Liebe, Tod und viele Kalorien - Christine Vogeley - E-Book
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Liebe, Tod und viele Kalorien E-Book

Christine Vogeley

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Beschreibung

Hauptzutaten: 1 alter rheinischer Gasthof, 1 tote Tante, 1 Erbin, 1 neue und 1 alte Freundin. Ferner: 1 Erpressung, 1 ganz lieber Bankdirektor in den zweitbesten Jahren, viel gutes Essen, 2 böse Leute, 1 promovierter Vogelkundler, 1 große Liebe. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 433

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Christine Vogeley

Liebe, Tod und viele Kalorien

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Georg in Liebe [...]ImmaNoraHedwigFreundinnenGeldHamburgElianeSafeknacken und PläneschmiedenNeue LiebeScheidungsfreudenChampagnerSilvesterNeue Farben, neue FreundeHamburg – UtrechtProblemeFast überstandenChantalEin Medaillon und neue SpurenGroßes FestEnthüllungenRückblick und AusblickeBodendecker

Für Georg in Liebe

Für Katrin in Freundschaft

Für Hanna und Marie Ritter,

die nie vergessen sein werden

Imma

Frau Doktor Imma Markmann schloß vorsichtig die Tür zu ihrer Penthousewohnung auf und bemühte sich, trotz ihres beträchtlichen Gewichtes elfenhaft leise in die Küche zu schleichen und sich noch ein Stück Knoblauchwurst aus dem Kühlschrank zu holen. Ein Eckchen Appenzeller wäre auch nicht zu verachten, vielleicht noch etwas Zwiebelbrot dazu. Im Flur zog sie vorsichtig ihre hochhackigen roten Lackschuhe aus und ließ achtlos die elegante rotschwarze Samtjacke auf den Boden fallen. Im bläulichen Zwielicht des Mondes, der durch das große Wohnzimmerfenster schien, sah sie, daß die Schlafzimmertür geschlossen war. Sie atmete auf. Sie schloß die Küchentür und stürzte sich mit der Gier einer ausgehungerten Geliebten auf den Kühlschrank. Bald saß sie, umgeben von fettigen Pergamentpäckchen und verheißungsvollen Klarsichtpackungen, auf dem hohen Küchenhocker an der marmornen Küchenbar und stopfte sich voll.

Immerhin hatte sie seit vier Uhr nachmittags nichts mehr gegessen, und die Sitzung am Abend war lang und anstrengend gewesen. Imma spießte ein Stückchen Dillhering in Mayonnaise auf und betrachtete es zufrieden. Sie dachte an den erbitterten Kampf mit der Betriebsleitung und an die säuerliche Miene des Chefs bei der Abstimmung nach ihrer langen Rede. Diesmal hatte sie gewonnen. Sie verschlang den Fisch und spülte mit einem großen Schluck Chablis nach.

Nachlässig packte sie die Reste ihrer Mahlzeit in den Kühlschrank zurück, wischte die Krümel von der Bar und stand etwas unschlüssig herum. Sie war noch nicht müde. Und sie wollte ihr Triumphgefühl noch nicht durch den Schlaf schwächen. Da war noch ein Becher Mousse au chocolat im oberen Kühlregal! Freude! Sie schlich ins Wohnzimmer, ließ sich ächzend in den bequemen Ledersessel fallen und legte die Füße hoch. Mit jedem Löffel Mousse kostete sie noch einmal den süßen Nachgeschmack ihres Erfolges aus. Die Müdigkeit überkam sie nun doch. Sie hatte die Szene im Sitzungsraum dreimal hintereinander abgespult, jetzt ließ sich die Hochstimmung nicht mehr verlängern, und satt war sie leider auch.

Im Badezimmer machte sie sich fast geräuschlos für die Nacht zurecht. Als sie ihr volles honigfarbenes Haar aus dem Gesicht gebunden und die fette Nachtcreme schon fast zur Hälfte aufgetragen hatte, hielt sie inne und betrachtete sich ausgiebig und illusionslos. Ein breitflächiges Gesicht mit immer deutlicheren Falten in den Mundwinkeln. Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie in ein paar Jahren aussehen wie ein Nußknacker, bei dem man den Unterkiefer herunterklappen konnte. Aber was war schon zu ändern? Sie seufzte tief und schaltete das Licht aus.

Imma öffnete leise die Schlafzimmertür und legte sich vorsichtig in das breite Ehebett. Sie schloß die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Trotz der Müdigkeit, die sie in einer angenehmen Welle überkam, registrierte ihr Gehirn, daß etwas nicht stimmte. Etwas war anders. Sie tastete vorsichtig nach der seidenen Steppdecke auf dem Nachbarbett. Dann setzte sie sich blitzartig hoch und knipste die Nachttischlampe an.

Das Bett war leer.

Es fing also wieder an. Ein scharfer Schmerz meldete sich in der Herzgegend. Sie angelte nach ihren Samtpantoffeln und erhob sich mühsam. Auf dem Toilettentisch lag ein Zettel.

»Tut mir leid, unvorhergesehener Anruf, dringender Kongreß in Wiesbaden, hatte ich ganz vergessen. Bis Montag, Kurt.«

Sie konnte nicht denken, nicht fühlen, alles war tot und kalt. Im Wohnzimmer griff sie nach einer Flasche. Der scharfe Geschmack des Tresterschnapses brachte sie zu sich. Mechanisch ging sie in sein Arbeitszimmer und durchwühlte seine Anzugtaschen, seinen Schreibtisch. Nichts. Diesmal hatte er die Spuren beseitigt. Bei ihrem letzten großen Auftritt hatte sie die Rechnung des Romantikhotels aus der Rhön an den Badezimmerspiegel geklebt und dazugeschrieben: »Mit der Bitte um Stellungnahme«.

Sie hatten über drei Stunden gestritten, bis er ihr versprach, jeden Kontakt mit München abzubrechen. Imma hatte ihm die Scheidung angeboten, er hatte nichts davon wissen wollen.

»Aber wenn du zurückkommst, dann ganz. Sonst bleib gleich da.«

Er hatte darauf nichts geantwortet, sondern ihr am nächsten Tag ein sehr hübsches Intarsienschränkchen gekauft, auf das sie schon lange ein Auge geworfen hatte. Imma redete sich ein, das als positive Antwort zu werten.

Dann fuhren sie gemeinsam nach Brüssel auf eine Messe, aßen gut, redeten höflich, konnten nach einigen Gläsern Wein lachen und schliefen miteinander. Imma war so etwas wie glücklich. Den echten Geschmack dieses Gefühls hatte sie vergessen.

Das war jetzt drei Wochen her.

Mit der Tresterflasche neben sich schaltete Imma seinen Computer ein. Sie ging die Dateien durch. Verträge. Golfclub. Briefe, Versicherung. Er war sehr ordentlich. Sogar über seine alten Jazzplatten hatte er eine Datei angelegt. Imma suchte weiter. Sie kannte ihn so gut. Er würde niemals etwas mit der Hand schreiben, auch keinen Liebesbrief. Und er katalogisierte alles. Sein Leben und seine Gefühle, oder das, was er dafür hielt.

Welcher verdammte Zufall hatte ihn damals im praktischen Jahr auf dieselbe Station geführt wie sie? Alle Schwestern beteten ihn an. Kurt Markmann fand den Weihrauchdunst um seine Person durchaus angemessen. Er sah gut aus, hatte die Siegerausstrahlung eines von sich überzeugten Menschen und spielte gern den Philosophen.

»Das Leben ist eine Komödie«, sagte er mit melancholischem Lächeln, wenn irgend etwas schiefging. Und das Dauerkostüm des weißen Arztkittels stand ihm ausgezeichnet. Er schlief mit allen Schwestern und mit einer weiteren Stationskollegin. Dabei ließ er jede in dem Glauben, sie sei die einzige und er brauche nur noch eine gewisse Zeit, um eine geheimnisumwitterte, verflossene, tragische Liebe zu verarbeiten, aber dann sei er innerlich frei für Petra, Angelina, Uta und Frau Doktor Giebel.

