kämpfen, pfuscht ihnen ein zweiter Mord ins Konzept. Und als wäre das nicht genug, fädelt der Mörder bereits seine dritte Tat ein.

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Regine Mädje

LichtimMausoleum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2011 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Brigitte Mück, Carsten Riethmüller

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9804-4

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über die Autorin:

Regine Mädje ist 1964 in Berlin geboren und in Lüneburg aufgewachsen. Im Anschluss an das Abitur folgte das Studium der Landschaftsplanung. Danach war sie einige Jahre als Diplomingenieurin in Celle und Exten tätig. Seit 1996 wohnt sie in Bückeburg. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nach der Familiengründung entwickelte sich ihr Hang zur Schriftstellerei. Bückeburg und das Schaumburger Land bieten, da hier verschiedene Welten aufeinandertreffen, einen idealen Rahmen für spannende Geschichten.

Prolog

Die Liebe und Zuneigung des Himmels wünsche ich dir. …, das Licht und die Wärme der Sonne wünsche ich dir, das Licht und die Klarheit des Mondes komme über dich.

Auf dass du das Herz jener Menschen erkennst, die dich hassen, und die Nähe jener Menschen erspürst, die dir wohlgesonnen sind.

(Anonymus: Irischer Segensspruch, verkürzt)

Diese Geschichte widme ichSophie, Patrick und Uwe

Montag, der 10. Dezember

Er spürte das harte Zucken im Hals, noch bevor seine Lider sich öffneten. Seine Kehle und der gesamte Rachen, sogar die Zunge fühlten sich fremd an. Dann begann in der Muskulatur ein Vibrieren, das allmählich zu einem Krampf wurde. Er glaubte zu ersticken, Angst und Schmerz schossen durch seinen Körper und alarmierten den müden Kopf. Wie durch grauen Nebel spürte er jetzt, dass ihm alles wehtat. Der zuckende Hals war nur jener Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er wollte versuchen, hier weg zu kommen, es war ein kalter, ungastlicher Ort. Aber nichts funktionierte wie gewohnt. Weder Arme noch Beine. Nicht mal den Kopf konnte er heben. Eine bleischwere Lethargie erdrückte ihn fast und machte seinen Geist stumpf. Hilflos.

Wo war er? Suchend irrte sein Blick durch die Umgebung. Verschwommen und düster wirkte alles. Wie in einem Film, in dem der Kameramann die falsche Einstellung gewählt hatte. Gab es keine Sonne? Oder narrten ihn die Augen? Doch allmählich erinnerte er sich. Das kleine Abenteuer. Danach der Wodka, als Siegestrunk. Immer wieder fanden seine Blicke nun im trüben Halbdunkel ein goldgelbes Flirren. Magisch zog es ihn an. Ein Licht in seiner Dumpfheit. Erschöpft starrte er darauf. Lange Zeit, mehr ging nicht. Nach Stunden wurde ihm die beißende Kälte bewusst. Er versuchte trotz der Lethargie, die steifen Glieder zu bewegen und fiel sofort in einen Abgrund. Ein Schock, aber rasch kam der Aufprall. Ein Stück weit rollte er, plötzlich ein zweiter Absturz, ebenso kurz. Sein Körper trudelte aus, blieb liegen. Jetzt schmerzte es noch mehr, er war auf sein Gesicht gefallen. Mehrere Muskeln krampften. Verzweifelt wollte er aufstehen. Es gelang nicht, obwohl er nicht verstand, warum. Ausgelaugt blieb er am Boden liegen, rutschte in stumpfes Vegetieren ab.

Jemand hielt ihn. Seit wann? Er hatte es nicht bemerkt. Sein dämmernder Blick schwankte hinüber zu der Person. Er spürte, dass er diese Hände kannte. Doch das Glitzern des goldgelben Glanzes zog ihn viel mehr an. Es schien jetzt heller als vorhin. Ohne es zu wollen, fixierte er sich darauf.

„Hilf mir“, versuchte er zu sagen.

