Liebe, schmetterlingsbunt - Hannah Juli - E-Book

Liebe, schmetterlingsbunt E-Book

Hannah Juli

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Beschreibung

Ein Liebesroman voller Glücksmomente Ella erhält eine überraschende Nachricht aus England. Ihr Vater, der die Familie vor Jahren verlassen hat, ist schwer erkrankt. Aufgewühlt reist sie zu ihm, auch wenn er für sie ein Fremder ist. Sie macht sich mit dem Landleben und dem Gut ihres Vaters vertraut. Ein großer leerer Pavillon im Garten weckt ihre Neugier. Erinnerungen stürmen auf sie ein, und als Ella und ihr Vater sich annähern, kommen gut gehütete Geheimnisse ans Licht. Und auch der Künstler Jacob, der sich immer mehr in ihr Herz stiehlt, scheint etwas zu verbergen.   ***Die Spur der Schmetterlinge bringt Liebe & Glück. Hannah Julis neuer zu Herzen gehender Roman um ein Landgut in England und ein altes Geheimnis.***  

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Liebe, schmetterlingsbunt

Die Autorin

Hannah Juli zog als Kind der Siebzigerjahre an viele Orte der Welt bis nach Monterey in Kalifornien. Gestrandet ist sie mit ihrer Familie und Katze in Schleswig-Holstein, wo sie neben dem Schreiben auch als freie Lektorin tätig ist.  www.hannah-juli.de

Hannah Juli

Liebe, schmetterlingsbunt

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka, MünchenTitelabbildung: shutterstock / © suns07butterfly (Schmetterling); shutterstock / © R.Wilairat (Blumen); shutterstock / © Nongnuch_L (Fond)Autorenfoto: © Sarah H. DobberpuhlE-Book by pepyrus978-3-8437-2690-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Epilog

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Für Holger, in Liebe.

»Alles ist im Werden,zwinkert der Schmetterling.«

Nelly Sachs

1

Der Tag, der mein Leben in eine neue Bahn stoßen sollte, tarnte sich zu Beginn als gewöhnlicher Mittwoch. Ein Mittwoch im vergangenen Mai. Der Duft des herannahenden Sommers wehte durchs geöffnete Bürofenster, vor dem die letzten Kirschblüten wippten, untermalt vom steten Rauschen des Verkehrs im Spandauer Viertel. Berlin. Diese Stadt, die ich liebte, genau wie die Agentur, für die ich als Webdesignerin arbeitete.

Ich teilte das Bürozimmer mit Fee, meiner Freundin aus Studienzeiten, der ich den Weg in unser Team geebnet hatte. Gerade hielt unser Praktikant ihr ein Tablet mit eigenen Entwürfen vor die Nase.

»Das geht so nicht.« Fee verdrehte die Augen. »Viel zu überladen, mehr Mut zur Lücke! Du musst den Blick der User auf das Wichtige lenken.«

Der Junge seufzte und verließ betrübt den Raum.

Ich blinzelte zu Fee hinüber.

Sie schnaubte. »Ja, was?«

»Ja, nichts. Ich meine, er ist Schüler und experimentiert herum. Oder hat er einen echten Auftrag erhalten?«

»Er ist doch hier, um was zu lernen. Da werde ich ja noch was sagen dürfen.« Fees schmale Lippen zuckten leicht, sie musste wohl über sich selbst lachen.

»Der arme Kerl kann aber nichts für deinen akuten Liebesfrust.«

»Okay, Mama. Ich werde ihn nachher für seinen Kaffee loben.«

Ich klickte mich weiter durch das Sketchbook-Menü. Eine große Tischlerei hatte uns mit einem Onepager beauftragt. Vor einem holzähnlich gemaserten Hintergrund führten stilisierte Werkzeuge, linear nach Größe abfallend, den Blick zum Call-to-action-Button. Ich skizzierte eine Säge für den Entwurf und nahm einen Schluck Kaffee, setzte den Becher ab. Ein Tropfen floss vom Rand über den pinkfarbenen Schmetterling, der neben zartbunten Blumen das Porzellan schmückte. Gedankenverloren starrte ich darauf. Die Tasse erinnerte mich an meinen Vater. An meinen vierten Geburtstag, als er mir …

»Ella?« Fees Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. Durch ihre Ponyfransen schaute sie mich an. »Kommst du nicht weiter?«

Wir waren ein eingespieltes Team und halfen uns jederzeit, wenn es mal irgendwo hakte.

»Doch, alles gut«, winkte ich ab. »Bis zum Termin werde ich locker damit fertig.«

Sie nickte, und still wandten wir unsere Gesichter wieder den Monitoren zu.

Müde fuhr ich mit der U7 nach Hause. Ich blickte einem gemütlichen Feierabend auf meiner Noller Scholle entgegen. So nannte ich die Altbauwohnung, die in der Nollenberger Straße lag und die ich liebte. Das Einzige, was mir fehlte, war ein lebendiges Wesen beim Nachhausekommen. Zum Beispiel eine Katze. Doch der Wunsch schien mir egoistisch. Ich hätte sie zu oft allein lassen müssen.

Ich gähnte verhalten, als ich aus der Bahn stieg. Immerhin war morgen Christi Himmelfahrt, und ich konnte ausschlafen. Mittags war ich mit meiner Mutter verabredet.