Da er in Immas Augen ziemlich oberflächlich war und sie sich ohnehin keinerlei Chancen ausrechnete, bemühte sie sich nicht, ihm zu gefallen. Imma war witzig, unterhaltsam und belesen. Das beeindruckte ihn. Und als sich ein zurückhaltender Anästhesist in sie verliebte, sah Kurt Markmann sein Gockelmonopol bedroht und umwarb Imma sehr gekonnt. Er schaffte es natürlich, den Anästhesisten ins rechte Licht zu rücken: »Willst du wirklich dein Leben mit einem Mann verbringen, der seine Patienten schon durch sein Auftreten einschläfert?«

Imma war nicht unattraktiv. Sie war mollig, aber wohlproportioniert und stets überaus elegant gekleidet. Durch ihre Wärme und ihre ungebrochene Fröhlichkeit war sie bei allen sehr beliebt. Die Aufmerksamkeit, die ihr Kurt Markmann entgegenbrachte, gefiel ihr natürlich, aber sie ging vor ihm nicht in die Knie. Das reizte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Kurt erfuhr, daß Imma aus einer berühmten badischen Gastronomenfamilie stammte und Geld hatte. Sie war sogar gut betucht. Er verdoppelte seine Anstrengungen, und binnen eines Jahres waren sie verheiratet. War Imma vorher relativ reserviert gewesen, so liebte sie ihn jetzt, war überwältigt von seinen Bemühungen. In den ersten zwei Jahren war sie glücklich. Dann sattelte Kurt Markmann um, spezialisierte sich und wurde Facharzt. Während seiner Ausbildung arbeitete Imma schon längst in einem pharmazeutischen Betrieb und verdiente für beide. Immas bescheidene Erbtante trat pünktlich ab, und der größte Teil des Geldes floß in die Einrichtung einer Augenarztpraxis.

Kurt blieb abends oft lange in der Praxis. Ach, es gab soviel aufzuarbeiten! Fachliteratur, Karteikarten, aufräumen! Er hatte allerdings Hilfe. Langbeinige, blonde Hilfe. Ein begabtes Mädchen, das tagsüber die Patienten hinter der Rezeption und abends den Chef auf der Couch betreute. Imma brauchte lange, um das zu begreifen. Sie arbeitete in einer kleinen Firma und kam selbst häufig spät nach Hause.

Mit der Sprechstundenhilfe hatte es angefangen. Aber es gab auch eine beachtliche Reihe von Patientinnen, die sich von Herrn Doktor gern in die Augen schauen ließen.

 

Briefe Mü stand da. Das war es. Bitte Kennwort eingeben. Aha. Das mußte es sein. Auf gut Glück tippte Imma den verhaßten Vornamen ein. Volltreffer. Er hatte tatsächlich keine Phantasie.

Der Computer brizzelte zufrieden, und der erste Brief erschien auf dem Monitor. Sie schaltete den Drucker ein und ließ sämtliche Briefe ausdrucken. Es waren elf Seiten. Imma schaltete den Computer aus und ging mit der Flasche unter dem Arm ins Wohnzimmer zurück. Sie begann zu lesen. Der lackschwarze Pagenkopf mit dem Porzellanpuppenprofil schob sich immer wieder vor die Zeilen. Verena. Schön, kühl, elegant, raffiniert. Raffgierig, kalt, klapperdürr, angemalt, unnatürlich, widerlich, zum Kotzen. Und jünger, natürlich.

Es ging kein Weg daran vorbei: Ihr Mann paßte besser zu dieser schönen, berechnenden Kunstfigur. Neben Verena kam Imma sich vor wie eine dicke, schrundige Kartoffel. Sie hatten sich nur einmal gesehen, vor einem Jahr auf einem Empfang ihrer Firma. Verena war Geschäftsführerin einer Beautyfarm irgendwo bei München. Herr Dr. Markmann hatte Verena nach allen Regeln der Kunst angeflirtet.

Äußerlich gelassen stand Imma an einer Säule in der Kantine, nippte an ihrem Sektglas und versuchte, die mitleidigen Blicke der anderen Frauen zu ignorieren. In das elegante, aber weite nilgrüne Seidengewand, das Imma umwallte, hätten zwei Verenas hineingepaßt. Sie lächelte krampfhaft und versuchte, mit »Ach ja« oder »Mmh, ja« auf das wabernd langweilige Gespräch eines Kollegen zu reagieren.

Verenas girrendes Gelächter schnitt Immas Seele säuberlich in Scheibchen. Die Art, wie sie Imma den Rücken zuwandte, das Gewicht von einer Hüfte auf die andere verlagerte, das Spielbein mit den schmalen Fesseln und den hohen Stöckelschuhen in Szene setzte und den Kopf in den Nacken warf, war beredter als alle Worte.

»Fette, alte Robbe«, sagte Verenas schmaler Rücken zu Imma.

»Den spanne ich dir aus im Vorbeihusten«, ergänzte ihr rundes, festes Hinterteil, das durch das hautenge Kleid perfekt inszeniert wurde.

»Verpiß dich, DER gehört jetzt mir«, zickte die schmale Hand mit den langen, roten Krallen.

»Ist das ein Kleid oder ein Schonbezug für einen nilgrünen Zweisitzer?« spöttelte Verenas schmale Taille.

Schließlich faßte sich Imma ein Herz und unterbrach das Gespräch.

»Ich möchte jetzt gehen, Kurt.«

Kurt hätte eine dicke Made auf seinem Lachskanapee vermutlich genauso begeistert angeblickt.

»Dann tu es«, sagte er kalt und wandte sich wieder seinem verführerischen Gegenüber zu. Die sexuelle Spannung zwischen den beiden war für Imma so spürbar wie ein spitzer Kieselstein im Schuh.

Diesmal war es anders. Das fühlte Imma, und sie wehrte sich verzweifelt dagegen. Verena ließ sich nicht abservieren wie eine seiner Arzthelferinnen oder irgendwelche anderen Mäuse. Verena wollte alles, das Geld, den Status, den Mann. Sein sexueller Hunger nach ihr war vermutlich unersättlich. Er konnte mit ihr repräsentieren. Sie fand ihn überaus praktisch. Also warum nicht?

Aber diese dämliche Dicke, die mußte bei einer Scheidung ausgezahlt werden. Da mußten noch Mittel und Wege gefunden werden, diesen Posten so gering wie möglich zu halten.

 

Imma las die Briefe.

Nach dem ersten Brief schob sie die Tresterflasche beiseite. Das hier verlangte einen klaren Kopf. Sie empfand so etwas wie Trost, daß er seine Geliebte auch belog. »Du weißt, daß ich Imma nicht mehr anfasse«, das war genauso gelogen wie »Ostern muß ich leider zu einem Kongreß nach Stockholm«. Ostern waren sie bei seiner alten Mutter gewesen, die ihren Kurt stets als zu gut für Imma befunden hatte. Imma hätte ihr gern eine ganze Ladung Knickebeinei ins Gesicht gedrückt.

Aber eines wurde ihr klar: Er würde sie verlassen. Die Antworten, die er Verena gegeben hatte, ließen auf die Forderungen schließen. Ein paar Anspielungen ließen Imma vor Aufregung und Abscheu zittern: Es ging um Pläne, die Verena hatte und für die sie Geld brauchte. Viel Geld. Und die undeutlichen Aussagen, die schon den Informationsvorsprung der Empfängerin voraussetzten, brachten Immas Hirn auf Hochtouren.

Kurt und Imma hatten getrennte private Konten, aber jeder hatte Zugang zum Konto des anderen. Imma überprüfte meist flüchtig die Abbuchungen, selten aber die Eingänge. Kurt hatte natürlich noch drei andere Konten geschäftlicher Natur, aber er versicherte ihr glaubhaft, bei diesen Konten würden die laufenden Einnahmen fast genau die laufenden Kosten decken. Das Konto, zu dem Imma Zugang hatte, sei sozusagen das Überschußkonto, der eigentliche Reingewinn.

Kurt verdiente natürlich ein Heidengeld mit seiner Praxis, aber er hatte Gehälter zu zahlen, eine Miete für die Praxis sowie Raten für eine Reihe teurer Geräte. Alles Riesenposten also. Dennoch: Manchmal kam Imma der Kontostand ihres Mannes doch relativ niedrig vor. Sie zerrte den Ordner mit den Auszügen hervor und blätterte. Dabei wußte sie nicht so genau, wonach sie suchen sollte.

Alles ganz normal, jedenfalls auf diesem reinen Haushaltskonto. Aber konnte es sein, daß ein so gut verdienender Augenarzt unter dem Strich etwa dasselbe Gehalt wie ein Grundschullehrer hatte? Wieso war ihr das nie aufgefallen? Sie kaufte ihre Kleider von ihrem eigenen Gehalt, ließ Großeinkäufe für den Haushalt von seinem Konto abbuchen, mal so, mal so, aber sie hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, in welchen Dimensionen ihr Mann verdiente. Sie mußte die Geschäftskonten überprüfen. Aber wo waren die Unterlagen?