Krächzende Worte hallten wie kleine Explosionen durch die Luft. War dies Lallen seine Stimme? Empfindlich zuckte er. Aber die Gestalt, die ihn hielt, würde trotzdem Bescheid wissen. Er spürte, wie etwas seine Lippen berührte. Ein schlanker Schlauch glitt hinunter in seine starre Kehle. Er schluckte, musste husten und würgen, obwohl der Hals von den Verkrampfungen fast gelähmt war. Das leise Geräusch fallender Tropfen erklang. Nicht lange danach wurde seine Lethargie schlimmer. Jemand zerrte ihn in die Höhe, aus der er vorhin abgestürzt war und bahrte ihn oben zum zweiten Mal auf. Während sein Körper von neuen Krämpfen gequält wurde, brach ihm der Angstschweiß aus. Ein lauter Schrei presste sich durch seinen festen Hals nach draußen und schien sich zu einem endlosen Echo aufzublähen. Der infernalische Schmerz, der darauf folgte, kippte ihn in die Ohnmacht. Sie bewahrte ihn davor, eine Stunde später das Brennen seines eigenen Körpers zu spüren. Das Feuer erlosch bald und nur der Geruch verkohlter Haut blieb in der Luft zurück.

Als er zum zweiten Mal erwachte, war es dunkler als je zuvor. Er spürte gigantische Angst in sich und Qual, die alles umfasste. Hart pochte das Herz in seiner Brust, pumpte gegen die Kälte an, die seinen ganzen Körper erzittern ließ. Rhythmisch hallte der kurze Doppelschlag durch die Leere in seinem Kopf. Das Atmen fiel ihm so schwer, als stände die ganze Welt wie ein feixendes Rumpelstilzchen auf seiner Brust und tanze darauf ausgelassen Narrenballett. In Todesnot saugte er gierig Luft ein, schrie seine Furcht hinaus. Wieder umhallte ihn krächzender Donner. Der dunkle Raum antwortete. Dann krampfte der gesamte Oberkörper, presste sich zusammen. Sein Denken begriff plötzlich, dass niemand helfen würde. Es war zu spät. Instinktiv suchten seine Augen das glitzernde Goldgelb von vorhin, die Lichtblicke in der Düsternis, und als hätten die flirrenden Reflexe nur auf ihn gewartet, tauchten sie wie einzelne Sterne aus dem Raum auf. Er richtete sein Sehen darauf. Sofort begann sein Herz, ruhiger zu werden, immer ruhiger.

Wie sein Atem.

Er vergaß die Not von vorhin, die Kälte, sogar den Schmerz, bis der Tod wie eine große Welle über ihm zusammenschlug. Er fühlte sich fortgerissen, während seine Augen das Licht des Goldes festhielten. Hilflos sah er sich mit dem Schwarzen kämpfen, den seine Mutter in ihrer Sprache den Sensenmann genannt hatte.

Das gelbe Glitzern wurde grell. Erst blendete es, doch rasch gewöhnte er sich daran. Die Luft bekam Wärme von der Helligkeit, die jetzt eher weiß als gelb schimmerte. Schließlich umhüllte sie ihn wie einen leuchtenden Seidenmantel. In diesem Moment wusste er, dass er unschuldig starb.

„Du musst sie auspusten. Alle auf einmal. Und dir dabei was wünschen. Aber nur im Geheimen.“

Amalia Spitzer schloss die Augen und versuchte, einen neutralen Wunsch zu finden. Ohne dabei an Kai oder Heiko zu denken. Zwei ihrer sechs Geburtstagsgäste.

„Ich will meine Ausbildung mit eins abschließen“, bat sie stumm. Chemisch-technische Assistentin sollte das Ganze mal heißen. Falls alles gut ging, innerhalb der nächsten zwei Jahre. Deshalb lebte sie seit sechs Monaten hier, in Bückeburg, diesem äußersten Vorposten am Rande Niedersachsens, in einem Ortsteil namens Röcke.

Zwei Kilometer östlich ihrer Unterkunft begann Nordrhein-Westfalen. Tief holte sie Luft und blies mit aller Kraft auf die Kerzen. Diejenigen, die am dichtesten standen, verloschen zischelnd unter dem Schleier nebelfeiner Feuchte, die unwillkürlich mit über die Torte flog. Der Rest der Kerzen erlag seinem Schicksal unmittelbar darauf.

