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Ich bin die Frau, der die Typen nicht hinterherschauen – ich bin die, deren Sprüche sie feiern. Die Frau auf den zweiten Blick, ganz anders als meine Cousine Lea. Ich bin auch die gute, aber unnahbare Freundin mit der großen Klappe. Ich stürze mich gern in die Arme von Idioten, manchmal sehr gefährlichen Idioten. Und die, die gut zu mir sind, lasse ich nie ganz an mich ran. Denn ich habe Angst, dass sie erkennen, wer ich wirklich bin. Ich heiße Kara und ich versuche zu vergessen, wie sich sexuelle Gewalt anfühlt.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Lia Niehus
1. Auflage, 2019
© Lia Niehus – alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung unter Verwendung von Canva
Lektorat: Friederike Haller | Wortspiel
Impressum
Lia Niehus
c/o AutorenService.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Liebe ist ein Glas, das zerbricht,
wenn man es zu unsicher oder zu fest anfasst.
SEPTEMBER 2014
HEUTE WIRD ER mich zum ersten Mal geschminkt sehen, in einem Kleid und Haaren, die als Frisur durchgehen könnten. Ich stehe in der Umkleidekabine und betrachte mich ungläubig in dem goldenen Spiegel. Die Wände sind mit Mosaikblumen verschnörkelt, die Kabinentür aus Bambusholz. Im Hintergrund dudelt Yoga-Musik. Meine Rundungen kommen langsam zurück. Ein neuer BH macht Sinn. Ein Übergangs-BH, bis ich wieder in meine B-Körbchen passe.
»Endlich siehst du nicht mehr aus wie ein magersüchtiger Geist«, hat Paul gesagt, als er mich vorgestern aus der Klinik abholte.
Der indigofarbene gefällt mir, fühlt sich gut an. Sein tiefes Blau erinnert mich an den Bezug von Frau Herold-Schulzes Poäng. Verständnisvoll hatte sie mir darin immer zugenickt und ihre Lippen leicht aufeinandergedrückt, wenn ich ihr von meinen trüben Gedanken erzählte. In meiner Vorstellung existiert Frau Herold-Schulze nur zusammen mit ihrem IKEA-Sessel, als wären sie verheiratet: Margit Herold & Poäng Schulze.
Empathisch nicken konnte Dr. Becker aus der Klinik nicht so gut, dafür war bei ihr die Aussicht schöner. Durch die hohe Fensterfront konnte man die Natur bewundern, und morgens erstrahlte das schlichte Büro im hellen Landlicht – vom dunklen Flur trat man ins Grelle wie in eine andere Dimension. Am Abend hingegen legten sich kuschelige Sonnenstrahlen in den Raum. Ich wusste nicht viel über Dr. Becker. Sie wusste dafür alles über mich. Wie ungerecht. Deshalb versuchte ich mir aus den wenigen persönlichen Sachen in ihrem Büro, etwas zusammenzureimen. Nur, was konnte man in Sukkulenten, alte Märchenbücher und einen Kunstdruck von Egon Schiele schon hineininterpretieren? Zeit zum Nachdenken hatte ich genug. Dr. Becker machte sich immerzu Notizen über mich. Vielleicht tat sie auch nur so und schrieb in Wirklichkeit eine Einkaufsliste oder verfasste einen Science-Fiction-Roman. Jedenfalls sah sie immer so todernst beim Notizenmachen aus, bis auf das eine Mal, als ich das mit dem Penis sagte.
Der Stoff schmiegt sich an meine Brust, fühlt sich unheimlich weich an, fast so samtweich wie Baby Kitty. Baby Kitty liebte es, wenn ich sie unter dem Kinn kraulte, und ich liebte es, wenn dieses schneeweiße Perserknäuel eingerollt auf dem Sofa lag und schnurrte. Eigentlich gehörte Baby Kitty mir. Mir und Lea. Heute lebt sie bei Paul und heißt nur noch Kit. So eine faule Genießerin wie sie wäre ich auch gern. Im Moment bin ich weit entfernt davon, denke angespannt an das Treffen in ein paar Stunden und streiche nervös über den silbernen Anhänger am Träger, eine Lotusblüte. Unter meiner Achsel baumelt ein Herz aus Pappe: 79,95 EUR. Viel zu teuer für einen Übergangs-BH.Bio steht über dem Betrag, eingenäht mit einem splissigen Wollfaden. Malerische Baumwollfelder kommen mir in den Sinn, Kitty streift darin umher, Schneeflocken rieseln vom Himmel … Schnee? Panik rauscht durch meinen Kopf, mein Herz rast, der BH schnürt mich ein wie ein Korsett. Ich halte inne und horche. Die berühmteste Ukulele der Welt durchdringt mich wie ein Sieb, und flutet mich mit Gefühlen von früher. Ich stehe wieder im Wald, im Horror-Winter-Wunderland und höre mir Over The Rainbow an, weil Lea es so wollte. Sie hatte immer das letzte Wort. Ach, Lea. Ich sinke auf das bunte Sitzkissen und lasse mich beschallen.