Im Hausflur empfing mich der typische Treppenhausgeruch betagter Gebäude, der die Nostalgie der altrosa Farbe an den Wänden unterstrich. Ich ließ die Eingangstür hinter mir zufallen, öffnete wie jeden Abend meinen Briefkasten. Mein Blick blieb an einem gepolsterten großen Briefumschlag hängen, den der Postbote eben noch durch den Schlitz gequetscht haben musste. Briefmarken mit der Silhouette von Queen Elizabeth. Meine Adresse war mit steiler Handschrift notiert. Der Absender sagte mir nichts. Edward Hawkins.

Ich nahm die vier Treppenabsätze bis in meine Wohnung, zog Pumps und Jacke aus und machte es mir mit dem geheimnisvollen Päckchen auf dem knallgelben Sofa bequem, rieb mir die schmerzenden Zehen. Gespannt riss ich den Umschlag auf und hielt einen Stapel mit mehreren Kuverts in der Hand. Obenauf lag ein mittig gefalteter Briefbogen. Ich klappte ihn auseinander. Zeilen auf Englisch, wieder in dieser steilen Schrift.

Sehr geehrte Ms Franke,Sie mögen mir bitte verzeihen, dass ich Sie ohne jede Vorwarnung anschreibe. Doch ich glaube, es ist der beste Weg, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Mein Name ist Edward Hawkins. Ich arbeite seit vielen Jahren als Verwalter auf dem Gut Ihres Vaters Thomas Lorenz in der Grafschaft Cumbria. Ich bedauere zutiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es Ihrem Vater gesundheitlich schlecht geht. Vor Kurzem wurde bei ihm Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt.

Da er sehr schwach ist, hat er mich gebeten, Sie ausfindig zu machen und davon in Kenntnis zu setzen. Er hofft, Sie vor seinem Tod noch einmal wiedersehen zu können und dass Sie ihm eine Chance geben, sich mit Ihnen auszusprechen. Das würde ihm die letzte Phase seines Lebens erleichtern. Sie sind also herzlich eingeladen, nach Tarn Hows zu kommen. Hier im Green Ghyll Cottage, dem Landhaus Ihres Vaters, wartet jederzeit ein komfortables Gästezimmer auf Sie.

Die Reisekosten würde er selbstverständlich übernehmen. Vielleicht kann der beigelegte Stapel früherer Briefe Ihres Vaters Ihnen bei der Entscheidung helfen. Darf er darauf hoffen, dass Sie seinen letzten Wunsch erfüllen?

HochachtungsvollIhr Edward Hawkins

Wie vom Donner gerührt ließ ich den Zettel sinken. Mein Vater. Von dem ich bis vor fünf Minuten nicht mal gewusst hatte, ob er noch lebte. Geschweige denn, wo. Ich war fast fünf gewesen, als er meine Mutter und mich verließ, ohne sich je wieder blicken zu lassen. Er lebte also. Auf einem Landgut in England. Und nun wollte er mich sehen, bevor er sterben würde.

Mein Hals fühlte sich staubtrocken an. Ich könnte meinen Vater kennenlernen, nur um ihn schon bald wieder zu verlieren.

Natürlich hatte es eine Zeit gegeben, in der ich meine gekränkten Gefühle beiseitegeschoben und im Internet nach ihm geforscht hatte. Aber ich hatte nie etwas über ihn herausgefunden, und den offiziellen Weg über die Ämter wollte ich nicht gehen. Alles, was ich von meiner Mutter wusste, war, dass er nach einer Reise nicht mehr zu uns zurückkehren wollte. Er hatte ihr am Telefon erklärt, er würde sich anderswo ein neues Leben aufbauen. Kein Abschiednehmen von uns, von mir.

»Mit dem sind wir durch!«, pflegte meine Mutter zu sagen, und: »Wir brauchen keine Männer.«

Nicht einmal den Unterhalt für mich wollte sie von ihm annehmen. Ich verstand sie. Und tat das bis heute. Ihn dagegen nicht. Wie konnte man seine Familie auf Nimmerwiedersehen im Stich lassen? Vielleicht hatte ich deshalb meiner Suche nach ihm nie mehr Nachdruck verliehen. Die Unabhängigkeit und der Stolz meiner Mutter waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es fehlte mir an nichts. Und jetzt das.

Stumm betrachtete ich die ungeöffneten Briefe meines Vaters, die Mr Hawkins seinem Anschreiben beigelegt hatte. Etwa zehn. Merkwürdig. Sie waren an unsere frühere Anschrift in Berlin adressiert. Die Wohnung, in der ich anfangs aufgewachsen bin.

Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich meinen Daumen unter den ersten Falz schob, ihn aufriss und die Papierbögen auseinanderfaltete.

Green Ghyll Cottage, im Juli 1998, las ich die oberste, in schwungvollen Kurven geschriebene Zeile. Ich schluckte. Da war ich sechs Jahre alt gewesen, und die Adresse hatte noch gestimmt.

Liebe Etterli,seit meinem letzten Brief an Dich sind wieder einige Monate vergangen. Bestimmt bist Du schon richtig groß geworden. Das musst Du auch, sonst passt Dein Schulranzen ja gar nicht auf Deinen Rücken! Ich stelle mir vor, dass er türkis ist, denn das war immer Deine Lieblingsfarbe. Bist Du schon aufgeregt?