„SUPPPPIE!“

„Du bist klasse!“

„Bei mir klappt das nie …“

Alle redeten durcheinander. Zufrieden öffnete Ama die Augen.

„Wusstet ihr, dass ich mal Berufstaucherin war?“, grinste sie blinzelnd. „Bevor es mich aus dem fernen Griechenland in dieses Dorf verschlagen hat?“

„Mit dem Dorf meinst du bestimmt Röcke und nicht Bückeburg, oder?“, hakte Kai auf der Stelle nach. Ein Einheimischer, phasenweise empfindlich. Parallel dazu redete Xynthia.

„Nicht möglich. Erzähl mal. Griechenland? Wow! Wonach hast du getaucht?“

Die große Schwarzhaarige glaubte wieder jedes Wort. So war sie immer. Begriff keine noch so derbe Ironie. Selbst dem überheblichen Geschwafel selbstverliebter Dozenten vertraute sie. Aprilscherze machten sie völlig hilflos. Das genaue Gegenteil von Fillis. Deren Name lautete eigentlich Felicitas. Aber er passte nicht, weil Fillis der Jack-Russel-Terrier unter ihnen war: Energisch, bissig, unendlich sportlich. Gelernte Krankenschwester. Machte Nachtwachen im Altersheim, um ihre Ausbildung zu finanzieren, lernte tagsüber. Wie sie das durchhielt, wusste keiner. Eine Freikletterin. Nicht nur in sportlicher Hinsicht. Auch ihre saftigen Anmerkungen zu Lehrern und Mitschülern waren immer Lacher. Manchmal aber steigerte sie sich derart in Kritik hinein, dass ihre Freundinnen die Erdung spielten, um sie aus den Höhen menschlicher Ethik heile herabzuholen. Dagegen war die Dritte im Bunde, Jana, sicher die normalste. Ein wenig romantisch, ein wenig sportlich, ein wenig modebewusst, ein wenig hiervon, ein wenig davon. Dabei fast immer gut gelaunt. Natürlich hatte sie als Erste einen Freund gefunden. Raimund, den sie auf diese Feier mitbrachte. Der arme Kerl verdankte seinen sperrigen Namen einem längst verstorbenen deutschen Schauspieler. Äußerlich wirkte er sogar ein wenig wie jener Mime. In der Körpergröße und seinem an Schlehengestrüpp erinnernden Backenbart. Ansonsten war Raimund schüchtern und lernte Forstwirt.

Amalia hatte Xynthia, Fillis und Jana an der hiesigen Blindowschule kennengelernt, ein eigenständiges Bildungsinstitut, das vor allem Schulabgängern zu einem fundierten Beruf verhalf. So unterschiedlich die vier Freundinnen im Charakter waren, so fest hielten sie derzeit zusammen, ausgesetzt in dieser fremden Welt. Die beiden anderen Gäste in der Runde waren ältere Bekannte. Heiko bildete Amas erste, große Liebe, was inzwischen der Vergangenheit angehörte. Die beiden hatten sich während eines freiwilligen ökologischen Jahrs durch den Schlamm der Peeneniederung getastet. Entkrauteten Altarme, entschlammten Weiher, pflanzten Büsche, zählten Vögel und Fische. Heiko lebte zurzeit solo, mal wieder. So laut er über diesen Umstand geredet hatte, so wenig wusste Ama, ob sie ihm seine vielen Verflossenen vergeben würde. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, pflegte ihr Vater diesbezüglich zu dozieren, und sie hatte den Spruch verinnerlicht. Doch reden konnten die zwei Peeneschlammtaucher wieder gut miteinander. Auf eine Art waren sie seelenverwandt, trotz durchstandener Trennung.

Der sechste Gast war Kai. Last, but not least. Er hatte Ama während der Vorgänge um ein Verbrechen, in das sie aus Versehen hineingeschlittert war, unterstützt. Augenscheinlich empfand er mehr. Aber auch das wollte sie gar nicht so genau wissen. Jedenfalls nicht jetzt, im Angesicht der Geburtstagstorte, an der 21 erloschene Kerzen um die Wette qualmten, als müssten sie die Rauchmeldeanlage des Hauses testen.

