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Hobbydiebin mit Herz sucht partner in crime für Liebe und andere Schwindeleien ... Die witzigste und coolste romantische Komödie, die Sie je gelesen haben! Cat ist 30, freischaffende Grafikerin, loyale Freundin, die jede Hochzeitseinladung wahrnimmt (obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten kann) – und Gelegenheitsbetrügerin. In der Bar des Oceanic Hotels entwendet sie wohlhabenden Geschäftsleuten kleine Geldsummen, und auch wenn ihre kriminelle Energie der schieren Verzweiflung entsprungen ist, die Pleitesein in London mit sich bringt, so muss sie doch zugeben, dass sie den Nervenkitzel liebt. Bis sie von Barkeeper Jake erwischt wird. Warum er sie nicht verrät, findet Cat kurze Zeit später heraus: Jake ist ein Betrüger wie Cat – nur ein sehr viel besserer! Als Cat ihm vorschlägt, gemeinsam den drei Millionen Pfund teuren Verlobungsring ihrer Unifreundin Louisa zu stehlen, stimmt Jake nach einigem Zögern zu. Während die beiden Einzelgänger das verliebte Paar mimen, kommen sie einander tatsächlich näher. Doch kann Cat Jake vertrauen? Und wird es den beiden gelingen, den Coup ihres Lebens durchzuziehen und damit davonzukommen? Ein Roman wie ein Blockbuster: voller Humor, Action und prickelnder Romantik!
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2023
Philip Ellis
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Melike Karamustafa
Knaur eBooks
Cat ist 30, freischaffende Grafikerin, loyale Freundin – und Gelegenheitsbetrügerin. Obwohl ihre kriminelle Energie zwar der schieren Verzweiflung entsprungen ist, muss sie doch zugeben, dass sie den Nervenkitzel liebt. Bis sie von Barkeeper Jake erwischt wird. Warum er sie nicht verrät, findet Cat kurze Zeit später heraus: Jake ist ein Betrüger wie Cat – nur ein sehr viel besserer! Als Cat ihm vorschlägt, gemeinsam den drei Millionen Pfund teuren Verlobungsring ihrer Unifreundin Louisa zu stehlen, stimmt Jake nach einigem Zögern zu. Während die beiden Einzelgänger das verliebte Paar mimen, kommen sie einander tatsächlich näher.
Widmung
Genau wie Elizabeth Taylor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Die großen Heuchler
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Der beste Freund einer jeden Frau
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Danksagung
Für Mum.
Egal wie weit ich im Leben kommen werde, es wird wegen allem sein, das du mir gegeben hast. Danke für deine Liebe, deine Unterstützung und vor allem deine Wangenknochen.
Teil eins
Sie sind die Nächste«, sagt eine Frau mit frischer Dauerwelle und Spinat zwischen den Zähnen. Weil der Satz aus dem Nichts kommt, klingt er ein wenig wie eine Drohung, und Cat braucht einen Moment, um zu realisieren, dass die Frau – die Tante der Braut, wie ihr wieder einfällt – sich vermutlich auf ihre Anwesenheit hier am Pluto bezieht.
»Drücken Sie mir die Daumen!«, gibt sie mit einem Lächeln zurück, wobei ihre Wangen schmerzen wie die Muskeln einer Athletin.
Die Tische sind nach Himmelskörpern benannt. Brautjungfern sitzen an der Venus, Trauzeugen am Mars. Johnny und Susie und ihre jeweiligen Eltern befinden sich am Planeten Erde, weil sie, wie er während seiner Rede betont hat, seine ganze Welt sei. Merkur ist für die nahe Verwandtschaft reserviert, Jupiter für enge Freunde, Saturn und Neptun für den erweiterten Bekanntenkreis des Paares. Uranus wurde aus offensichtlichen Gründen weggelassen.
Es gibt nicht genug ungebundene Gäste auf dieser Hochzeit, um den traditionellen Singletisch zu rechtfertigen, weshalb Cat ganz hinten im Raum am Pluto gestrandet ist, in Reichweite der Klos, zwischen Tante Gladys (die mit der Dauerwelle) und Greg, einem Freund des Vaters des Bräutigams, der möchte, dass alle wissen, dass der vor der Location geparkte Porsche ihm gehört.