 

Imma schlüpfte leise in den hell erleuchteten, unpersönlichen, kalten Eingang zum Ärztezentrum. Sie war selten hiergewesen. Eine breite, schemenhafte Gestalt mit einer Einkaufstasche spiegelte sich in den Metallplatten der Aufzugverkleidung. Fünfter Stock. Dr. Kurt Markmann, Augenarzt, Kontaktlinsenstudio.

Imma schaltete das Licht ein und zog ihren Mantel aus. Sie trug noch ihr Nachthemd. Neben dem Sehtestraum war ein winziges Zimmer für die Angestellten. Drei Klappstühle, eine Kaffeemaschine. In diesem kleinen Raum roch es durchdringend nach Tabak, aber die Aschenbecher waren sorgfältig gespült. Postkarten mit Kätzchen waren an die Wand gepinnt. Auf einem Bord stand ein Fläschchen mit Glitternagellack. Auf dem Tisch lag ein angetrocknetes Stück Streuselkuchen. Imma biß hinein. Es schmeckte nach Tabak.

Während ein starker Kaffee durch die Maschine lief, begann Imma systematisch jeden Raum zu untersuchen. Kurt hatte zwei Sprechzimmer und einen Raum, in dem er seine wissenschaftliche Literatur untergebracht hatte. Hier begann sie ihre Suche. Sie zog jeden Ordner heraus, öffnete jeden Kasten, jede Schublade. Fehlanzeige. Dann Sprechzimmer eins: Der Schreibtisch war verschlossen. Das große Plastikmodell eines Augapfels blickte sie vom Regal herunter vorwurfsvoll an. »Glotz du nur«, sagte Imma und holte sich einen Kaffee. Wieder Fehlanzeige. Sprechzimmer zwei. Riesenschränke mit medizinischem Verbrauchsmaterial. Auch hier nichts. Die Karteischränke an der Empfangstheke: Es waren wirklich nur Karteikarten darin.

Imma setzte sich in Sprechzimmer eins, weil der Sessel am bequemsten war. Sie trank den zweiten Kaffee, obwohl sie langsam anfing, etwas nervös zu werden. Sie trommelte mit den Fingern auf die Lehne. Wie kam sie an den verschlossenen Schreibtisch? Hektisch durchpflügte sie sämtliche Utensilienbehälter mit Büroklammern, Bleistiften und Textmarkern. Dabei stieß sie ihre Kaffetasse um. Imma fluchte und rannte mit Hochgeschwindigkeit in den Aufenthaltsraum, um ein Schwammtuch zu holen. Spuren wollte sie keine hinterlassen. Der Kaffee rann in dünnem Faden an der Außenwand des Schreibtisches entlang und tropfte auf den Boden. Sie wischte die Pfütze auf der Arbeitsplatte fort und ließ sich ächzend auf die Knie, um den Boden zu säubern. Noch ein Tropfen am Schreibtisch, ganz unten. Imma wischte ihn ab und umfaßte unbeabsichtigt die Unterkante des schweren Teakholztisches. Da war etwas. Sie legte sich auf den Boden und erblickte ein mit Reißzwecken festgeheftetes längliches Stück schwarzes Isolierband. Der Schlüssel klebte dazwischen.

Ihr Herz schlug schneller. Ihre Hand zitterte. Sie stand auf und steckte ihn in das Schloß der Schreibtischtür. Der Schlüssel paßte nicht. »Verfluchte Scheiße!« Sie schleuderte den Schlüssel wütend in die Ecke und setzte sich hin, das Gesicht in den Händen vergraben. Aber warum versteckte er einen Schlüssel, der nicht zu der einzigen abgeschlossenen Tür in dieser Praxis paßte?

Das war eigentlich ganz einfach: Noch etwas anderes mußte abgeschlossen sein. Etwas, das sich hier befand. Wo sonst? In der Wohnung gab es außer einem Safe nichts Abgeschlossenes, und was im häuslichen Safe war, das wußte Imma.

Irgendwo war also noch ein Safe. Natürlich! Aber wo? Da Kurt phantasielos war, hatte er sicher ein klassisches »Versteck« gewählt. An der rechten Wand des Arbeitszimmers hing ein neues, aufwendig gerahmtes buntes Blatt von Hundertwasser. Kurts Geschmack. Imma fand es seicht und langweilig. Es war tatsächlich das Entree zum Safe. Nicht zu fassen. Da waren sie, die Kontoauszüge. Ordner mit Briefen eines Steuerberaters, von dem Imma noch nie gehört hatte.

Und dann gingen ihr die Augen über. Sie verglich Eingänge und Ausgänge, blätterte in den Ordnern und fand Unterlagen über Investitionen in Immobilien, Sparzertifikate, Gelder, die am Finanzamt vorbei nach Luxemburg transferiert worden waren. Geldgeschäfte hatten sie immer gelangweilt, und zumindest in geschäftlichen Dingen hatte sie ihm immer vertraut. Aber sie analysierte nun die Unterlagen mit einer gläsernen Überkonzentration und begriff den gigantischen Betrug, den er vorhatte. Alles, was er erarbeitet hatte, sollte an ihr vorbeigeschmuggelt werden. Dabei hatte sie – bis auf eine kleine Rücklage – ihr gesamtes Erbe in die Einrichtung seiner Praxis gesteckt.

Was hatte sie von einer berühmten Scheidungsanwältin gelesen? »Wenn Sie mit einem Freiberufler verheiratet sind, herzliches Beileid. Es gibt tausend Tricks und Mittel, Sie bei einer Scheidung über den Tisch zu ziehen.«

Kaufvertrag über eine Eigentumswohnung in München.

Verenas Name.

Ihr Herz begann zu rasen. Ganz ruhig jetzt. Ganz ruhig. Sie schaltete den Kopierer ein und holte mit klammen, kalten Fingern ein Blatt nach dem anderen aus den Ordnern. Draußen dämmerte der Morgen. Aber es war Samstag, sie hatte Zeit. Der Kopierer war warmgelaufen. Imma drückte auf die grüne Copy-Taste. Nichts passierte. O nein! Die digitale Anzeige verlangte nach Toner. Wo war der Toner? Wie füllte man ihn ein? Der nächste Kopierladen war weit weg. Egal. Sie würde einfach wiederkommen, nächste Woche. Sie war auf einmal überdrüssig, müde, erschöpft. Dennoch zwang sie sich an den Schreibtisch und notierte die wichtigsten Daten und Zahlen. Dann legte sie alles wieder zurück in den Safe und hielt dabei akribisch die Reihenfolge ein. Er durfte nichts merken.

Unter einer Geldkassette lag ein Umschlag aus braunem Papier. Er enthielt eine Rechnung über ein Saphirarmband und das Zertifikat des Juweliers. Und Fotos. Verena. Nackt. In allen möglichen Posen. Auf einer Dachterasse, vielleicht in München? Nicht gerade pornographisch, aber durchaus etwas, das in einen Safe gehörte, wenn die Dargestellte und die Ehefrau nicht identisch waren.

Imma ließ sich schwer atmend in den Sessel fallen und betrachtete ihre Konkurrentin.

Verena hatte in der Tat einen makellosen Körper. Braungebrannt, kein Gramm Cellulitis. Aber irgendwie wirkte sie wie mit Aspik überzogen. Künstlich. Die ganze Frau eine Prothese. Das war nicht mehr Immas Konkurrentin. Das war Kurts neue Frau, und er hatte sie verdient. Sie steckte alle Fotos bis auf eines zurück in den Umschlag und verspürte auf einmal ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung. Jetzt war die Zeit der Hoffnungen vorbei, der Halbheiten, der Lügen. Gleichzeitig stieg eine heiße Angstwelle in ihr hoch. Sie würde allein sein. Alt werden und allein sein. Aber ohne den Betrüger, ohne die Scham, das Minderwertigkeitsgefühl.

Imma beseitigte alle Spuren ihres nächtlichen Besuches, dann löschte sie das Licht. Unter ihrem Mantel lugte der Spitzenvolant ihres Schweizer Batistnachthemdes hervor. Sie trug immer noch ihre bestickten Hauspantoletten mit den schwarzen Pompons.

Todmüde, aber in einer Art Hellwachtrance lehnte sie sich gegen die kühlen Metallplatten des Aufzugs. 4, 3, 2, 1, E, es blinkte rot und digital. Sie wußte, daß mit diesem Gefühl von Erleichterung und der gleichzeitigen Angstwelle nichts durchstanden, nichts bewältigt, nichts verschmerzt war. Der Riß in der Mitte war noch nicht einmal richtig fühlbar. Aber der erste Schritt, der war getan. Und oben im Safe lagen die nächsten zwei Kilometer.