Wenn ich wüsste, wann genau Dein großer Tag ist, würde ich kommen und mit Euch Deine Einschulung feiern. Aber von Deiner Mama höre ich, dass Du mich nicht sehen möchtest. Bestimmt bist Du wütend, weil ich nicht mehr bei Euch bin. Weißt Du, manchmal passieren Dinge, die Dir keine Wahl lassen. Auch wenn sie wie ein Fehler aussehen und für andere schwer zu verstehen sind. Du sollst aber wissen, dass ich Dich vermisse, jeden Tag denke ich an Dich. An Dein Lachen mit den schiefen Milchzähnen. Und die dunklen Locken, die Dir nach Deinen wilden Indianerabenteuern immer wie Spirellinudeln vom Kopf abstanden.

Willst Du mich mal besuchen kommen? Es gibt vieles, das ich Dir gern zeigen würde. Ich wohne in einem kuscheligen kleinen Landhaus in England. Es heißt Green Ghyll Cottage. Das bedeutet grüner Bach, denn in der Nähe fließt ein schmaler Bach. Das Land hier hat eine Königin und ist voll mit Hecken und Teetrinkern. Und stell Dir vor, die Autos fahren alle auf der verkehrten Straßenseite! Auf den Weiden grasen Schafe, und in meinem Garten habe ich einen Pavillon aus Glas mit vielen Schmetterlingen. Sie sind lebendig und bunt wie Du. Ich bin mir sicher, Du würdest hier viel Spaß haben.

Nun wünsche ich Dir alles Liebe für Deinen großen Tag. Anbei ein Geschenk für Dich. Ich habe es in Nordamerika gekauft, in einem Indianerreservat. Wenn Du es trägst, ist ein Teil von mir immer bei Dir. Aber auch sonst ist immer ein Teil von mir bei Dir. In der Schule, zu Hause und draußen, überall in der Welt. Wo Du auch bist.

Bleib behütet und beschützt, kleine Etterli.Dein Papa

Ich verharrte reglos. Fühlte Hitze, die sich in meinem Inneren ausbreitete und mit winzigen Funken an die Hautoberfläche schoss.

Etterli. Erinnerungen griffen nach mir, Bilder, Worte, die ich seit Jahrzehnten in mir getragen und nie mehr hervorgeholt hatte. Etterli, das war der Spitzname meines Vaters für mich. Ich wusste nicht mehr, warum er mich so genannt hatte. Aber ich hörte plötzlich seine Stimme wieder, die mich zärtlich rief. Etterli.

Mit zwei Fingern weitete ich den Briefumschlag, zog ein seidenes Säckchen heraus. Ein Schmuckstück. Ich ließ es in meine Handfläche gleiten. Ein silbernes Armband mit drei Schmetterlingen aus Türkis.

Er hatte sich vorgestellt, wie ich es als Kind trug. Es passte nicht mehr um mein Handgelenk.

Der Schmerz, der mich in diesem Moment zerschnitt, ließ mich aufschluchzen. All das versäumte Leben. Die Jahre ohne ihn. Und nun würde er bald sterben.

Noch einmal überflog ich die Zeilen. Aber von Deiner Mama höre ich, dass Du mich nicht sehen möchtest.

Hatte es solche Gespräche mit ihr gegeben? Hatte ich es abgelehnt, ihn zu sehen, und konnte mich nur nicht daran erinnern? Warum waren die Briefe nie bei mir angekommen?

Hektisch öffnete ich den nächsten und nächsten. Alle klangen liebevoll und erstreckten sich bis ins Jahr 2002. Mein Vater musste es irgendwann aufgegeben haben. 2002 waren meine Mutter und ich innerhalb Berlins umgezogen. In die neue Wohnung nach Pankow.

Lange blieb ich auf dem Sofa sitzen, während meine Gedanken wild durcheinanderschossen. Ich las die Zeilen meines Vaters wieder und wieder. Unterdrückte den Impuls, meine Mutter anzurufen, um das, was mir unter den Nägeln brannte, sofort zu klären. Ich musste mit ihr reden. Doch lieber nicht am Telefon. Sondern morgen.

2

Mehr Farbe als ein müdes Grau gab der Himmel vor meinem Fenster am nächsten Morgen nicht her. Ich hatte Mühe, die Augen offen zu halten, die sich nach der unruhigen Nacht verquollen anfühlten. Das Chaos in mir war geblieben. Vor allem wusste ich nicht, ob ich Edward Hawkins’ Einladung annehmen sollte, die er in diesem seltsam altmodischen Ton an mich gerichtet hatte. Erst musste ich meine Gedanken sortieren und mit meiner Mutter sprechen.

Als ich mittags wie verabredet an ihrer Wohnungstür klingelte, starrte ich auf das Schild mit unserem Namen. Franke. Meine Eltern hatten nie geheiratet, und es war ganz selbstverständlich, dass ich nicht den Namen meines Vaters trug. Ich gehörte zu ihr.

Die Tür schwang auf, und das vertraute Lächeln meiner Mutter ließ mich auf eine einfache Erklärung für die ungelesenen Briefe hoffen.

Sie zog mich in eine innige Umarmung und schloss die Tür. »Schön, dass du da bist, mein Schatz!«

Ich nickte nur, hängte meine Jacke an die Garderobe und drückte die Schultertasche wieder an mich, in die ich die Briefe gesteckt hatte. Während ich ihr durch den Flur folgte, streifte mein Blick die Vitrine mit der Deko-Sammlung. Mama liebte Porzellanvögel, und als Kind hatte ich zu gern mit ihnen gespielt. Obwohl sie zerbrechlich waren, ließ sie es gelassen zu. Eine schöne Erinnerung. Ich hatte mich immer geborgen gefühlt. Doch es gab einen Teil der Vergangenheit, von dem ich kaum etwas wusste. Würde die Wahrheit alles in ein neues Licht stellen?