VIER JAHRE ZUVOR (AUGUST 2010)
ICH RASTE IN meinem noch nicht abbezahlten Fiat 500 über die Landstraße nach Zossen, vorbei an der öden Ostidylle. Der Asphalt flimmerte in der Hitze. Im Radio tobte sich auf dem einzigen rauschfreien Sender ein Orchester aus. Die schweren Töne passten nicht zu dem Bilderbuchsommer da draußen, dafür umso mehr zu meiner Stimmung. Eigentlich hätte ich mit Amelie an der Krummen Lanke liegen und Wassermelone essen sollen. Nun faulenzte sie mit Tom am See und bedauerte mich und meinen angeblich verdorbenen Magen, hatte keine Ahnung, dass ich mit verheulten Augen und triefender Nase in die Vergangenheit düste. Zossen. Ewig schon hatte ich das Ortsschild nicht mehr passiert. Ich spürte Wut und heiße Tränen auf meinen Wangen, griff nach der Packung Taschentücher auf der Ablage und versuchte eins heraus zu zupfen, als etwas über die Fahrbahn huschte. Ein Tier. Ich trat die Bremse durch, seine gelben Augen leuchteten auf, hektisch zog ich das Lenkrad nach rechts, donnerte durch die Lücke zwischen den Leitplanken und rumpelte ein Stück übers Feld. Mein Magen drehte sich, mein Herz hämmerte und meine Nase tropfte. Ich wischte sie mit meinem Handrücken ab, sah rot und schmeckte die dickflüssige, metallische Wärme auf meinen Lippen. Schnell presste ich meine Nasenflügel zusammen und beugte mich nach vorne. So kannte ich es noch aus Grundschulzeiten, ständig hatte ich Nasenbluten und keiner wusste warum.
Ich tastete die Fußmatte nach der heruntergefallenen Taschentuchpackung ab, bekam sie zu fassen und schreckte hoch, jemand hatte an die Fensterscheibe geklopft. Ich musste an das Tier denken und an Friedhof der Kuscheltiere. Stattdessen stand da ein Mann mit einem nicht weniger gruseligen Schnauzer und einer Pilotensonnenbrille, in der sich mein verwirrtes Gesicht spiegelte. Ich zog ein Taschentuch aus der Packung, drückte es gegen meine Nasenlöcher und kurbelte das Fenster halb herunter.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich der Mann, setzte seine Sonnenbrille ab und schaute mich mit seinen grauen, einen Tick zu nah beieinander stehenden Augen an. Aus seinem Hawaiihemd quollen Brusthaare heraus, in denen sich eine Goldkette verheddert hatte. Seine Aufmachung sah aus wie eine misslungene Hommage an den lässigsten Detektiv aller Zeiten. Magnum.
»Ich hab nur etwas Nasenbluten«, antwortete ich.
Der Typ zog ein Handy aus seiner Badeshorts. »Besser, ich rufe einen Krankenwagen!«
»Nein! Das geht schon«, erwiderte ich.
»Und wenn es eine Gehirnerschütterung ist?«
»Ich habe das öfter. Es hört bestimmt gleich auf!«
Er zögerte, steckte sein Handy wieder ein und späte zu meinem Kofferraum, als wäre ich eine Mörderin auf der Flucht. Währenddessen fragte ich mich immer noch, warum der Typ wie die Billigversion von Magnum herumlief. Dreht der etwa ein Erwachsenenfilmchen? Ich stieg aus und schaute mich nach einem Kamerateam um, scannte die Umgebung gleichzeitig nach dem Tier ab, sah aber nichts, fühlte nur die drückende Hitze. Mein schwarzes Kleid klebte an meinem verschwitzten Rücken, der raue Stoff rieb an meiner Haut wie Schleifpapier und von dem Pollen-Potpourri bekam ich einen Hustenanfall. Schwindel stieg mir in den Kopf. Ich stützte mich am Wagen ab, konzentrierte mich. Auf keinen Fall wollte ich mitten in der Pampa – allein mit Porno-Magnum – ohnmächtig werden.
»Soll ich Sie nicht doch lieber in ein Krankenhaus bringen?«, fragte der besorgt.
Ich schüttelte vorsichtig den Kopf. Das Taschentuch saugte sich immer mehr mit Blut voll. Ich nahm ein neues, das letzte, aus der Packung, schaute zu Boden und musste wieder husten.
»Einen Moment. Ich bin gleich wieder da.« Magnum lief über das Feld zu der Waldeinfahrt, in der sein Auto stand, während ich zu zählen begann. So hatte es mir mein Kinderarzt damals beigebracht: Nase zu, Kopf nach unten und leise bis hundert zählen.
»… 54, 55, 56 …«
Er kam mit einer Wasserflasche und einer Packung Taschentücher zurück. »Darf ich?«
Ich nickte. Er strich meine Haare über meine Schulter und hielt mir die gekühlte Flasche vorsichtig an den Nacken. Die Kälte wanderte in mein Hirn, fühlte sich so angenehm wie sinkendes Fieber an.
»Besser?«, fragte Magnum nach einer Weile.
»…, 99, 100«, zählte ich zu Ende und machte den Tropftest.
»Es hat aufgehört!«
»Wirklich?«
Ich nickte und knüllte erleichtert die Taschentücher zusammen, warf sie in das Fach der Autotür. Magnum öffnete die Wasserflasche und reichte sie mir, zusammen mit der Packung Softis. »Die brauchen Sie vielleicht noch.«
»Danke.« Ich nahm einen großen Schluck, drehte die Flasche wieder zu und betrachtete Magnum genauer. Er sah erschöpft aus, als wäre er schon stundenlang unterwegs gewesen. Über seinen Balken-Brauen hatten sich Schweißperlen gesammelt und tropften ihm an den Schläfen über den Hals entlang auf Nimmerwiedersehen in seinen Brustdschungel.
»Haben Sie das Tier gesehen?«, fragte ich ihn.
»Tier?« Er strich sich eine Strähne seiner blonden Surfermatte aus dem Gesicht.
»Ja, mir ist so ein komischer Bär mit gelben Augen und schwarzem Schnurrbart fast vors Auto gerannt.« Ich hielt meine Hand in Bauchnabelhöhe. »So groß war der.«
Magnum blickte mich prüfend an, »Hm …«, und grinste. »Das war bestimmt ein Nazi-Ewok!«
»Äh …« Ich rang mir ein Lächeln ab und schaute auf meine Uhr.