„Mach doch mal das Fenster auf“, bestimmte Kai mit einem Hustenanfall. Da er bei der Polizei arbeitete, besaß seine Stimme genug Autorität, um Xynthia augenblicklich aufspringen und die einzige verglaste Öffnung des Raums aufreißen zu lassen.

„Spinnst du“, quiekte Fillis sofort dagegen an. „Sollen wir hier erfrieren oder was?“

„Hey“, maulte Heiko unwirsch, „bist du so ’ne richtig harte Bergsteigerin? Kraxelst wohl nur im Sommer auf den Gipfeln rum? Wenn’s schön warm ist?“

Er warf Kai einen vielsagenden Blick zu. Etwas wie: „Diese verfrorenen Weiber. Kaum zeigt das Thermometer mal vier Grad, brauchen sie eine Sauna.“ Aussprechen tat er es natürlich nicht. Kai verstand auch so und grinste breit.

„Ist noch keiner erfroren“, verkündete er stattdessen im Brustton der Überzeugung. „Aber an Rauchvergiftung gestorben schon viele.“

„Erstens“, haderte Fillis giftig zurück, „kraxle ich nicht. Ich klettere. Das geht senkrecht hoch, du Flachlandei. Kapiert? Und zweitens kann ich dir ungefähr 1 000 Erfrierungsopfer nennen, aber höchstens zwei Rauchopfer. Und wenn du mit meiner Oma redest, die mit ihrer Mutter übers Haff gekommen ist, als Adolf den Osten aufgegeben hat, na, die erzählt dir was von Erfrorenen. Horror pur, sage ich dir.“

„Supi“, klemmte Xynthia sich unbefangen zwischen die Fronten. „Das musst du erzählen. Ich finde Geschichten von früher so spannend.“

Amalia begriff, dass sie etwas unternehmen musste, wenn der Abend noch lustig werden sollte.

„Wie wär’s mit einem Stück Torte“, offerierte sie das aktuelle Nahrungsangebot. „Auf meinem Schreibtisch stehen Teller, Tassen und der Kaffee. Raimund macht das Fenster wieder zu und jeder kriegt was Leckeres zu essen.“

„Au ja, und dann eine Polonaise“, versuchte Heiko es mit verquälter Ironie.

Niemand ging darauf ein. Die Stimmung war ungeeignet für den lausigen Witz.

„Hörst du auch Musik?“, wollte Jana fachkundig wissen.

„Ich trinke nur meinen Tee“, tönte Fillis gleichzeitig dagegen. „Hast du auch meinen Tee gemacht?“

Ama schüttelte stumm den Kopf. Gleichzeitig „ja“ und „nein“ zu antworten, war ihr trotz jahrelangen Übens nicht gelungen. Dabei besaß sie zwei ältere Brüder und einen Vater, der exakt das charakterliche Gegenteil ihrer Mutter bildete. Konträre Meinungen gab es, seit sie denken konnte. Gefühlte Jahrhunderte voll winziger Geplänkel. Nadelstiche im Kissen des Familienlebens. Ohne weiteres Nachdenken verfiel sie ihrer typischen Strategie, damit umzugehen: Rückzug.

„Dort drüben ist die Musikanlage“, verwies sie Jana in eine Zimmerecke. „Such dir aus, was am besten passt. Ich mache noch den Tee.“

Damit entschwand sie eilig in Richtung Kochnische aus dem Zimmer und brühte den bitteren Trunk auf, der nur für die Krankenschwester reserviert war. Rein äußerlich waren die beiden Schülerinnen sich ähnlich. Klein im Wuchs, Fillis maß undankbare 1,59 – Ama ganze fünf Zentimeter mehr. Man übersah sie gern und oft. Dies gemeinsame Leid bildete die Basis einer guten Kameradschaft.

Aus dem Zimmer drang Stimmengewirr bis in die Kochnische. Plötzlich dazu Musik. Die verschiedenen Tonlagen harmonisierten sich. Kein Wunder. Der Kuchen war gut geraten. Das ganze Souterrain hatte gestern danach geduftet. Als der Tee fertig war, trug Ama die Kanne hinüber ins Zimmer. Fillis blinzelte ihr dankbar zu und griff sich eine Tasse. Alle anderen saßen mit dampfendem Kaffee sowie einem kuchenbekleckerten Teller im Raum und ließen sich das Meisterwerk schmecken. Es würde doch noch eine gute Feier werden, so viel schien jetzt sicher. Bis plötzlich Fillis aufsprang.

