Liebe ohne Punkt und Komma - Jodi Picoult - E-Book
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Liebe ohne Punkt und Komma E-Book

Jodi Picoult

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Beschreibung

Was wäre, wenn du dich in den Helden deines Lieblingsbuchs verlieben würdest? Und er es tatsächlich schafft, in deine Welt zu gelangen, um bei dir zu bleiben?

Es könnte das perfekte Happy End sein: Delilah und Oliver, der Prinz, der buchstäblich einem Märchen entsprungen ist, können endlich zusammen sein. Doch so einfach ist es leider nicht. Olivers Verschwinden hat die Märchenwelt ins Chaos gestürzt. Das Buch wehrt sich gegen diesen Eingriff und fordert seine eigentliche Geschichte zurück. Doch was wird dann aus Delilah und Oliver? Wird er je bei ihr in der realen Welt leben können, für immer?

Zusammen mit ihrer Tochter Samantha hat die bekannte Bestseller-Autorin Jodi Picoult zwei Liebesromane geschrieben - mitreißend, märchenhaft, unwiderstehlich!

Band 1: Mein Herz zwischen den Zeilen
Band 2: Liebe ohne Punkt und Komma



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Seitenzahl: 450

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Inhalt

TitelImpressumWidmungKarteTeil einsDelilahOliverEdgarOliverDelilahEdgarOliverEdgarTeil zweiDelilahOliverEdgarOliverDelilahEdgarOliverDelilahEdgarOliverDelilahEdgarDelilahOliverDanksagung

Jodi PicoultSamantha van Leer

Liebe ohne Punkt und Komma

Aus dem amerikanischen Englischvon Christa Prummer-Lehmairund Katharina Förs

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischsprachigen Originalausgabe:

»Off the Page«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Jodi Picoult and Samantha van Leer

Published by arrangement with Random House Children’s Books,

a division of Penguin Random House LLC

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: © FAVORITBUERO, München unter Verwendung eines Layouts von © Sandra Taufer, München

Umschlagmotiv: © murielbuzz/shutterstock; Oleg Gekman/shutterstock; tetyana radchenko/shutterstock

Innenillustrationen: Yvonne Gilbert und Scott M. Fischer

Übersetzung der Zitate von William Shakespeare aus: »William Shakespeare.

Werke in vier Bänden.« Manfred Pawlak Verlagsgesellschaft mbH, Herrsching, Copyright © 1979 by Verlag »Das Bergland-Buch«, Salzburg.

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-2386-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

FÜR KYLE UND JAKE:

Mom sagt, ich bin ihr Liebling.

Ihr seid okay.

In Liebe,

Sammy

FÜR KYLE UND JAKE:

Sammy lügt.

Ihr seid alle meine Lieblinge.

In Liebe,

Mom

Teil eins

Weißt du, nur weil du dieses Buch zur Hand genommen hast, ist es noch lange nicht deins.

Es ist schon eine Menge geschehen, bevor du ins Spiel gekommen bist. Eines Tages gab es einen zündenden Funken, der sich zu einem Feuer der Fantasie entfachte. Jede züngelnde Flamme brannte eine Textzeile ein, Kapitel für Kapitel.

Und wo warst du währenddessen? Wahrscheinlich in ein anderes Buch vertieft, ohne zu ahnen, dass all das irgendwo im Universum vor sich ging.

Die Feuersbrunst erzeugte Rauch, und der Rauch formte Schattenbilder, die über die Seiten wanderten, jedes mit einer Stimme, die sich Gehör verschaffte. Je mehr sie erzählten, desto schärfer und klarer wurden ihre Konturen. Ihre Gesichtszüge traten zutage. Und bald waren sie eigenständige Charaktere.

Sie sammelten die auf dem Papier eingebrannten Zeilen auf, warfen sie sich über die Schultern, schlangen sie um die Taille, zogen und zerrten daran, bis sie zu einer Geschichte wurden.

Von dir immer noch keine Spur.

Dann hast du eines Tages in ein Regal gegriffen und aus der ganzen Fülle der Bücher ausgerechnet dieses herausgepickt.

Jetzt versteh mich bitte nicht falsch. Es ist nicht so, dass du nicht wichtig wärst. In dem Augenblick, als du dieses Buch aufschlugst, hat deine Fantasie die Charaktere zum Leben erweckt. Wenn in einem Wald ein Baum umfällt und niemand da ist, der es hört, fällt er dann tatsächlich um? Wenn eine Figur in einem Buch vorkommt, das niemand liest, gibt es sie dann überhaupt? Während deine Augen über die Seiten glitten, während du die Geschichte in deinem Kopf hörtest, bewegten sich die Figuren für dich, sprachen für dich, fühlten für dich.

Du siehst also, wie schwierig es ist, zu bestimmen, wem eine Geschichte gehört. Dem Autor, der sie geschaffen hat? Den Figuren, die die Handlung vorangebracht haben? Oder dir, dem Leser, der ihnen Leben einhaucht?

Oder vielleicht kann keiner der drei ohne die anderen existieren.

Vielleicht wäre eine Geschichte ohne diese magische Verbindung nicht mehr als bloß Worte auf dem Papier.

Delilah

Ich habe mein ganzes Leben lang auf Oliver gewartet, da könnte man meinen, dass eine zusätzliche Viertelstunde nichts ausmacht. Aber in dieser Viertelstunde sitzt Oliver allein im Bus, zum ersten Mal unbeaufsichtigt und den ruchlosesten, böswilligsten, grauenvollsten Kreaturen des Planeten ausgeliefert: Highschoolschülern.

Zur Highschool zu gehen ist ein bisschen so, als würde man jeden Morgen aufstehen, um dann immer wieder mit hundert Sachen gegen dieselbe Ziegelmauer zu krachen. Tag für Tag bekommt man von Darwins Theorie, dass nur die Stärkeren überleben, eine praktische Kostprobe: Ein Evolutionsvorteil wie perfekte weiße Zähne und wohlgeformte Brüste oder eine Jacke der Schul-Footballmannschaft verhindert, dass du zur Beute jener Monster wirst, die ihr Ego pimpen, indem sie sich an der Angst eines unglücklichen Neulings weiden und ihn nach Strich und Faden tyrannisieren. Nach Jahren an einer staatlichen Schule bin ich ziemlich gut darin geworden, unsichtbar zu sein. So wird man nicht so leicht zum Opfer.

Oliver hingegen kennt sich mit diesen Dingen nicht aus. Er stand immer im Mittelpunkt. Seine Sozialkompetenz ist noch weniger entwickelt als die des Jungen, der letztes Jahr an unsere Schule gekommen ist, nachdem er neun Jahre lang Hausunterricht in einem Tipi bekommen hatte. Und deshalb habe ich Schweißausbrüche, wenn ich mir vorstelle, was Oliver alles falsch machen könnte.

Jetzt erzählt er wahrscheinlich gerade davon, wie er seinem ersten Drachen begegnet ist, was er vielleicht für einen großartigen Gesprächseinstieg hält. Alle anderen im Bus hingegen werden ihn entweder als den neuen Junkie der Stadt abstempeln, der sein Frühstücksomelette mit Magic Mushrooms aufpeppt, oder als einen dieser Typen, die Elbisch sprechen, selbst geschneiderte Umhänge tragen und sich Plastikschwerter umschnallen. Jedenfalls, der erste Eindruck bleibt ein Leben lang haften.

Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.

Ich war mein gesamtes Schulleben lang das seltsame Mädchen. Diejenige, die ihr Federmäppchen mit Einhörnern verzierte und einmal buchstäblich gegen eine Wand lief, weil sie so in ihr Buch vertieft war. Diejenige, die erst kürzlich ihren Status auf der gesellschaftlichen Rangskala als unterirdisch gefestigt hat, indem sie das beliebteste Mädchen der Schule während des Schwimmunterrichts versehentlich k. o. schlug.

Oliver und ich geben ein fabelhaftes Paar ab.

Dabei fällt mir ein – ich kann immer noch nicht so recht glauben, dass wir tatsächlich ein Paar sind. Es ist schon mal das eine, überhaupt einen Freund zu haben, und dann auch noch einen, der aussieht, als wäre er einem Hollywoodstreifen entsprungen – tja, das passiert Leuten wie mir schlichtweg nicht. Mädchen träumen ihr Leben lang von ihrem »Prinzen«, finden sich dann aber irgendwann damit ab, dass er nicht existiert. Ich habe meinen gefunden – aber er war in einem Märchenbuch gefangen. Das ist die einzige Welt, die er kennt, und deshalb war es ein bisschen schwierig für ihn, sich in unserer Welt einzugewöhnen. Wie es dazu kam, dass er real wurde – und mein Freund –, ist eine lange Geschichte … und das größte Abenteuer meines Lebens.

