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Vor vielen tausend Jahren kamen die Todesengel nicht länger ihrer Aufgabe nach, die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits zu geleiten. Zur Strafe wurden sie verstümmelt und als geächtete »Wesen« in die irdische Welt Madayas verbannt. Dort ruhen sie in Ketten, bis sie erwachen, um sich an einen menschlichen Meister zu binden. Verona erwacht früher als geplant aus ihrem Dämmerschlaf und erwählt die junge menschliche Magierin Liciana. Doch jemand hat es auf Liciana abgesehen – und so muss das ungleiche Paar zusammenarbeiten, um herauszufinden, was hinter den rätselhaften Anschlägen steckt, die den geheimen Orden erschüttern …
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2023
D. Snow
Licianas Pakt
© 2023 D. Snow
Umschlag, Illustration: Martin Schampatis
Lektorat, Korrektorat: Simon van de Loo
Druck und Distribution im Auftrag D. Snow:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback 978-3-384-01979-0
Hardcover 978-3-384-01980-6
e-Book 978-3-384-01981-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist D. Snow verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Dieses Buch entstand in Chaos Books
Zusammenarbeit mit dem Syndicate.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1 – Das Erwachen
Kapitel 2 – Die Verbindung
Kapitel 3 – Der Angriff
Kapitel 4 – Neue Erkenntnisse
Kapitel 5 – Der Winterspitz
Kapitel 6 – Das Anwesen
Kapitel 7 – Flucht
Kapitel 8 – Wendung
Epilog
Danksagung
Über den Autor
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Titelblatt
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Prolog
Über den Autor
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An Björn, der mir immer wichtig sein wird. An Chipsy, die auf einem Regenbogen Ratten jagt. Und natürlich an meine Familie.
Prolog
»Alles begann mit dem Feuer«, murmelte die alte Frau, die sich zum Kamin gebeugt hatte und in der Glut stocherte, um die züngelnden Flammen neu zu entfachen. »Nicht viele kennen diese Geschichte – dabei ist sie so bedeutsam wie keine andere. Einst sind die Wesen unter uns gewandelt und haben Angst und Schrecken verbreitet. Doch das ist lange her.«
»Erzählt uns davon, Magistra«, ertönte eine fordernde Stimme hinter ihr.
Als die Magistra sich umdrehte, entdeckte sie sieben Kinder, die es sich vor dem gemütlichen Ohrensessel bequem gemacht hatten. Einige von ihnen kannte sie, anderen war sie stets nur flüchtig begegnet. Im Laufe ihrer Tätigkeit hatte sie viele Geschichten erzählt, doch ob diese Geschichte geeignet für die empfindlichen Ohren wäre? Eigentlich war es eine Schande, dass die Novizen noch nie davon gehört hatten, markierten die damaligen Ereignisse doch einen wichtigen Umbruch in der Struktur des geheimen Ordens. Ächzend richtete sie sich auf, hielt sich den schmerzenden Rücken und humpelte zu dem Sessel, in den sie sich vorsichtig sinken ließ. Einer der Novizen hastete zur nebenan stehenden Kommode, holte ein Kissen und bettete es unter ihre geschwollenen Füße. Welch ein Privileg – welch außergewöhnlicher Eifer.
»Ihr wollt es wirklich wissen, hm?«, fragte sie schmunzelnd.
»Es wäre uns eine Ehre, Magistra.« Der Junge, der ihr das Kissen gebracht hatte, deutete eine Verbeugung an. Er war noch jung, bestenfalls zwölf. Die Kinder des Ordens wurden ihren Eltern entrissen, sobald das Mana in ihnen erwachte. Hier lernten sie eine neue Familie kennen – eine Familie, der sie bis in alle Ewigkeit treu ergeben waren.
»Die Geschichte ist lang«, gab die alte Frau zu bedenken. »Morgen früh ruft euer Zirkeltraining. Ihr seid euch sicher, dass ihr sie hören wollt?«
Einstimmiges Nicken. Etliche neugierige Augenpaare waren auf die alte Frau gerichtet, die nach dem auf dem Beistelltisch liegenden Notizbüchlein griff und es aufschlug. »Nun gut. Wie ich gerade sagte: alles begann mit dem Feuer.«
* * *
Liciana schrie auf, als ein brennender Balken vor ihr auf den Boden krachte. Hektisch riss sie ein Stück von ihrer weinroten Robe ab und hielt es sich vor Mund und Nase. Ihre Augen tränten, weil der beißende Rauch in ihnen brannte.