»Shit!« Hastig stieg ich ins Auto. »Ich muss weiter.«
Der Typ setzte seine Sonnenbrille wieder auf. »Kein Ding. Das hier ist ja schließlich kein Date oder so.«
Ich blickte auf sein Hemd. »Normalerweise fliege ich auch nicht nach Hawaii für ein Date.«
Er schmunzelte. »Und ich date meistens Frauen mit dezentem Augen-Make-up.«
Ich zog die Wagentür zu und blickte durch das halboffene Fenster in den Seitenspiegel. Meine Wimperntusche war vom Weinen zerlaufen. »Wohl noch nie was von Smokey Eyes gehört?« Ich startete den Motor. »Und danke für alles!«
»Nichts zu danken«, erwiderte er. »Passen Sie lieber auf die Nazi-Ewoks auf, die kommen meistens von rechts!«
Ich verdrehte die Augen, kurbelte das Fenster hoch und legte den Rückwärtsgang ein, holperte langsam an Magnum vorbei. Er winkte. Ich nickte ihm zu, bemerkte erst da, dass sein Hosenstall offenstand, und schaute schnell weg. In der Waldeinfahrt wendete ich und fuhr zurück auf die Landstraße.
Der Parkplatz war zu klein. Die vielen Autos parkten dicht an dicht, blockierten die Gehwege. Ich stellte mich auf die Wiese daneben, zerstörte das saftige Grün mit meinen staubigen Reifen und atmete durch. Was mach ich hier eigentlich? Ich holte eine Allergietablette aus dem Handschuhfach, schluckte sie mit Magnums Wasser herunter, wischte mir mit etwas Handcreme und einem Taschentuch die verschmierte Mascara aus dem Gesicht und stieg mit wackligen Knien aus, lief zögernd zu dem Trampelpfad hinterm Parkplatz. Ich sah Tante Hannah vor der Kirche stehen. Sie unterhielt sich mit Pfarrer Kowalski, drehte beiläufig ihren Kopf in meine Richtung und zuckte zusammen, beobachtete, wie ich auf sie zukam, während Kowalski mich skeptisch durch seine Harry-Potter-Brille anblinzelte.
»Kara?« Hannah fixierte nervös ihren graubraun melierten Seitendutt. »Du bist es?«
»Überraschung!«, antwortete ich kleinlaut und schaute begrüßend zu Pfarrer Kowalski.
Er lächelte, doch sein Gesicht sprach Bände. Keine Guten.
»Von Weiten, da sahst du aus wie Lissy!«, sagte Hannah irritiert. »Wie hast du … ich meine, wer hat dich eingeladen?«, wollte sie wissen.
»Ich war zufällig in der Gegend.«
»Ach, Kara!« Hannah biss sich auf die Unterlippe und umarmte mich steif, ihre Hände zitterten und das letzte bisschen Farbe verblasste aus ihrem faden Gesicht.
»Ich habe für dich gebetete!«, flüsterte sie. Typisch Hannah. Sie wich ein Stück zurück und tastete sich besorgt an die Brust, so als stünde ihr ein Herzinfarkt bevor. Wie kann man bei der Hitze auch ein Samtkleid tragen?
Kowalski legte tröstend seine Hand auf Hannahs Schulter, schaute mich strafend an.
»Es wird Zeit«, sagte er zu ihr. Hannah nickte, und er führte sie behutsam durch die Seitentür in die Kirche. Ich folgte ihnen, doch Kowalski schüttelte streng seinen kantigen Kopf und deutete mir mit dem Kinn zum Haupteingang. Ich stolperte rückwärts über die Schwelle, schluckte die Demütigung herunter und hatte dabei das Gefühl beobachtet zu werden. Ich schaute mich um. Neben einem Baum in der Nähe des Friedhofs paffte Qualm empor. Ich lief näher heran. Die Steinchen knirschten unter meinen Sandalen, und die Raucherin trat aus ihrem schattigen Winkel hervor.
»Lea!«, rief ich aus. Die Vertrautheit war sofort wieder da, als hätten wir uns bloß ein paar Tage nicht gesehen anstatt vier Jahre.
Sie schaute mich mit ihren Manga-Augen angepisst an. Den arroganten Blick hatte sie sich wohl passend zu ihre Typveränderung, einem naturfarbenen Pixi-Schnitt, zugelegt. Wir hatten die gleiche Haarfarbe. Das hatte ich fast vergessen.
»Walnuss mit einem Hauch von Karamell«, hatte es der Frisör genannt und uns gefragt, ob wir Schwestern seien. Einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte Lea beschlossen, die Blondine zu werden, die schon immer in ihr geschlummert hatte. Damals reichte ihr die Wallemähne noch bis zu den minirocktragenden Hüften. Je blonder sie wurde, desto schlechter wurden die Komplimente, sowas wie Alien-Barbie oder Manga-Rapunzel.
»Lea, ich …«
Lea warf ihre Zigarette weg, zog sich den heruntergerutschten Träger ihres schwarzen Cocktailkleides über die Schulter und lief mit ihrem unverkennbaren Laufsteggang an mir vorbei. Ich schaute ihr nach, als mir der Geruch nach faulem Blumenwasser in die Nase stieg. Ich hielt den Atem an und warf einen Blick zu den zwei frischen Senken neben Opa Heinrichs Grab. Mir wurde schlecht. Ich lief zur Kirche zurück, hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen, doch mein Magen krampfte ins Leere, knurrte nur. Ich kramte in meiner Handtasche nach den Salbeibonbons, die von der letzten Grippewelle übriggeblieben waren, und bekam dabei den pinken Umschlag zu fassen. Ich steckte mir einen Bonbon in den Mund und schaute zu meinem unschuldig weißen Fiat. Abseits der Mittelklassemonster sah er so verloren aus, schien ungeduldig auf mich zu warten, als würde ich gleich eine Bank ausrauben. Ich legte den Umschlag zurück in meine Handtasche und trat in die Kirche, rümpfte die Nase. Weihwasser und Wachs. So hatten die Sonntage meiner Kindheit gerochen. Schnell durchquerte ich das Meer flackernder Kerzen hin zum Meer schwarzer Rücken und versuchte Leas grazile Gestalt auszumachen, doch die Rücken verschwammen zu flimmernden Klumpen wie der heiße Asphalt vorhin. Einige der Trauergäste bemerkten mich und begannen aufgeregt zu flüstern, raunten die Ankunft der verlorenen Tochter bis in die vordersten Reihen. Bekannte Gesichter reckten sich nach mir und warfen mir eiskalte Blicke zu. Nur ein Augenpaar schob seine Brauen tröstend wie ein Golden Retriever nach oben und nickte mir einladend zu.