Jetzt, da sie hier sitzt und plaudert, während verkochter Lachs und zimmerwarmer Chardonnay sich in ihrem Magen vermischen, ertappt sich Cat dabei, eine mentale Kosten-Nutzen-Analyse anzustellen. Zug- und Taxifahrt zu dem malerischen Veranstaltungsort auf dem Land waren übertrieben teuer, und obwohl ihr Kleid von der Stange kommt und sie das günstigste Geschenk von Susies und Johnnys Hochzeitsliste gekauft hat, übersteigt die Summe, die sie für dieses Event ausgegeben hat, ihre finanziellen Möglichkeiten.
Sie hätte nicht kommen sollen. Sie kennt hier kaum jemanden, auf ihrer Einladung war kein Plus One angegeben, und mit der Braut hat sie noch kein Wort gewechselt. Aber Cat ist trotzdem hier, weil sie weiß, dass es wahrscheinlich das letzte Mal ist, dass sie Susie und Johnny zu Gesicht bekommt. Bald werden sie aus London wegziehen, und die Chance, sie zufällig in einem Pub in Soho zu treffen, steht eins zu tausend. Dann, in einem Jahr, werden sie sich entweder einen Hund anschaffen oder ein Baby bekommen – was von beidem, spielt keine Rolle –, und ihr Sozialleben wird sich auf Sonntagsspaziergänge und Verabredungen auf einen Kaffee mit anderen Eltern und/oder Hundebesitzern beschränken. Cat hat schon vor langer Zeit aufgehört, im Blick zu behalten, wann sich andere Freunde und Bekannte diesem Wendepunkt genähert haben, um schließlich auf der anderen Seite zu verschwinden.
Mit Mitte zwanzig war es keine große Sache. Da war der Kreis von Singlemädels, die sie kannte, noch größer gewesen, und sie alle waren auf der Suche nach dem perfekten Job, der perfekten Wohnung, dem perfekten Mann. Erst später verstand sie, dass viele Menschen nur nach London ziehen, um eines Tages wieder wegziehen zu können. Sie haben eine gute Zeit, hangeln sich auf der einen oder anderen Karriereleiter nach oben, wohnen entweder mit ihrer Beziehung, die sie seit Schulzeiten haben, zusammen oder gehen auf zahllose Dates, bis sie jemanden finden, dessen Ambitionen ihre eigenen ergänzen. Dann machen sie sich daran, die gemeinsame Flucht an einen anderen Ort, in eine Vorstadt oder ein charmantes Dorf, zu planen, wo sie es sich (mithilfe einer Finanzspritze von mindestens einem Elternpaar) leisten können, ihr Traumhaus zu kaufen.
Cat muss an dem Tag, an dem alle anderen das Memo für dieses Leben bekommen haben, krank gewesen sein. Sie hat ihre Zwanziger damit verbracht, von einem Aushilfsjob und unzuverlässigen Freund zum nächsten zu stolpern, und erst nach der vierten Verlobungsankündigung gemerkt, dass alle anderen nach einem strengen Zeitplan arbeiteten.
Sie steht Susie und Johnny nicht einmal besonders nahe. Schon seit Langem hegt sie ein beunruhigendes Misstrauen gegenüber Johnnys politischer Einstellung, etwas, das dadurch, wie sie heute seine Familie erlebt hat, nur bestätigt wurde, und wenn sie ganz ehrlich ist, kann Susie eine ziemlich dumme Nuss sein. Trotzdem verspürt Cat einen Stich, weil sich die beiden auf einem Weg befinden, auf dem sie ihnen nicht folgen kann. Sie vermutet, dass sie deshalb zu dieser Hochzeit gekommen ist. Denn wann sonst sollte sie jemals wieder die Möglichkeit haben, jene Frauen wiederzusehen, die sie früher als ihre Freundinnen betrachtet hat?