Bis jetzt jedenfalls.

»Delilah!«, höre ich jemanden rufen, und als ich mich umdrehe, läuft meine beste Freundin Jules auf mich zu. Wir umarmen uns, als zögen uns Magnete aneinander. Wir haben uns den ganzen Sommer nicht gesehen – sie wurde zu ihrer Tante in den Mittleren Westen verbannt, und ich war voll und ganz mit Olivers Ankunft beschäftigt. Aus ihrem Irokesenschnitt ist ein Bob à la Kleopatra geworden, mitternachtsblau gefärbt, sie hat wie üblich einen dicken schwarzen Lidstrich aufgepinselt und trägt derbe Springerstiefel und ein T-Shirt, auf dem der Name ihrer derzeitigen Lieblingsband steht, Khaleesi and the Dragons. »Und, wo ist er?«, fragt sie und sieht sich um.

»Noch nicht da«, antworte ich. »Und was ist, wenn er den Bus wieder ›mein treues Ross‹ genannt hat?«

Jules lacht. »Delilah, du hast den ganzen Sommer mit ihm geübt. Da wird er wohl eine Viertelstunde Busfahrt ohne dich überstehen.« Dann schneidet sie eine Grimasse. »Oh Mann, erzähl mir bloß nicht, ihr klebt so affenartig aneinander wie BrAngelo«, sagt Jules und nickt zu Brianna und Angelo, dem Vorzeigepärchen der Schule. Verblüffenderweise knutschen die beiden immer genau dann bei meinem Spind herum, wenn ich etwas rausholen will. »Ich finde es toll, dass du einen scharfen neuen Freund hast, aber lass mich deswegen bloß nicht im Stich.«

»Machst du Witze?«, sage ich. »Ich werde deine Hilfe brauchen. Mit Oliver zusammen zu sein ist wie ein Kleinkind zu beaufsichtigen. Man stellt fest, dass das ganze Haus eine potenzielle Gefahrenzone ist.«

»Perfektes Timing«, murmelt Jules, als Olivers Bus vor der Schule hält.

Kennst du diese Momente, in denen man den Eindruck hat, dass alles in Zeitlupe abläuft? In denen sich jede Einzelheit einprägt: wie sich der Wind auf deinem Gesicht anfühlt, wie der frisch gemähte Rasen riecht, wie die Gesprächsfetzen zu einem dumpfen Hintergrundgeräusch werden und wie es auf einmal nur noch dein pochendes Herz, deinen Atem und die Person gibt, der du gerade in die Augen schaust?

Oliver steigt als Letzter aus. Der Wind fährt durch sein schwarzes Haar. Er trägt das weiße T-Shirt und die Jeans, die ich für ihn ausgesucht habe, dazu eine offene Kapuzenjacke. Seine lederne Schultasche hat er quer über die Brust gehängt, und seine grünen Augen durchsuchen die Menge.

Schließlich entdeckt er mich, und sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln.

Er kommt auf mich zu, als würden ihn nicht dreihundert Leute anstarren, ihn, den Neuen, als würde es ihn nicht im Geringsten kümmern, dass die angesagten Mädchen die Haare zurückwerfen und mit den Augenlidern klimpern wie bei einem Fotoshooting oder dass die Sport-Cracks ihn wie einen Konkurrenten abchecken. Er kommt auf mich zu, als hätte er nur Augen für mich.

Oliver legt die Arme um mich und schwingt mich im Kreis herum, als wäre ich federleicht. Dann setzt er mich ab, nimmt behutsam mein Gesicht in seine Hände und sieht mich an wie einen kostbaren Schatz. »Hallo«, sagt er und küsst mich.

Ich spüre, wie mich alle mit offenem Mund angaffen.

Ungelogen: Daran könnte ich mich gewöhnen.

* * *

Ich kenne Oliver aus einem Buch. Letztes Jahr war ich total versessen auf ein Märchenbuch, das ich in der Schulbücherei aufgestöbert hatte, und ganz besonders hatte es mir der Prinz angetan, der auf vielen Illustrationen zu sehen war. Natürlich kommt es öfter vor, dass sich ein Leser in eine fiktive Figur verknallt, doch meine erwies sich als ziemlich real. Oliver wollte seinem Buch entfliehen, wo ein Tag wie der andere war, und ein Leben ohne vorgegebenes Drehbuch führen.

Eine ganze Reihe von Versuchen schlug fehl – darunter einer mit einer magischen Leinwand, mit deren Hilfe er in die reale Welt hineingezeichnet wurde, allerdings flach wie ein Pfannkuchen, und eine kurze Episode, in der ich in das Buch gezogen wurde, mit Meerjungfrauen schwamm und mich mit einer verwirrten Prinzessin herumschlug, die sich einbildete, in Oliver verliebt zu sein. Bei unserem allerletzten Versuch wollten wir ihn aus der Geschichte herausschreiben lassen und fuhren deshalb heimlich nach Cape Cod zur Autorin des Buches, Jessamyn Jacobs. Sie hatte das Märchen für ihren Sohn Edgar geschrieben, nachdem dessen Vater gestorben war. Es stellte sich heraus, dass Edgar Oliver bis aufs Haar glich und sich perfekt dafür eignete, Olivers Platz im Buch einzunehmen. Seit drei Monaten lebt Edgar nun in dem Märchen, und Oliver hat sich in Cape Cod als Edgar ausgegeben – amerikanischer Akzent, Teenagerlaunen, moderne Klamotten und so weiter. Nach wochenlanger Überzeugungsarbeit konnte Oliver Jessamyn endlich dazu bewegen, hierher nach New Hampshire zu ziehen, damit er mit mir zusammen sein konnte.

Oliver und ich gehen durch die Eingangshalle, wo die Mädchen in kleinen Grüppchen beieinanderstehen und für Selfies posieren, die sie dann verschicken; Typen versuchen einen ganzen Schiffscontainer voller Sportsachen in einen Spind von der Größe eines Rollkoffers zu quetschen; Cheerleaderinnen betrachten sich im Spiegel ihres Spindes und legen in Zeitlupe Lipgloss auf, als würden sie die Hauptrolle in einer Kosmetikwerbung spielen. Plötzlich flitzen zwei Nerds den Flur entlang, Bücherstapel an die Brust gedrückt, und schlingern um die Umstehenden herum wie menschliche Flipperkugeln. Dabei wird Oliver beinahe umgerannt. »Brennt es irgendwo?«, fragt er mich.

»Nein, aber in weniger als fünfzehn Minuten geht der Unterricht los. Für einen Nerd bedeutet das, dass er eine halbe Stunde zu spät dran ist.« Ich werfe einen Blick den Flur hinunter. »Sie rennen immer. Überallhin.«

Ich spüre, wie sich die Blicke in meinen Rücken bohren, als Oliver und ich vorbeigehen. Während wir uns durch das Gewühl schieben, stoße ich ihn absichtlich immer wieder an. Das mache ich, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich da ist. Eigentlich bin ich sonst kein Glückspilz. Bei Tombolas gewinne ich nie etwas; wenn ich mal einen Penny finde, dann liegt die Zahl oben, und das bedeutet Unglück; in meinem letzten Glückskeks stand Na dann, viel Glück. Mit Oliver erfüllt sich ein Traum für mich.

Auf dem Weg zu den Naturwissenschaftsräumen fällt mir plötzlich auf, dass Oliver majestätisch winkt. Ich packe seine Hand und ziehe sie nach unten. »Das sind nicht deine Untertanen«, flüstere ich ihm zu, aber als er meine Hand ergreift, ist mein Ärger schon wieder verflogen.

Unversehens zieht er mich um die Ecke in einen schmalen Flur, der zum Fotolabor führt. In einer anmutigen Choreografie wirbelt er mich herum, bis ich mit dem Rücken an der Wand lehne und seine Hände mich wie eine Klammer umfassen. Das Haar fällt ihm über die Augen, als er sich vorbeugt, mein Kinn anhebt und mich küsst.

»Wofür war das denn?«, frage ich benommen.

Er grinst. »Nur weil ich es kann.«

Ich muss unwillkürlich zurücklächeln. Vor drei Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich nur die Hand auszustrecken brauche, um Oliver zu berühren, und schon gar nicht, dass wir uns in der Schule heimlich küssen.

