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Emma steht auf Paul und Paul auf Emma – doch beide wissen nichts über die Gefühle der anderen Person. Also muss Emmas bester Freund Finn nach den Herbstferien etwas nachhelfen. Doch bereits beim ersten richtigen Treffen läuft nicht alles nach Plan: Finn, der eigentlich in einer festen Beziehung ist, gerät zwischen die beiden. Obwohl Paul das Geschehene vor Emma geheimhalten will, werden die Zweifel in seinem Kopf immer lauter. Was sind das für Gefühle, die plötzlich aufkommen? Oder sind seine Gefühle einfach nicht stark genug? Queer, aber nicht die typische Liebesgeschichte.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2022
Flora Winterfänger
Liebe ist ein starkes Wort
Für Laurin und Simon
© 2022-2024 Flora Winterfänger
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN Softcover: 978-3-347-77764-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-77765-1
ISBN E-Book: 978-3-347-77766-8
ISBN Großschrift: 978-3-347-77767-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
E-Mail: [email protected]
Hinweis zu sensiblen Inhalten
Verknallt
Ein Date oder kein Date
Neue Erkenntnisse?
Du oder ich?
Stress und Angst
Auf der Suche
Beobachten und erzählen
(K)ein neuer Name
Alte Bekannte
Nur einmal aus dem Schrank kommen …
Am anderen Ende des Regenbogens
Vielleicht mal gegenanstapfen?
Eng und enger
Diese verdammte Stille
Konfliktmüde
Irgendwie seltsam?
Der Morgen danach
Anhang
A: Sturm vor der Ruhe
B: Geständnisse
C: Tatsachen tun weh
D: Nachgespräch
Triggerwarnung
Danksagung
Diese Geschichte behandelt in einigen Teilen sensible Themen.
Da eine Auflistung dieser Themen Spoiler zu der gesamten Geschichte enthält, ist sie auf der letzten Seite einzusehen.
„Guten Morgen, liebe Klasse! Ich hoffe, ihr hattet schöne Ferien“, begrüßt die Lehrerin die Klasse. Es ist Montagmorgen, Punkt acht Uhr. Als sie gerade mit dem Thema anfangen will, kommen noch ein paar Jugendliche klitschnass in den Klassenraum gehuscht. Man sieht an ihren Gesichtsausdrücken deutlich, dass sie schlecht gelaunt sind. Lustlos werfen sie ihre Taschen neben ihre Tische und setzen sich mehr oder weniger leise hin. Aber auch fast alle anderen haben keine besonders große Lust auf Unterricht. Das miese Wetter, die frühe Uhrzeit und die ganzen Aufgaben nerven ganz schön, finden die meisten.
Aber Paul lächelt. Er freut sich wieder auf die Schule. Das soll nicht heißen, dass Paul schlechte Ferien hatte. Wenn er darüber nachdenkt, waren das sogar recht schöne Ferien. Er hat die letzten Tage der Freibadsaison genossen – selbstverständlich mit seiner Freundesgruppe. Sie haben laut grölend im Wasser gespielt und sich gegenseitig nassgespritzt. Sie sind vom 3-Meter-Turm gesprungen und haben ihre Sprünge bewertet. Oder sie lagen einfach nur auf der Wiese und haben Geschichten und Witze erzählt. An diese Ferien wird sich Paul bestimmt noch lange erinnern.
Der Grund, warum Paul sich wieder auf die Schule freut, ist Emma. Er weiß nicht genau, was er für sie empfindet, aber er weiß, dass er sie richtig toll findet: ihre schönen, leicht gelockten blonden Haare, ihr unfassbar süßes Lächeln oder auch ihre großen, hübschen Augen. Paul merkt, wie sein Blick langsam von der Tafel abschweift und in ihre Richtung wandert. Sie sitzt zwei Reihen vor ihm, sodass er sie perfekt sehen kann. Sie muss wohl wieder richtig Lust auf Schule haben, denkt Paul, da sie ständig mitschreibt und dabei grinst. Er muss auch grinsen. Dabei stützt er den Kopf mit seinen Händen und legt ihn etwas schief. Plötzlich dreht Emma sich um und schaut ihn an. Paul kann nicht anders und verharrt in seiner Position. Erst, als er sieht, dass Finn neben ihr und auch gefühlt der Rest der Klasse ihn anstarrt, wird Paul aus seiner Welt in die Realität geworfen.