Nora

Nichts funktionierte. Die Luftmatratze war in der letzen halben Stunde dreimal hintereinander schwabbelweich geworden, und Nora lag nun endgültig auf dem harten Boden, vom feuchten Sand nur durch ein paar Plastikbahnen getrennt. Ein dünner Geruch von Bratfisch und Zigarettenrauch zog ins Zelt. Sie verfluchte sich zum hundertsten Mal an diesem Tag, daß sie diese elend lange Tour in ihrem klapprigen Ford unternommen hatte, nur um nach ein paar tausend Kilometern eingekeilt zwischen nordspanischen Familien auf nordspanischem Sand zu liegen und eingerollt wie eine Garnele dem Regen zu lauschen, der seit heute morgen monoton auf ganz Nordspanien fiel.

Nora zog sich den Schlafsack fast bis über den Kopf. Es wurde kalt. Der leichte Nieselregen verstärkte sich, und jetzt rauschten ganze Sturzbäche vom Himmel.

»Weißt du, ich bin sicher, daß du dich da wunderbar erholst. Ich habe noch nie einen schöneren Campingplatz gesehen, allein der Blick auf die Stadt, und die Eukalyptuswälder, wie die riechen … und der Wochenmarkt mit bunter Keramik. Und wie du da wandern kannst, kilometerweit ins kantabrische Gebirge, kein Mensch stört dich, und zur Küste ist es nur ein Katzensprung, und es sind immer derart freundliche Menschen auf dem Platz. Wenn du allein sein willst, läßt dich jeder in Ruhe, und wenn nicht, dann hast du sofort einen Haufen wirklich netter, interessanter Leute um dich herum!«

Eliane hatte sie aus ihren grünen Knopfaugen angestrahlt und Begeisterung verbreitet, wie sie es immer tat, wenn sie von ihren unglaublichen Entdeckungen reden durfte, und sie entdeckte laufend Unglaubliches. Nora sah Elianes friesische Küche vor sich, den alten Tisch, die dampfenden, blauweißen Becher. Es war immer tröstlich, in dieser Küche zu sitzen, weil Eliane einfach erst mal Kaffee kochte, weil sie auf alles eine Antwort wußte, weil man von ihr Lebenshilfe, Ratschläge, Marmorkuchen, Adressen und notfalls auch Bargeld bekam. Freunde mit Entscheidungsproblemen waren Eliane am liebsten, denn es zählte zu ihren größten Vergnügungen, das Leben anderer Menschen zu planen. Sie tat es mit der Akribie einer guten Innenarchitektin. Eliane wußte nicht nur, welche Sofabezüge am besten zu provenzalischen Terracottaböden paßten, sie tapezierte auch das Seelenleben ihrer Freunde oder Kunden sehr gern neu und entwarf mit Vorliebe Lebenspläne auf Millimeterpapier.

»Du brauchst jetzt erst einmal Urlaub! Abstand! Wir leihen dir Willems altes Zelt, wir fahren ja sowieso nur noch mit dem Wohnmobil, und du fährst nach Cuevadarte. Im übrigen würde ich mir an deiner Stelle, wenn du schon da bist, auch gleich einen Grundstock von dieser wunderbaren, gelben Keramik mit dem Zitronenmuster kaufen. Ich hab dazu noch einen französischen Stoff auf Lager. Und dann, wenn du zurückkommst, werden wir sehen. Ich bin sicher, daß du Andreas in Cuevadarte vergessen kannst … Jedenfalls werde ich dir mal jemand vorstellen, den ich vor einer Woche auf einer Pressekonferenz kennengelernt habe. Er ist zwar kleiner als du, aber soo nett. Nimm doch noch ein Stück Bienenstich, du bist eh zu mager!«

Ein merkwürdig klammes Gefühl am rechten Bein holte sie in die Gegenwart. Der Schlafsack war naß.Nicht feucht, sondern naß.Da oben war das Loch im Zelt, jetzt konnte sie es genau sehen. Nein, es waren drei Löcher. Heute früh hatten die beiden Kinder aus dem Wohnwagen nebenan mit Dartpfeilen geworfen. Erst war ein Baumstamm ihr Ziel gewesen, dann ein angeleinter französischer Dackel, und nun hatte Nora die Erklärung dafür, warum die beiden Jungen blitzartig verschwunden waren, als sie mit ihrer Brötchentüte vom Campingbäcker zurückkam.

Kalte Wut stieg in ihr hoch, auf die beiden Kinder, die im warmen Wohnwagen saßen, auf Eliane und ihre elenden Ratschläge, auf sich selbst, weil sie schon vorher gespürt hatte, daß diese Sorte Urlaub für sie jetzt nicht das richtige war, erst recht nicht allein und mit diesem blöden Zelt, ach, einfach alles, alles war verratzt. Sie heulte laut drauflos, heulte und biß in das feuchte Kissen, schlug auf den kalten, schwarzen Plastikfußboden, vergrub das Gesicht in ihrer klammen Wolljacke und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Ihr Ärger, ihre Trauer und das plötzlich übermächtige Gefühl von Einsamkeit hielten sie inmitten einer schwarzen Wolke gefangen. Schließlich verebbte ihr Schluchzen, und sie wurde etwas ruhiger. Irgendwann hörte der Regen auf, und Nora blinzelte aus verquollenen Augen auf ihre Armbanduhr. Es war drei Uhr nachmittags.

Der Rücken schmerzte, und sie setzte sich auf. Noch nicht mal stehen konnte man in diesem verfluchten Zelt. Sie öffnete den Reißverschluß und stieg vorsichtig in ihre Turnschuhe. Der Zeltplatz war sehr ruhig. Die Eukalyptusbäume hingen voller Regentropfen und schickten bei jedem Windhauch neue kleine Schauer. Die Luft war leicht neblig, fast grün und roch gut.

Die meisten Menschen saßen in ihren Wohnwagen oder in gasgeheizten Vorzelten, tranken Wein und spielten Karten. Überall Familien, ältere Ehepaare vor dem Fernseher, Kinder über Puzzlespielen. Nora ging langsam zum Waschhaus, das um diese Zeit fast leer war. Nur eine schwarzgelockte Schönheit in hellblauem Jogginganzug bedachte sie mit einem tödlich kalten Blick und fuhr fort, ihre langen Wimpern zu tuschen. Nora wärmte ihre Hände unter Strömen von heißem Wasser, wusch sich das verquollene Gesicht und fischte einen Lippenstift aus ihrer Jeans. Sie malte sich die Lippen rot und starrte sich im Spiegel an. Fisch auf dem Trockenen mit großem rotem Maul, dachte sie und streckte dem schmalen, stoppelhaarigen Mädchen im Spiegel die Zunge heraus. Das Mädchen im Spiegel starrte aus verheulten Riesenaugen zurück. Dann lächelte sie etwas schief. Nora fühlte sich seltsam fremd in ihrer Haut.

»Na, alte Eule«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Durch die Sprache verschwand das seltsame Fremdheitsgefühl. Sie spitzte den Mund und hielt ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel. »Heuleule, Heuleule«, murmelte sie mit gespitztem Tütenmund. Es sah ziemlich komisch aus, und sie mußte lachen.

Die schwarzgelockte Schönheit in dem hellblauen Jogginganzug schaute sie mißtrauisch an, klappte ihr riesiges Beautycase zu und verzog sich unter lautem Türgeknall in eine abschließbare Waschkabine.

»All die netten, interessanten Leute«, sagte Nora laut und marschierte plötzlich entschlossen aus dem Waschhaus. Elianes Igluzelt sah von weitem aus wie ein schlaffes rosa Gummibuckelchen, trübselig mit feuchten Blättern garniert. Nora stand eine Weile unbeweglich auf der Treppe des Waschhauses, hob das Gesicht zum Himmel und atmete mit geschlossenen Augen die gute, feuchte Luft mit ihren tausend Pflanzengerüchen ein.

Dann fuhr sie sich energisch mit den Fingern durch die Haare. In allerkürzester Zeit hatte sie ihre wenigen Kleidungsstücke und den winzigen Gaskocher eingepackt, den Schlafsack und ihre Habseligkeiten ins Auto geworfen, das dreckige, nasse Zelt in eine große Plastiktüte gestopft und hinter der Rücklehne verstaut. Sie kontrollierte den Platz, weil sie eigentlich immer etwas vergaß, und entdeckte am Fuß eines Eukalyptusbaumes den Fußball und die Dartpfeile der spanischen Kinder. Nora blickte sich verstohlen um, dann nahm sie die Pfeile und spickte den Fußball damit. Fast glücklich setzte sie sich hinter das Steuer ihres Wagens. Oh, es war so schön trocken im Auto!