»Oh, nein, meine Liebe«, gurrt Gladys mitfühlend, als sich Cats Augen mit Tränen füllen, die drohen, ihre Mascara zu verschmieren.
»Ich weine immer auf Hochzeiten«, sagt sie und entschuldigt sich, um die Toilette aufzusuchen.
Zum Glück sind die Waschräume leer. Cat schließt sich in eine Kabine ein und holt die kleine Flasche Wodka aus ihrer Handtasche, legt den Kopf in den Nacken und nimmt einen Schluck, den sie wie Mundwasser gurgelt, um den Geschmack nach Galle loszuwerden. Mit neunundzwanzig ist sie mit Sicherheit zu alt, um ihren eigenen Schnaps auf Veranstaltungen zu schmuggeln, aber der Wein hat gerade mal eine halbe Stunde gereicht, und ab jetzt müssen die Gäste für Drinks an der Bar zahlen, obwohl Cat ziemlich sicher ist, dass weder die Familie der Braut noch die des Bräutigams am Hungertuch nagen.
Klar, so schaffen es die Reichen, reich zu bleiben, denkt Cat, steckt sich ein Tic Tac in den Mund und zieht ihren Lippenstift nach. Man lädt in das nobelste Hotel in einer Grafschaft im Londoner Umland ein, um zu zeigen, was für ein dickes Konto man hat, um dann für nichts aufzukommen, was nicht unbedingt notwendig ist. Ach ja, und außerdem darf nur dabei sein, wer ein Geschenk oder einen Umschlag voller Bargeld mitbringt.
Jetzt, da sie genauer darüber nachdenkt, stellt sie fest, dass Hochzeiten im Grunde nichts weiter als ein ziemlich großer Beschiss sind. Und das einzige Startkapital, das man dafür wirklich braucht, ist ein williger Komplize. Auf ihrem Weg zurück zum Pluto sieht Cat sich um und identifiziert mindestens zwei Männer, die nach Singles aussehen: einen an der Bar, den anderen auf der Tanzfläche, wo er pflichtbewusst Johnnys Oma übers Parkett schiebt. Sie stellt sich vor, wie sie auf einen von ihnen zugeht und ihm vorschlägt, sich zu verloben und von all ihren Bekannten mit teuren Haushaltswaren und Geschenkgutscheinen bewerfen zu lassen, um anschließend die Beute zu teilen und getrennte Wege zu gehen. Sollte sie einen Mann finden, der bereit wäre, den Plan mit ihr in die Tat umzusetzen, könnte das am Ende ihre bisher fruchtbarste Beziehung werden.
»Hat es wehgetan?«, erkundigt sich Greg, als sie an den Tisch zurückkehrt.
»Hat was wehgetan?« Ich schwöre, wenn er als Nächstes sagt: »Als du vom Himmel gefallen bist«, dann …
»Ihr Nasenpiercing. Das frage ich mich jedes Mal, wenn ich Leute mit einem sehe.«
»Nicht wirklich«, antwortet sie. »Ich meine, ja, es hat wehgetan. Aber das ist schon so lange her, dass ich mich kaum daran erinnere.«
»Wie bei einer Geburt.«
»Klar«, Cat nickt, »wie bei einer Geburt.«
Es entsteht eine unangenehme Pause, als der DJ den Übergang von einem Song zum anderen versaut, bevor der Beat des nächsten Songs der frühen 2000er durch den Raum schallt.
»Warum tanzen Sie nicht?«, fragt Greg. »Ein junges Fohlen wie Sie sollte nicht mit uns alten Gäulen auf der Weide stehen.« Er nickt Gladys zu, die angesichts der Tatsache, mit einem Bauernhoftier verglichen zu werden, die Nase rümpft.
Cat verspürt einen Anflug von Mitgefühl. Sie ist von Gregs merkwürdiger Metapher ebenso wenig angetan, aber selbst Gregs verpatzter Versuch eines Kompliments klingt in ihren Ohren so wohltuend, wie nach Jahren im Ausland wieder die eigene Muttersprache zu hören.