»Hilfst du kurz was rübertragen?«, bat meine Mutter. »Ich hab im Wohnzimmer für uns gedeckt.«

»Ja, klar.«

In der schmalen Küche, in der wir unzählige Male zusammen gekocht hatten, reichte sie mir eine Holzschale mit grünem Salat. Sie nahm zwei Schüsseln mit Buletten und dampfenden Kartoffeln. Wie oft hatten wir am Esstisch gesessen, wenn sie abends aus dem Architekturbüro heimkam. Dort arbeitete sie noch bis heute als Bauzeichnerin. Mittags nach der Schule war ich meist allein gewesen und hatte mir nur ein Brot gemacht. Umso ausgiebiger hatten wir das gemeinsame Abendessen zelebriert, uns von unserem Tag erzählt.

»Setz dich, Engel. Du siehst müde aus. Hast du Stress in der Agentur?«

Ich schüttelte den Kopf. »Da läuft alles gut, ich habe schlecht geschlafen. Lieb, dass du gekocht hast.«

»Natürlich! Ich weiß doch, was dir schmeckt.«

Während wir aßen, überlegte ich, was ein guter Anfang wäre für die Fragen, die mir auf der Zunge brannten.

Ich nahm einen Schluck Wasser. »Gestern ist was Unerwartetes bei mir reingeflattert. Deshalb konnte ich auch kein Auge zumachen.«

»Reingeflattert?«

»Ich habe ein Päckchen bekommen, von einem Edward Hawkins. Sagt dir der Name was?«

Sie hielt inne. »Nein.«

»Es geht um meinen Vater.«

Das Gesicht meiner Mutter fror ein.

»Edward Hawkins ist sein Verwalter. Auf einem Gut in England. Wusstest du, dass Papa da lebt?«

»Nein. Das wusste ich nicht.« Ihre Antwort kam zu schnell. »Und es ist mir ehrlich gesagt auch egal«, schob sie genauso rasch hinterher.

»Mir aber nicht.« Tief atmete ich ein. »Ich würde gerne mal mit dir über meinen Vater reden.«

Meine Mutter setzte das Glas, nach dem sie eben gegriffen hatte, hastig auf dem Tisch ab. »Er hat uns ausgeschlossen, Ella. Aus seinem Leben.«

»Das weiß ich. Und trotzdem kann ich nicht ewig weiter so tun, als gäbe es ihn nicht. Nicht nach dem, was der Verwalter geschrieben hat. Ich überlege, meinen Vater zu besuchen.«

»Nach all den Jahren schnippt er mit dem Finger, und du rennst gleich mit offenen Armen auf ihn zu?«

»Davon ist keine Rede.«

»Offenbar hat er dich nicht mal selbst kontaktiert, nicht mal dazu hat die Liebe gereicht! Stattdessen schickt er seinen …«, sie malte Gänsefüßchen in die Luft und näselte versnobt, »Verwalter vor.«

»Mama, das hat seine Gründe.«

Sie schnaubte nur. Es war wie immer. Wenn das Gespräch auf meinen Vater kam, legte sich bei ihr ein Hebel um. Als hätte ich in ein Wespennest gestochen. Weshalb wir das Thema meist gemieden hatten. Aber heute brauchte ich endlich Klarheit.

»Interessiert es dich denn gar nicht, worum es geht?«, bohrte ich weiter.

»Offen gestanden – nein.«

»Das glaube ich dir nicht.«

Meine Mutter lachte auf.

»Mein Vater … also Thomas, ist todkrank. Er hat Lungenkrebs. Und er wünscht sich, mich noch einmal zu sehen.«

Sie schluckte. Schwieg.

»Ich weiß nicht, ob ich ihm diesen Wunsch wirklich abschlagen kann. Zumal es nicht stimmt, dass er mich aus seinem Leben ausgeschlossen hat. Er hat mir Briefe geschrieben. Jahrelang. Und mich damals schon zu ihm eingeladen.« Meine Hand wanderte zu meiner Tasche über der Stuhllehne. Ich legte die Briefe vorsichtig in die Mitte des Tisches.

Meine Mutter starrte darauf, als hätte ich ihr einen abgehackten Kopf präsentiert.

»Kennst du diese Briefe?«

Aus ihren Wangen war die Farbe gewichen.

»Statt sie mir zu geben, hast du sie ihm zurückgeschickt! Wie konntest du das tun, Mama?«

»Hör zu, Ella«, sagte sie mühsam beherrscht. »Du weißt nicht alles, was damals war.«

»Weil du es mir nie erzählt hast.«

»Bestimmte Dinge gehen nun mal nur die Eltern etwas an. Und nicht die Kinder. Ich wollte dich da raushalten.«

»Das verstehe ich. Aber du kannst es mir doch jetzt sagen. Inzwischen bin ich erwachsen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist Vergangenheit und führt zu nichts. Ich habe getan, was ich für richtig hielt.«

»Du hattest aber kein Recht, mich von ihm fernzuhalten!«

»Ich hatte kein Recht? Dich vor einem Vater zu schützen, für den nur sein eigenes Glück zählte? Er hatte sich für ein Leben ohne uns entschieden, Ella!«

Ich sah sie fragend an. »Aber es muss dafür doch einen Grund gegeben haben, Mama.«