„Paul!“, sagt die Lehrerin mit Nachdruck, „gibt es gerade bei dir etwas Wichtigeres als den Mathematikunterricht?“
„Ja, nein, entschuldigen Sie; ich bin noch nicht ganz wach“, nuschelt er kleinlaut vor sich hin, „ich passe ab jetzt auf.“
Die Lehrerin gibt sich mit der Antwort zufrieden und fährt mit ihrem Unterricht fort, während Paul sein Heft aufschlägt und mitschreibt.
„Ich hab’ so keinen Bock auf Schule“, schreibt Emma an Finn, kurz bevor sie das Haus verlässt, um zur Schule zu fahren. „Jetzt regnet es auch noch“, mault sie rum, als sie ihr Fahrrad aus dem Keller schiebt. Doch dann huscht ihr ein Lächeln ins Gesicht. Sie sieht heute endlich wieder Paul. Mehr als zwei Wochen ist eine verdammt lange Zeit, denkt sie verträumt, und er weiß nicht einmal, dass es mich gibt!
Als sie um fünf vor acht ins Klassenzimmer kommt, wartet Finn bereits auf sie. Sie umarmen sich zur Begrüßung. Emma kann dabei wunderbar auf Paul gucken, der allerdings von seinen blöden Kumpels belagert wird. Am liebsten hätte sie ihn nur für sich. Doch sie hätte niemals den Mut, ihn anzusprechen. Sie versucht, die Umarmung etwas länger zu halten.
„Na, wie geht’s?“, fragt Finn.
„Gut, dir?“ Emma lächelt heimlich in sich hinein.
„Auch gut, danke. Ist noch irgendetwas Spannendes passiert in den letzten Tagen der Ferien?“
Finn und Emma haben sich, wie man es von besten Freunden erwarten könnte, mehrere Male in den Ferien getroffen und über diverse Leute gelästert, zusammen gekocht und einfach nur die Zeit genossen.
„Nee, nichts Besonderes“, antwortet Emma.
Da kommt auch schon die Lehrerin rein und packt ihre Sachen aus. Finn und Emma tun es ihr gleich und sind nun still. Beide gehören zu den Leistungsstärksten der Klasse, insbesondere Mathematik mögen sie.
Sie holt einen Bleistift aus ihrer Federtasche heraus und beginnt, in jedes Kästchen ihres Collegeblockes einen kleinen Kreis zu malen. Der Lehrerin fällt das sowieso nicht auf, denkt sie, die achtet doch nur auf die Schlechten.Die Schlechten… Die Schlechten! Das ist es! Sie kann Paul Nachhilfe geben und kommt ihm so näher. Endlich hat sie eine Lösung, die funktionieren könnte, gefunden, wie sie Kontakt mit ihm aufnehmen kann. Obwohl sie es nicht möchte, muss sie etwas grinsen.
„Paul?“, hört sie die Lehrerin fragen. Emma dreht sich zu ihm um. Er hat seinen Kopf zur Seite geneigt und passt nicht wirklich auf. Er hat nicht einmal sein Heft aufgeschlagen! Irgendwie süß, denkt sich Emma, er starrt irgendwo hin. Im besten Fall ist es die Wand, im schlimmsten Fall Céline. Céline ist wohl die beliebteste Schülerin. Viele Jungs aus der Klasse himmeln sie an und Emma weiß nicht einmal, warum. „Paul!“, wiederholt die Lehrerin mit Nachdruck. Ich hasse Céline dafür, dass Paul sie so gut findet, denkt sich Emma und wendet sich wieder ihren Kreisen zu, es kann nicht wahr sein!