Die Orgel ertönte, und ich huschte zu meinem Asyl in der zweiten Reihe, setzte mich erleichtert neben Lea und schenkte Paul ein dankbares Lächeln. Lea ignorierte mich weiterhin. Ich rückte näher an sie heran, bis sich unsere Oberschenkel berührten. Sie duftete immer noch wie ein kettenrauchender Pfirsich. Paul legte seinen Arm und Lea, streifte dabei meine Schulter und nuschelte ihr etwas zu. Lea drehte sich zu mir und machte eine vorwurfsvolle Mine. Ich hielt mich an ihren kryptonitgrünen Augen fest, bis sie mir ein halbes Lächeln anbot. Immerhin.
Kowalski trat mit seinen Messdienern ein. Alle erhoben sich. Mein Blick fiel auf die schwarzen, mit Nelken geschmückten Särge. Gänsehaut. Kowalski sprach ein Gebet und besprengte die Sargdeckel mit Weihwasser. Dann begann er zu singen. Unbeholfen stiegen die Anwesenden mit ein. Nach dem Lied durften wir uns wieder setzen, und vor dem Altar formierte sich ein Mädchenchor – Die Zossener Sirenen. Sie stimmten den Beerdigungshit Wir sind nur Gast auf Erden an. Lea kamen die Tränen. Gern hätte ich ihre Hand gedrückt, traute mich aber nicht.
Die markante Stimme eines der Mädchen ging mir unter die Haut. Gebannt schaute ich sie an. Das Mädchen warf mir einen flirtenden Blick zu. Halleluja! Die wusste, dass sie es draufhatte. Ihr Körper jedoch, der sagte etwas ganz anderes, stand schüchtern neben all den anderen heranwachsenden Mädchen und fühlte sich offenbar fehl am Platz. So muss es Lea früher gegangen sein.
Gebügeltes Gewand, akkurater Seitenscheitel. Für mich sah Lea darin immer nach Fasching aus. Dazu spitzte sie so komisch ihre Lippen, als wolle sie jemanden küssen, und senkte dramatisch die Augenlider. Das hatte sie sich aus Filmen abgeschaut. Doch dann, wenn sie sang, stockte mir der Atem. Wie allen, die sie hörten. Hannah schlug jedes Mal entzückt die Hände ineinander und bekam feuchte Augen, war so glücklich, als spielten Engel höchstpersönlich auf den Stimmbändern ihrer Tochter Harfe. Hannah hatte keinen Schimmer, dass Lea nach der Kirche auf Omas Dachboden das fromme Outfit gegen einen ausgestopften Spitzen-BH tauschte, ihre Haare mit einem knalligen Zopfgummi zu einem hohen Pferdeschwanz band, pinken Lippenstift auftrug und Popkonzerte für unsere alten Kuscheltiere gab. Paul war der Vokuhila-Keyboarder und ich die arrogante – in Wirklichkeit neidische – Backgroundtänzerin. Like a Virgin. Nie würde ich Leas Auftritt als Madonna im Rosenkranz und in Omas biederem Hochzeitskleid vergessen. Vor allem würde ich nie vergessen, wie Lea aus dem Häuschen geriet, als wir den muffigen Tüll in einer alten Truhe entdeckten.
Der Chor verschwand so rasch, wie er aufgetaucht war. Kowalski stellte sich in den Mittelgang und predigte – von Hoffnung, Abschied und Gottes Herrlichkeit – so fesselnd, als sei ein tödlicher Autounfall das Beste, was einem passieren konnte. Mich schauderte es.
Liebe Kara, sie sind tot!
Ich knallte den Laptop zu und lief in die Küche, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Das kann nicht sein. Vorsichtig wie eine Bombenentschärferin schlich ich zurück zum Schreibtisch und klappte zitternd den Bildschirm wieder auf. Boom! Leas – da noch blondes - Profilfoto grinste mich erneut fröhlich an. Wie hat sie nur meine Facebook-Identität herausgefunden?
Die Beerdigung ist Samstag um 14:00 Uhr in Omas Kirche. Kommst du? PS: Thomas hatte einen Herzinfarkt und ist gegen einen Baum gefahren. Sie waren sofort tot.
Ich taumelte auf den Balkon, saugte die laue Abendluft ein und sackte zusammen, umarmte meine Knie.
Tot …, hallte es in meinem Kopf.
Ich weiß nicht wie lange ich dort so gekauert hatte. Als ich zu mir kam, war es dunkel. Ich ging rein, tippte unzählige Fragen in das Antwortfeld, löschte sie wieder und begann von vorne. So ging das bis tief in die Nacht, und am Ende traute ich mich doch nicht, auf Senden zu klicken. Ich schaltete den Laptop aus, nahm eine Paracetamol, setzte mich mit Stift und Block auf meine Couch und schrieb Lea einen Brief, steckte ihn anschließend in das pinke Kuvert einer alten Geburtstagskarte. Ich würde einfach bei der Beerdigung auftauchen, Lea den Brief überreichen und verschwinden.