»Ich habe ihm anscheinend nicht gereicht. Danach wollte ich einen klaren Schlussstrich ziehen. Damit der Trennungsschmerz irgendwann nachlässt. Für mich, aber vor allem auch für dich.«

»Du hättest mir die Briefe trotzdem nicht vorenthalten dürfen«, beharrte ich. »Und mir die Chance geben müssen, selbst zu entscheiden.«

»Du warst ein kleines Kind. Wie hätte ich dir irgendwelche Entscheidungen überlassen können? Und hat es dir an irgendwas gemangelt? Warst du unglücklich? Wir hatten doch eine wunderbare Zeit zusammen. Ganz ohne deinen Vater.«

Ich rannte gegen eine Wand. Warum verstand sie mich in diesem Punkt so wenig? Mein Blick verschwamm. Ein Tropfen landete auf meinem Teller. Weniger aus Trauer, mehr aus Hilflosigkeit. Sie war noch immer zu gefangen. Gefangen in der Demütigung, die sie damals erlebt haben musste.

»Ella … Schatz.« Meine Mutter tastete nach meiner Hand.

Ich zog sie fort.

»Ich bin nicht schuld daran, dass dein Vater gegangen ist.«

»Das behaupte ich auch nicht. Aber er hätte ein Teil von mir bleiben können, wenn du den Kontakt nicht verhindert hättest!«

»So einfach ist das nicht. Wenn er dich wirklich hätte sehen wollen, warum ist er dann nicht gekommen und hat vor der Tür gestanden?«

»Er ging davon aus, dass ich das nicht will.« Ich blickte ihr fest in die Augen. »Weil du es ihm so gesagt hattest.«

»Ach ja?«

»So hat er es in einem der Briefe geschrieben.«

»Da hat der Herr es sich ja schön leicht gemacht!« Ihre Stirn verzog sich streng. »Mehr sage ich dazu nicht. Ich will nicht mit dir streiten, Ella. Schon gar nicht wegen ihm. Thema beendet.«

Ungläubig starrte ich sie an.

Sie nahm einen neuen Bissen, kaute zornig darauf herum.

»Ich bin kein kleines Mädchen mehr, dem du einfach so den Mund verbieten kannst!«

»Ich möchte nicht länger über den Mistkerl reden.«

Es hatte keinen Sinn. »Wenn du nicht mit mir da­rüber reden willst, muss ich leider gehen.« Mit diesen Worten stand ich auf und raffte die Briefe zusammen.

Meine Mutter riss die Augen auf. »Was denn, jetzt schon? Ich habe doch noch Nachtisch!«

»Danke. Aber ich muss nachdenken, am besten allein.«

»Das gibt es doch nicht, dass dieser Mensch unseren schönen Tag zerstört!«

»Er nicht. Sondern du. Es tut mir leid.«

Ihr Kinn zitterte. Es zerriss mich innerlich, aber ich konnte nicht anders. Ich musste hier weg. Sonst würde ich ersticken.

»Ich melde mich.« Damit ließ ich sie allein zurück, an unserem alten Esstisch, vor den beinah leer gegessenen Tellern.

3

Du siehst miserabel aus! Was is ’n los?« Fee kaute an ihrem Brötchen und sah von ihrem Schreibtisch zu mir herüber.

Ich versuchte seit einer halben Stunde, der Website für die Tischlerei das gewisse Etwas zu verpassen. Aber ich war nicht bei der Sache. Fee wäre nicht Fee gewesen, wenn sie es nicht bemerkt hätte.

»Ich hätte dich gestern beinah angerufen«, antwortete ich. »Aber dann wollte ich das Ganze erst mal sacken lassen.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Ich hatte einen Streit mit meiner Mutter. Wegen meines Vaters.«

»Dein Vater? Ich dachte, der wäre verschollen.«

»Wie man’s nimmt. Ich habe Briefe von ihm bekommen. Alte, von früher. Sie lagen vorgestern in meinem Briefkasten.«

»Wie jetzt?«

Ich erzählte Fee alles, was seit Mittwoch passiert war. Beim Stichwort Landhaus in England wurden ihre Augen größer.

»Hammer. Warum zögerst du, hinzufahren? Hast du Angst, ihm zu begegnen?«

»Angst vielleicht nicht. Höchstens vor dem, was danach käme. Er ist ja schwer krank, Fee. Soll ich ihn kennenlernen und gleich wieder verlieren?« Ich schaute sie zweifelnd an. »Außerdem, es klingt hart, aber: Er war nie Teil meines Lebens, ich kenne ihn gar nicht. Was will ich von ihm, nur meine Neugier befriedigen?«

»Na ja, er ist nicht irgendwer. Sondern dein Vater. Und er hat dir immerhin diese Briefe geschrieben.«

»Ja, das schon.«

»Er kann auch nichts dafür, dass du sie nie bekommen hast.«

»Trotzdem hätte er mehr darum kämpfen können, den Draht zu mir nicht zu verlieren. Er hatte als Vater doch Rechte. Warum hat er die nie eingefordert?«

»Ich würde sagen: Fahr hin und finde es heraus.«

Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe. »So einfach geht das nicht. Mein Urlaub ist noch ein paar Wochen hin.«

Fee schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Ella. Wenn er wirklich so krank ist, würde ich nicht damit warten. Wenn er vorher stirbt, wirst du zeit deines Lebens bereuen, dass du die Chance nicht genutzt hast, ihn noch kennenzulernen. Flieg doch übers Wochenende.«

»Reichen zwei Tage, um sich über alles auszusprechen? Es sind Jahre, die wir aufholen müssten.«