Der Unterricht ist inzwischen wieder fortgesetzt worden. Sie versinkt in Gedanken; stellt sich die Nachhilfestunden vor. Sie denkt daran, wie sie sich immer näher kommen, die Lippen berühren sich schon fast, sie wollen gerade zum Kuss ansetzen, sie riecht schon seinen Atem …
Klatsch! Mit einem lauten Knall schlägt das Klassenbuch auf ihren Tisch auf. Sie erschreckt.
„Entschuldigung, wenn ich dich unterbreche“, meint die Lehrerin mit einem leicht ironischen Unterton, „aber träumen kannst du in der Pause. Jetzt werden die Aufgaben gemacht!“
Emma nickt leise. Und schon ist sie wieder weg. Na toll!, denkt sie sich, von wegen: ‚Sie achtet nur auf die Schlechten.‘
Mit „bitte macht bis zur nächsten Stunde die Aufgabe 3 auf Seite 14“, schließt die Lehrerin die Stunde. „Das war’s für heute, bis Donnerstag! Ach ja, können Paul und Emma noch einmal zu mir nach vorne kommen?“ Die Pausenklingel ertönt und ein Großteil der Klasse macht sich auf in Richtung Cafeteria.
Nicht schon wieder Ärger, denkt sich Paul auf dem Weg nach vorne, meine Mutter wird ausrasten.
Emma ist aufgeregt: Das ist Wahnsinn! Ich wurde noch nie nach dem Unterricht nach vorne gebeten. Und dann auch noch mit dem süßesten Jungen der ganzen Schule. Aber als ob er mich jemals beachten würde.
„Ihr wisst, warum ich euch hierher gebeten habe?“, fragt die Lehrerin, als beide vorne stehen. Sie nicken stumm. „Auch wenn es die erste Stunde nach den Ferien war, darf so etwas nicht noch einmal vorkommen! Schule ist sehr wichtig. Sie beeinflusst maßgeblich euren weiteren Lebensweg. Ist euch das bewusst?“ Wieder nicken beide. „Ich möchte einfach nicht, dass dieses Träumen zur Gewohnheit bei euch wird; gerade von dir hätte ich das nicht gedacht, Emma. Du gehörst doch zu den Besten in dieser Klasse. Und Paul, wenn du weiter im Unterricht träumst, werden sich deine schulischen Leistungen noch weiter verschlechtern. Du musst unbedingt die Kurve kriegen!“
„Ich könnte ihm doch Nachhilfe geben!“, rutscht es Emma heraus, „zumindest in Mathe. Also wenn das Okay für dich ist, Paul.“ Sie will sich selber gegen den Kopf schlagen; ihr Herz hüpft nun wie verrückt. Och Gott, ich hab’s getan!, denkt sie dabei. Paul kann keine Worte fassen. Stattdessen nickt er nur und versucht sein Grinsen, das so breit ist, dass man problemlos darin einen SUV parken könnte, zu unterdrücken. Es gelingt ihm nicht ganz. Stattdessen ist auf seinem Gesicht ein Halbgrinsen zu sehen. Man ist das peinlich, denkt er sich, was muss sie jetzt wohl von mir denken?
„Das ist doch eine gute Idee!“, trägt die Lehrerin ihre Meinung dazu bei, „weil ihr so zielstrebig mitgearbeitet habt, landet der Zwischenfall auch nicht im Klassenbuch.“
„Danke“, entgegnet Emma und schreibt ihre Nummer auf die Ecke eines Collegeblock-Zettels und gibt Paul das kleine Stück Papier. „Ruf mich mal an, dann können wir einen Termin abmachen“, sagt sie dabei.
Etwas zittrig nimmt Paul den Zettel entgegen. „Danke“, meint er mit trockener, etwas leiser Stimme und schreitet schnellen Schrittes aus der Klasse zur Cafeteria, wo seine Clique wartet.