Das Schlimme am Verliebtsein ist, dass einem das echte Leben ständig in die Quere kommt. Ich seufze und nehme seine Hand. »So gern ich hierbleiben würde, ich muss dich zum Unterricht bringen.«

»Also«, sagt Oliver. »Was steht als Erstes an?«

»Nun«, entgegne ich und nehme ihm seinen Stundenplan aus der Hand. EDGAR JACOBS steht darauf, worüber ich erschrecke. Ich vergesse immer wieder, dass Oliver sich als jemand anderes ausgibt; wie schwer muss das erst für ihn sein? »Du hast in der ersten Stunde Chemie.«

»Alchemie?«

»Ähm, nicht so ganz. Eher wie Zaubertranklehre.«

Oliver wirkt beeindruckt. »Wow. Wollen alle hier Zauberer werden?«

»Nur diejenigen mit Selbstmordabsichten«, murmle ich. Ich bleibe vor einer Reihe Spinde stehen und vergleiche die Nummern mit der auf seinem Stundenplan. »Das hier ist deiner.«

Er zieht an dem Schloss und beäugt stirnrunzelnd die Zahlen darauf. Dann hellt sich seine Miene auf, und er zieht wie aus dem Nichts einen Dolch und sticht damit auf das Metall ein.

»Oh mein Gott!«, rufe ich, schnappe mir das Messer und stopfe es in meinen Rucksack, bevor es noch jemand sieht. »Willst du etwa in den Knast?«

»Nein, danke, ich brauche keine Rast«, sagt Oliver.

Ich seufze. »Keine Messer. Niemals. Verstanden?«

In seinen Augen flackert Reue. »Hier gibt es so vieles, das … anders ist«, sagt er.

»Ich weiß«, sage ich mitfühlend. »Deshalb hast du ja mich.« Ich nehme das Zahlenschloss ab, indem ich den Code auf Olivers Stundenplan eingebe, und ersetze es durch ein Buchstabenschloss. »Pass auf«, sage ich und drehe die Räder mit dem Daumen, bis sie die Buchstaben J-V-E-H-E zeigen. »Jeder verdient ein Happy End.«

»Das ist wohl nicht schwer zu merken.« Er grinst und schiebt mich mit dem Rücken an die Spinde. »Weißt du, woran ich mich dabei erinnere?«

Seine Augen sind so grün wie eine Sommerwiese, und man kann sich ebenso leicht darin verlieren.

»Daran, wie ich dich zum ersten Mal gesehen habe«, sagt Oliver. »Du hast dasselbe Oberteil getragen wie heute.«

Wenn er mich so ansieht, weiß ich nicht einmal mehr meinen Namen, geschweige denn, was ich heute anhabe. »Ach ja?«

»Und ich erinnere mich daran, wie ich das zum ersten Mal gemacht habe«, fügt er hinzu, beugt sich vor und küsst mich.

Plötzlich höre ich hinter mir eine Stimme. »Ähm«, sagt ein Junge. »Kann ich mal kurz an meinen Spind?«

Oh Gott. Ich bin zu BrAngelo mutiert.

Augenblicklich schiebe ich Oliver von mir und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Tut mir leid«, murmle ich. »Wird nicht wieder vorkommen.« Ich räuspere mich. »Übrigens, ich bin Delilah.«

Der Typ reißt die Metalltür auf und sieht mich an. »Chris«, sagt er.

Oliver streckt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Oli…«

»Edgar«, unterbreche ich. »Er heißt Edgar.«

»Ja. Genau«, sagt Oliver. »So heiße ich.«

»Ich glaube, ich habe dich hier noch nie gesehen«, sage ich zu Chris.

»Ich bin neu. Gerade aus Detroit hergezogen.«

»Ich bin auch gerade hergezogen«, entgegnet Oliver.

»Ach ja? Woher kommst du?«

»Aus dem Königreich …«

»Cape Cod«, platze ich heraus.

Chris schnaubt. »Sie lässt dich ja kaum zu Wort kommen, Mann. Wo müsst ihr jetzt hin?«

»Edgar hat Chemie bei Mr Zhang«, erkläre ich.

»Cool, ich auch. Dann sehen wir uns dort.« Chris schließt seinen Spind ab, winkt kurz und geht davon.

Oliver sieht ihm nach. »Und wieso bitte schön darf er winken?«

Ich verdrehe die Augen. Es ist erst Viertel nach acht, und ich bin jetzt schon fix und fertig. »Das erkläre ich dir später«, sage ich.

Ich habe noch genug Zeit, um Oliver am Chemiesaal abzusetzen, bevor ich zu Französisch muss. Als wir um die Ecke biegen, schleicht sich Jules von hinten an und hakt sich bei mir unter. »Rate mal, wer sich getrennt hat«, sagt sie.

Oliver lächelt. »Das muss die berühmte Jules sein.«

»Die Lobeshymnen auf mich sind in der Regel schwer untertrieben«, sagt Jules. Sie taxiert Oliver mit einem kurzen Blick, dann wendet sie sich mit einem Nicken zu mir. »Gut gemacht.«

»Ich hab’s ein bisschen eilig – ich möchte ihn noch bei Mr Zhang abliefern, bevor es klingelt«, erkläre ich.

»Glaub mir, das musst du dir anhören … Allie McAndrews und Ryan Douglas?«

Oliver sieht mich fragend an.

»Die Ballkönigin und der Ballkönig«, erkläre ich schnell.

Er wirkt beeindruckt. »Von königlichem Geblüt.«

»Dafür halten sie sich zumindest«, stimmt Jules zu. »Jedenfalls haben sie sich getrennt. Offenbar hat Ryan mit Treue genauso große Schwierigkeiten wie mit Shakespeare.«

Ich war letztes Jahr mit Ryan im Englischkurs und weiß, wovon sie redet.

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagt Jules.

Wie in einer Seifenoper biegt Allie um die Ecke, flankiert von ihrem Gefolge. Aus der gegenüberliegenden Richtung stolziert gleichzeitig Ryan heran. Wir Umstehenden erstarren, halten den Atem an, während wir uns auf die unvermeidliche Kollision einstellen.

»Oh, schaut mal! Was für ein seltener Anblick«, sagt Allie laut. »Eine männliche Schlampe auf freier Wildbahn!« Ihre Freundinnen kichern.

Ryan beäugt sie von oben bis unten. »Hast du dich jetzt ausgeheult, Allie?«

Daraufhin stürzt Allie sich auf ihn und will ihm die Augen auskratzen. Gerade noch rechtzeitig geht ein Typ dazwischen – James, Präsident des Regenbogenclubs, einer AG, die sich für homosexuelle Mitschüler einsetzt, außerdem gibt er Streitschlichterworkshops für Tutoren und betreibt bereits eine eigene Krawattenfirma. »Verzieh dich, Freundchen«, sagt James zu Ryan, der ihn gegen die Wand stößt.

»Hau ab, Prinzessin«, droht Ryan.

Ehe ich es mich versehe, steht Oliver nicht mehr neben mir. Er steuert direkt auf Ryan zu.

»Oh, verdammt«, sagt Jules. »Musstest du dir unbedingt einen Helden anlachen?«

Aber Oliver geht an Ryan vorbei zu James, der inzwischen flach auf dem Boden liegt. Er streckt ihm die Hand entgegen und hilft ihm auf die Beine. »Alles in Ordnung?«

»Ja, danke«, entgegnet James und klopft sich die Kleider ab.

Das ist super, echt super. Oliver hat sich hiermit den allerbesten Ruf verschafft. Alle sehen jetzt einen Helden in ihm.

Einschließlich Allie McAndrews.

Oliver legt James eine Hand auf die Schulter. »Ich wusste gar nicht, dass hier auch Jungs Prinzessinnen sein können«, sagt er entzückt.

Einen Moment lang bleibt die Zeit stehen. Etwas flackert über James’ Gesicht – Enttäuschung. Resignation. Schmerz.

Was dann passiert, geht so schnell, dass ich es kaum mitbekomme: James holt aus und verpasst Oliver einen solchen Schlag, dass er zu Boden geht.

Puh. Schöne Aussichten für das Jahr.

Ich eile an Olivers Seite und kauere mich neben ihn. Inzwischen haben sich die Zuschauer zerstreut, aus Angst, selbst hineingezogen zu werden. Ich helfe ihm, sich aufzusetzen; er stöhnt, als er sich gegen die Wand lehnt.

»Lass mich raten«, murmelt Oliver. »Prinzessin ist hier eine Beleidigung?«

Aber ich kann nicht antworten, denn beim Blick in sein Gesicht sehe ich es: das schwarze Rinnsal aus seiner Nase, die Flecken auf seinem weißen T-Shirt.