„Die Toilette ist doch gleich gegenüber?“, bekam sie noch heraus, dann stürzte sie davon.

„Verträgt wohl den Kuchen nicht“, flachste Raimund und bekam den Ellenbogen von Jana dafür in die Rippen. Zur Entschädigung begannen alle anderen im Zimmer das Backwerk zu loben. Kurz darauf kehrte die Krankenschwester zurück.

„Geht schon wieder“, beantwortete sie die fragenden Blicke. „Ich muss mir gestern was eingefangen haben. Hatte vorhin schon so ein komisches Gefühl im Magen.“

„Was Ansteckendes?“, wollte Heiko berechnend wissen.

„Kannst du ja ausprobieren. Wollen wir die Teller tauschen?“

Er vermied es, weiter darauf einzugehen. Das Gespräch suchte sich andere Themen. Spätestens als allen klar wurde, dass Kai seinen Lebensunterhalt bei der Bückeburger Polizei bestritt, wollte Xynthia skandalöse Ereignisse aus der Gegend hören. Wahlweise auch blutige. Damit machte er an diesem Abend das Rennen. Bis sein Handy klingelte.

„Ich hab’ keinen Dienst“, maulte er mit genervtem Gesicht. Meldete sich trotzdem. Während die übrigen Gäste unnatürlich still wurden, quoll aus dem kleinen Kasten an seinem Ohr eine nicht enden wollende Litanei. Unbewusst fuhr seine Linke beim Zuhören immer wieder durch die blonden Haare, die sich daraufhin widerspenstig aufrichteten. Manchmal unterbrach er mit kleinen Einsprengseln wie „Hammer“ oder „Nicht möglich“. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in der Mitte von zwölf extrem gespitzten Ohren saß.

„Ich muss kurz raus“, versetzte er schon im Aufstehen und verschwand auf den Flur.

„Scheint ja ganz schön wichtig zu sein“, mutmaßte Heiko, nicht ganz unzufrieden. Nachdem ihm die Felle bisher weggeschwommen waren, bekam er nun doch die Chance, seinen Charme spielen zu lassen. Der „Hab-keinen-Dienst“ steckte den Kopf durch die Zimmertür.

„Ich bin schon weg“, unterrichtete er die anderen spärlich. „Sorry.“

Ein entschuldigendes Lächeln an die Gastgeberin.

„Komm’ später wieder“, rief Ama ihm hinterher.

„Mal sehen, wie lange …“, verklangen die Worte aus Richtung des dunklen Flurs.

„Partysprenger“, schmollte Jana mit einem seufzenden Unterton. „So ein Mist. Es war grade so spannend. Was wurde denn nun aus der Rollstuhlfahrerin?“

„Die ist in der Gracht ertrunken“, vollendete Heiko nicht halb so gekonnt wie Kai. „Gab eine Pressenotiz damals. Erst hat man ihren Mann verhaftet, dann wieder laufen lassen.“

„War er’s denn?“

„Bin ich Hellseher?“

„Ach was“, tröstete Xynthia.

„Dann erzählt Fillis jetzt die Geschichte von Oma mit den vielen Erfrorenen.“

Heiko verdrehte die Augen und sprang beherzt mit einer Mär über die fantastischen Polenmärkte nahe der Peene in die Bresche.

Ama fing den Ball auf, erzählte Wildwestgeschichten von Schmugglerverstecken und Maschinengewehrsalven mitten in der Nacht. Der Abend ging weiter.

„Seid ihr neugierig, was vorhin passiert ist?“, fragte Fillis plötzlich mitten in den nüchternen Bericht eines blutigen Arbeitsunfalls, den Raimund ablieferte. Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Gedanken ihrer Freunde zum Dienstanruf von Kai zurückgelenkt hatte. Dann aber blickten alle erwartungsvoll in ihr Gesicht.