Kowalskis Stimme kläffte im Hintergrund. Ich starrte zu den Särgen, unfähig mir meine Eltern als Leichen vorzustellen. Das Ganze fühlt sich so unwirklich an. Absätze klackerten durch die Halle. Hannah bekreuzigte sich und schloss für einen Moment die Augen. Kowalski übergab ihr das Mikrofon. Sie befestigte es am Rednerpult, zog einen Zettel aus ihrem Gebetsheft und räusperte sich. In Watte verpackte Erinnerungen an ihren Bruder und seine Frau hallten durch das Gewölbe. Tonnenweise Watte. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten.
»Sind wir auf der richtigen Beerdigung?«, flüsterte Paul uns zu. Ich seufzte. Lea schnaubte sich die Nase.
Hannah warf uns einen bösen Blick zu, ohne ihre Lobeshymne zu unterbrechen. Mein Name fiel erst, als sie ihren Spickzettel wieder zusammenfaltete. Sie musste improvisieren, ich hatte nicht auf ihrer Agenda gestanden.
»Kara«, sagte sie. »Du hast großes Leid über uns gebracht!«
Ich verkrampfte. Hannah lächelte traurig. »Aber nicht ohne Grund hat dir Gott den Weg zurück zu deiner Familie geleuchtet.« Sie tupfte sich die Augen mit einem zerknüllten Taschentuch ab, »Es ist zu spät. Viel zu spät, um Thomas und Judith um Verzeihung zu bitten«, und schaute pathetisch empor. »Aber um Buße zu tun, dafür ist es niemals zu spät! Der Allmächtige ist gnädig. Er erlöst uns, führt uns ins Licht. Kara, bist du bereit?«
Ich spürte Leas zarte Hand auf meinem Arm und nickte heuchlerisch.
»Heute kannst du den ersten Schritt tun und Gott preisen!«, sagte Hannah euphorisch.
Ich wollte keinen Schritt machen. Ich wollte rennen. Davonrennen. Zu meinem Fiat, damit er mich zurück in die anonyme Sicherheit Berlins brachte, doch Leas Hand hielt mich weiterhin sanft davon ab.
»Zuerst wollen wir gemeinsam für dich beten, Kara!« Hannah schlug ihr Heft auf und nannte uns die Seite zur Rettung meiner Seele. Hastig blätterten alle in ihren Exemplaren und stimmten murmelnd in die Zeilen der Barmherzigkeit für mich ein.
Wenn die wüssten, dass ich längst aus der katholischen Kirche ausgetreten bin.
Lea und Paul schauten mich beschämt an. Für einen Moment waren wir wieder Kinder, eingeschüchtert von der Dreifaltigkeit. Das kollektive Gemurmel mündete in eine intime Andacht. Paul schnitt heimlich Grimassen, wie damals, wenn alle mit geschlossenen Augen nach Erleichterung strebten, wir aber unsere Ehrfurcht durch Albernheiten kaschierten. Lea stieß Paul leicht ihren Ellbogen in die Rippen. Er verzog spielerisch sein Gesicht. Ich lächelte. Die Bande war wieder vereint.
»Kara, komm bitte!« Ich schreckte hoch. Hannah winkte mich zu sich.
»Äh …« Ich stand auf und schaute zum Ausgang.
»Kara fürchte dich nicht, hab Vertrauen in Gott!«, betörte mich Kowalski.
»Wir verzeihen dir!«, fügte Hannah hinzu.
Magnetisiert schritt ich nach vorne. Das war wohl eine dieser Chancen, die man im Leben nur einmal bekommt. Endlich kann ich sagen, was Sache ist. Allen gleichzeitig.
Hannah stellte das Mikrofon tiefer und wisperte mir etwas ins Ohr. Ich nickte, obwohl ich nichts davon verstanden hatte. Sie setzte sich zurück in die vorderste Reihe zu Oma Margot und schaute mich erwartungsvoll an. Oma starrte unbeteiligt an die Decke. Nervös betrachtete ich die Särge und wurde wütend.
Wie sagte man so etwas überhaupt? Einfach so?
Mit bebender Stimme bedankte ich mich für die Gebete – um Zeit zu schinden. Kowalski nickte mir gütig zu. Mein eigentlicher Plan war es doch gewesen, die Zeremonie über mich ergehen zu lassen, Lea den Brief zu geben und zu verschwinden … Leas Brief! Erleichtert holte ich ihn aus meiner Handtasche und legte ihn auf das Pult, fasste Mut.
»In den letzten vier Jahren …«, stotterte ich und schaute fragend in die angespannten Gesichter. »Was haben sie euch eigentlich erzählt? Dass ich im Ausland bin? Im Gefängnis sitze?«
»Bonnies Ranch!«, warf mein Cousin Kai ein.
Paul und Lea schüttelten verständnislos den Kopf, andere tuschelten. Hannah stand auf und schaute mich mahnend an.
»Die Wahrheit ist«, sagte ich beschwichtigend, »ich bin tatsächlich vom rechten Pfad abgekommen.« Schuldvoll senkte ich meinen Blick, und Hannah setzte sich wieder. »Aber wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, nicht wahr?« Ich nahm den Brief aus dem pinken Kuvert und begann ihn vorzulesen.
»Was bist du nur für eine Tochter?«, unterbrach mich eine zornige Frauenstimme nach wenigen Zeilen.
Ich schaute auf, sah in finstere Gesichter und las weiter. Jemand buhte mich aus, dann der nächste und noch einer. Es wurden immer mehr. Da spürte ich sie wieder. Diese Rage, die sich wie ein Geysir in mir zusammenbraute, jedes Mal, wenn mich jemand zum Schweigen bringen wollte.