»Da bin ich altmodisch«, sagt sie. »Ich warte, bis mich jemand auffordert.«
»Nun, in diesem Fall«, sagt er und streckt grinsend die Hand aus, »darf ich um diesen Tanz bitten?«
Greg ist alt genug, um ihr Vater zu sein, und auf seiner Haut liegt ein leichter Glanz wie bei glasiertem Schweinefleisch. Aber Cat ist als Single zu Gast auf einer Hochzeit, und er sieht sie an, seit sie sich an den Tisch gesetzt hat. Wenn schon für nichts anderes, ist er zumindest für einen Wodka Tonic gut.
In Cats Handtasche befindet sich nicht mehr als ein Päckchen Pfefferminzbonbons, eine zerknüllte Fünf-Pfund-Note und ein Blasenpflaster für den Notfall. Als Freiberuflerin hat sie in letzter Zeit nicht besonders gut verdient, und ihr letztes Geld ist für das Hochzeitsgeschenk und dieses Kleid draufgegangen, ein aquamarinfarbenes, von dem sie zugeben muss, dass es ihr verdammt gut steht.
Gregs Handfläche ist klamm, als er sie zwischen anderen Gästen hindurch auf die Tanzfläche führt, und Cat vermutet – zum zweiten oder dritten Mal an diesem Tag –, dass es keine Erkältung ist, die ihn so schniefen und schwitzen lässt. Der Song, der gerade gespielt wird, ist schnell, retro und offenbar genau sein Ding. Er zuckt und wirbelt herum wie eine billige Mick-Jagger-Kopie, während Cat ihr Bestes tut, um mitzuhalten, so gut ihr Kleid es zulässt.
»Sehen Sie? In dem alten Hund steckt doch noch Leben«, ruft er stolz.
»Daran habe ich nie gezweifelt!«, antwortet Cat und überrascht sich selbst, als sie lacht. Sie erinnert sich an die Zeiten, zu denen sie Hochzeiten geliebt hat: die Drinks, das Tanzen, die Unterhaltungen über irgendwelchen sinnlosen Quatsch mit Leuten, die sie noch nie zuvor getroffen hat. Der Abend ist noch zu retten, denkt sie. Solange sich dieser etwas schmalzig-sentimentale, aber nicht unangenehme Mann darüber im Klaren ist, dass sie alleine nach Hause gehen wird, sobald das Licht angeht.
Als die Musik langsamer wird und Whitney darüber zu singen beginnt, dass sie nichts hat, verstärkt sich Gregs feuchter Griff um Cats Hand und sie lässt sich in eine unbeholfene halbe Umarmung ziehen.
»Wir lieben dieses Lied«, sagt er. »Meine Frau … ich meine, meine Ex-Frau und ich. Das war unser Lied.«
»Ein guter Song«, erwidert sie, unsicher, was sie sonst sagen soll. Er scheint sich jedoch mit ihrer Antwort zufriedenzugeben, und sie tanzen schweigend weiter.
Cat kann sich nicht entsinnen, wann sie das letzte Mal mit jemandem zu einem langsamen Stück getanzt hat. Und danach zu urteilen, wie häufig ihr Greg auf die Füße tritt, muss es bei ihm ebenfalls eine Ewigkeit her sein. Während sie von einer Seite auf die andere schwanken, legt sie ihren Kopf auf seine Schulter, peinlich berührt von dem plötzlichen Hunger ihres Körpers nach jeglicher Form von Kontakt. Ein Bann, der schon bald gebrochen wird, als die Hände ihres Tanzpartners zu wandern beginnen.
Handtaschenwodka hin oder her, von einer Sekunde auf die andere fühlt sich Cat stocknüchtern.
»Ich muss schon wieder aufs Klo«, sagt sie und löst sich abrupt von ihm, obwohl der Song noch nicht zu Ende ist.
»Frauen und ihre Blase.« Greg schüttelt amüsiert den Kopf, als würde es sich dabei um irgendeine alte Weisheit handeln. Er macht sich auf den Weg zur Bar, und kaum dass er ihr den Rücken zugewendet hat, hält Cat nach Braut und Bräutigam Ausschau, um sich zu verabschieden.