Wo waren die anderen?
Alles war so schnell gegangen. Gerade eben noch hatten sie scherzend im Kreis beisammengesessen und sich über Magistra Maive ausgelassen, da hatte sie auch schon der dichte Rauch aufgescheucht. Anfangs war sie bei den anderen Novizen gewesen, hatte sich an Ido gehalten, der sie mit unerschütterlicher Ruhe hinter den anderen herführte. Doch dann war sie unaufmerksam geworden, hatte sich nach etwas umgedreht, was sie für nichts weiter als einen flüchtigen Schatten gehalten hatte – nur für wenige Sekunden. Und war Ido fort gewesen, ebenso wie alle anderen.
Sie war allein in den brennenden Gemächern der alten Versammlungshalle, aus der es kein Entkommen gab.
»Ido!«, schrie sie erneut, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören würde, und hustete, als ein Schwall Qualm in ihre Atemwege drang. Ihre Stimme klang krächzend und brüchig. »Ido – Ido, wo bist du! Verdammt nochmal … wo seid ihr alle?«
Verzweifelt drehte sie sich im Kreis, suchte nach einem Ausweg, doch überall war dunkler Rauch, der ihre Sicht verschleierte. An den Wänden leckten lodernde Flammen empor. Der einzige Fluchtweg war versperrt. Die Hitze versengte ihre Haare und sie hatte das Gefühl, dass ihre Haut in Flammen stand.
Halbblind stolperte sie vorwärts, versuchte, durch den dichten Tränenschleier vor ihren Augen etwas zu erkennen. Mit zitternden Fingern nahm sie den Stofffetzen von ihrem Mund und band ihn im Nacken zusammen, sodass sie die Hände freihatte. Als sie sich vorwärts tastete, stieß ihre Hand auf etwas so Heißes, dass sie vor Schmerz aufschrie. Wimmernd wich sie zurück und presste die verbrannte Hand an ihren Leib. Verzweifelt versuchte sie, an eines der Fenster zu gelangen – ihre letzte Rettung. Doch sie scheiterte. Es war einfach zu hoch, ließ sich nicht öffnen.
»Nein«, keuchte Liciana. »Nein … Ido …«
Es gab keinen Ausweg mehr. Über ihren rasch pochenden Herzschlag hinweg vernahm sie das Knistern des Feuers, das bedrohlich näherkam, sie immer weiter einkesselte. Der flammende Tod, der sich mit lautlosen Schritten an sie heranpirschte – ein Gedanke, der ihren Puls noch weiter in die Höhe trieb. Sie durfte nicht sterben. Nicht so – nicht jetzt! Zitternd umklammerte sie den Fensterrahmen, versuchte, sich mit aller Macht auf den Beinen zu halten.
Ich muss hier raus!, schrie eine imaginäre Stimme sie an, nicht einfach aufzugeben, zu kämpfen, doch Liciana spürte eine Erschöpfung, die sich nicht aufhalten ließ. Vor ihren Augen drehte sich alles. Benommen fasste sie sich an den Kopf. Ihr war schwindelig. Der Sauerstoffmangel forderte seinen Preis. Mit bebenden Knien ließ sich an der Wand hinabgleiten und versuchte krampfhaft, Luft in ihre erschöpften Lungen zu zwängen. Die Tränen, die ihre Wangen hinabliefen, brannten heißer als die Flammen, die sich bedrohlich näherten.
So darf es nicht enden!, schoss ein sich aufbäumender Gedanke durch ihren Kopf, schrie gegen die Ohnmacht an, die sie zu übermannen drohte. Doch Liciana schenkte dem keine Beachtung. Konnte es nicht. Das goldene Flackern vor ihr schien immer mehr zu einem undurchdringlichen Grau zu verschwimmen.
»Na, na«, ertönte plötzlich eine leise Stimme neben ihr. »Wer wird denn gleich weinen?«
Liciana fuhr herum – doch da war niemand.
Was zum …?
»Du wirkst nicht wie jemand, der zum Weinen neigt«, ertönte die Stimme abermals, dieses Mal aus einer anderen Richtung.