Sie fuhr einfach los. Ihr Kopf war seltsam leer. Die ruhige Stimmung nach dem ausgiebigen Heulanfall war angenehm. Sie konnte keinen konkreten Gedanken fassen, wie dieser Urlaub weitergehen sollte. Nach zwei Stunden ließ ihre Konzentration nach, und sie merkte auf einmal, wie hungrig sie war. Irgendwo hinter Bilbao trank sie eine riesige Tasse Milchkaffee und aß ein pappiges Gebäck, das ihr eine mürrische junge Frau über den Tresen des Rasthauses schob.

Das hier war kein Land für alleinreisende Frauen. Nora fiel auf, wenn sie allein aus dem Auto stieg, sich allein an einen Tisch setzte und allein wieder zu ihrem Auto ging. Sie fiel auf, weil sie groß war, hellblonde Haare hatte und eine uralte Motorradjacke trug. Es war kein Vergnügen, von den Frauen mißtrauisch und von den Männern gierig oder neugierig angestarrt zu werden.

Letztes Jahr mit Andreas war ihr das nicht aufgefallen. Letztes Jahr mit Andreas – sie befahl sich, an die Reiseroute zu denken, und faltete die Landkarte auseinander. So groß ihr Drang auch war, dieses kalte und einsame Campingabenteuer abzubrechen, so einfach nach Hause fahren wollte sie auch nicht. Schließlich hatte sie noch zwei Wochen Urlaub, und in Hamburg wartete niemand auf sie. Eliane war geschäftlich unterwegs, und in ihrer eigenen Wohnung hockten in jedem Winkel die Kummergeister. Eine Großstadt im Sommer ist nur für Touristen ein Vergnügen, aber nicht für jemanden, der dort allein wohnt und dessen Freunde im Sommer durch Europa verstreut sind.

Trotzdem – erst mal Richtung Norden. Vielleicht noch ein paar Tage an die Loire. Da war sie vor zwei Jahren mit Andreas – nein, nicht an die Loire. Bei jedem vertrauten Anblick würde es ihr den Magen umdrehen. Nein, sie wollte nicht an die Loire denken, nicht an die Sonne auf den weißen Schlössern, die Wälder, in denen sie Pfifferlinge gefunden hatten, die Seerosen auf den trägen, schmalen Flüßchen, die steingrauen Dörfer und den alten Landgasthof, in dem Andreas ihr gesagt hatte, daß er sich ein Leben mit ihr gut vorstellen könne. Sie hatten unter einer Pergola mit violetten Glyzinien gesessen, kalten Weißwein getrunken und sich wortlos vor Glück die Hände gestreichelt.

Die Erinnerung gab ihr einen solch schmerzhaften Stich in den Magen, daß sie die Kaffeetasse laut klirrend absetzte. Ein paar Leute blickten sie erstaunt an. Egal, verdammt. Heute abend wollte sie ein Hotelzimmer, eine heiße Dusche und irgend etwas zu essen, vielleicht noch etwas Wein. Und dann ein richtiges Bett, egal wie durchgelegen und billig, nur keinen feuchten Schlafsack, keine kläffenden Pinscher, die ans Zelt pinkelten und keine kalt blickenden, verheirateten spanischen Damen im Waschraum, die das gefährliche Wunder einer allein zeltenden Camperin mißbilligten, denn Nora hatte die Phantasie vieler Familienväter angeregt.

Zur Bestätigung, daß ihr überstürzter Aufbruch richtig gewesen war, riß hinter der französischen Grenze der Himmel auf. Nora verließ die Autobahn und fuhr in Richtung St. Hilaire, einer kleinen Stadt, die sie auf gut Glück ausgewählt hatte. Die Abendsonne vergoldete die dunkelgrünen Pyrenäen. Irgend etwas tauchte vage in ihrer Erinnerung auf, und als sie, immer noch fasziniert von dem wunderbaren Licht, wieder und wieder auf die Berge blicken mußte, sah sie plötzlich das Rheintal vor sich, das wundervoll geschwungene Siebengebirge, den breiten Fluß und die Uferpromenade, auf der sie als kleines Mädchen so oft mit ihrer Freundin Hedwig gespielt hatte. Wie lange war das jetzt her?

 

Hedwig!

»So würd ich höchstens eine Milchkuh nennen, wenn ich eine hätte«, sagte in der fünften Klasse spöttisch einer der begehrten Jungen zu Hedwig, die daraufhin den Kopf senkte und noch kleiner wurde. Es war Hedwigs erster Schultag in der neuen Klasse, und Nora schlug dem hübschen Blonden in einem Anfall von Jähzorn die Oberlippe blutig. Seit diesem Tag genoß Nora Hedwigs stille Anbetung, und Hedwig stand unter dem Schutz der wilden, großen Nora, die sich keine öffentlichen Schwächen erlaubte und deren Kräfte deshalb von jedem Menschen überschätzt wurden. Das wiederum wußte Hedwig und schützte Nora auf ihre Weise: Nora hätte ohne Hedwig niemals das Abitur geschafft, denn Hedwig versorgte sie oft mit Hausaufgaben und trieb die Freundin mit stiller, aber sehr zäher Energie an.

Nora war ziemlich faul, trampte öfter während der Schulzeit in die Stadt, ging ins Kino, streifte durch die Kaufhäuser oder verfütterte ihr Pausenbrot an die kleinen Rheinmöwen. Die Entschuldigungen tippte sie zu Hause auf der Reiseschreibmaschine ihrer Mutter und setzte schwungvoll und täuschend echt den Namen ihrer Mutter mit deren teurem Füllfederhalter darunter. Hedwig hätte sich das nie getraut, aber sie konnte im Notfall mit erstaunlich originellen Lügen aufwarten, wenn es darum ging, irgendeinem neugierigen, lästigen Lehrer zu erklären, warum Nora nicht in der Schule war.

»Nora hat bei uns Weinkisten geschleppt und liegt im Bett mit einer ganz fiesen Muskelzerrung«, behauptete Hedwig und malte ein paar feine Details aus: »Bei der letzten Kiste ist ihr nämlich meine Katze zwischen die Füße gelaufen, und Nora wär fast die Kellertreppe runtergefallen, und der Doktor sagt, das hätte viel schlimmer ausgehen können.«

Hedwig hatte keine Katze, und die Weinkisten schleppte der Lieferant, aber Hedwig wuchs in der uralten Tradition der rheinischen Wahrheitsbeugung auf: Wenn sie nicht schadete, sondern nützte, war eine Lüge eben keine Lüge, sondern schlichtweg eine gute Idee. Nachmittags klingelte Hedwig dann bei Nora und erklärte ihr, welche Entschuldigung sie diesmal formulieren müsse, und beide lachten sich halb tot über Hedwigs Katze und tauften sie »Odenkirchen«, so hieß nämlich der Religionslehrer.

Hedwigs gesamte Familie bestand aus einer Tante, die mit zwei älteren Frauen einen Gasthof betrieb. Die beiden Hilfskräfte, die Fräulein Anni und Margret Schmitz, waren Schwestern, beide mager und klein. Sie stritten sich unaufhörlich darüber, ob man Büchsenmilch in die Salatsauce kippen sollte oder lieber saure Sahne, ob die gestreiften Schürzen in der Wäsche oder gestohlen waren, ob der Pastor bei der Predigt die Anni oder die Margret angeschaut hatte, als er von »besonders eifrigen Schäfchen Gottes« gesprochen hatte, ob Hedwigs leibliche Mutter ein gefallener Engel oder ein Unglücksmensch war – Tante Elsbeth machte dem schrillen Gekreisch jedesmal mit ihrer Standardwaffe, einem nassen Küchentuch, ein Ende. »Eine jecker als wie die andere!« schrie sie und schlug mit dem Tuch um sich.

Tante Elsbeth lachte selten, war streng, aber Nora war gern bei dieser herben Tante, die mit Süßigkeiten großzügig umging. Daß vor dem Essen bei Tante Elsbeth immer exzessiv gebetet wurde, fand Nora eher ulkig, denn bei ihren Eltern gab es gar kein Tischgebet. Sie betrachtete das verwinkelte, immer etwas muffige Gasthaus in der Nähe des Rheinufers als ihre echte Heimat.