»Oliver«, flüstere ich. »Du verlierst Tinte.«

Oliver

Es ist jetzt schon ganze fünf Minuten her, und noch immer sehe ich aus, als hätte mich ein Riese verprügelt. Ich schiebe Delilah weg, die mir ein nasses Papiertaschentuch an die Nase drückt. »Der korrekte Ausdruck lautet schwul«, erkläre ich.

»Ich wollte ihn nicht beleidigen«, murmle ich. »Ich wusste es einfach nicht.«

»Sei nicht zu streng mit dir. Das ist alles neu für dich.«

Aber die Schuldgefühle schmerzen mehr als meine blauen Flecken. Ich beschließe, James später zu suchen und mich in aller Form bei ihm zu entschuldigen. »Wenn zwei Menschen zusammen sein wollen, geht das doch keinen was an, oder?«, frage ich. »Verdammt, Mann, mein bester Freund war ein Basset, und er wiederum war in eine Prinzessin verliebt. Deswegen hat keiner die Augen verdreht.«

Apropos Augen, ich frage mich, ob meine bald blau werden. Ich gehe näher an den Spiegel heran. »Das verstehe ich nicht«, sage ich. Ich bin buchstäblich in das feurige Maul eines Drachen gesprungen, habe mich von einer fünfzehn Meter hohen Klippe gestürzt und wäre fast ertrunken, und davon habe ich mich schneller erholt als von diesem mickrigen Schlag.

Außerdem tut es echt weh.

Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Delilah«, sage ich und schlucke. »Ich glaube, ich sterbe.«

»Du stirbst nicht. Du hast eins auf die Nase bekommen.«

»Das müsste längst wieder verheilt sein.«

»Nur in deinem Buch«, sagt Delilah. »In der realen Welt kann man nicht einfach umblättern, und schon fühlt man sich besser.«

Vorsichtig fasse ich an meinen Nasenrücken und zucke zusammen. »Schade«, sage ich.

Ich muss zugeben, der Anfang lief nicht so, wie ich erwartet habe. Ich fand die Vorstellung aufregend, in die Schule zu gehen, trotz allem, was Delilah mir darüber erzählt hat. Bei ihr klingt es nach Kerkerhaft, aber für mich ist es alles andere als das. Ich war schon mal in einem Kerker angekettet. Um genau zu sein, immer und immer wieder. Sogar von einem Fremden verprügelt zu werden ist neu und aufregend und unerwartet und einfach anders als die sechzig Seiten, die ich in meinem Leben endlos abgespult habe.

»Ab in den Unterricht«, mahnt Delilah. »Du bist schon spät dran. Sag einfach, du hast dich verlaufen – keiner wird das bei einem neuen Schüler an seinem ersten Schultag anzweifeln. Weißt du noch, was wir besprochen haben?«

Ich zähle die Punkte an meinen Fingern ab. »Nicht verbeugen, wenn mich jemand grüßt. Mich nicht als Prinz bezeichnen. In der Stunde mitschreiben, als würde mich der Unterricht interessieren, auch wenn es nicht so ist. Im Klassenzimmer ist der Lehrer der König, und ich darf ohne seine Erlaubnis nicht aufstehen und gehen. Oh, und keine Messer in der Schule, niemals.«

Delilah lächelt. »Gut. Und eins noch …« Sie deutet auf mein Gesicht. »Sag oder tu nichts, was dazu führen könnte, dass das hier noch einmal passiert.«

Sie streckt den Kopf zur Tür hinaus – wir haben uns in eine Toilette zurückgezogen, die eigentlich nur für Lehrer bestimmt ist. Als Delilah sieht, dass der Flur leer ist, zieht sie mich hinaus und schiebt mich in die Richtung des Zimmers, wo meine Zaubertrankstunde stattfindet.

»Denk dran«, sagt sie. »Halte dich einfach an deinen Stundenplan. Wir treffen uns dann in der Mittagspause.«

Ich nicke und drehe mich um, doch dann ruft mich ihre Stimme zurück.

»Oliver«, sagt sie. »Du schaffst das.«

Ich sehe ihr nach. Wenn Delilah so etwas sagt, weiß ich wieder, warum ich alles, was ich kannte, aufgegeben habe, um mit ihr zusammen zu sein. Sie glaubt an mich, und wenn jemand aus ganzem Herzen an einen glaubt, fängt man an, selbst auch an sich zu glauben.

Ich hole tief Luft und mache mich auf in das große Unbekannte.

Ich habe mein ganzes Leben lang geschauspielert; das ist nur eine neue Rolle.

Plötzlich muss ich an Frump denken, meinen besten Freund im Märchen, und wie er uns immer schwanzwedelnd befahl, unsere Plätze einzunehmen, sobald ein neuer Leser das Buch aufschlug. Ob er wohl genau in diesem Augenblick das Ensemble zusammentrommelt?

Ob sie mich wohl vermissen?

Aber – ich habe hier meine eigenen Aufgaben zu erledigen.

Das mulmige Gefühl in meinem Bauch kommt nicht von der Angst, sondern nur von der Aufregung.

Ich öffne die Klassenzimmertür und schenke dem Lehrer, der vor den Schülern steht, mein charmantestes Lächeln. »Verzeihen Sie meine Verspätung. Es tut mir aufrichtig leid, Majestät.«

Die Schüler kichern. »Mr Zhang reicht vollkommen«, sagt der Lehrer tonlos. »Setz dich. Wie heißt du?«

»Jacobs. Edgar Jacobs. Ich stamme aus Wellfleet.«

»Großartig«, bemerkt Mr Zhang.

Es gibt nur einen freien Platz und zu meinem Entzücken neben jemandem, den ich schon kenne: Chris, der den Spind neben meinem hat. Er sieht auf und zuckt zusammen. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Ein Missverständnis«, erkläre ich.

»Okay«, verkündet Mr Zhang. »Ich teile jetzt einen kleinen Test aus, um festzustellen, wie viel ihr bereits wisst. Keine Panik, das zählt nicht zu eurer Endnote.« Er geht durch die Reihen und gibt jedem ein Blatt Papier.

Chris beugt sich über die Aufgabe, sein Stift kratzt energisch über das Papier. Ich werfe einen Blick auf mein Blatt und runzle die Stirn.

»Entschuldigung«, sage ich, um Mr Zhangs Aufmerksamkeit zu erringen. »Mir scheint, meines ist in der falschen Sprache geschrieben.«

»Ist Englisch denn nicht deine Muttersprache?«

Doch, schon, das ist es ja – britisches Englisch. Hier auf dem Blatt stehen aber alle möglichen Querstriche und Pfeile und Ketten aus Cs und Os, die wie Insekten aussehen.

Der Lehrer seufzt. »Dann schreib einfach drei Dinge auf, die du über Chemie weißt.«

Ich nehme einen Stift aus meiner Ledertasche und beginne.

Mit Molchaugen und Drachenatem zu gleichen Teilen lässt sich eine gewöhnliche Erkältung kurieren.Der destillierte Saft von Vergissmeinnicht stellt ein verlorenes Gedächtnis wieder her.Man soll nie den Löffel ablecken.

Als wir abgeben müssen, bin ich ziemlich zufrieden mit mir. Gott sei Dank habe ich so viel Zeit in der Hütte des Zauberers Orville verbracht und ihm zugesehen, wie er seine Tränke zusammenbraut.

Ich schaffe es, die ganze Stunde lang sitzen zu bleiben, nicke ab und zu und mache mir Notizen, wie Delilah es mir aufgetragen hat, obwohl ich wirklich keine Ahnung habe, was zum Teufel das mit dem Periodensystem soll. Während der Lehrer erklärt, schweifen meine Gedanken ab, und staunend sehe ich mich im Klassenzimmer um. Außer Chris kenne ich niemanden. Es ist, als würde diese Welt kontinuierlich neue Menschen hervorbringen, einfach so aus dem Nichts. Ich wuchs zusammen mit der immer gleichen Besetzung von dreißig Leuten auf und kann mich nur wundern über all die unterschiedlichen Eigenheiten, Kleider und Gesichter, die ich noch nie gesehen habe. Ein Mädchen in der ersten Reihe hat einen Ring in ihrem Nasenflügel wie die Ochsen auf der Weide hinter unserem Schloss. Ein Junge hat ein Brett mit Rädern an seinem Rucksack befestigt, wie um jederzeit fliehen zu können. Ich werfe einen kurzen Blick auf das Mädchen zu meiner Linken; auf ihrem Block gibt es keine Notizen, sondern wirbelnde Bilder von einer Ecke zur anderen – sie muss eine Art Künstlerin sein.

Als es läutet, erschrecke ich. Das scheint so etwas wie ein Stichwort zu sein; alle stehen auf und fangen an, ihre Bücher einzupacken.