Als Liciana sich die tränenden Augen rieb und durch den dichten Rauch blinzelte, entdeckte sie eine vermummte Gestalt nur wenige Meter entfernt. Obwohl die knisternden Flammen ihr spitzes Kinn erhellten, lag der Rest ihres Gesichts im Dunkeln.
Liciana keuchte. »Wer – wer bist du? K-kannst du mich hier rausbringen?«
»Das kommt darauf an«, hauchte die Stimme, nun eindeutig belustigt.
»Was? Worauf?«
Die Gestalt trat näher heran und zog ihr mit einem Ruck den Stofffetzen vom Gesicht. Eiskalte Finger strichen über Licianas Haut, als wollten sie Muster in den Ruß malen.
»Interessant. Du bist anders«, murmelte sie.
»Ich verstehe kein Wort«, schluchzte Liciana. »Bitte, weißt du einen Weg hier heraus? Ich halte nicht mehr lange durch …«
»Du bist stärker, als du denkst«, erwiderte die Gestalt. »Aber ihr Menschen seid sonderbare Kreaturen, eigentümlich …«
Liciana erstarrte, als eine kühle Hand die ihre ergriff und sie emporzog.
»Folge mir.«
Gemeinsam durchquerten sie die brennende Versammlungshalle, wobei Liciana eher stolperte. Der Sauerstoffmangel machte ihr immer mehr zu schaffen, sie konnte kaum einen Schritt geradeaus machen. Sie hatte den Eindruck, dass der Griff der Hand sich lockerte, war sich aber nicht sicher. Als sie unter einem brennenden Bogen hindurch wankte, krachten hinter ihr glühende Balken zu Boden. Die peitschende Hitze versengte ihre feinen Nackenhärchen. Vor ihr zeichnete sich der verschwommene Umriss eines dunklen Rechtecks ab. Ein Ausgang …?
Sie wandte sich zu der Gestalt um, doch da war niemand. Absolut niemand.
Habe ich mir das alles nur eingebildet? Der Gedanke war erschreckend, doch ihre Hand umklammerte nunmehr nichts als Leere. Mit letzter Kraft taumelte sie durch die Dunkelheit und hustete, als einladender Sauerstoff in ihre Atemwege drang. Vor ihr erkannte sie unscharf das Flackern von Fackeln und vernahm Idos brüllende Stimme: »Das ist mir völlig egal, Magistra Maive, ich gehe da jetzt rein, und wenn ich als Häufchen Asche wiederkomme -«
Dann: »Liciana!«
Ist das mein Name? Der Gedanke schien nicht ihr selbst zu entstammen, und dennoch wusste sie, dass er zu ihr gehören musste. Wie ein umherwandelnder Geist wirbelte dieser eine Satz durch ihren Kopf, wie Herbstlaub, das vom Wind verweht wurde. Aber sie war sich nicht sicher. Dichter Nebel umhüllte ihren Verstand. Liciana versuchte, sich gänzlich aufzurichten, um mehr Sauerstoff in ihre Lungen pumpen zu können, doch plötzlich schoben sich schwarze Schatten vor ihr Blickfeld. Sie spürte nur noch starke Arme, die sie umschlossen, bevor sie erschöpft zu Boden glitt. Ein letztes Mal klärte sich ihr Blick und fiel auf den brennenden Eingang, in dem sie einen dunklen Schatten erahnte, der sie zu beobachten schien. Sie blinzelte. Blickte unsicher erneut in die Richtung, aber da war nichts. Der Schatten war verschwunden.
Dann schwanden ihre Sinne.
Kapitel 1 – Das Erwachen
Als Liciana zu sich kam, erblickte sie zunächst einen Kronleuchter, der grelles Licht verströmte. Geblendet kniff sie die Augen zusammen. Die Dunkelheit war so sanft und einladend zu ihr gewesen. Wie eine tröstlich wärmende Decke, in die sie sich an einem kalten, bedrohlichen Winterabend warm eingekuschelt hatte.
Sie war noch am Leben. Das grenzte an ein Wunder, wenn man bedachte, dass das Feuer sie von den anderen getrennt hatte. Die Bilder der letzten Nacht überrollten sie, schoben sich vor ihr inneres Auge und brachten die Erinnerung an beißenden Rauch mit sich, der in ihren Atemwegen brannte, an wabernde Hitze, die Panik und die Angst, dem Feuer womöglich nie mehr zu entrinnen und in seinem flammenden Schlund unterzugehen. Dann erinnerte sie sich an die verschwommene Gestalt, die ihr inmitten des Flammenmeers begegnet war, und die Erleichterung über ihr Erwachen verblasste. Sie war sich nicht sicher, ob sie es sich womöglich nur eingebildet hatte, aber da war jemand gewesen – jemand, der ihr geholfen, sie geführt hatte.