Ganze Nachmittage verbrachten Nora und Hedwig damit, in den selten genutzten, oberen Räumen des großen Gasthofes die Schränke zu durchwühlen. Sie fanden Fotos von Tante Elsbeth als Kind. Mit großer Schleife im Haar, grinsend und zahnlückig saß sie vor einer Tafel, auf der in Sütterlinschrift stand: »Mein erster Schultag«. Auf einem anderen Bild hielt eine ernst blickende Elsbeth steif eine große Puppe im Arm. Die Fotos waren bräunlich und hatten weiß gezackte Ränder. Wunderschön, fand Nora.

In Pappschachteln, zwischen Seidenpapier, lagen glitzernde Knöpfe und halb zerfallene, jettbestickte Seidenblusen. Die kleinen Mädchen fuhren mit den Fingern bewundernd über die gedrechselten Säulen und Schnitzereien der unzähligen, verstaubten Schränkchen und Vertikos, sie setzten sich ekelhaft nach Mottenpulver stinkende Filzhüte auf und liefen damit kichernd durch die Schankstube, wo Tante Elsbeth mit dem nassen Küchentuch nach ihnen schlug und keifte: »Tut ihr wohl meine besten Kapotthüte weg, wat soll dat, jecke Pänz!«

Freitags briet Fräulein Elsbeth Leyendecker in der großen Küche Reibekuchen, dann gab es im Gasthaus gewaltigen Betrieb, und die beiden kleinen Mädchen durften beim Servieren helfen. Sie störten zwar eher, aber sobald sie sich einmal woanders herumtrieben, waren die drei Frauen unruhig. Die beiden Fräulein Schmitz stellten dann heimlich irgendwelche Leckereien für die Kinder beiseite, um nach deren Auftauchen sagen zu können: »Kucktemal, was die Tante für euch versteckt hat!« Diese Überraschungsleckereien waren dann der Anlaß zu neuem Streit zwischen Margret und Anni: »Wie kannst du die Kinder jetzt um die Zeit noch mit kalten Reibekuchen füttern! Dat liegt doch im Magen wie Zement!«

»Ach wat, dein klätschig-süßer Sandkuchen, dat is viel schlimmer, Sandkuchen am Abend macht faule Zähne!«

»Ich hab immer noch alle Zähne im Mund. Wer von uns zwei hat hier dat Jebiß?«

»Du weißt jenau, warum dat ich keine Zähne mehr habe. Mir hat Mutter keine Vollmilch an et Bett jebracht, jeden Tach zweimal! Mein Kinderkörper mußte darben!«

»Wat kann ich dafür, dat ich Tuberkulose hatte? Wär ich doch besser jestorben, dann hätteste heut noch deine Zähne!«

Und beim Stichwort vorzeitiges Ableben kamen dann auch regelmäßig die Tränen, bis Tante Elsbeth eingriff und sowohl Sandkuchen als auch kalte Reibekuchen verbot. Die Gäste im Schankraum bedauerten jedesmal außerordentlich, daß Fräulein Leyendecker die Vorstellung unterbrach, denn der Unterhaltungswert der beiden Schwestern war beträchtlich. Tante Elsbeth schimpfte furchtbar mit den späten Heimkehrerinnen, denn sie duldete kaum, daß Hedwig das Grundstück verließ.Trotzdem bekamen die Kinder nach der langen Predigt riesige Käsebrote mit Salzstangen und sauren Gurken, wie sich das für eine ordentliche Gaststätte gehörte. Die beiden Fräulein Schmitz saßen dann verbittert in der Küche, aßen ihre Delikatessen selbst auf und bedienten sich aus einer Flasche, von der Tante Elsbeth – wie sie glaubten – nichts wußte. Auf dem Etikett stand »Fensterspiritus«, aber die Flasche enthielt Wacholder. Und wenn nach langer Pause schließlich eine dürre Hand ein Stück Sandkuchen vom feindlichen Teller angelte und eine zittrige Stimme meinte: »Dat Zitronenaroma macht sich jut im Kuchen«, dann konnten auch die Fräulein Schmitz wieder friedlich schlafen. Auf merkwürdige Art und Weise schien die viele Arbeit, die schlechte, tabakvernebelte Luft und ab und zu ein Schoppen mit den Gästen die zwei alten Damen zu konservieren.

Als sie noch kleiner waren, hüpften Hedwig und Nora zwischen den alten Dorfpolitikern und den blaugetupften Kleidern der Skatdamen herum, balancierten zwischen den kleinen Händen große Pokale mit Rheinwein, bekamen den Kopf getätschelt und kassierten dickes Trinkgeld, das sie dann im Schreibwarenladen in Glanzbilder und Brausewürfel umsetzten.

Später saßen Nora und Hedwig ernst und still am Stammtisch und machten ihre Hausaufgaben. Das heißt, Nora malte zwei Bilder, eins für Hedwig, eins für sich, und wartete darauf, von Hedwig so schnell wie möglich abschreiben zu können. Hedwig war fast überall die Klassenbeste. Nur nicht in Kunst. Da war Nora nicht zu übertreffen.

Frau Faßbender, die dicke Spülhilfe, die ab und zu aushalf, wollte wissen: »Sach mal, Hedwich, wat heißt eijentlich Quallmänncher mit Klatschkies auf französisch?«

Ein Nichtrheinländer vom Nebentisch horchte neugierig auf und fragte: »Was heißt das denn überhaupt auf deutsch?«

»Pellkartoffeln mit Quark!« erklärte Frau Faßbender würdevoll.

»Pommes de terre en robe des champs avec du fromage blanc.« Hedwig war auch in Französisch sehr gut.

»Pomm de wat … ong schong? Ach jeck, bis man dat ausjesprochen hat, sinn de Kartoffeln doch längst kalt!« Und Frau Faßbender in ihrem rosa Spülkittel verschwand kopfschüttelnd in der Küche.

 

In Noras Elternhaus hielten sie sich seltener auf. Acht Meter Fensterfront mit Blick auf eine silbrig glänzende Rheinschleife, Parkettböden, Bronzeskulpturen und helle Teppiche, schwarze zeitlose Ledersofas und ein großer skandinavischer Kamin bestimmten die nicht unangenehme, aber eher kühle Atmosphäre des Hauses, in dem sich Journalisten und Politiker die Klinke in die Hand gaben.

Duftende Damen beugten sich vor und fragten: »Na, und du bist wohl Nora? Und das ist deine kleine Freundin? Was wollt ihr denn mal werden?«

»Größer«, sagte Nora todernst, und Hedwig hielt sich kichernd die Hand vor den Mund.

Woraufhin die Damen lächelten: »Ganz der Vater, nicht?«

»Leider.« Noras Mutter zündete sich eine schwarze Zigarette an.

Noras Vater war Journalist. Man sah ihn selten zu Hause, weil er ständig durch Europa reiste. Er schrieb Nora niemals einen Brief und schickte niemals eine bunte Ansichtskarte. Ansichtskarten waren etwas Triviales. Hedwigs Tante dagegen sandte Hedwig aus der Herz-Kreislauf-Kur jeden dritten Tag eine Karte. »Folg brav der Anni und der Margret und zieh die langen Unterhosen an, der Herbst naht! Deine Tante Elsbeth.«

»Bei uns sind schon die Blätter bunt, und wie ist es bei Euch? Hoffentlich kriegen wir im Frühling kein Hochwasser, grüß mir die Nora. Eure Tante Elsbeth.«

Noras Mutter stammte aus Hamburg. Hätte man die kleine Nora gefragt, wie eine ideale Mutter zu sein habe, wären alle möglichen Eigenschaften von dickbusig bis fürsorglich zusammengekommen, aber in kaum einer hätte man Noras Mutter wiedererkannt.

Gesine Didier geborene Hülstenbeck paßte besser in die Elbchaussee als in die höheren Hanglagen von Obervillich. Sie war nicht dazu erzogen worden, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, und wunderte sich über dieses merkwürdig emotionale, künstlerisch begabte Kind, das sie da in die rheinische Welt gesetzt hatte.

Ihre Ehe mit Noras Vater hatte sich nicht als großer, sondern als kleiner Irrtum herausgestellt, und Irrtümer dieser Dimension pflegte man in ihren Kreisen totzuschweigen. Eine Scheidung kam nicht in Frage, dazu war sie nicht unglücklich genug. Und eine glückliche Ehe – du lieber Gott, wer konnte das denn schon erwarten?

Frau Didier nahm ihre Tochter nur selten in den Arm – und wenn, dann immer mit etwas vorsichtigem Abstand. Ihren edlen Pullovern bekam es nicht, wenn ein Säugling auf den Ärmel sabberte. Noras Vater betrachtete seine Tochter eher mit Ungeduld, denn Wesen, mit denen man nicht über Wirtschaftsembargos reden konnte, hatten für ihn wenig Reiz. Nicht, daß Noras Eltern lieblos oder kalt gewesen wären, aber sie waren Menschen, denen Kinder immer fremd blieben, fremd ihre Witzchen, ihr direktes Erleben, ihre unmittelbare Freude oder wüste Trauer. Nora war mehr aus Versehen geboren worden.