»Stimmt. Aber du weißt nicht, wie sich das Ganze entwickelt. Vielleicht bist du sogar froh, schnell wieder nach Hause zu können.«

»Super. Ich fliege also hin, sehe vielleicht, was er für ein Arsch ist, und verabschiede mich wieder. Sehr lohnend!«

»Doch, selbst das würde sich lohnen. Weil du es sonst nie mehr nachholen kannst. Und du dich ewig fragen wirst, wer dein Vater wirklich war.«

Ich drehte mich mit dem Stuhl hin und her. Ob ich wollte oder nicht, Fee hatte recht. »Hm. Ich müsste erst mal mit Dirk reden. Vielleicht erlaubt er mir ein paar Tage Homeoffice. Dann könnte ich hinfliegen und vor Ort entscheiden, wie lange ich bleibe.«

»Klingt gut. Frag ihn doch mal.«

Dirk war unser Chef, wenige Jahre älter und eigentlich ein lockerer Typ. Er mochte nur keine spontanen Anliegen, die unsere Pläne und Termine durcheinanderwarfen. Vor dem Gespräch strich ich mir am Spiegel auf der Toilette durch die Haare. Von den »Spirellinudeln«, mit denen mein Vater sie verglichen hatte, waren lediglich lockere Wellen geblieben. Würde er mich überhaupt wiedererkennen?

Tief einatmend ging ich zum offenen Chefbüro hi­nüber. Ich würde mich so kurz wie möglich fassen. Meine Familiengeschichte gehörte nicht hierher. Ich klopfte gegen den Türrahmen. »Kann ich was mit dir bereden?«

»Klar.« Dirk wies auf einen der Stühle, die um den Besprechungstisch gruppiert waren.

»Mein Vater ist leider sehr krank.« Ich stockte. »Krebs. Ohne Aussicht auf Heilung. Ich würde gern zu ihm fliegen. Er lebt in England. Könnte ich eine Weile im Homeoffice arbeiten?«

»Puh.« Dirk sah ehrlich betroffen aus. »Tut mir leid. Wie lange dachtest du denn?«

Ich hob die Schultern. »Ein paar Tage?«

»Wie sieht’s denn terminlich die nächste Zeit aus?« Er blätterte in seinem Kalender. Ein Hauch von Nostalgie in dem modernen Ambiente. »Also, nächste Woche Donnerstag haben wir ja das Meeting mit der Tischlerei. Wie weit bist du damit?«

»Schon so gut wie fertig. Und je nachdem, wann ich einen Flug bekomme, könnte ich bis dahin zurück sein. Oder ich fliege danach.«

»In Ordnung. Dann gib mir Bescheid, wenn du mehr weißt. Das kriegen wir schon irgendwie hin.«

»Danke, Dirk. Ich weiß das zu schätzen.«

Er winkte mich nur lächelnd aus dem Raum.

Noch am selben Abend nahm ich meinen Mut zusammen und wählte die Rufnummer, die unter der Absenderadresse von Mr Hawkins’ Anschreiben vermerkt war. Ich hatte keine Ahnung, wer am anderen Ende abnehmen würde. Was würde ich sagen, wenn es mein Vater wäre? Mein Herz pochte schneller, ich ballte verkrampft eine Faust. Doch es war der Verwalter, der sich mit einem gepflegten britischen Akzent meldete.

»Guten Abend, Mr Hawkins«, antwortete ich beinah erleichtert auf Englisch. »Hier ist Ella. Ella Franke.«

»Ms Franke! Ich bin sehr froh, dass Sie sich melden.«

»Vielen Dank für Ihre Nachricht. Und die Briefe meines Vaters. Es kommt alles so überraschend. Wie geht es ihm?«

Er seufzte. »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber es sieht nicht gut aus.«

»Ist er denn zu Hause?« Ich hielt den Atem an.

»Leider nein. Im Krankenhaus, seit ein paar Tagen.«

»Kann man da noch etwas für ihn tun?«, fragte ich leise.

Ein Zögern am anderen Ende, Mr Hawkins räusperte sich. »Ich würde Ihnen dazu gerne mehr sagen, jedoch lieber nicht am Telefon. Haben Sie es sich überlegt? Können Sie hierherkommen?« Er klang förmlich, und ich stellte ihn mir wie einen eleganten Gentleman vor. Mehr formvollendeter Manager als zupackender Verwalter eines Landguts.

»Ja. Deshalb rufe ich an. Ich habe nach Flügen geschaut. Entweder kann ich schon morgen kommen. Oder Ende nächster Woche.«

»Dürfte ich Ihnen nahelegen, nicht bis nächste Woche zu warten?«

Ich schluckte. Es klang ganz so, als blieben meinem Vater nur noch wenige Tage.

»Okay«, flüsterte ich. »Dann bin ich morgen Nachmittag in Manchester.« Von dort würde ich weiter nach Tarn Hows im Lake District fahren.

»Ich werde Sie vom Flughafen abholen. Wann genau landen Sie?«

»Vielen Dank, aber Sie brauchen mich nicht abzuholen. Ich nehme mir einen Mietwagen.«

»Sind Sie sicher? Es ist eine weite Fahrt zu uns aufs Land«, gab Mr Hawkins zu bedenken.