Aber wer hätte das sein sollen? Inmitten einer brennenden Versammlungshalle … kein Mensch wagt sich dorthin … mein Verstand muss mir etwas vorgegaukelt haben …
Ein letztes Mal holte Liciana tief Luft, um sich zu sammeln, dann schlug sie erneut ihre Augen auf.
»Hat sie sich bewegt? Ja, hat sie!«, ertönte eine aufgeregte Stimme, die sie sofort erkannte. »Ich dachte schon, du überstehst das nicht. Ich bin so erleichtert.«
Liciana stemmte sich auf den Ellenbogen empor und sah Ido an ihrem Krankenlager sitzen. Er war größer als Liciana, beunruhigend groß für sein Alter. Seine sandfarbenen Haare, genauso geschnitten wie ihre eigenen, fielen ihm in zerzausten Strähnen in die Stirn. Ihre eigenen Haare waren dunkler, schokoladenbraun, wie Ido sie häufig bezeichnete, und ihre Augen leuchtend grün.
Liciana zwang sich zu einem Lachen, wobei ihre Stimme ein wenig kratzig klang, als sie erwiderte: »Es war wohl etwas zu früh, um mein Testament zu verfassen.«
Jetzt grinste auch Ido. »Deinen Humor hast du jedenfalls nicht eingebüßt. Wie geht es dir?«
»Ich hab’ Kopfschmerzen und mir tut alles weh. Was ist passiert, als ich von euch getrennt wurde?«
Ido strich sich unsicher eine Haarsträhne aus den Augen. »Nun ja, wir haben Panik bekommen, sind zum Ausgang gerannt und niemandem ist aufgefallen, dass du fehlst. Als wir endlich draußen waren, hat Magistra Maive uns durchgezählt und festgestellt, dass wir nicht vollständig sind. Mir ist sofort aufgefallen, dass du nicht dabei warst. Als ich der Magistra davon berichtet habe, ist sie im Dreieck gesprungen. Ich wollte gerade selbst zurück, um nach dir zu suchen, da kamst du bereits rußverschmiert aus dem Gebäude gewankt. Den Rest kennst du.«
Liciana runzelte die Stirn. »War da noch jemand? Hinter mir?« »Nein«, erwiderte Ido verwirrt. »Da war niemand. Warum fragst du?«
»Ach, nur so«, nuschelte Liciana in sich hinein und zupfte nervös am Saum ihrer Bettdecke herum, Idos neugierigem Blick ausweichend.
Aus den Augenwinkeln nahm sie sein Lächeln wahr, als er eine Hand hob und ihr eine Haarsträhne aus der Stirn strich. »Liciana, im gesamten Orden betrachten sie es als ein Wunder, dass du so etwas überhaupt überlebt hast! Du bist eine richtige Legende! Alle fragen sich, was vorgefallen ist. Du hast …«
Dann begann er, über Ruhm und Ehre zu schwadronieren, wovon Liciana zum einen nichts verstand und woran sie zum anderen keinerlei Interesse verspürte. Sie ließ sich zurück in die weichen Kissen sinken und starrte an die stuckverzierte Decke. Da war doch jemand gewesen, da war sie sich sicher. Diese Gestalt, die sie gefunden und gerettet hatte.
Stirnrunzelnd dachte sie darüber nach, während Idos anhaltender Monolog zu einem Hintergrundgeräusch verblasste. Vielleicht hatte sie sich das alles doch nur eingebildet. Ja, so musste es sein. Es gab sie nicht.
* * *
Sie hatte sich auf der Kommode niedergelassen, hockte dort wie ein Vogel auf einem Ast. Draußen war das Zwitschern ebenjener verklungen; sie alle hatten bei ihrem Erscheinen die Flucht ergriffen. Überall standen Fenster offen. In den steinernen Korridoren hatte sie keine Menschenseele angetroffen. Es war so leicht gewesen, sie hatten es ihr so leicht gemacht.