„Ich möchte mich noch einmal entschuldigen“, meint Emma zur Lehrerin, „ich weiß nicht, was mit mir los ist. Das kommt nicht wieder vor.“
„Alles gut. Solange das nicht öfters passiert, ist das Okay, gerade bei dir. Und jetzt geh’ in die Pause.“
„Und, was hat sie gesagt?“, fragt Finn eine Minute später mit ironischem Unterton im Gang, „war es sehr schmerzhaft?“
„Du Quatschkopf!“, entgegnet Emma und rollt mit den Augen, „nein, es war nicht schmerzhaft. Ich gebe jetzt Paul Nachhilfe in Mathe.“
„Oh, cool!“
Emma setzt sich zu Finn auf die Bank. Sie lehnt sich an ihn an und umschlingt seinen Hals mit ihren Armen. Da beide dem jeweils anderen klargemacht haben, dass sie nichts voneinander wollen – Finn hat sogar einen Freund – ist diese Position nichts Ungewöhnliches für beide.
„Und“, beginnt Finn das Gespräch nach einer kurzen Pause, „was haben deine Malereien im Collegeblock zu bedeuten?“
„Kreise können etwas bedeuten?“, entgegnet sie verwirrt.
„Wenn es Herzen in Kreisform sind, schon.“
Emma schreckt auf. Hat er etwas mitbekommen? Hat er gesehen, wie ich Paul heute angeguckt habe bei der Umarmung?
„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich habe doch nur Kreise gemalt.“ Sie setzt ihr Unschuldsgesicht auf.
„Erstens malst du sonst nie im Unterricht und zweitens sind aus den Kreisen später Herzen geworden. Das habe ich gesehen. Also: Wer ist der oder die Glückliche?“
Emma wird rot. Finn dreht seinen Kopf zu ihr und schaut sie nun fragend an.
„Es ist Paul“, sagt sie kurz mit gesenkter Stimme.
„Der Paul, dem du Nachhilfe geben sollst?“ Er schaut sie verwirrt an.
Sie nickt. „Es ist so komisch! Die Lehrerin meinte, er müsse sich verbessern und da habe ich ihm ohne nachzudenken Nachhilfe angeboten.“ Die Wörter fließen wie ein Wasserfall aus ihr heraus. „Ich meine, ich wollte das gar nicht! Also doch, irgendwie schon. Aber das war so aufdringlich und ich weiß nicht, was er jetzt von mir …“
„Pssst!“, unterbricht Finn sie, „Er kommt gerade den Gang entlang.“ Sie schließt ihre Augen und flüstert: „Sag, wenn er vorbei ist, dann gehen wir auch.“
Ich glaub’, ich träume, denkt sich Paul, als er nach dem Gespräch schnell in Richtung Cafeteria geht, das tollste Mädchen der Welt will mir Nachhilfe geben und ich habe sogar ihre Nummer bekommen! Er steckt den Zettel schnell in seine Hosentasche und grinst vor sich hin. Innerlich zittert er ziemlich stark; er kann kaum einen klaren Gedanken fassen.
„Ey Digga, was hast du als Strafe bekommen?“, fragt ihn einer seiner Kumpels, als er an dem Stammplatz seiner Gruppe ankommt.
„Ach, ich muss zur Nachhilfe“, antwortet Paul etwas niedergeschlagen. Dabei starrt er auf den Tisch. Innerlich freut er sich aber extrem. Er möchte nur nicht, dass seine Freunde mitkriegen, dass er verknallt ist. Da wäre der Teufel los! Sie würden Emma den ganzen Tag nerven, sie fragen, ob sie Paul mag und somit alles offenlegen. Das will Paul unbedingt vermeiden.
„Habt ihr mitgekriegt, dass ich eben Céline voll erwischt habe? Die Papierkugel traf sie genau im Nacken!“, verkündet ein weiterer Kumpel, „und die Lehrerin hat nichts gemerkt! Wahnsinn, oder?“
„Das hast du doch nur gemacht, weil du auf sie stehst!“, entgegnet wer und er fängt an zu lachen. Die anderen Jungs prusten ebenfalls los.