Nora hatte immer irgendeine Marlene oder Helga, die auf sie aufpaßte. Aber das waren bezahlte Leihtanten und keine Mütter. Wenn Tante Elsbeth ihr über den Kopf strich, und das kam bei dieser ernsten Frau selten vor, aber immer noch häufiger als bei ihrer eigenen Mutter, blieb sie still sitzen, um diese Herrlichkeit ganz auszukosten. Andererseits wurde sie schon früh selbständig. Nie kreischte eine hysterische Stimme hinter ihr: »Paß auf, ein Auto!« oder: »Du schlägst dir den Kopf blutig!«

Man ließ sie laufen, und etwas Schlimmes hatte einfach nicht zu geschehen, das paßte nicht in den Tagesablauf von Noras Mama. Was Nora in der Schule trieb, ob ihr Name auch wirklich in den Turnbeutel eingestickt war oder ob ihr Farbkasten die vorgeschriebenen zwölf Näpfchen aufwies, interessierte die Mutter nicht. Die Schule war eben Noras Pflichtbereich und damit für Gesine Didier so weit weg wie die Probleme der Kommunalverwaltung von Lochmaddy auf den äußeren Hebriden.

 

»Ja, Fräulein Leyendecker, und vielen Dank für Ihren Anruf. Wir holen Sie und Hedwig dann mit dem Auto ab.« Noras Mutter drehte sich um und fragte leicht verärgert: »Kind, Nora, warum hast du mir nicht gesagt, daß morgen die Übergabe der Abiturzeugnisse stattfindet? Da muß ich das von Hedwigs Tante erfahren.«

»Ich dachte, so eine Feier interessiert euch nicht so sehr. Schließlich habe ich ja bestanden, und das ist die Hauptsache.« Nora legte die Füße auf den Glastisch, mopste ihrer Mutter eine Zigarette und vertiefte sich in einen Krimi.

 

»So, du willst also dein Germanistikstudium abbrechen und Goldschmiedin werden?« Noras Vater schob die Brille auf die Nasenspitze und betrachtete seine Tochter ohne erkennbares Erstaunen. »Sag mal, bist du nicht eigentlich blond?«

»Doch, normalerweise schon.« Nora spielte mit dem hennaroten Seitenzopf, in den sie kleine Türkisperlen geflochten hatte.

Dieses eine Mal schaltete sich Frau Gesine ein und besorgte Nora einen Ausbildungsplatz in Hamburg, bei einem alten Freund der Familie Hülstenbeck. Die Eltern Didier rechneten nicht ernsthaft damit, daß Nora diese Ausbildung abschließen, geschweige denn, daß Nora ihre Meisterinnenprüfung machen wollte. Aber sie hatten Noras Energie unterschätzt, die vielleicht gerade dadurch genährt wurde, daß ihre Eltern von ihr nicht viel erwarteten.

Nora wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Eltern um Geld zu bitten, als sie mit einer Kollegin ein eigenes kleines Schmuckatelier aufmachen wollte. Erst als sie sich bei den Banken vergeblich die Turnschuhe schiefgelaufen hatte, rief ihr ehemaliger Lehrmeister bei den Eltern an. Ohne ihr Wissen. Und Nora bekam eine großzügige Unterstützung, die sie dankbar und erstaunt annahm.

Mit dem kleinen Schmuckgeschäft hatten Nora und ihre Partnerin von Anfang an Glück. Die Werkstatt hieß »Silberblick« und befand sich in einem bunten Hamburger Wohnviertel. Da gab es ältere Damen mit Pelzkrägelchen: »Sagen Sie mal, junge Frau, könnten Sie wohl aus meinem alten Zahngold ein Hamburger Wappen für das Armband meiner Enkelin gießen?«

Stark nach Bier riechende Bauarbeiter fragten: »Kann man das Monika aus dem Silberanhänger wieder rauskriegen?«

Junge, gut verdienende Frauen führten ihr neuestes Kostüm vor und ließen sich dazu eine futuristische Riesenbrosche für das Revers schmieden. Nora und ihre Geschäftspartnerin Fiona hatten schon nach einem Jahr so etwas wie eine Stammkundschaft.

Die alle paar Monate wechselnde Dekoration übernahm Eliane, Freundin und Innenarchitektin. Es war jedesmal ein Ereignis. Eliane stellte Kästen mit verpuppten Larven zwischen die originellen Schmuckstücke, und alle Kinder zogen ihre Mütter ans Schaufenster, um zu sehen, wann es mit den Faltern denn endlich soweit sei. Als die Schmetterlinge geschlüpft waren und vor großem Publikum in die Frühlingsbäume entlassen wurden, legte Eliane den kostbaren Schmuck in wassergefüllte Einmachgläser und ließ eine Kollektion uralter Gartenzwerge nach ihm angeln.

Ein junger Mann, der vor dem Schaufenster seine Kamera zückte, erzeugte Noras Unwillen. Sie riß die Tür auf. »Hören Sie, die Dekoration ist ein Entwurf von einer Innenarchitektin und soll nicht einfach abgekupfert werden.«

Der Mann senkte die Kamera und betrachtete Nora mit sichtlichem Wohlgefallen. Dann fuhr er sich durch die dunklen Haare und fingerte eine Karte aus seiner Brusttasche.

»Andreas Winkler. Ich bin Fotojournalist.« Er lächelte sie an. »Vielleicht kann ich ja damit ein bißchen Reklame für Sie machen.«

Nora blieb mißtrauisch. »Bestimmt! Bis bald!« Er entfernte sich rückwärtsgehend und winkte. Eine Woche später kam eine nette junge Frau vorbei und schrieb einen Artikel über den originellen Laden, mit Angabe der Bestelladresse. Eine Menge neuer Bilder wurde gemacht, der »Silberblick« bekam einen einseitigen Artikel mit Fotos einzelner Schmuckobjekte und der Gartenzwergdekoration. Da die Frauenzeitschrift eine hohe Auflage hatte, brummte das Geschäft. Fiona wollte den Laden in »Goldrausch« umbenennen.

Dann traf Nora den Fotografen auf dem Sektfrühstück einer betuchten Kundin. Mediziner unterhielten sich mit Rechtsanwälten über Anlagemöglichkeiten, die Damen tauschten Küßchen und taxierten sich gegenseitig aus den Augenwinkeln.

Nora langweilte sich zu Tode. Andreas war ins Gespräch mit einem Chanelkostüm verstrickt. Sie flüchtete sich in die Küche und spülte gedankenverloren ein paar Gläser.

»Nichts ist unerotischer als Frauen, die auf Feten Gläser spülen«, sagte jemand hinter ihr. Da sie sich eine Sekunde zu spät herumdrehte, entging ihr das spöttische Zwinkern in seinen Augen. »Und nichts ist blöder als Typen, die auf Feten wie diese gehen«, erwiderte Nora grimmig. Andreas verschwand und kam mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. »Auf die böse Spülfee!« Diesmal schaute sie ihm in die Augen.

 

»Merde alors, tu rêves, quoi? Cą va pas, la tête?« Nora erschrak furchtbar, hörte das Geschrei, sah den großen, dunklen Schatten vor sich, riß das Steuer herum und verlor die Orientierung. Bilder von Traktorrädern und einem kreischenden dunkelhaarigen Mädchen wirbelten vor ihren Augen durcheinander. Der Wagen schleuderte und landete in extremer Schieflage im Straßengraben. Nora ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken und schloß die Augen. Jemand klopfte an das Fenster. Nora reagierte nicht, sie hörte das Klopfen, aber sie konnte es nicht einordnen. Man klopfte weiter. Sie öffnete die Augen. Auf ihrer Hand war eine dünne Blutspur. Draußen schlug jemand entsetzt die Hände vor den Mund. Man machte die Fahrertür auf, und eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Sind Sie verletzt?« Ganz langsam fanden die fremden Vokabeln Einlaß in ihren wirren Kopf.

»Ich weiß nicht.«

»Können Sie aussteigen?«

Nora schloß die Augen und schwieg.

»Los, Opa, schnell. Sie ist verletzt oder hat einen Schock, hol Boissac, los, los. Nun mach schon, ach was, halt ein Auto an!«

Aber das war nicht mehr nötig. Der Bürgermeister persönlich hielt an, und diesmal schimpfte Opa Bertaud nicht auf die moderne Technik. Das Autotelefon erreichte Docteur Boissac sofort, und er mußte den Leidensmonolog seiner Schwiegermutter zu seinem größten Vergnügen unterbrechen.