Abermals ließ sie ihren Blick schweifen. Das Zimmer war klein verglichen mit den imposanten Hallen des geheimen Ordens, und doch riesig im Vergleich zu dem merkwürdigen, metallischen Gestell, in dem sie dieses Mal erwacht war. Ohne Freiraum für ihren Flügel. Ohne eine Möglichkeit, der unangenehmen Steifheit zu entrinnen, die sich in ihren Gelenken festgesetzt hatte.
Dieses Zimmer verdiente zumindest diese Bezeichnung, obgleich es vergleichsweise schlicht eingerichtet war. Einige festgetretene Matten nebeneinander auf dem Boden, eine Anrichte in der Ecke, die sicherlich für die Morgentoilette gedacht war, ein Schrank, den sich die Novizen anscheinend teilten. Keine wirkliche Privatsphäre…
Unter diesen Voraussetzungen erschien es ihr unwahrscheinlich, dass die Novizen Geheimnisse voreinander wahren konnten. Sie waren gezwungenermaßen miteinander verbunden, auf künstliche Art zu dem zusammengeschweißt, was menschliche Kreaturen als »Familie« bezeichneten.
Dieses Mädchen, stahl sich ein Gedanke in ihren Kopf, sie gehört zu ihnen. Und doch wirkt sie… anders. Sie war sich sicher. Ihre verborgenen Instinkte hatten sofort angeschlagen – und diese belogen sie nie. Womöglich war das Mädchen einen zweiten Blick wert, nach so vielen Jahren, in denen sie jeden Anwärter stets abgelehnt hatte.
Mit einem Satz entspannte sie ihren mächtigen Flügel, stieß sich ab und schwebte durch das Fenster nach draußen, wobei sie erneut einen Vogelschwarm aufscheuchte, der voller Panik Reißaus nahm.
* * *
Als Liciana und Ido die Gesuchte Halle betraten, die gewaltige Speisehalle der Novizen, war sie bereits gut gefüllt. Es gab neun runde Tische, die je nach Altersstufen und Mondgeist besetzt waren.
Zuversichtlich steuerten sie den Tisch der aufsteigenden Saturnperlen an, wo sie einige ihrer Freunde entdeckten. Liciana glaubte nicht wirklich daran, dass die Saturnperlen etwas bewirkten. Die echten Perlen waren in mit Stuck verzierten Ornamenten in der Decke eingearbeitet, hatten aber noch nie eine Wirkung entfaltet – und als Licianas Blick emporglitt, fragte sie sich erneut, ob es sich womöglich nicht einfach um Attrappen handelte.
Womöglich halten uns hier alle zum Narren, dachte sie, wobei sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl.
Leises Gemurmel begleitete sie, als sie zum Tisch der aufsteigenden Saturnperlen ging und sich auf einen Stuhl fallen ließ. Ido ließ sich neben ihr nieder. Augenblicklich spürte sie die Blicke der anderen auf sich gerichtet. Die Nachricht, dass sie das Feuer überlebt hatte, musste sich schnell herumgesprochen haben. Sie versuchte, die unangenehme Aufmerksamkeit zu ignorieren, während sie sich welken Salat auf den Teller lud. Bis heute hatten sie Liciana nie sonderlich beachtet, sie sogar absichtlich ausgegrenzt und blöde Spielchen mit ihr getrieben, wenn ihnen langweilig war. Lediglich Ido hatte immer zu ihr gehalten und ihr damit Mut gemacht.
Der Tisch der Magister grenzte an die Tische der älteren Novizen. Ordensmeister Eloar thronte auf einem erhöhten Stuhl in der Mitte, von wo aus er die Halle überblicken konnte. Er war bereits alt, seine dichten schwarzen Haare waren ergraut und seine schmalen Augen leuchteten gelb wie die eines Falken. Seit jeher hatte Liciana diesem erhabenen, geduldigen Mann einen gewaltigen Respekt entgegengebracht.
Neben Eloar speiste Magistra Jiar, die Giftmeisterin, die die Novizen im Brauen von altertümlichen Tränken unterwies. Im Gegensatz zum Meister des Ordens war sie noch sehr jung und hatte lange, wallend rote Haare, die ihr bleiches Gesicht umrahmten. Einen Platz weiter nippte Magister Lerto, der Meister der mystischen Künste, an seinem Getränk. Liciana ließ ihren Blick weiterwandern und hielt bei einem kleinen dicken Mann inne, der Unmengen von Hühnchen in sich hineinstopfte. Magister Eyven. Er war das genaue Gegenteil von ihr: ungeheuerlich stark und grobschlächtig. Sie mochte ihn nicht, was nicht zuletzt daran lag, dass er die Novizen jeden Morgen ohne Rücksicht auf Verluste durch den Trainingszirkel scheuchte.
Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter und sie wandte sich um. Es war Una, die sich neben sie gesetzt hatte und sie mit falschliebreizender Attitüde anstrahlte. »Du hast das Feuer überlebt, hm? Du musst uns verraten, wie du das geschafft hast.«
Sie runzelte die Stirn. »Was? Ich weiß doch selbst nicht -«
»Sie glauben, du hast magische Feuerkräfte«, fiel Una ihr ins Wort. »Und bist dadurch noch am Leben.«
»Sie?«, fragte Liciana.
Una ruckte verärgert mit dem Kopf. »Erdo, der Kasten-Magister der Jägerperlen. Er und einige andere behaupten das.«
»Dann richte ihm aus«, entgegnete Liciana mit schneidender Stimme, »dass ich keine magischen Kräfte im Feuerbeschwören besitze und er aufhören soll, derart absurde Gerüchte zu verbreiten. Und jetzt verschwinde.«
Una zuckte zusammen, als hätte die Saturnperle sie mit ihren Worten geohrfeigt. Dann rang sie sich ein furchtbar falsches Lächeln ab, bei dem ihre weiß blitzenden Zähne Liciana an ein Haifischgebiss erinnerten.
»Sicher«, zischte sie, stand auf und wandte sich ab, wobei ihre langen schwarzen Haare über ihre Schulter peitschten. Mit übertriebenem Hüftschwung stolzierte sie davon.
Schon näherte sich ihr jemand anderes. Gerade wollte sie die entsprechende Person anschnauzen, sie sei nicht zu sprechen, als ein glockenheller Ton durch die Luft wehte und das Gemurmel der Novizen schlagartig verstummen ließ.
Ruckartig wandten alle ihre Köpfe nach vorn, wo Eloar sich erhoben hatte, um eine Rede zu halten. Gemessenen Schrittes umrundete er das alte Manabecken, das fahles, grünes Licht verströmte, und faltete die Hände vor seinem Körper, einen ernsten Ausdruck auf seinen erhabenen Zügen.
»Novizen!«, begann er mit tiefer, sonorer Stimme, die Liciana durch Mark und Bein ging. »Es ist mir eine Ehre, euch hier versammelt so zahlreich anzutreffen. Insbesondere nach dem Feuer, das vergangene Nacht in unserem Versammlungsraum gewütet und einige fast das Leben gekostet hat.« Seine gelben Augen blitzten kurz in Licianas Richtung. »Wie durch ein Wunder wurde niemand ernsthaft verletzt. Gerade versuchen wir, herauszufinden, was das Feuer verursacht hat. Für diesen Zeitraum ist der große Versammlungsraum gesperrt.«
Er machte eine kurze Pause, um seine Worte zu unterstreichen.
»Doch der eigentliche Grund, weshalb ich hier vor euch stehe, ist ein ganz anderer.« Liciana spürte, wie die anderen unruhig auf ihren Sitzen herumrutschten. Manche reckten sogar die Hälse, um den Großmeister besser sehen zu können und auch sie selbst spürte ihr Herz bis zum Hals pochen. Eloar war nicht für lange Ankündigungen bekannt. Worum ging es?
»Vor vielen tausend Jahren wandelten Todesengel durch die Gefilde zwischen dem Schleier und unserer irdischen Welt Madayas. Es handelte sich um eine eigene Spezies von Engel, doch sie waren der Dunkelheit verschrieben, die hinter dem Jenseits lauerte, ihre Aufgabe bestand darin, die Menschen über den Fluss Mayu in die ewige Finsternis zu geleiten. Mit ihrem Auftauchen verbreiteten sie Angst und Schrecken, denn wo sie waren, war auch der Tod nicht weit. Eines Tages wagten es einige Todesengel, die Seelen der Verstorbenen nicht länger über den Fluss ins Jenseits zu führen. Stattdessen bemächtigten sie sich dieser Seelen, stahlen sie, um ihre eigene Gier zu stillen.