»Wenn es Gott gibt«, schrie ich, »dann ist er ein Feigling! Genauso wie ihr alle!«
Stille. Dann ging alles absurd schnell wie im Stummfilm. Die Orgel setzte ein, Hannah schluchzte und Oma blickte paranoid umher. Der Rest drängelte aus den Reihen, als hätten die Kreuzzüge begonnen. Kowalski stellte sich ihnen mit all seiner geistlichen Autorität in den Weg und orderte sie zurück auf ihre Plätze. Ich suchte nach Leas Kulleraugen und Pauls Hundeblick, stattdessen sah ich in zwei hasserfüllte Schlitze. Onkel Georg kam auf mich zugestürmt, packte mich am Handgelenk und zerrte mich über den Gang.
»Du hättest nicht herkommen sollen!«, fauchte er mich an, als wir draußen waren. Sein Atem roch nach Schnaps. »Du bist ’ne verdammte Lügnerin!« Er rüttelte mich am Arm.
»Fick dich!«, schrie ich ihn an und versuchte mich loszureißen.
Ein paar Gaffer waren uns gefolgt, stellten sich um uns herum auf.
»Fahr zur Hölle, Kara!«, brüllte mich Kai an, und Sebastian rotzte mir vor die Füße. Die Zwillinge waren Georgs Klone.
»Da war ich längst schon, hab euch einen Platz besorgt!«, keifte ich zurück.
Georg ohrfeigte mich. Ich fiel hin und schürfte mir die Hände und Knie auf. Es brannte. Dann spürte ich eine Hand. Sie umklammerte meinen Oberarm und zog mich hoch, weg von dem Brennen und der Demütigung. Paul. Wer sonst.
Bedrückt schaute er mich an, bevor er sich an Georg wandte.
»Fass sie nicht an!«
»Paul!«, sagt Georg überrascht. »Was soll der Scheiß? Hast du nicht gehört, was die da drin für einen Schwachsinn von sich gegeben hat?«
»Schwachsinn?« Paul schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe schon.« Georg strich sich übers Kinn. »Es ist wegen deiner Mutter, nicht wahr? Weil Kara genauso plemplem ist. Schon klar, dass dich das fertig macht, Junge!«
Paul schubste ihn. Sofort stellten sich Kai und Sebastian vor ihren Vater. Georg lachte. »Ist schon gut, Jungs. Paul kann nichts dafür. Tante Lissy hat in der Schwangerschaft zu viele Pillen geschluckt. Das ist ihm nicht so gut bekommen.«
»Und dir, Georg, bekommt der Alkohol nicht so gut«, sagte Paul ruhig.
»Halt die Fresse!« Kai ballte die Fäuste.
»Es reicht!« Kowalski kam aus der Kirche. Sein Blick schweifte enttäuscht in die Runde, blieb schließlich auf mir haften. »Du bist hier nicht willkommen, Kara Weber!«
Ich rieb mir den Dreck von den Händen. »Was für ein Glück für mich, dass die Hexenverbrennung abgeschafft wurde.«
»Mögest du dir eines Tages selbst vergeben, damit dir auch Gott vergeben kann«, sagte Kowalski.
»Schon klar!« Ich hielt seinem Blick stand.
Kowalski wandte sich ab und lief zurück in die Kirche, gefolgt von seinen schaulustigen Schäfchen. Georg blieb vor dem Eingang stehen. »Lass dich hier nie wieder blicken, Kara!«
»Sonst was?«, fragte Paul.
Georg richtete sich auf und starrte uns an. Sein Mundwinkel zuckte, dann ging auch er rein.
Paul begutachtete meine rote Wange. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte. Natürlich ist gar nichts in Ordnung.
Er drückte mich. Ich schloss die Augen und ließ mich in seine Umarmung sinken.
»Du hast uns gefehlt«, flüsterte er mir ins Ohr. Genug. Ich löste mich, sagte: »Mensch Junge! Georg spielt sich ganz schön auf, jetzt wo er das Familien-Alphatierchen ist.«
»Leider«, sagte Paul. »Ich sehe lieber schnell nach Lea, bevor das Alphatierchen sie findet. Warte hier!«
»Paul ich …« Weg war er. »… kann nicht.« Ich rannte zu meinem Fiat, sprang hinein und warf meine Handtasche auf den Beifahrersitz. Der Inhalt purzelte heraus und verteilte sich auf der Fußmatte. Ich startete den Motor und preschte auf die Landstraße. Im Radio sagte Julia Roberts Stimme das nächste Klassikstück an. Ich beruhigte mich etwas, schnallte mich an und ging vom Gas. An der Waldeinfahrt fiel mir das Tier wieder ein, Magnums Nazi-Ewok, und ich bekam einen Heulkrampf, der bis nach Berlin dauerte.
Die Lücke war zu schmal. Der Wagen ragte halb auf die Straße. Es war mir egal. Ich wollte nur noch nach oben in meine Wohnung und mich ausruhen. Schnell sammelte ich die herausgefallen Sachen von der Fußmatte ein. Verdammt! Ich durchsuchte meine Handtasche nach dem Brief. Scheiße, scheiße, scheiße! Er war weg. Ich schlug die Autotür zu und lief über die Straße, sah wie mein Nachbar neugierig zu mir herüberblickte. Khan, sein Schäferhund, hockte im Gebüsch. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und lief zum Hauseingang, grüßte Herrn Nowak.
»Keen Parkplatz jefunden?«, hielt er mich auf und kratzte sich an seinem kahlen Kopf. Khan knurrte mich an.
»Keen Kotbeutel jefunden?«, fragte ich zurück.