Chris sieht mich an, während er den Reißverschluss seiner Tasche schließt. »Warum ist deine Familie eigentlich hierhergezogen?«

Darauf weiß ich im Grunde keine Antwort. Nachdem ich festgestellt hatte, dass tatsächlich nicht mehr ich, sondern Edgar in dem Buch war, bestand mein erster Schritt darin, die Identität des Jungen anzunehmen, dessen Leben ich gestohlen habe. Also Jessamyn Jacobs, die Autorin des Märchens und Edgars Mutter, davon zu überzeugen, dass ich ihr Sohn bin – und es gibt wohl nichts Schwierigeres, als der Person, die ein Kind von Geburt an und am allerbesten kennt, etwas vorzumachen. Oft wäre sie mir um ein Haar auf die Schliche gekommen. Dann starrte mich Jessamyn ganz lange mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Einmal ertappte ich sie dabei, wie sie die Schubläden in Edgars Zimmer durchwühlte. Jeden Abend beim Essen fragte sie mich, ob es mir gut gehe, weil ich irgendwie neben mir zu stehen schien. Das war schon beunruhigend genug, aber noch niederschmetternder war die Tatsache, dass diese fremde Welt so viel größer war als die sechzig Seiten, an die ich gewöhnt war: Das Mädchen, für das ich alles aufgegeben hatte, lebte vier Stunden entfernt. Ich musste Jessamyn unbedingt davon überzeugen, dass wir in Delilahs Heimatstadt ziehen mussten – und zwar auf eine Art, wie Edgar es getan hätte. Nachdem ich sie wochenlang mit meinen kreativen Begründungen bombardiert hatte (Weniger Luftverschmutzung! Von Amors Pfeil getroffen! Bessere Schulgegend!), verkündete Jessamyn dann plötzlich eines Nachmittags, dass ein Umzug nach New Hampshire tatsächlich eine gute Idee sei. Ich weiß immer noch nicht, was der Auslöser für diesen Sinneswandel war. Ich bin nur unglaublich erleichtert darüber.

»Meine Mom ist, ähm, freiberufliche Lektorin. Sie wollte einen Neubeginn, und sie kann überall arbeiten.« Ich sehe Chris an. »Und wie war es bei dir?«

»Mein Dad hat hier einen Job bekommen, und meiner Mom gefiel die Vorstellung, ihre Kinder in guter Luft großzuziehen«, sagt Chris. »Detroit ist sozusagen das Gegenteil von New Hampshire. In vielerlei Hinsicht. Ich habe noch nie so viele hellhäutige Menschen auf einem Haufen gesehen.« Er grinst mich an. »Und wie lange bist du schon mit Delilah zusammen?«

»Offiziell drei Monate«, entgegne ich.

»Oh, dann ist es wohl ernst, was?«

»Nun, das versuche ich zu vermeiden. Sie war nicht gerade begeistert, als ich um ihre Hand angehalten habe. Sie will ein sogenanntes Date mit mir.«

Chris sieht mich an. »Wo kommst du noch mal her?«

»Wellfleet«, entgegne ich. »Hast du die wahre Liebe gefunden?«

»Wir sind erst in der zweiten Stunde«, lacht Chris. »Bisher kenne ich hier an der Schule niemanden näher als dich.«

Ich folge ihm in den Flur, und wir gehen in Richtung Treppe. »Ich habe Trigonometrie bei Baird«, sagt Chris. »Sie trägt anscheinend nur Schwarz und bewahrt Steine in ihrer Schreibtischschublade auf. Wie ich gehört habe, ist sie eine ziemliche Hexe.«

»Wirklich?«, frage ich. »Wie kommt es dann, dass sie nicht Zaubertranklehre unterrichtet?«

Chris lächelt. »Alter, du bist merkwürdig, aber unterhaltsam. Bis später.«

Er geht hinunter, und ich drehe mich um, wobei ich um ein Haar mit der Person zusammenstoße, zu der ich sowieso wollte. »James«, sage ich, als er hastig den Blick abwendet und sich auf den Weg nach oben machen will. »Warte mal.«

»Ehrlich, ich glaube, du hast für heute genug gesagt.«

»Aber es war das Falsche.« Endlich bleibt er stehen und sieht mich an. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Wo ich herkomme, bedeutet dieses Wort etwas anderes.«

»Und wo ist das? Neverland?«

»So etwas in der Art.« Der Strom der Schüler teilt sich um uns herum, als wären wir Steine in einem Fluss. Ich denke daran, dass ich alles dafür getan hätte, um mit Delilah zusammen zu sein, dass ich ohne sie nicht leben wollte, egal in welcher Welt. »Genau darum bin ich hierhergezogen: Ich finde, jeder soll mit dem Menschen zusammen sein, den er liebt.«

James sieht mich eindringlich an, als wollte er herausfinden, ob ich es ernst meine. Schließlich nickt er. »Du solltest darüber nachdenken, dem Regenbogenclub beizutreten«, sagt er. »Wir könnten Mitstreiter wie dich gebrauchen.« Er nestelt an einer Nadel herum, die am Träger seines Rucksacks steckt, und heftet sie mir an die Brust wie einen Orden.

Als ich an mir herabsehe, prangt ein Regenbogen auf meinem T-Shirt.

James schaut noch einmal über die Schulter, als er weitergeht. »Tut mir leid, dass ich dein Gesicht so zugerichtet habe.« Er grinst. »Davor war es richtig hübsch.«

* * *

Im Raum Nummer 322 steht eine Frau mit grauem Kraushaar vor der Tafel und schreibt in fließender, eleganter Schrift Ms Pingree darauf. Beim zweiten Klingeln dreht sie sich um und mustert uns einen nach dem anderen, ihre Augen verweilen auf jedem einzelnen Gesicht. »›Was ist ein Name?‹«, fragt sie. »›Was uns Rose heißt / Wie es auch hieße, würde lieblich duften; / So Romeo, wenn er auch anders hieße, / Ihm bliebe doch der köstliche Gehalt, / Der einmal sein ist, auch ohne jenes Wort …‹«

Die anderen Schüler zappeln und gähnen und ignorieren die spontane Darbietung. Ich hingegen weiß, wenn ich eine großartige Schauspielerin vor mir habe … und kenne sogar das Buch, aus dem sie zitiert. Es stand auf Rapscullios Regal, eines der Bücher, die Königin Maureen zigmal gelesen hat – die klassische Liebesgeschichte schlechthin.

Ms Pingree beendet ihren Vortrag, und ich springe auf und laufe den Mittelgang entlang nach vorne, bis ich kaum einen Meter vor ihr stehe. Dann falle ich auf die Knie und gestehe ihr meine unsterbliche Liebe. »›Ich nehme dich beim Wort‹«, sage ich, meinem britischen Akzent freien Lauf lassend. »›Nenn Liebster mich, so bin ich neu getauft / Und will hinfort nicht Romeo mehr sein.‹«

Sie sieht mich erstaunt an; zwei leuchtend rote Flecken zeigen sich auf ihren Wangen. Einen Augenblick lang ist sie sprachlos, zweifellos ist sie entzückt über meine bühnenreife Rezitationskunst. »Nun, nun«, sagt sie schließlich, als sie sich von dem Schock erholt hat. »Wie ich sehe, haben die Götter mein Flehen erhört und mir endlich einen Schüler geschickt, bei dem sich der Unterricht lohnt. Bist du ein Shakespeare-Fan?«

»Ob ich ein Shakespeare-Fan bin?«, wiederhole ich. »Ist Hamlet ein Zauderer? Ist Lady Macbeth verrückt? Ist Falstaff … beleibt?« Mir fällt auf, dass ich immer noch mit meinem britischen Akzent spreche, und ich räuspere mich. »Ich bin Edgar«, sage ich und ahme die breite amerikanische Aussprache der anderen nach. »Neu in der Stadt.«

»Und ich hoffe, ich sehe dich dieses Jahr in der Theatergruppe. Danke, Edgar, dass du mich bei einer mitreißenden Darbietung unserer ersten Lektüre dieses Semester unterstützt hast: Romeo und Julia. Mark, Helen, Allie, helft mir, die Bücher auszuteilen.«

Ich setze mich wieder und bin sehr zufrieden mit mir. Wenn nur erst Delilah davon erfährt! Und dabei dachte sie, ich würde nicht hierherpassen. Ich habe das Gefühl, dass ich gut in Englisch sein werde. Vielleicht komme ich sogar in einen höheren Kurs oder darf einmal die Lehrkraft vertreten …

Plötzlich landet ein Buch auf meinem Tisch, und eine schlanke Hand mit rot lackierten Fingernägeln schiebt es näher zu mir. Als ich aufsehe, steht das Mädchen vor mir, das durch die Szene mit ihrem Exfreund heute Morgen dafür gesorgt hat, dass ich eine verpasst bekam: Delilahs Erzfeindin, Allie McAndrews. Ihre glänzenden blonden Haare sind schulterlang, und sie trägt so viel Wimperntusche, dass ich unwillkürlich an Spinnenbeine denken muss, als sie zwinkert. Ihre Lippen verziehen sich zu einem angedeuteten Lächeln, als wüsste sie etwas, das ich nicht weiß.