„Nun sag schon“, zappelte Jana. „Du hast neben ihm gesessen. Konntest du was verstehen von dem Gespräch?“

„Die Quakstimme an seinem Ohr nannte das Wort Mausoleum“, berichtete Fillis geheimnisvoll und weitete die Augen magisch. „Vielleicht sollten wir mal vorbeigucken?“

„Mausoleum?“

„Was ist das?“

„Passen wir alle in mein Auto?“

„Das ist einer zu viel.“

Alle redeten durcheinander, aufgeregt und erwartungsvoll.

„Wo liegt denn das Museum?“, fragte Xynthia zurückhaltend.

„Das Mausoleum“, betonte Heiko bedeutungsschwer. Er konnte ein richtiger Wichtigtuer sein. „Das Bückeburger Mausoleum ist die größte Totenstätte, die ein Monarch im deutschen Raum errichten ließ. Anfang 1900, wenn ich richtig aufgepasst hab. Ungefähr 45 m hoch und 30 m breit.“

„Stark“, machte Fillis ironisch. „Warst du gut in der Penne.“

„Manchmal schon.“ Er ignorierte die Häme. „Es liegt gar nicht weit von hier. Vielleicht zwei, drei Kilometer. Wir sind im Nullkommanichts da.“

„Igitt. So eine Art Friedhof? Da will ich nachts nicht hin.“ Die Fettnapftreterin war noch nicht überzeugt.

„Gott, Xynthia“, beruhigte Heiko.

„Wir sind zu sechst. Wenn wir Glück haben, ist Kai auch da. Und wenn wir noch mehr Glück haben, ist richtig was passiert. Ein Abenteuer. Wäre doch gelacht, wenn Amas Freund uns nicht ein bisschen Interna preisgibt, was?“

„Ist er jetzt doch schon dein Freund, Ama?“

„Seit hundertfünfzig Jahren, Xynthia.“

Amalia warf ihrem Ex einen bösen Blick zu.

„Schade, ich dachte, der wäre noch …“

Rasch begriff Heiko, dass dieses Thema so unterhaltsam wie ein Minenfeld werden könnte.

„Außerdem“, lenkte er umgehend ab, „ist das Mausoleum kein Friedhof, sondern ein sehr schönes Gebäude. Es erinnert von Weitem an einen antiken Tempel. Aus weißem Stein, Travertin und Sandstein. Obernkirchener Sandstein, wohlgemerkt. Wenn du die Augen zumachst, könntest du in Rom am Forum Romanum stehen. Mit dem Unterschied, dass das Mausoleum heil ist und keine hupenden Autos um dich herumwogen. Und meistens auch keine Busladungen voller Touristen. Es liegt direkt am Schlosspark. Harmlose Gegend. Lauter Einfamilienhäuser ringsumher. Ein bisschen Wald, ein bisschen Wiese. Bist du denn sicher“, wandte er sich an Fillis, „dass Mausoleum gesagt wurde?“

„Ganz sicher. Ich habe gute Ohren.“

„Also?“ Siegessicher schaute Heiko in die Runde.

„Los“, gab Ama das Startsignal.

Sie hielten noch an der Mindener Straße, kurz nachdem der Kreisel zum Hasengarten passiert war.

Das Schloss leuchtete in der Ferne märchenhaft illuminiert durch die Dunkelheit. Strahlend flutete das Bild der Westfront durch die alte Blickachse, die man erhalten hatte. An der Ecke zur Richard-Sahla-Straße, nahe dem Mausoleum, klopfte das rhythmische Blinken eines Blaulichts an die Baumstämme des Wäldchens, das die ehrwürdige Nekropole rückwärtig umgab.

„Besser, wir gehen zu Fuß weiter“, ordnete Heiko an. „Die Bullerei braucht nicht zu sehen, wie sich vier Leute auf meine Rückbank quetschen.“

Erleichtert quollen alle aus seinem hoffnungslos überladenen, alten Fiesta.

„Ob die uns überhaupt dicht ranlassen“, zögerte Raimund.

„Klar“, belehrte Jana ihn. „Wir machen einen Abendspaziergang und wissen von nichts. Ist doch nicht verboten, oder?“

„Es ist halb zehn.“

„Und gleich steigen die Vampire aus ihren Gräbern. Sie hauchen mir schon in den Nacken. Huhuhu …“

„Biss zur Abenddämmerung …“, grunzte Heiko mit abgrundtiefer Stimme.