Paul atmet auf. Es interessiert sie nicht, warum und mit wem er Nachhilfe hat. Total in Gedanken versunken hält er sich für den Rest der Pause zurück, obwohl er eigentlich sonst mehr redet. Die Anderen stört das nicht.
Auf dem Rückweg in die Klasse unterhält sich die Clique über die letzten ach so wichtigen Fußballspiele. Da kann Paul sowieso nicht mitreden, also fällt es nicht auf, dass er still ist. Stattdessen lässt er lieber seinen Blick hin- und herschweifen. Sind die Bilder an der Wand neu?, fragt er sich. Ohne die Antwort auf seine Frage zu finden schaut er auf die andere Seite. Er kann seinen Augen kaum glauben. Das kann doch wohl nicht wahr sein!, flucht er in Gedanken vor sich hin. Er sieht Emma, wie sie sich an Finn kuschelt und dabei die Augen geschlossen hat. Sie scheint es sehr zu genießen. Ihm vergeht seine bis dahin gute Laune. Enttäuschung, Kränkung und Wut kommen in diesem Moment in Paul hoch. Schnell huscht er in die Klasse.
Später am Nachmittag weiß Paul immer noch nicht, was er fühlen soll. Er sitzt in seinem Zimmer herum und guckt ziellos in eine Richtung. Dabei versucht er einen klaren Kopf zu bekommen. Nach ein paar Minuten holt er den Schnipsel aus seiner Hosentasche. Er starrt auf die einzelnen Ziffern. Soll ich sie anrufen?, fragt er sich, nachher weiß ich nicht, was ich sagen soll vor lauter Aufregung. Eigentlich gehört Paul zu den schlagfertigen Personen; er hat immer eine Antwort parat, sei es auch ein schlechter Spruch. Doch das alles macht ihn total unsicher. Er könnte ausrasten.
Schließlich beschließt er, doch aufzustehen und sich an seinen Schreibtisch zu setzen, wo sein Handy liegt. Den Zettel mit der Nummer legt er mittig vor sich. Mit etwas zittrigen Händen fängt er an, die Nummer einzutippen. Doch dann ruft Paul aus Angst vor dem Ungewissen seinen besten Freund Lukas an. Die beiden kennen sich schon seit Kindergartenzeiten. Lukas ist allerdings vor ein paar Jahren ans andere Ende der Stadt gezogen und geht deshalb auf eine andere Schule.
„Moin! Na, was gibt’s?“, meldet sich Lukas am anderen Ende der Leitung.
„Also, ich habe ein riesiges Problem. Wobei, es ist nicht wirklich ein Problem, eher ist es eigentlich ganz gut, wobei doch, schon …“ Paul spricht sehr aufgeregt und kann seine Gedanken mal wieder kaum ordnen.
„Beruhige dich“, antwortet Lukas, „und dann noch einmal ganz langsam: Was ist passiert?“
Paul erzählt alles, was passiert ist. Er versucht, es langsam und deutlich zu tun, was nicht ganz klappt.
„Also nochmal: Du hast sie in den Armen eines anderen Typen gesehen?“, fragt Lukas.
„Nein, sie hatte die Arme um ihn“, korrigiert er.
„Kennst du ihn? Weißt du, ob er was von ihr will?“
Paul seufzt. „Er ist in meiner Klasse. Finn heißt er. Sie sitzen nebeneinander und begrüßen sich ausgiebig mit Umarmungen. Aber sonst habe ich nicht viel mit ihm zu tun. Er gehört zu den Schlauen. Die hängen nicht gerne mit Leuten wie mir ab.“
„Frag ihn doch einfach mal!“, schlägt Lukas vor.
„Bist du bescheuert? Wie soll ich das denn machen? Was sollen die anderen von mir denken?“
„Wieso denn nicht?“
Paul fängt an, ein wenig mit dem Papier herumzuspielen.