»Irgendwie habe ich das Gefühl«, sagt sie, »dass Englisch ausnahmsweise einmal interessant sein wird.«

* * *

Als ich mittags die Cafeteria betrete, läuft Delilah schon nervös auf und ab. »Na endlich«, sagt sie und packt meinen Arm, als müsste sie sich davon überzeugen, dass ich wirklich immer noch hier bin. Ich verstehe das ja, mir geht es mit ihr genauso. »Ich dachte schon, du bist zum Direktor zitiert worden.« Sie mustert mein Gesicht. »Du hast kein blaues Auge.« Den Faustschlag habe ich schon ganz vergessen, so viel ist inzwischen passiert.

»Delilah, der Ort hier ist spektakulär!«, sage ich strahlend.

Sie sieht mich fragend an. »Vielleicht hat es dich schwerer erwischt, als ich dachte.«

»Nein, ernsthaft – hier in der Schule muss es Hunderte Schüler geben, und jeder Einzelne ist ein Mysterium! Und in Chemie darf ich mir aussuchen, wer mit mir die Szene spielt, mir wird niemand vorgesetzt, der …«

»Dein Laborpartner?«

»Ja, genau, so nennt man das. Und das Beste ist, ich muss hier nicht ständig eine Prinzessin vor einem Bösewicht retten.«

»Gratuliere«, sagt Delilah. »Aber glaub mir, deine Begeisterung wird sich schnell legen.«

Sie zieht mich in eine Schlange und reicht mir ein limettengrünes Tablett. Hinter einer Trennwand aus Plexiglas klatscht eine Person, die wie ein Troll mit Haarnetz aussieht, irgendeinen Fraß auf einen Teller. »Was ist das?«, frage ich Delilah.

»Dein Mittagessen.«

»Aber … das lebt ja noch.«

»Es ist nicht gerade ein königliches Bankett, aber es genügt offenbar den staatlichen Ernährungsstandards.«

Widerstrebend nehme ich den mir angebotenen Teller. »Ich hole uns Wasser«, sagt Delilah. Ich schlendere zu den Schülern, die in kleinen Gruppen an Tischen sitzen. Das ist jetzt unsere Mittagspause, so steht es auf meinem Stundenplan. Die Freiheit ist kaum auszuhalten: Man stelle sich vor, ich habe jeden Tag eine halbe Stunde, in der ich tun und lassen kann, was ich will, und ich muss mir keine Sorgen machen, dass jemand das Buch aufschlägt und mich zwingt, in meine Startposition zu gehen. Ich lasse die Szene auf mich wirken und staune darüber, was für ein Glück ich habe, dieses faszinierende Leben zu führen.

Dann sehe ich jemanden winken. Es ist Allie aus der Englischstunde, sie sitzt im Kreis ihrer Hofdamen, die alle irritierend ähnlich aussehen.

»Edgar«, sagt sie, als ich mit meinem Tablett hinübergehe. »Setz dich doch zu uns.«

Ich sehe über die Schulter zu Delilah, die am Rand des Sitzbereiches steht und nach mir Ausschau hält. »Tut mir schrecklich leid, aber ich habe bereits andere Pläne für die Mittagspause.«

Allie folgt meinem Blick. Sie legt mir die Hand auf den Arm. »Nur damit du’s weißt«, sagt sie cool, »ich bin hier an der Schule ziemlich angesagt. Also wenn du dich genug mit der größten Loserin der Schule gelangweilt hast, schreib mir einfach.« Sie zieht einen pinkfarbenen Glitzerstift heraus und kritzelt eine Zahlenfolge auf meinen Unterarm. Anstelle eines Punkts malt sie dahinter ein dickes Herz.

Ich gehe zu Delilah und tippe sie an. »Suchst du nach mir?«

Sie grinst. »Immer.« Delilah führt mich an einen Tisch, an dem bereits Jules sitzt. Sie ist dabei, ihren Berg Essen mit dem Besteck in eine Skulptur zu verwandeln.

»Tolles Kunstwerk«, sage ich.

»Erinnert es dich an einen dieser Köpfe auf den Osterinseln? Die wollte ich nämlich nachbilden«, sagt Jules.

Ich versuche, den Stuhl für Delilah herauszuziehen, denn das machen Prinzen so, aber der Stuhl ist komischerweise mit dem Tisch verbunden und bewegt sich nicht. »Nette Geste, Oliver«, murmelt sie und legt mir die Hand auf den Arm – dann wandern ihre Finger zu meinem Handgelenk und ziehen meine Hand hoch, damit sie lesen kann, was da auf meiner Haut steht. »Was ist das?«

»Allie will, dass ich ihr etwas schreibe«, sage ich. »Ich denke, vielleicht gefällt ihr Beowulf.«

Jules spuckt ihre Schokomilch über den Tisch, als Delilahs Augen zu mir schießen. »Woher kennst du sie überhaupt?«

»Sie ist bei mir im Englischunterricht. Wo ich mich übrigens grandios geschlagen habe.«

»Ach ja?«, wirft Jules ein.

»Hast du mit ihr geflirtet?«, will Delilah wissen.

»Wir haben uns nur unterhalten«, erkläre ich. »Warum sollte ich mich für Allie McAndrews interessieren?« Ich warte, bis sie mir in die Augen sieht. »Ich habe doch dich.«

Jules legt ihre Gabel ab. »Ist das kitschig, ich muss gleich kotzen.«

»Kennst du Schneewittchen?«, fragt Delilah.

»Nicht persönlich …«

»Tja, der Apfel sieht von außen vielleicht schön aus, aber innen ist er vergiftet.«

»Darf ich mich zu euch setzen?«, sagt eine Stimme, und als ich mich umdrehe, steht Chris hinter uns.

»Klar, gern! Delilah kennst du ja schon. Und das ist Jules. Jules, Chris. Er ist gerade aus Detroit hierhergezogen.«

»Willkommen in der Hölle«, sagt Jules. »Ich hoffe, du hast zur Begrüßung einen Gratis-Schwefelsäurecocktail bekommen.«

»Und dazu dreihundert Dollar in Jetons«, entgegnet Chris geschmeidig. »Oder ist das mit dem Spielkasino im dritten Stock nur ein Streich, den sie den neuen Schülern spielen?«

»Es gibt kein Spielkasino«, lacht Jules. »Aber du musst dir unbedingt den riesigen Pool dort oben ansehen.«

Ich stupse Delilah an der Schulter. »Es gibt keinen dritten Stock«, flüstere ich.

»Das war ein Witz«, antwortet sie.

Ich greife nach ihrer Hand, wobei mein Blick auf die Zahlen fällt, die auf meinen Unterarm gekritzelt sind. Ich verdrehe ihn so, dass man sie nicht sieht, und flechte meine Finger in die von Delilah. Inzwischen habe ich schon so oft ihre Hand gehalten, dass mir dabei eigentlich kein Schauder mehr über die Haut laufen sollte, aber bei jeder Berührung mit ihr sprühen immer noch die Funken. »Also«, sage ich leise. »Zwischen dir und mir … ist alles in Ordnung?«

Sie sieht mich nicht an. »Klar«, sagt sie, doch das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.

Ich lächle zurück. Oder versuche es jedenfalls. Denn wenn ich eins sofort erkenne, dann wenn mir jemand etwas vorspielt.

* * *

Als ich von meinem ersten Schultag an der Highschool nach Hause komme, wartet die Frau, die nicht meine Mutter ist, mich aber erschaffen hat, schon auf mich. »Wie ist es gelaufen?«, erkundigt sich Jessamyn. »Auf einer Skala von eins bis zehn?«

»Fünfhundert«, entgegne ich. »Es war fantastisch.«

Sie wirkt überrascht. »Ist es so viel besser als die Schule auf Cape Cod?«

»Trillionen Mal besser.«

Sie verschränkt die Arme. »Früher bist du nie so richtig gern zur Schule gegangen.«

»Da hatte ich auch keine Freundin.« Während die Worte meinen Mund verlassen, hoffe ich, dass sie auch wahr sind.