Sie findet Susie am Tisch des Brautpaars, das Kleid bis zu den Knien hochgeschoben, um ihre rechte Fußsohle zu massieren.
»Cat!« Sie reißt überrascht die Augen auf, während sich Cats Magen zusammenzieht, als sie realisiert: Susie hat nicht mal mitbekommen, dass sie hier ist. Vielleicht hatte sie sogar vergessen, Cat überhaupt eingeladen zu haben.
»Ich wollte nur sagen«, beginnt Cat, weiß dann aber nicht mehr weiter. Was genau wollte sie eigentlich sagen?
Ich habe fast zweihundert Pfund für diese Hochzeit ausgegeben und wünschte mir, ich hätte gar nicht erst zugesagt.
Ich wurde sexuell belästigt, weil du mich neben einen ekligen alten Knacker gesetzt hast.
Wir sind schon lange keine Freundinnen mehr, oder?
»Ich bin dann mal weg«, sagt sie schließlich.
»Du gehst schon?«, fragt Susie. »Wir haben noch gar nicht miteinander …«
»Herzlichen Glückwunsch«, unterbricht Cat sie. »Ich freue mich sehr für dich.«
Das stimmt nicht, aber ihr sind schon größere und schlimmere Lügen über die Lippen gekommen. Sie schnappt sich ihre Handtasche von ihrem Platz am Pluto und winkt Gladys zum Abschied hastig zu, um es aus dem Saal und in die Hotellobby zu schaffen, bevor Greg an den Tisch zurückkommt.
Sie bittet den Mann an der Rezeption, ihr ein Taxi zu rufen.
»Das dauert in der Regel zehn Minuten«, informiert sie der Concierge.
»Danke. Ich warte draußen.«
Nicht mehr lange und Greg wird sich fragen, wo sein Portemonnaie abgeblieben ist. Er wird mehrmals seine Taschen abklopfen und unter Pluto nachsehen, bevor er den DJ bittet, eine Durchsage zu machen. Doch zu diesem Zeitpunkt wird Cat schon lange weg sein. Nicht dass er jemals den Verdacht hegen würde, dass sie die Brieftasche genommen hat, während er damit zugange war, ihren Hintern zu begrapschen. Er war viel zu beschäftigt mit seinen eigenen Händen, um mitzubekommen, was sie im selben Moment mit ihren getan hat.
Cat hält zwei Raucherinnen die Tür auf, die auf dem Weg nach drinnen sind.
»Schönes Kleid«, sagt eine von ihnen, als sie an ihr vorbeigehen.
»Danke«, erwidert sie, und diesmal ist ihr Lächeln aufrichtig. »Es hat sogar Taschen.«
Als Cat in der Bar im Oceanic Hotel ankommt, ist kaum etwas los, dennoch entscheidet sie sich für einen Barhocker, anstatt an einem der Tische Platz zu nehmen. Jake ist der Einzige, der heute Abend arbeitet, und er schenkt ihr zur Begrüßung dasselbe neutrale Beinahe-Lächeln wie immer. Sein strahlend weißes Hemd scheint auf seiner Haut zu leuchten, und Cat kann nicht anders, als – nicht zum ersten Mal – zu registrieren, wie es sich eng an seine Schultern schmiegt.
»Tolles Kleid«, bemerkt er.
»Danke. Und es hat sich bereits bezahlt gemacht.« Sie zieht Gregs Portemonnaie aus der Tasche auf Höhe ihrer Hüfte und legt es mit einem triumphierenden Grinsen auf den Tresen. Es ist schon spät, und sie hätte eigentlich gleich nach Hause gehen sollen, aber der Sirenenruf nach einem letzten Drink, um ihren kleinen Sieg zu feiern, war zu verlockend, um ihm zu widerstehen. Also hat sie dem Taxifahrer auf dem Weg nach Islington ein neues Ziel genannt und ihm für seine Umstände ein ordentliches Trinkgeld gegeben.