„Am besten“, entschied Ama, „nehmen wir diese kleinen Wege hier durchs Wäldchen. Vorn, an der Straße werden sie uns gleich fortschicken, wenn schon Blaulicht dasteht. Die haben doch immer Angst vor Gaffern.“

„Kennst du dich hier aus“, wollte Xynthia wenig begeistert wissen. Mit mulmigem Gefühl starrte sie in das Gewirr aus alten Bäumen und jungem Dornengestrüpp, das sich vor ihr als dunkler Schatten erhob. Und wie Ama sich auskannte. Als Waldliebhaberin hatte sie sämtliche Baumbestände, die ihren täglichen Weg zwischen Röcke und Bückeburg flankierten, längst erforscht. Dieses Gehölz mit seinen vermatschten, schmalen Wegen war wirklich keine Herausforderung. Schon wenige Minuten später näherten sich die sechs der rückwärtigen Front des mächtigen Gebäudes. Matt schimmerte der helle Sandstein im nieseligen Dunkel des Winterabends. Aus den Fenstern schwappte ungewöhnlich viel Licht nach draußen. Ein kleiner Pfad führte das Grüppchen bis nach vorn, an die breite Freitreppe der Anlage. Erst hier hatten die Ordnungshüter Absperrband gezogen.

Eine kleine Lampe bot spärliches Licht. Drinnen, in dem tempelartigen Gebäude, war es deutlich heller. Dort tobte das örtliche Polizeileben. Neugierig standen die Geburtstagsgäste am Fuß der Treppe, hofften auf ein Wunder und reckten die Köpfe. Die Dunkelheit bedeckte alles so gut, dass sie bisher niemand bemerkt hatte. Gedämpft unterhielten sie sich. Als hätten die stummen Bitten der sechs ausgereicht, schälte sich plötzlich Kai aus dem mächtigen Bronzeportal des weißen Baus. Er ging abgelenkt die Treppe hinunter, hielt sich nach links, in Richtung des irrlichternen Polizeiwagens an der Richard-Sahla-Straße.

„Hey, Kai“, rief Jana ihn halblaut an. Er stockte, starrte irritiert durch die Düsternis. Die einsame Lampe schien ihn eher zu behindern. Vorsichtig durchforschte sein Blick den tiefen Schatten, den dichte Nadelbäume beidseits des Abstiegs erzeugten.

„Wir sind’s nur“, warf Ama hinüber.

„Wo kommt ihr denn her“, erkannte er das Grüppchen endlich. Änderte seine Marschrichtung, stapfte quer über die Breite der Treppe und stoppte unten, unmittelbar an der Absperrung.

„Aus dem Ort, der wie das Frauenkleidungsstück heißt“, informierte Heiko.

„Fillis hat gehört, dass sie dich zum Mausoleum bestellt haben“, erteilte Xynthia breitwillig Auskunft.

„Aber ich hab’ doch …“

„Was ist denn hier passiert“, ließ Jana ihn gar nicht ausreden. Das Fragezeichen stand ihr wie mit Neonstift ins Gesicht gemalt. „Das sieht ja aus wie im Tatort. Blaulicht, Absperrband und so. Habt ihr auch einen Mord?“

„Naja. Sagen wir mal: Einen Toten.“

„Selbstmörder“, schlussfolgerte Heiko spontan. „Hat sich das Mausoleum zum Sterben ausgesucht, weil’s so ein tolles Grab sonst nirgends gibt.“

„Glaub ich nicht“, erwiderte Kai zögernd. Man sah ihm den Gewissenskonflikt an. Eigentlich befand er sich seit einer halben Stunde wieder im Dienst.

„Zwei Tote“, mutmaßte Jana skandalgierig. „Der Fürst und seine heimliche Geliebte haben sich beim Techtelmechtel …“

„Jetzt halt aber deine vorlaute Klappe“, fiel Raimund ihr ungewöhnlich laut ins Wort. Hierzulande hielt man treu zum hiesigen Adelsgeschlecht. Meistens.

„Ach quatsch“, kommentierte Kai lachend. „Der geht doch nicht mitten in der Nacht ins Mausoleum. Hier gibt’s gar keine richtige Heizung. Der sitzt montags abends lieber im Känguruh und macht Musik.“

Alle kicherten. Die Stimmung löste sich.