Herr Nowak zog die Leine etwas an, lachte und sagte: »Inna Tiefjarage, da jibt's noch jede Menge freie Plätze.«
»Tiefgaragen sind nichts für mich.« Ich schloss die Haustür auf.
»So hübsch biste nu wieder och nicht, Kleene, dass dich eener überfallen tut! Außerdem brauchste dir keene Sorgen machen. Mein Großer hier, der passt schon oof!«
Khan jaulte grimmig und wedelte mit dem Schwanz. Seine Leine klirrte wie eine verrostete Triangel. Der Hund war mir nicht geheuer.
»Lass dir ditte mit der Jarage ruhig ma‘ durch‘n Kopp jehn!«
»Mach ich«, log ich und verabschiedete mich. »Na dann!«
Herr Nowak nickte und brabbelte vor sich hin. Ich lief in den Flur und sprintete die sechs Treppenblöcke nach oben. Keuchend schloss ich meine Tür auf, trat in die quietschende Diele, ließ meine Handtasche auf den Boden plumpsen und streifte meine Römersandalen ab. Normalerweise liebte ich den Duft von nach Hause kommen: altes Parkettholz, abgestandene Kocharomen und Weichspüler. Doch dieses Mal fühlte ich mich wie ein ungebetener Gast. Ich setzte mich aufs Sofa. Das war’s jetzt also. Ich schleuderte ein Kissen gegen die Wand. Der Stifthalter vom Schreibtisch schepperte zu Boden. Das Bild ihrer Särge ging mir nicht mehr aus dem Kopf, hatte sich in mein Gehirn gefräst, hinein in die anderen Erinnerungen von ihnen. Mein Herz stach. Ich krümmte mich, musste an den Sonntag vor vier Jahren denken, daran, wie ich aus ihrer Wohnung gehastet war, und daran, wie mein Vater mit belegter Stimme meinen Namen durchs Treppenhaus gerufen hatte. Kara! Was ist denn los? Warte! Verdammt, Kara!
Das Stechen wurde stärker und wanderte in meine Kehle. Ich rannte ins Bad und übergab mich mit nach Salbei schmeckender Magensäure. Der Druck ließ nach. Ich spülte meinen Mund aus und wusch mein Gesicht. Die Kratzer an meinen Händen piksten mich bis ins Knochenmark. Ich desinfizierte sie mit Jod und klebte Pflaster drauf. Dann machte ich mir einen Kamillentee und mummelte mich in eine dünne Wolldecke auf dem Sofa ein, wartete angespannt, ob eine neue Attacke aufzog. Mein Magen blieb ruhig, dafür grummelte es in meinem Kopf. Verfluchter Georg! Noch immer fühlte ich seinen festen Griff an meinem Handgelenk. Meine Wange pulsierte. Ich zitterte. Bloß nicht mehr an den denken. Ich atmete ruhig in mich hinein, spürte nach, wie mein Bauch sich hob und senkte. Mein Kopf wurde schwer wie eine Bowlingkugel. Ich konnte meine Augen nicht mehr offenhalten und glitt in eine wirre Traumwelt ab.
Träge wachte ich früh am nächsten Morgen auf. Mein Mund war pelzig, meine Augen verkrustet und mein Nacken steif. Das schwarze Kleid roch süß-herb nach meinem getrockneten Schweiß. Ich zog es aus, schmiss es in den Müll und setzte Kaffee auf. Dann ging ich duschen, benutzte Lavendelseife und Kokosshampoo, schlüpfte, ohne mich abzutrocknen, in meinen Bademantel und setzte mich mit meiner Kaffeetasse auf den Balkon. Die Vögel zwitscherten und die Blätter raschelten. Ich schloss die Augen. Sonne im Gesicht. Herrlich. Ich fühlte mich frei.
ICH HATTE MIR fest vorgenommen, am Montag wieder arbeiten zu gehen uns so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Keiner wusste schließlich von den Dramen meines Privatlebens. Doch aus dem Bett zu steigen, war so mühsam, als hätte ich Blei in den Beinen und Nebel im Hirn. Nein. Ich konnte nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich rief meine neue Teamleiterin Kelly an und druckste in meinem Schulenglisch herum, dass ich eine Woche freinehmen wollte.
»What?« Sie verstand mich nicht – wie immer.
»I need do holiday. Now!« Ich wollte doch bloß ein paar Tage Urlaub haben.
»Kärah, listen …« Ich hasste es, wie Kelly meinen Namen aussprach. »Wait!« Sie legte den Hörer beiseite und sprach mit jemandem.
Warum habe ich mich nicht einfach krankgemeldet?
»Kärah«, sie war wieder dran. »So, tell me, why you need to go on vacation?« Wozu ich Urlaub brauchte?
»Ähm, it is because of family, we have a … äh … Notfall … an emergency room«, stammelte ich.
Kelly fluchte. Über mein schlechtes Englisch? Die Person in ihrem Raum? Ihr Leben? Bei Kelly konnte man nie sicher sein, wen oder was sie gerade zu ihrer Zielscheibe erklärt hatte. Ich stellte mich auf eine Diskussion ein, doch Kelly nuschelte nur etwas, was nach Zustimmung klang, und legte auf. Diesmal war ich anscheinend nicht ihr Blitzableiter.
Ich machte mir einen Earl Grey und setzte mich an meinen kleinen Küchentisch. Was nun? Mein Blick wanderte durch die Wohnung. Ich könnte lesen, aufräumen oder einen Film schauen … nee, ausmisten! Ich rieb mir meine gepflasterten Hände. Alles was länger als ein Jahr ungetragen in meinem Schrank weilte, musste dran glauben – die sogenannten Notfallklamotten, die man aufbewahrt, falls die Waschmaschine kaputt geht oder ein Atomkrieg ausbricht. Nur ein Kleidungsstück bekam noch eine Gnadenfrist. Amelies Mitbringsel aus Amerika: eine rosafarbene Bommelmütze von den New York Yankees, die ich seit dem Abend mit Fabio nicht mehr getragen hatte.