»Ja, ich weiß. Das macht mir nichts aus.« Gerade aufgrund der Entfernungen wollte ich nicht von jemandem abhängig sein, sondern die Freiheit haben, jederzeit wieder aufzubrechen. Ich wusste ja nicht, was mich vor Ort erwartete. Wie sich das Wiedersehen mit meinem Vater gestalten würde. Und nun spürte ich sie doch. Eine Angst, die meine Wirbelsäule emporkrabbelte.

»In Ordnung, Ms Franke.«

»Mein Vater braucht die Reise auch nicht für mich zu bezahlen.« Schließlich war ich all die Jahre gut ohne seine Unterstützung ausgekommen, sagte eine trotzige Stimme in mir.

»Er würde das sicher sehr gerne tun. Aber ganz, wie Sie wünschen.«

Als wir uns verabschiedeten, musste ich ungeachtet meiner Anspannung lächeln. Etwas an Mr Hawkins’ betont höflicher Attitüde machte ihn sympathisch.

Wenig später hatte ich mir online ein Flugticket organisiert und den Mietwagen bestellt. Wenn alles glattlief, würde ich gegen sechs, halb sieben Uhr abends im Green Ghyll Cottage ankommen.

Meiner Mutter sagte ich erst mal lieber nichts von meinem Plan. Der Streit schwebte noch zwischen uns, ich hatte mich nicht mehr bei ihr gemeldet. Das war ein ungewohntes Gefühl für mich. Bislang waren wir uns immer so nah gewesen, dass ich beinah alles mit ihr besprechen konnte. Alles, bis auf das eine Thema.

Stattdessen telefonierte ich mit Fee, damit sie Bescheid wusste, dass ich die nächsten Tage nicht im Büro sein würde.

»Das ist eine gute Entscheidung, Ella! Alles Liebe für deine Reise, und melde dich bald.«

»Danke. Und du sei nett zum Praktikanten!«, mahnte ich sie im Spaß.

Sie lachte wie eine kleine Hexe.

Bei meiner Nachbarin hinterließ ich meinen Zweit- und Briefkastenschlüssel und eine offene Milch. Den Abend verbrachte ich damit, mehr über die Gegend in Erfahrung zu bringen, in der mein Vater eine neue Heimat gefunden hatte. Tarn Hows war der Name eines Landstrichs und Sees im Lake District – einem Naturschutzgebiet mit schmalen Gletscherseen, schroffen Bergen und weiter, unberührter Landschaft. Ihre Schönheit hatte schon oft Künstler und Schriftsteller angezogen. Ich swipte durch die wildromantischen Bilder von schimmernden Gewässern, grün bewachsenen Hügeln und verträumten Cottages. Verwinkelte Ortschaften mit Pubs und Fachwerkhäusern. Die Winter waren dort oft hart und lang, der Hochsommer heiß. Dazwischen Wetterwechsel, unberechenbare Stürme und Regen.

Auch wenn ich nur für ein paar Tage hinfuhr, brauchte ich für jede Witterung etwas. Ich packte meine Reisetasche und legte meine Fotokamera mit bei. Das Kinderarmband von meinem Vater sollte mich begleiten, ich schob es zusammen mit seinen Briefen in das Seitenfach. Ich wollte sie bei mir haben. Sie könnten ein Fundament sein, eine Steighilfe. Die erste Stufe einer Treppe, die uns hoffentlich zueinanderführen würde.

4

Nachmittags um kurz nach vier englischer Zeit befanden wir uns im Landeanflug über Manchester. Ich starrte nach unten auf von Bäumen gesäumte Grünflächen, die sich mit grauen Siedlungen und geschwungenen Straßenlinien abwechselten. In meinem Bauch rumpelte die Ungewissheit wie ein Stein hin und her und rieb mit rauen Kanten gegen meine Magenwand. Was würde mich in diesem Land erwarten, von dem ich bislang nur London kannte?

Sanft setzte das Flugzeug auf. Ein Baby jammerte in der Reihe hinter mir. Der Vater sprach zärtlich auf sein Kind ein. Ich schloss die Augen, um den beruhigenden Klang der Worte in mich aufzunehmen. Es gelang mir nicht.

Im Car Rental Village nahm ich den Autoschlüssel für einen weißen VW Polo entgegen. Als ich mich rechts auf den Fahrersitz fallen ließ, wurde mir noch mulmiger. Und stell Dir vor, die Autos fahren alle auf der verkehrten Straßenseite! So hatte mein Vater es meinem sechsjährigen Ich geschrieben. Leise lachte ich auf. Ich würde mich schon daran gewöhnen.

Trotzdem fiel es mir anfangs nicht leicht, mich dem Linksverkehr anzupassen. Auf der Autobahn fühlte ich mich wie eine Geisterfahrerin. Und bewegte ich mich wirklich in die richtige Richtung, indem ich meinen Vater besuchte?

Mit der Zeit wurde mein Fahrgefühl besser, und ich trat das Gaspedal tiefer durch. Der ländliche Zauber der Gegend umgab mich, als ich die Autobahn verlassen hatte und die Straße mich weiter ins Land führte, vorbei am riesigen See Windermere. Er funkelte bläulich zwischen uralten Eichen hervor. Dichte Waldgebiete wechselten mit weiten Hügeln und Weideflächen, die von Brombeerhecken und niedrigen Mauern durchschnitten wurden. Halb verwitterte Steinbrücken führten über Wasserläufe, die in der Sonne glitzerten. Das alles erinnerte mich an Tolkiens Mittelerde, und es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Hobbit meinen Weg gekreuzt hätte. Ab und an passierte ich halb im Grün versunkene Gehöfte und Ortschaften, deren Häuser mit den Schieferfassaden altenglischen Charme verströmten.