Jessamyn schürzt die Lippen. Delilah hat keinen allzu guten ersten Eindruck bei ihr hinterlassen. Sie ist ein bisschen verrückt rübergekommen – eine durchgeknallte Schleimerin, die von zu Hause ausgerissen war und eine vierstündige Autofahrt auf sich genommen hatte, um eine zurückgezogen lebende ehemalige Autorin zu beknien, das Ende ihres Buches umzuschreiben. Als Mrs McPhee kam, um Delilah abzuholen, war sie alles andere als erfreut. Delilah musste wochenlang um Verzeihung bitten, bevor ihre Mutter sie überhaupt wieder aus dem Haus ließ. Glücklicherweise schuf Delilah in den paar Stunden zwischen unserer Erkenntnis, dass ich wirklich und wahrhaftig dem Buch entkommen war, und der Ankunft ihrer Mutter ein magisches Portal für uns, sodass wir sogar aus der Ferne kommunizieren konnten.

Sie nennt es Skype.

Die ersten Wochen waren entsetzlich. Ich vermisste nicht nur Delilah, sondern ich musste in die Rolle eines Jungen schlüpfen, den ich gerade erst kennengelernt hatte, und das so gut hinkriegen, dass nicht einmal seine eigene Mutter es merkte. Es war anstrengend, jemand anderer als ich selbst zu sein.

Ich hatte nicht erwartet, nach meiner Befreiung aus einem Buch, in dem ich die ganze Zeit eine andere Person spielen musste, wieder genau dasselbe tun zu müssen.

Glücklicherweise war Edgar ein ziemlich wortkarger Typ. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Zimmer mit seinen Videospielen, sodass ich Zeit für Delilahs tägliche Lektionen im richtigen Teenagerverhalten hatte. In dieser Welt soll ein Jugendlicher beispielsweise das Gegenteil von dem tun, was seine Eltern ihm sagen. Knurren ist bis zur Mittagszeit eine angemessene Kommunikationsform, Augen verdrehen wird zu jeder Tageszeit akzeptiert. Und wenn man nachdenkt, bevor man etwas tut, wird man unwillkürlich als Schwindler entlarvt.

Die Kleinigkeiten waren allerdings am schwierigsten – die unzähligen Momente in Edgars Leben, die er mit Jessamyn Jacobs verbracht hatte und ich nicht. Bis sie es erwähnte, wusste ich nicht, dass sie und Edgar zusammen in Belize Urlaub gemacht hatten, wo sie sich beide einen so üblen Sonnenbrand zuzogen, dass sie im Sitzen schlafen mussten; ich wusste nicht, dass Edgar gern mit ihr am Strand spazieren ging und nach Korallen Ausschau hielt, die wie die Anfangsbuchstaben ihrer Namen geformt waren. Ich kannte weder Edgars Lieblingsfarbe noch sein Lieblingsgericht oder sein Lieblingsbuch. Ich musste ein Leben neu erschaffen, das ich nie gelebt hatte.

»Und wie geht es Delilah?«, erkundigt sich Jessamyn.

»Sie hat mir einen perfekten Empfang bereitet«, antworte ich diplomatisch.

Jessamyn lacht. »Ach, wenn man jung und verliebt ist …«

Ich schneide eine Grimasse und wende mich ab. Schon als ich noch Prinz war, wollte ich nichts über die Liebesangelegenheiten meiner Märcheneltern hören.

»Dich hat nicht der Klapperstorch gebracht, weißt du.«

»Ach, wirklich?«, murmle ich.

Sie folgt mir in die Küche. Eins ist mir aufgefallen – in dieser Welt könnte ich andauernd schlafen oder essen. Ich nehme die Müslipackung aus dem Schrank, greife hinein und fische mir eine Handvoll der kleinen gelben Knusperdinger heraus. Ich betrachte die schwachsinnige Comiczeichnung auf der Schachtel. Käpt’n Knusper. Ehrlich, wer immer das gezeichnet hat, hat noch nie einen echten Piraten gesehen.

»Also«, sagt Jessamyn und setzt sich auf einen Hocker an die Theke. »Wie ist der Unterricht? Wer ist bis jetzt dein Lieblingslehrer?«

Jedes Mal, wenn wir uns unterhalten, werde ich ganz nervös. Ich habe das Gefühl, verhört zu werden. Als gäbe es richtige und falsche Antworten, und als wäre mein Scheitern vorprogrammiert. Ich hole tief Luft und lächle verkrampft. »Ich war wirklich zutiefst erstaunt über meine Englischlehrerin«, sage ich, hole einen Milchkarton aus dem Kühlschrank und bin kurz davor, direkt daraus zu trinken, bis mir wieder einfällt, dass Jessamyn sich immer schrecklich darüber aufregt. »Sie war brillant.«

»Zutiefst erstaunt«, wiederholt sie. »Brillant. Weißt du, in letzter Zeit hast du dir eine Sprache angewöhnt, die gar nicht zu dir passt.«

Wenn du wüsstest, denke ich. »Ich habe Dickens gelesen …«

»Interessant, wo ich dich früher nicht mal dazu bewegen konnte, die Kinderbücher von Shel Silverstein zu lesen.«

»Delilah hat es mir gegeben«, sage ich rasch.

»Natürlich. Delilah.« Jessamyn nickt. »Ich nehme an, sie ist auch für deinen neuen Look verantwortlich.«

Ich werfe einen Blick auf mein Outfit. Ja, die Jeans und das T-Shirt hat Delilah für mich ausgesucht, damit ich an meinem ersten Tag nicht auffalle. »Die Menschen erfinden sich ständig neu«, sage ich. »Schau dir doch das Bild von dir und Dad auf dem Kamin an. Dein Haar hatte eine andere Farbe und war aufgeplustert wie ein Heißluftballon … und du hast eine Lederhose getragen. Du hast dich eindeutig zu deinem Vorteil verändert.«

Jessamyn lacht. »Das waren eben die Neunziger«, sagt sie, dann wird sie wieder ernst. »Es mag ja Spaß machen, seinen Stil zu ändern, Edgar, aber vergiss nicht, wer du bist.«

Ich denke daran, was Delilah für den Fall empfiehlt, dass die Eltern anfangen, einem Vorträge zu halten. »Entspann dich, Mom«, sage ich, öffne den Reißverschluss meiner Kapuzenjacke und werfe sie über einen Stuhl. »Ich habe nur besser sitzende Jeans. Das ist nicht das Ende der Welt.«

Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Natürlich nicht«, sagt Jessamyn. Dann reißt sie die Augen auf. »Edgar! Was hast du da auf deinem T-Shirt?«

Ich sehe an mir herab. Das Debakel von heute Morgen hatte ich ganz vergessen. »Mein Füller ist explodiert?«

Sie seufzt. »Weißt du eigentlich, wie schwer man Tintenflecken herausbekommt?«

»Kann’s mir vorstellen«, sage ich kaum hörbar. Ich stelle die Milchtüte zurück in den Kühlschrank und suche darin nach etwas anderem Essbaren, um meinen unaufhörlichen Hunger zu stillen. Ich entdecke eine kleine Dose, nehme den Deckel ab und greife mit zwei Fingern hinein.

»Nicht!«, schreit Jessamyn, und ich blicke erschrocken auf, die Frucht auf halbem Weg zum Mund. »Weißt du denn nicht, was das ist?«

»Ananas?«, antworte ich und überlege, ob das jetzt wieder eine Fangfrage war.

»Und davon bekommst du Ausschlag«, erklärt Jessamyn.

»Stimmt«, sage ich und lege das Stück zurück in die Dose. »Hatte ich vergessen.«

»Du hast vergessen, dass du eine ganze Woche im Krankenhaus verbracht hast, weil dein Hals zugeschwollen war und du keine Luft mehr bekommen hast?«

Ich zögere. »Es war ein langer Tag«, sage ich, schnappe mir meine Tasche und mein Sweatshirt und ergreife die Flucht, bevor ich noch mehr falsch machen kann.

* * *

Als ich mich in meinem Zimmer in den Lernstoff vertiefe und zu verstehen versuche, warum die chemischen Elemente noch Spitznamen mit zwei Buchstaben haben, die absolut keinen Sinn ergeben, ertönt ein Klingelton aus meinem Computer.