„Wenn du ihn nicht fragst, wirst du es wohl nie wissen. Trau dich!“
„Vielleicht hast du recht. Ich denke womöglich zu viel darüber … Warte mal. Sie hat ja ihre Nummer auf einen Zettel geschrieben. Auf der Rückseite sind lauter Herzen. Sie muss wohl krass in ihn verknallt sein. Ich glaube es nicht!“
„Du hast doch gesagt, sie sitzen nebeneinander. Würdest du die ganze Zeit Herzen malen, wenn dein Schwarm direkt neben dir sitzt? Also ich nicht. Vielleicht sind sie beste Freunde oder so.“
„Ach, ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“
Eine kurze Zeit später liegt Paul in seinem Bett, starrt an die Decke und denkt nach. Er hat keine Ahnung, wann oder wie er Finn ansprechen kann. Na immerhin, denkt er sich, muss ich heute keine Hausaufgaben machen.
Warum meldet er sich nicht?, fragt sich Emma am selben Nachmittag. Sie liegt auf ihrem Bett, ihr Handy in der Hand haltend. Sie denkt noch einmal an die Szenen von heute Vormittag. Wen oder was hat er vorhin angestarrt? War er einfach nur müde oder was war los bei ihm?
Emma ruft spontan Finn an.
„Hallo?“, meldet er sich.
„Warum meldet er sich nicht?“, meint sie pampig.
„Dir auch einen schönen Nachmittag, Emma. Wen meinst du?“ Finn klingt etwas verwirrt.
„Na, Paul!“, sagt sie etwas zu laut.
„Vielleicht hat er etwas vor? Vielleicht sind für ihn andere Sachen wichtiger als die Nachhilfe. Du kennst ihn doch.“
„Vielleicht macht er sich an Céline ran“, antwortet sie mit einem etwas aggressiven Unterton, „Er hat sie doch vorhin angestarrt, bevor er angemotzt wurde!“
„Bist du dir da ganz sicher?“
„Nein, eigentlich nicht. Vielleicht war er auch nur müde und hat an die Wand gestarrt.“
„Wieso schließt du eigentlich aus, dass er vielleicht dich angeguckt hat?“, fragt er forsch.
„Ich weiß nicht. Warum sollte er das tun?“
„Vielleicht weil er dich mag. Ich kann dich ja auch fragen, warum du ihn anhimmelst. Du wirst da wohl auch keine Antwort außer Er sieht schön aus und sein Lächeln ist süß parat haben.“
Eine Stille entsteht.
„Weißt du was?“, versucht Finn das Gespräch wieder zu beginnen, „ich werde versuchen, ihn darauf anzusprechen. Gib mir ein paar Tage Zeit, ich kann nichts versprechen. Deal?“
„Deal“, antwortet Emma etwas nervös, aber auch etwas erleichtert. Sie weiß, dass sie auf ihren besten Freund bauen kann.
„Versuche, einfach nicht darüber nachzudenken“, meint Finn dann noch, „Bis morgen!“
Na, du hast gut reden, denkt sich Emma und legt ihr Handy beiseite, wie kann ich bitte nicht darüber nachdenken?
„Today, we’ll do a partner discussion“, verkündet die Englischlehrerin am nächsten Morgen, „You’ll get a question and you have to collect arguments which support or don’t support the statement. At the end of this class, some pairs will present their results. Are you ready to start or are there any questions left?”
Ein leises Getuschel geht herum. Es bilden sich schon Zweierteams. Emma und Finn müssen sich nur zunicken und beiden ist klar, dass sie miteinander arbeiten werden. Paul hat ein paar Anfragen aus seinem Freundeskreis bekommen.