Nach insgesamt anderthalb Stunden trennten mich nur noch wenige Kilometer vom Landhaus meines Vaters. Der Weg wurde eng, ich fuhr zwischen grünen Hecken und windschiefen Bäumen. Ich hätte auf kleine Straßenbuchten ausweichen können, wenn mir jemand entgegengekommen wäre. Doch dies war die einsamste Gegend, in die es mich bislang verschlagen hatte. Dafür blockierten plötzlich Schafe die Straße, und ich musste anhalten. Mit weißen Gesichtern und graubraunem Fell trabten sie bedächtig über die Straße. Ein Schaf blieb stehen und schaute mich mit treudümmlichem Gesichtsausdruck an. Ich seufzte und stellte den Motor ab.

Die Tiere ließen sich unendlich viel Zeit. Ungeduldig ließ ich die Scheibe herabsurren und versuchte, hinter den Bäumen am Wegrand einen Menschen ausfindig zu machen. Wo Schafe waren, konnte doch ein Schäfer nicht weit sein? Mit Hirtengewand und Stab, Schlapphut und grauem Rauschebart. Ich musste kichern und stieg aus. Die Luft war kühl, obwohl die Sonne schien.

Endlich entdeckte ich jemanden auf einer Weide. Einen Mann um die dreißig, die Hände lässig in den Jeanstaschen versenkt. Ein Grinsen erschien auf dem stoppeligen Gesicht, als er mich sah. Er war in Begleitung zweier Border Collies, denen er einen Befehl zupfiff. Sie schossen los und liefen neben der Herde her, die sich nun schneller in Bewegung setzte.

»Thank you!«, rief ich auf gut Glück zu dem Mann hinüber, ohne zu wissen, ob er überhaupt meinetwegen den Hunden Anweisung gegeben hatte.

Er hob nur die Hand an die Stirn. Ich setzte mich wieder ins Auto und wartete ab, bis das letzte Schaf und der Hirte vor meiner Windschutzscheibe vo­rübergezogen waren. Geräuschvoll gab ich Gas. Meine Hände umfassten das Lenkrad mit jedem Meter fester. Ob Mr Hawkins meinen Vater im Krankenhaus schon auf mein Kommen vorbereitet hatte?

Die Zielfahne erschien auf dem Navi. Das Haus musste mitten auf dem Land liegen, war nicht mal Teil einer ausgewiesenen Ortschaft. Von dem See Tarn Hows sah ich nichts, laut Karte lag er ein Stück weiter westlich. Ich bog in einen krummen Feldweg ein. Der Wagen rumpelte weiter, bis die Zielfahne erreicht war. Bei laufendem Motor hielt ich vor einem rustikalen Holzgatter an, obwohl es offen stand.

Mein Puls hämmerte, als schlüge ein Specht gegen meine Halsschlagader. Hinter einer niedrigen Steinmauer, wie sie hier überall den Wegrand säumten, lag ein altes Gebäude aus grauem Schieferstein. Weiße Sprossenfenster und vorspringende Erker zogen sich über die beiden Flügel des zweistöckigen Landhauses. Es war größer als ein gewöhnliches Cottage, aber auch nicht so ausladend wie ein Manor. Um die Vorderfront wanden sich geschwungene Beete, wo blaue Wölkchen aus Vergissmeinnicht ein Meer von Tulpen und weißen Narzissen umschwebten. Um die Stämme der Bäume auf dem Grundstück rankte sich wilder Efeu, und ein Apfelbaum stand in voller Blüte.

Ich pustete die Luft aus, die ich für einen Moment angehalten hatte. Was für ein märchenhafter Ort. Hier also hatte er all die Jahre gelebt. Mein Vater.

Ich lenkte das Auto durchs Tor und ließ es auf dem Hof ausrollen. Neben dem Wohnhaus entdeckte ich zwei Stallgebäude, ein kleines und ein großes. Für einen Moment blieb ich sitzen, um mich zu sammeln. Doch am überdachten Eingang zwischen den beiden Hausflügeln öffnete sich schon die Tür. Eine Frau mit silbrigweißer Kurzhaarfrisur trat heraus. Sie war locker Anfang siebzig.

Ich stieg aus, nickte ihr zu und holte Reisetasche und Jacke aus dem Kofferraum. Von irgendwoher drang ein Plätschern an mein Ohr, und Hühner staksten gackernd über den Hof.

»Eddie!«, hörte ich die Dame rufen.

Ich ging zum Eingang. Die Frau schaute mir entgegen und hielt beide Hände wie zum Gebet anei­nander. Wache Neugier sprach aus ihrem freundlichen Gesicht. Hinter ihr tauchte ein schlanker Mann von um die fünfzig in einer karierten Tweedhose und blank geputzten Schuhen auf. Das grau melierte Haar trug er an den Seiten zurückgekämmt. Mit graublauen Augen musterte er mich.

»Guten Abend. Ich bin Ella«, stellte ich mich auf Englisch vor und gab beiden die Hand.

Der Mann nickte. »Edward Hawkins. Willkommen, Ms Franke. Wir sind sehr froh, dass Sie gekommen sind.« Seine gepflegte Erscheinung fügte sich perfekt in das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Genauso gut passte, dass er offenbar Wert darauf legte, beim Nachnamen zu bleiben.

»Ich bin Agatha, seine Mutter«, ließ mich die Dame wissen. »Kommen Sie doch herein!«