Die dem Schöpfer verschriebenen Engel konnten ein derartiges Betragen nicht tolerieren. In einer großen Schlacht erlitten die Todesengel eine verheerende Niederlage. Nur wenige kamen unbeschadet davon. Da Todesengel stets wiedergeboren werden, wählten die Engel eine andere, grausame Bestrafung, um ihnen die Ewigkeit zu erschweren: Sie nahmen den Todesengeln ihren rechten Flügel. Verspottet von den Engeln, wurde ihnen der Name »Wesen« gegeben. Gedemütigt flohen sie in die Menschenwelt. Sie tarnten sich als Menschen und mischten sich unter sie in der verzweifelten Hoffnung, der verlorene Flügel würde nachwachsen, doch diese Hoffnung erwies sich als Trugschluss.
In ihrer Verzweiflung wandten sich die Wesen schließlich an einen mächtigen Magier, der nach einer Lösung suchte und ihnen schließlich ein Angebot unterbreitete: Hundert Jahre würden sie schlafen, bevor sie erwachen und sich an einen menschlichen Magier binden würden. Diesem wären sie verpflichtet zu dienen – und so ihre alte, nach Tod strebende Natur hinter sich zu lassen. Als Gegenleistung versprach er, ihnen ihren Flügel zurückzugeben. Würden die Wesen zum Zeitpunkt ihres Erwachens keinen Meister erwählen, würden sie wieder in ihren Schlummer zurückkehren und weitere hundert Jahre ausharren. So entstand ein Pakt, der Jahrtausende gehalten wurde.« Erneut legte er eine dramatische Pause ein und blickte sich in der Halle um, inspizierte vereinzelte Gesichter mit seinen durchdringend gelben Augen. »Ein derartiges Wesen befindet sich in den Katakomben unter uns. Die hundert Jahre sind fast verstrichen. Morgen wird es erwachen und seinen neuen Meister unter euch suchen. Wenn sich einer von euch als würdig erweist, wird das Wesen sich für diese Person entscheiden. Es wird jedoch keiner von euch gezwungen – die Entscheidung, einen derart bedeutsamen und lebensverändernden Pakt einzugehen, sollte stets selbst getroffen werden. Denn ist das Band erstmal geknüpft, gibt es kein Zurück mehr.
An diejenigen, die gedenken, dem Wesen entgegenzutreten: Vergesst bei alledem nicht, dass die große Ehre und die herausragende gesellschaftliche Stellung, die mit diesem Band einhergeht, auch von den daran haftenden Verpflichtungen überschattet werden kann. Des Weiteren ist das Wesen eine denkende und handelnde Kreatur, es ist sehr viel klüger als ihr und viele, viele tausend Jahre alt. Wenn ihr es belügt, könnte dies das Letzte sein, was ihr tut. Das Wesen wird spüren, wenn ihr lügt. Und mit Lügnern geht es nicht gnädig um.
Vorne auf dem Altar liegt eine Liste. Wer sich dem Wesen aussetzen möchte, hat bis morgen früh die Gelegenheit, sich dort einzutragen. Um die Mittagszeit wird die Glocke geläutet und die Anwärter werden der Kreatur vorgeführt. Ich wünsche euch allen einen erholsamen Schlaf, werte Novizen.« Der Großmeister verneigte sich und der gesamte Orden tat es ihm gleich.
Als Liciana sich gemeinsam mit Ido durch die Menge in Richtung Ausgang drängte, sah sie bereits Novizen, die zur Liste eilten, um ihren Namen in die dafür vorgesehenen Kästchen zu schreiben. Verständnislos schüttelte sie den Kopf. »Wer will sich dem Wesen schon freiwillig entgegenstellen? Eloar hat doch mehr als einmal betont, wie gefährlich es ist.«
»Sicher«, sagte Ido. »Aber du vergisst, wie viel Ruhm und Reichtum man damit erlangen kann. Welche Stellung man im Orden einnimmt, wenn man den Pakt geschlossen hat. Das lässt sie alle Gefahren vergessen. Die Vorstellung ist großartig. Man herrscht sein ganzes Leben lang über das Wesen, hat eine derart mächtige Kreatur unter Kontrolle.«
Liciana erwiderte nichts darauf. Sie war sich nicht sicher, ob sie Ido in diesem Punkt zustimmen konnte.