»Ich nehme einen Whisky«, sagt sie. »Einen rauchigen. Je teurer, desto besser. Und für dich auch einen.«
»Sehr großzügig.« Er hebt eine Augenbraue, dann dreht er sich zu den Regalen um, die an der Wand hinter der Bar angebracht sind. Kurz darauf stellt er zwei Gläser mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit zwischen sie auf den Tresen.
»Wem haben wir die zu verdanken?«, fragt er.
»Jemandem, der es verdient hat. Glaub mir.«
Ein weiteres schwaches Lächeln umspielt Jakes Lippen. Er nimmt sein Glas und stößt es sanft an ihres.
Cat und Jake sprechen sonst nie direkt über ihr Hobby. Sie ist heute nur deswegen so schamlos, weil sie weiß, dass Jake sie nicht verpfeifen wird. Wenn er das wollte, hätte er es längst getan.
Anfangs war sie in diese Bar gegangen, weil sie einen Zufluchtsort während der wöchentlichen Date-Night ihrer Mitbewohner brauchte. Sie hatte sich sogar vorgestellt, hier jemanden kennenzulernen, einen gut aussehenden, geheimnisvollen Fremden, der ihr zuerst einen Drink anbieten würde, um sie anschließend vollkommen umzuhauen. Aber trotz seines glamourösen unlogischen Namens (das Oceanic befindet sich nicht mal in fußläufiger Nähe zum Fluss, geschweige denn zum Meer) hat Cat schnell festgestellt, dass die Gäste größtenteils Geschäftsleute sind: Unternehmensberater und Messebesucher und gelegentlich der ein oder andere mit Geld um sich werfende Investmentbanker.
Mit anderen Worten: genug Auswahl.
Das war vor etwas mehr als einem Jahr gewesen. Drei Freundinnen hatten in jenem Sommer ihr erstes Baby bekommen, was eine Reihe von Baby- und Gender-Reveal-Partys und Taufen nach sich gezogen hatte. Anschließend war Cat so gut wie pleite gewesen und hatte daraufhin eine Idee, die sie unbedingt ausprobieren wollte, und die Oceanic Bar eröffnete ideale Möglichkeiten dafür: Donnerstag- oder Freitagabend kommt sie in Bluse und Stoffhose oder Etuikleid und High Heels in die Bar, um den überzeugenden Eindruck einer Frau zu erwecken, die einen langen Tag im Büro hinter sich hat und dringend einen ordentlichen Drink braucht. Sie verwickelt die Gäste am Nachbartisch in ein Gespräch oder wartet einfach darauf, dass jemand sie anspricht. Schließlich ist sie eine Frau allein in einer Bar, und das Verhalten von Männern in Gruppen ist leichter vorherzusagen als der Ausgang einer romantischen Komödie. Am Ende gesellt sie sich zu ihnen an den Tisch, lacht über ihre Witze und erwidert den einen oder anderen Flirt, rutscht auf ihrem Stuhl näher, bis sie mit mindestens einem von ihnen Schulter an Schulter sitzt.
Und wenn sie nahe genug ist, schlüpft ihre Hand in die Jacke, die über der Stuhllehne hängt. Oder sie wirft absichtlich ein Glas um, was ihr genug Zeit verschafft, heimlich eine Brieftasche durchzusehen, während ihr neuer Bekannter damit beschäftigt ist, sich mit einer Serviette warmen Prosecco von der Hose zu tupfen. Im Laufe eines Abends sind damit und mit etwas Glück mehrere Hunderter zu machen.
Sie nimmt nie besonders große Beträge und zielt nur auf Leute ab, von denen sie annimmt, dass sie es sich entweder leisten können oder es nicht einmal bemerken werden. Und sie versucht, es nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Aber alle paar Monate, wenn es gerade keine Aufträge für freiberufliche Grafikdesignerinnen gibt, wenn die Miete fällig ist, an den Tagen, an denen sie sich entscheiden muss, ob sie Lebensmittel kaufen oder pünktlich ihre Telefonrechnung bezahlen soll, weiß Cat, dass sie auf einen Abend im Oceanic zurückgreifen kann.