Ich brachte zwei Säcke zum Sperrmüll, war danach in Jetz-wird-alles-anders-Laune, fuhr zum Ku’damm und kaufte mir eine graue Jeans, zwei Blusen, einen Bolero und ein Sommerkleid. Dazu braune Sandalen aus dem Sale. Als ich in meinem Kaufrausch an einem Nummernfrisör vorbeilief, fand ich mich kurz darauf im Wartebereich wieder und schmiedete Pläne. Große Pläne. Ich würde umziehen, ach was – auswandern. Nach Australien, noch besser Neuseeland. Natürlich erst nach meinem Lottogewinn. Mit den Millionen würde ich die Welt bereisen, sie zu einem besseren Ort machen und mich von ihr zu einem besseren Menschen machen lassen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit einen Sechser zu landen? Eins zu – vergiss es. Stattdessen gab es vielleicht etwas, das noch nicht erfunden worden war – bis jetzt? Etwas ganz Alltägliches. Ein Haargummi, das nicht ziepte, ein Handy, das nie herunterfiel … Nur wie meldete man ein Patent für Hirngespinste an? Zumindest könnte ich schon mal kündigen, allein um Kelly in ihren viel zu hohen Schuhen und viel zu kurzen Röcken not amused zu sehen. Ich könnte als Freelancerin arbeiten oder so, im Businesslook von Firma zu Firma tingeln, unabhängig sein …
»42?«, wiederholte der Frisör.
Ich sah auf meinen Abrisszettel und sprang auf, folgte ihm zum Waschbecken. Mit festen, routinierten Bewegungen wusch er mir den Kopf und spülte meine manischen Zukunftspläne den Abfluss hinunter.
»Wie soll es denn werden?« Er inspizierte meine Haarstruktur, während er den Stuhl nach oben pumpte.
»Kurz!« Ich strotzte voller Selbstsicherheit.
Er lächelte müde und strich sich über seine geometrisch tätowierten Arme. »Spitzen-, Bob- oder Britney-Spears-kurz?«
»Bob! Definitiv Bob!«, sagte ich.
Die Schere ratschte an meinem Kinn vorbei und die erste Strähne fiel zu Boden. Ich biss die Zähne zusammen.
»Trennung?«, fragte er und schnitt weiter.
»Ja.« Ich schloss die Augen. »Für immer.«
Als ich sie wieder öffnete, schaute mich ein ungewohnt freches Spiegelbild an. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Leichtigkeit meines Kopfes und trauerte einen Moment lang meinen am Boden liegenden Walnusskaramell-Wellen nach.
»Sie wachsen nach«, sagte der Friseur, nahm ein Haargummi aus seiner Sammlung am Handgelenk und zauberte mir einen Mini-Samurai-Dutt.
Zu Hause legte ich mich erschöpft aufs Bett, wollte mich nur kurz ausruhen, doch das weiche Kissen lockte mich in den Schlaf. Als ich aufwachte, fiel mein Blick auf die rosafarbene Bommelmütze auf der Kommode. Benommen stand ich auf und legte sie in die Schublade. Vermutlich würde ich sie auch in diesem Winter nicht tragen. Vielleicht sollte ich Amelie einfach sagen, ich hätte sie verloren.
»Amelie!«, rief ich aus und schaute auf meine Uhr. Shit! Ich hatte vergessen, dass wir im Café Feenzirkus verabredet waren. Ich putzte mir die Zähne, sprühte mich mit Deo ein und hetzte zur U-Bahn – für die eine Station zur Eisenacher lohnte sich die Parkplatzsuche nicht.
»Nanu«, begrüßte mich Amelie und zwirbelte eine meiner Haarsträhnen um ihren Finger. »Wow. Du siehst so anders aus!«
»Falls das ein Kompliment ist«, sagte ich, »danke!«
Sie lächelte. »Du siehst super aus, nur halt ungewohnt super!«
»Du siehst auch super aus. Wie immer super!«, erwiderte ich. Wir liefen zum Hinterhof in den surrealen Garten und ergatterten einen Platz im Strandkorb.
»Gibt es einen Grund für den neuen Look?« Amelie zeigte mir ihr typisch schelmisches Zahnlücke-Lächeln.
»Na. Wisst ihr schon, was ihr wollt?«, unterbrach uns der Kellner und strahlte Amelie an.
»Apfelschorle«, sagte sie und warf einen Blick in die Karte, »und Schneewittchen.«
Der Kellner machte Kringel in seinen Block und schaute mich an.
»Einen Kaffee Latte – entkoffeiniert – und Pinocchio bitte«, sagte ich.
Er nickte und eilte davon. Amelie zog eine Augenbraue hoch. »Entkoffeiniert? Bist du immer noch krank?«
»Nee, ich schlafe momentan bloß nicht gut.«
»Neue Frisur, Schlafstörungen … hast du jemanden kennengelernt oder endlich gekündigt?«
Ich konnte ihr nicht erzählen, was passiert war. Noch nicht. »Kündigen? Bevor ich den Fiat abbezahlt habe? Bist du verrückt?«
»Also steckt doch ein Kerl dahinter?«
Ich wollte verneinen, überlegte es mir anders und grinste Amelie an. »Okay, ertappt! Ich habe endlich meinen Traummann kennengelernt.«
»Ha, wusste ich es doch. Und wie sieht er aus?«
»Wie ein prolliger Surfer mit Schnauzer.«
»Schnauzer?« Sie verzog das Gesicht. »Dein Ernst?«
»Ja. Schnauzer sind wieder in! Und Brusthaare.«
»Bei wem? Pornodarstellern?« Amelie lachte.