Delilahs Gesicht füllt den Bildschirm aus. Hat sie mich so gesehen, als ich noch in dem Buch steckte – zum Anfassen nah, aber zweidimensional? »Was machst du gerade?«

»Ich lerne Chemie«, antworte ich. »Sag mal: Wo kommen die Buchstaben Fe in dem Wort Eisen vor?«

»Das kommt von Ferrum, lateinisch für Eisen.«

»Latein kann doch kein Mensch, warum kürzt man es dann so ab?«

»Weil Chemie ein ganz spezieller Höllenkreis ist«, sagt Delilah. »Komm doch zu mir rüber, und wir lernen zusammen.«

»Irgendetwas sagt mir, dass wir nicht weit kämen.« Ich grinse. »Und das klingt eigentlich ziemlich gut.«

Nach Delilahs Überreaktion wegen Allie McAndrews’ Handynummer auf meinem Arm bin ich erleichtert, dass sie mich immer noch sehen will. Trotzdem schrubbe ich mir das Gekritzel ab, bevor ich aufbreche. Ich will sie nicht noch einmal an den Grund für ihren Ärger erinnern. Jessamyn erzähle ich, dass mich Delilahs Mutter zum Abendessen eingeladen hat, dann hole ich Edgars Rad aus der Garage. Delilah wohnt nicht weit weg, aber es geht die ganze Zeit bergauf. Während ich keuchend in die Pedale trete, denke ich sehnsüchtig an meinen Hengst Socks, der mich immer überallhin getragen hat.

Als ich bei den McPhees klingle, beginnt ein Hund zu bellen. Humphrey stammt aus dem Tierheim und ist ein Geschenk von Mrs McPhees Freund, Dr. Ducharme. Er sieht Frump so ähnlich, dass ich jedes Mal Heimweh bekomme, wenn ich ihn sehe, und ich kann es nicht lassen, mit ihm zu reden wie mit meinem besten Freund – als könnte er tatsächlich antworten. »Guten Tag, Humphrey«, sage ich, als Delilahs Mutter die Tür öffnet und ihn am Halsband zurückhält. Ich schenke ihr ein gewinnendes Lächeln. Mrs McPhee ist mir gegenüber inzwischen ein bisschen milder gestimmt, was nach Delilahs Ausflug nach Wellfleet vor einigen Monaten noch ganz anders war, doch ich habe das Gefühl, dass sie mir immer noch nicht ganz über den Weg traut. »Hallo«, sage ich. »Schön, Sie wiederzusehen. Sie sehen blendend aus.«

Sie zieht zweifelnd eine Augenbraue hoch, aber ich meine es wirklich so. Delilahs Mutter putzt die Häuser von anderen Leuten, und sie erinnert mich ein bisschen an eine andere Geschichte aus Rapscullios Bücherregal. Sie handelt von einem jungen Küchenmädchen, das gläserne Schuhe trägt und wunderschön ist, weshalb sich ein Prinz Hals über Kopf in sie verliebt. »Was für ein Charmeur du bist«, sagt Mrs McPhee und lässt mich eintreten. »Wie war dein erster Schultag, Edgar?«

»Er hat meine kühnsten Hoffnungen erfüllt«, antworte ich. »Ich freue mich schon auf morgen.«

»Vielleicht färbt deine Begeisterung ein bisschen auf Delilah ab. Ich glaube, sie hat nicht mehr von der Schule geschwärmt, seit sie in der zweiten Klasse Charlie und die Schokoladenfabrik gelesen haben und den ganzen Tag lang Schokolade essen durften.«

Ich höre Delilahs Schritte auf der Treppe, und sie tätschelt Humphrey abwesend die Stirn. »Okay, danke, Mom. Bist du jetzt fertig mit deinen peinlichen Geschichten? Edgar und ich müssen lernen.«

»Ach, so nennt man das heutzutage?«

Delilah verdreht die Augen und zieht mich hinauf in ihr Zimmer. Sie lässt die Tür einen Spalt offen – das gehört zu den Regeln ihrer Mutter, sonst dürfte ich gar nicht zu ihr nach oben. Als ich sie gefragt habe, warum man mir nicht vertraut, sagte sie, heutzutage gebe es eben keine Ritterlichkeit mehr.

Ich kenne jeden Zentimeter ihres Zimmers, weil ich es bei einem unserer fehlgeschlagenen Versuche, mich aus dem Buch zu befreien, in allen Einzelheiten nachzeichnen musste. In dem Märchen besaß Rapscullio eine magische Leinwand, auf die er eine originalgetreue Wiedergabe seines Unterschlupfes gemalt hatte. Als er in den Hintergrund einen Schmetterling einfügte, flog dieser von der Leinwand und war plötzlich lebendig. Ich habe ihn dazu gebracht, Delilahs Zimmer zu malen, in der Hoffnung, ich könnte mich dann selbst hineinpinseln und daraufhin in ihrer Welt lebendig werden. Doch leider bin ich zwar in ihrem dreidimensionalen Zimmer aufgetaucht, aber zweidimensional geblieben, sodass wir noch einmal von vorne anfangen mussten.

Weil buchstäblich mein Leben davon abhing, es ganz genau zu kennen, ist mir Delilahs Zimmer vertrauter als jeder andere Ort. In ihrem Zimmer ist alles rosa, und sie hat so viele Stofftiere auf ihrem Bett, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wo sie schläft. Auf ihren Kommoden liegt ein Sammelsurium aus nicht zusammenpassenden Ohrringen, Haarspangen und Münzen. Fotos von Delilah – manche von ihr allein, andere von ihr mit Jules oder ihrer Mutter –, sind als Collage an der Wand hinter der Kopfseite ihres Betts arrangiert.

Ich lasse mich auf ihr Bett fallen und stopfe mir einen Pandabären hinter den Kopf. Delilah legt sich neben mich und stützt den Kopf auf eine Hand. Uns trennen quälende fünfzehn Zentimeter.

Ich ziehe sie näher an mich heran, wobei ich die Region zwischen Schlüsselbein und Kinn mit Küssen bedecke. Ich vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren; sie riechen nach Vanille und Zimt. »Sollten wir nicht eigentlich Chemie lernen?«, flüstert Delilah.

»Tun wir doch«, sage ich und ziehe sie auf mich. Sie legt die Hände auf meine Brust und küsst mich. Ihr Herz schlägt im Gleichklang mit meinem, ganz dicht bei mir.

Einmal hat Orville mir erzählt, durch die Kollision von Sternen werden Universen geboren; Galaxien dehnen sich aus. So fühlt es sich an, wenn ich Delilah küsse – als würde die ganze Welt doppelt so groß.

Innerhalb des Buchs konnte ich ohne jeden Widerstand laufen, springen und fallen, an die hier herrschende Schwerkraft muss ich mich immer noch ein bisschen gewöhnen. Aber in diesem Moment bin ich dankbar dafür. Ich spüre, wie sie ihren ganzen Körper an mich drückt, ein Gewicht, das in meine Knochen sinkt und mich in dieser nagelneuen Welt verankert.

Nicht nur an die Schwerkraft muss ich mich gewöhnen, sondern auch daran, dass meine Träume wahr geworden sind. Daran, dass ich tun und lassen kann, was ich will. An das Gefühl, alles zu haben, was ich brauche – und jeden.

Es ist schon komisch – die Liebesgeschichte im Märchen schien sich immer so schnell abzuspielen, Einzelheiten wurden übersprungen, um möglichst schnell zum Happy End zu gelangen. Bei Delilah bewege ich mich mit derselben Geschwindigkeit, doch ich verpasse keinen einzigen Augenblick. Ich bekomme mit, wie sie an ihrem Bleistift kaut, wenn sie nervös ist; wie sie ein bisschen zurückzuckt, wenn ich ihre Hand nehme, als bekäme sie einen elektrischen Schlag; wie sie meinen Namen weicher ausspricht als jedes andere Wort im Satz.

Plötzlich schiebt sich Delilah von mir weg und springt vom Bett auf, den Mund vor Staunen geöffnet. Ich setze mich ebenfalls rasch auf, weil ich denke, Mrs McPhee steht in der Tür, aber da ist niemand. »Was hast du?«

Delilah deutet hinter mich, und ich drehe mich um.

Mitten in der Luft hängen zwei Wörter, von denen ich gehofft habe, sie niemals sehen zu müssen:

KOMM HEIM.

Edgar

Warum wird es eigentlich in Wirklichkeit nie so super, wie man es sich wünscht?

Vor meinem ersten Kindergartentag sagte mir meine Mom, dort würde es ganz toll werden. Es würde mir solchen Spaß machen, mit dem Bus zu fahren und neue Freunde zu finden, und den ganzen Tag über würde ich aufregende Dinge mit Kindern in meinem Alter unternehmen. So sah die Realität aus: Im Bus übergab sich das Kind auf dem Nebensitz. Wir verbrachten zwei Stunden damit, immer und immer wieder den Buchstaben A nachzuzeichnen. Und in der Pause warf mir ein Mädchen Sand ins Gesicht, sodass ich fast blind wurde. Oh ja, das würde garantiert die beste Zeit meines Lebens werden.