Und sie würde sich selbst belügen, wenn sie sich in jenen Momenten nach einer durchzechten Nacht in der Bar, kurz vor dem Einschlafen, nicht eingestehen würde, dass es ihr insgeheim Spaß macht. Nicht das Vergehen an sich – das ist nur Mittel zum Zweck, ein Produkt der finanziellen Notwendigkeiten und der Verzweiflung, die damit einhergeht, in einer Stadt wie London pleite zu sein –, sondern der Moment, der unmittelbar nach dem Diebstahl folgt. Das Adrenalin. Es gibt nichts auf der Welt, das sich so gut anfühlt, wie die Regeln zu brechen, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was eine erwachsene Frau tun sollte … und damit davonzukommen.
Und dann hat Jake sie erwischt.
Es war ein trubeliger Donnerstag. Cat hatte gerade einen Personalberater um dreißig Pfund gebracht, als sie seinen Blick spürte. Sie widerstand dem Drang, die Schultern anzuspannen oder ihn direkt anzusehen, und nahm sich stattdessen einen Moment, um die Fassung wiederzuerlangen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und schüttelte kokett ihren bereits rausgewachsenen blonden Bob, während sie über den zutiefst unlustigen Kommentar ihres neuen Personalberater-Freundes lachte, um bei der Gelegenheit zur Bar hinüberzusehen, von wo aus Jake sie beobachtete.
Sein Gesichtsausdruck glich dem einer Sphinx, seine Lippen waren entweder verurteilend oder leicht amüsiert geschürzt. Es war keiner dieser ekelhaften offensichtlichen Blicke, die Cat von Männern gewohnt war. Er fühlte sich weder aufdringlich noch anmaßend an. Jake … sah sie einfach. Und sie wusste sofort, dass er irgendwie herausgefunden hatte, was sie tat.
Sie nahm an, dass er sie bitten würde zu gehen oder, schlimmer noch, die Polizei rufen würde. Aber er tat nichts dergleichen.
Daraufhin machte sie eine Weile einen großen Bogen um das Hotel, testete ihr Handwerk an den Zockern in einem nahe gelegenen Casino, aber der Türsteher machte sie nervös und sie ging nie wieder dorthin. Und als sie ein paar Wochen später einen weiteren Besuch im Oceanic wagte, begrüßte Jake sie mit einem Nicken, als wäre sie Stammgast.
Zuerst dachte sie, er würde sie davonkommen lassen, weil er auf sie stand, aber er hatte nie etwas in die Richtung bei ihr versucht. Tatsächlich redet er bis heute kaum mit ihr, es sei denn, Cat ist diejenige, die das Gespräch mit ihm sucht. Das hat sie ein paarmal getan, weil sie dachte, es könne nicht schaden, ihn auf ihrer Seite zu haben. Die Tatsache, dass er wahnsinnig attraktiv ist, mit kurzen schwarzen Locken und Wimpern, die so dunkel sind, dass es fast so scheint, als trage er Eyeliner, ist nebensächlich.
»Und, wo bist du heute Abend gewesen?«, fragt Jake.
»Hochzeit.«
Er nickt, registriert ihre knappe Antwort – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie um elf Uhr abends hier ist, anstatt den Brautstrauß zu fangen – und nickt wieder.
»Hochzeiten sind schrecklich«, sagt er und nimmt einen genüsslichen Schluck von seinem Whisky. Seine Zungenspitze blitzt auf, um die Alkoholspur von seiner Unterlippe zu lecken.
Cats Blick verweilt vielleicht nur eine Sekunde länger darauf, als sie es sich normalerweise erlauben würde, dann lenkt sie sich schnell mit einem Schluck aus ihrem eigenen Glas ab. Fast augenblicklich beginnen ihre Nasenlöcher zu brennen, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das soll das gute Zeug sein?