„Calm down a little, please!“, versucht die Lehrerin, die Klasse zu beruhigen, „I will draw the pairs and the questions.“ Enttäuschung macht sich in der Klasse breit. „Number 24 … Number 7. Céline and Max. Your question is: Should it be allowed to chew gum in class?” Ohne Zeit zu verlieren zieht sie die nächsten Zettel. „Number 3 … And Number 17. Let me have a look … Paul and Emma will work together. You will discuss the question: Should you have to wear school uniforms?“
Beide sind sichtlich nervös, als sie sich ein paar Minuten später nebeneinander hinsetzen. Zunächst bleibt es still zwischen den beiden. Zu groß ist die Angst, man könnte etwas Falsches sagen. Emma holt stattdessen ihren Collegeblock aus ihrem Rucksack heraus, schlägt eine freie Seite auf und macht eine Tabelle für die Argumente. Paul himmelt sie währenddessen an.
„Ist was?“, fragt sie, als sie seine Schwärmerei mitkriegt. „Äh ne, ich habe mich gerade nur gefragt, ob ich auch mitschreiben muss.“ Was für eine blöde Antwort, denkt sich Paul. Er würde sich gerne selber ohrfeigen.
„Das wäre besser so“, antwortet Emma. Seit wann bin ich denn so passiv-aggressiv?, fragt sie sich.
„Na gut“, meint Paul etwas genervt und holt einen Zettel aus seinem Collegeblock. „Also ich finde, Schuluniformen stehlen etwas von mir. Dann kann ich mich nicht mehr so anziehen, wie ich will“, beginnt er anschließend mit der Argumentation.
Doch Emma muss an gestern denken und fragt aus dem Nichts: „Warum hast du mich gestern eigentlich nicht mehr angerufen?“
„Du, ich war gestern … Ich hatte gestern einen Termin … und habe es dann vergessen.“ Paul versucht, möglichst authentisch zu wirken. „Heute kann ich das auch nicht machen. Ich rufe dich morgen an, okay?“
„Speak English, please!“, hören beide die Stimme der Lehrerin hinter ihnen.
Na schön, denkt sich Emma, dann müssen wir jetzt wohl über Englisch reden. Können wir uns halt nicht näher kommen. Warum muss sie ausgerechnet jetzt hinter uns stehen und das versauen? Haha, als ob irgendwas passiert wäre.
Warum will sie das eigentlich wissen?, fragt sich Paul, ist das nicht meine Entscheidung, wann ich sie anrufe? Schließlich bin ich es, der „Nachhilfe“ haben will. Also, ich habe jetzt einen Nachmittag Zeit, mir auszudenken, was ich sage und wie ich es sage. Das müsste reichen.
Am nächsten Morgen ist die nächste Englischstunde. Heute gibt es neue Fragen und neue Teams, aber das Vorgehen ist das Gleiche. Paul hat sich am gestrigen Nachmittag Notizen gemacht, was er nachher am Telefon sagen möchte. Neben Standarddaten wie die Zeiten, wann er kann, stehen auch ein paar Sprüche und Komplimente auf dem Zettel. Die sind aber eigentlich nur für den Notfall gedacht.
Emma hat versucht, sich von den Gedanken an Paul abzulenken, indem sie lauthals zu Chartmusik gegrölt hat. Auch wenn sie sonst sehr ruhig ist, ist das für sie ein guter Weg, alles aus sich herauszulassen.
„Number 3 … And Number 8 … Paul and Finn. Your question is: Should you be allowed to vote at the age of 16?Have fun!”
Die beiden begrüßen sich kurz, setzen sich hin und holen danach ihre Collegeblöcke aus der Tasche. Paul überlegt, wie er Finn fragen kann, ob er etwas für Emma empfindet. Doch ihm fällt spontan nichts ein. Also fängt er mit der Diskussion an: „I think people should be allowed to vote from the age of 16 because elections are important for the future. And we’re young. That means that political decisions mainly affect us. So we should be allowed to have a voice, too.” Er will seinen für ihn sehr logischen Punkt aufschreiben. Als er durch seinen Collegeblock blättert, um eine freie Seite zu finden, entdeckt er seine Notizen vom Vortag. Er hält kurz inne und muss lächeln.
„Okay, good point“, antwortet Finn, „but do you think, teenagers can form their own opinion?