„Wie viele Selbstmörder habt ihr denn jetzt“, fasste Amalia neugierig nach.

„Keinen Einzigen.“

„Dafür steht hinten an der Mindener Straße ein Blaulicht und macht die ganze Gegend verrückt?“

„Hast du schon mal einen Selbstmörder gesehen, der sich selbst ankokelt und wieder löscht?“

„Kai Müller!“

Als hätte man ihm unsanft einen Knüppel zwischen die Schulterblätter gestoßen, zuckte der Genannte zusammen. Nicht er allein, auch Ama wurde sofort kleiner. Die anderen fühlten sich befangen, dabei kannten sie die Sprecherin gar nicht. Noch nicht, denn eben setzte sie sich vom Bronzetor aus, wo sie unsichtbar eine Weile verharrt hatte, in Bewegung. Schritt die Freitreppe hinab wie eine Königin, der eben der Goldball in den Brunnen gerollt war. Fanny Reichert, Kais direkte Vorgesetzte. Sie erreichte zwar nicht ganz seine Körpergröße, aber der eine Zentimeter Unterschied blieb rein rechnerischer Natur.

Fanny glich ihn spielend aus durch bissige Autorität, die sie wie eine Aura umschwebte. Trotz der Nachtschwärze des Winterabends identifizierte jeder das dumpfe Grollen in ihr. Zu allem Übel rutschte Kai auch noch ein leises „Mist“ heraus. Er wandte sich mit dünnem Lächeln um.

„Sind nur Freunde von mir“, startete er eine Erklärung. „Wir hatten gerade zusammen gefeiert, als dein Anruf vorhin kam.“

„Wieso nimmst du Dienstgespräche in Anwesenheit von Zuhörern an“, fragte sie mit vereistem Unterton. Ihre kurzen, dunklen Haare schienen sich zu sträuben dabei.

„Weil ich nicht wusste, dass du dran bist und was Dienstliches willst.“

„Was hätte ich denn wohl außer Dienstlichem wollen können?“

Die Dunkelheit verdeckte gütig die Röte, die ihm in den Kopf stieg.

„So meine ich das nicht. Außerdem habe ich nicht …“

„Du hast doch aber eine Anruferkennung am Handy“, unterbrach sie ihn gnadenlos. Starrte ihn aus rehbraunen Augen an, die sich im Laufe vieler Jahre einen scharfen Ausdruck angewöhnt hatten.

„Na klar. Aber ich habe …“

„Und weißt genau, dass ich nicht wegen Kleinscheiß abends um neun bei dir anrufe. Und erst recht nicht privat.“

„Ja. Klar. Logisch. Ich hätte gleich rausgehen sollen. Entschuldige, Fanny.“

„Bestens. Dann hätten wir das ja geklärt. Willst du deinen Feierfreunden jetzt erklären, dass wir hier ermitteln müssen und sie sich bitte schön aus dem Umfeld des Tatorts entfernen mögen? Besonders sie, Frau Spitzer.“

Sie warf einen bittersüßen Blick auf Amalia, die dabei um weitere zwei Zentimeter schrumpfte. Die Ermittlerin war vor einigen Monaten auf sie angewiesen gewesen. Aber Ama spielte damals eigensinnige Zeugin und Fannys energischer Fleiß hatte empfindliche Kompromisse eingehen müssen. Das brauchte kein zweites Mal passieren.

Dienstag, der 11.Dezember

„Wollen wir was zusammen essen? So gegen halb eins?“, fragte Amalia ins Handy. Heute brannte ihr die Neugier unter den Nägeln. Was lag da näher, als eins der üblichen Treffen beim Imbiss mit Kai zu verabreden.

„Keine Zeit“, behauptete er kurz angebunden. Kurzes Schweigen. „Aber ich muss nachmittags noch mal zum Mausoleum. Wann fährst du heim?“

„Gegen halb vier. Um drei ist der Unterricht zu Ende. Dann will ich noch mit den anderen quatschen. Aktuelle Fragen klären, Blindowklatsch abgreifen und so. Aber wenn ich erst mal auf meinem Fahrrad sitze, bin ich in acht Minuten unten am Mausoleum.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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