Auf wackeligen Beinen konnte Nora aus dem Auto klettern. Das war gar nicht so einfach, denn wegen der Schräglage wollte die Tür wie der Blechdeckel einer Kaffeedose immer wieder zufallen. Chantal konnte nicht gleichzeitig die Tür aufhalten und Nora die Hand reichen.

»Pépé, du bist unmöglich. Hilf mir doch wenigstens.« Aber Opa Bertaud war in eine Art Angstlähmung gefallen und konnte nur eine Flasche entkorken, um einen großen Schluck zu nehmen.

»Es ist nicht so schlimm.« Docteur Boissac klappte sein Stethoskop zusammen. »Aber du mußt die Polizei holen, Bertaud.«

Das Wort »Polizei« hatte für Opa Bertaud eine ähnliche Schreckwirkung wie »Mineralwasser« und löste seine Starre.

»Aber wieso denn, Boissac, es ist doch gar nichts passiert!« jammerte er.

Nora konnte schon wieder aufrecht sitzen und hatte ein großes Pflaster auf der rechten Wange. Es war in der Tat glimpflich verlaufen. Ihre Wange blutete, aber sonst war nichts passiert. Sie mußte während des Ausweichmanövers den rechten Arm hochgerissen haben. Die kleine, silberne Eidechse, die auf ihrem Armreif saß, hatte ihr den tiefen Kratzer verpaßt.

»Sie sollten morgen nicht Auto fahren, sondern den ganzen Tag liegen. Vielleicht bringe ich Sie doch ins Krankenhaus, nur zur Beobachtung. Zwei, drei Tage.«

Boissac wischte Nora das Blut von der Hand. Das dunkelhaarige Mädchen saß neben Nora und blickte sie besorgt an. »Da siehst du, was du gemacht hast, Opa!« schalt sie laut und hob drohend die Faust. »Wenn ich das Maman erzähle, hast du deine letzte Flasche gesehen.«

Nora begriff nichts.

»Sie hatten Vorfahrt, Mademoiselle. Opa ist mit dem Traktor einfach auf die Landstraße gefahren, er paßt nie auf. Er denkt immer noch, ein Traktor wäre genauso intelligent wie ein Zugpferd, das bei Gefahr von selbst anhält.«

Opa Bertaud preßte die Handflächen zusammen: »Mein Gott, mein Gott, ich hab sie nicht gesehen. Bestimmt ist sie wie ein Blitz gefahren, hundertfünfzig vielleicht? Wo kam sie her?«

»Vielleicht von oben, Bertaud, wer weiß? Das kommt vor!« Docteur Boissac schloß seinen Arztkoffer.

Auf der anderen Seite hielt noch ein Auto. Opa Bertaud wurde unter seiner sonnenverbrannten Haut blaß. »Was ist los, du lieber Himmel, ist jemand verletzt?« Eine dicke, kleine Frau in einem feinen dunkelblauen Kleid hüpfte wie ein Gummiball aus dem Auto und rannte quer über die Straße. »Chantal, was ist passiert? Hast du was angestellt?« Chantal schüttelte beleidigt den Kopf. »Bertaud! Was habt ihr gemacht? Bist du verletzt?«

Opa Bertaud hob abwehrend die Hände. »Verletzt? Nein, hier ist niemand verletzt. Es ist gar nichts passiert, im Grunde genommen.«

»Nein, überhaupt nichts«, sagte Docteur Boissac. »Um diese Tageszeit sind die Straßengräben immer voll mit Touristenautos. Wenn die Touristen sich langweilen – allez hop, dann fahren sie eben mal kurz in den Graben. Da kann man nichts machen. So, Mademoiselle, ich nehme Sie jetzt mit ins Krankenhaus.«

Nora schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig.« Sie sprach langsam. »Ich glaube, es geht schon besser.«

Boissac schüttelte den Kopf. »Das ist nicht klug, aber es ist Ihre Entscheidung. Ich muß jetzt nach Hause. Schöne Frauen und Ente mit Oliven darf man nicht warten lassen. Madame, Mesdemoiselles …« Und er zog einen imaginären Hut vom Kopf. Chantal lächelte. »Auf Wiedersehen, Doktor.«

Chantals Tante baute sich drohend vor Opa Bertaud auf. »Ich weiß genau, was passiert ist. Soll ich dir deine verdammte Flasche über den Schädel hauen? Das war das letzte Mal! Verstehst du? Gestern hast du im Suff zwei Gänse überfahren und heute eine Touristin, was? Und was passiert morgen? Bringst du mit deinem Traktor die Kirche zum Einsturz, he? Machst du den Pfarrer platt wie eine Briefmarke? Ach, es ist unglaublich. Warte, bis deine Schwiegertochter wieder zu Hause ist. Dann kannst du was erleben. Chantal, wie oft soll deine Mutter dir noch sagen, daß du Traktor fahren sollst und nicht Großvater! Es ist nicht zum Aushalten mit dieser Familie, ich glaube, ich werde …« Sie unterbrach sich, weil ihr auf einmal bewußt wurde, daß da jemand blaß und jämmerlich neben ihrer Nichte saß.

»Ist es schlimm?« fragte sie Chantal.

»Es geht, glaube ich. Aber sie spricht Französisch, Tante Amélie.«

»Kann ich etwas für Sie tun?« Nora hob den Kopf und sah in ein rundes, besorgtes Gesicht mit lebhaften Augen.

»Ich suche ein Hotelzimmer für eine Nacht«, sagte Nora. »Und ich weiß nicht, ob mein Auto kaputt ist.«

Chantal lag schon auf dem Bauch, halb im Straßengraben, und kniff die Augen zusammen, denn es wurde bereits dämmerig. »Ich kann nichts sehen, aber der Auspuff ist bestimmt hin. Die Kiste sitzt voll auf dem Boden.«

Zwei junge Männer auf einem Mofa knatterten vorbei und johlten. »He, Chantal, machst du gerade einen Ölwechsel? Dazu muß man das Auto aber auf den Rücken legen!«

»Idioten! Los, steigt ab, helft mir, das Ding aus dem Graben zu ziehen. Hier, Jean-Luc, fang das Seil, los, los!«

Tante Amélie lachte.

»Sie hat alles im Griff, genau wie ihre Mutter und ich. Kommen Sie, bleiben Sie heute nacht bei den Bertaud. Chantal ist mit Opa allein, die Eltern sind zu einer Taufe nach Bayonne. Sie werden nichts dagegen haben. Es ist nicht sehr elegant, aber im Hotel haben Sie heute keine Chance. Da ist eine Hochzeit. Ich komme gerade von dort, und es ist der Teufel los. Die Zimmer sind bestimmt belegt, und wenn nicht, bekommen Sie trotzdem keines. Für andere Gäste ist keine Zeit, verstehen Sie? Kommen Sie, wir schulden Ihnen etwas, das heißt Monsieur Bertaud senior!«

Sie blickte Opa, der sich hinter seinem Traktor verstecken wollte, drohend an.

»Chantal, ich fahre sie zu euch nach Hause, ich nehme Mademoiselle mit. Los, Opa, du kommst auch mit mir.«

Chantal reagierte nicht, weil sie wie eine Amazone auf dem Traktor thronte und mit Geschick und Konzentration Noras Wagen Stück für Stück aus dem Graben zog, während die beiden jungen Männer die Aktion mit lautem Geschrei begleiteten, als handele es sich um ein störrisches Nilpferd und nicht um ein Auto.

Madame Amélies alter Peugeot hoppelte über Feldwege. Auf dem Rücksitz hockte Opa Bertaud und verhielt sich mucksmäuschenstill. Chantals Tante redete ununterbrochen. Nora verstand nur die Hälfte. Sie war noch ganz benommen und sagte zwischendurch höflich »ja« oder »Ich weiß nicht genau« und hatte die ganze Zeit das Gefühl, im Kino zu sitzen. Sie war merkwürdig unbeteiligt. Mittlerweile war es spät geworden, sie schaukelte auf einem Feldweg irgendwo am Fuß der Pyrenäen durchs Dunkle, vom Rücksitz roch es durchdringend nach Wein, und neben ihr zwitscherte eine dicke kleine Französin wie eine Amsel. Das Pflaster auf Noras Wange zog die Haut zusammen, ihr ganzer Körper schmerzte, und sie fühlte sich plötzlich sehr elend.

 

Sie wußte nicht, wo sie war.