Die Vorstellung, eine Frau zu sein, die gerne Whisky trinkt, findet Cat seit jeher toll. Sie ist sich nicht sicher, woher sie rührt. Vielleicht daher, dass sie Whiskytrinken mit Menschen assoziiert, die cool und weltoffen sind. Oder es ist ganz einfach ein Überbleibsel aus der kurzen Zeit in Cats frühen Zwanzigern, als sie sich noch bemüht hat, Männer zu beeindrucken, statt sie abzuzocken. Vielleicht versucht sie aber auch nur, vor einem gewissen unergründlichen Barkeeper einen auf dicke Hose zu machen.
»Der ist … weich«, bemerkt sie wenig überzeugend und registriert, wie sie das Gesicht verzieht.
Jake lacht. Nur eine Sekunde lang, aber es ist vermutlich die erste Gefühlsregung, die Cat bisher bei ihm gesehen hat.
»Meine Schuld. Ich habe dir den eingeschenkt, den unsere Gäste gerne mögen. Ich hätte dich fragen sollen, was du normalerweise trinkst.«
»Meine Antwort wäre … Wodka gewesen.«
Jake verzieht die Mundwinkel zu einem halben Lächeln, und für eine Sekunde ist sie sich sicher, dass er sie wieder auslachen wird.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Er krempelt die Ärmel hoch. »Ich mache dir stattdessen einen Martini. Sag mir einfach, wie du ihn magst.« Er sieht ihr in die Augen und hebt erneut eine Braue. »Dirty?«
O Gott. Er flirtet. Er flirtet tatsächlich endlich. Tut er doch, oder?
»Dry«, krächzt Cat. »Mit Twist.«
»Kommt sofort.«
Sie gibt vor, auf ihr Handy zu schauen, während Jake Wodka und Wermut abmisst. Die Muskeln in seinen Unterarmen spannen sich an, als er den Deckel auf den Cocktailmixer drückt und ihn anschließend ein paarmal kräftig schüttelt. Gott sei Dank hält er während dieses Teils keinen Blickkontakt.
»Dry mit Twist«, sagt er einen Moment später und überreicht ihr ein beschlagenes Glas.
»Perfekt«, murmelt sie nach einem Schluck. »Vielen Dank.«
Er sieht aus, als wollte er noch etwas sagen, wird aber von drei Männern abgelenkt, die gerade die Bar betreten – begleitet von einer Wolke aus Kölnischwasser und Bierschweiß.
»Jay!«, brüllt einer von ihnen und zeigt auf Jake. Er sieht aus wie der betrunkene Kapitän seines eigenen kleinen Schiffes, der gerade Land erblickt hat.
»Was darf es sein, Jungs?«, fragt Jake, und Cat entgeht nicht, dass er jetzt lauter spricht und sein Tonfall maskuliner ist. Sie hat einen ähnlichen Trick: Wenn es der Anlass erfordert, zieht sie die Vokale in die Länge, um vornehmer zu klingen.
»Drei Bier«, sagt der Mann. »Ich habe den Jungs hier von deinem kleinen Spielchen erzählt. Dachte, ich gebe dir die Chance, dein Geld zurückzugewinnen.« Dann, als er Cat bemerkt: »Hallo, Schönheit.«
Cat rührt ihren Martini um, während sich Jake um die Bestellung seiner neuen Gäste kümmert, wobei sie so tut, als würde sie ihre anzüglichen Blicke nicht bemerken. Vergeblich.
»Ich bin übrigens Hugo«, sagt der Mann und streckt ihr die Hand hin.
»Hi, Hugo«, erwidert sie und ergreift die Hand, weil er schwankt und sie befürchtet, dass er das Gleichgewicht verlieren könnte. Er hat ihr die linke Hand hingehalten, also ist er entweder Linkshänder oder möchte einfach nur sicherstellen, dass ihr seine Rolex auffällt. »Ich bin … Clara.« Hat sie sich das eingebildet oder hat Jake gerade kurz gegrinst?
»Das ist ein schöner Name«, sagt er mit einem kleinen Hicksen, als müsse er ein Rülpsen unterdrücken. »Und, stimmt es, was man sagt?«
»Was wer sagt?«
»Dass Blondinen mehr Spaß haben.« Er reckt das Kinn.
Nicht jetzt, denkt Cat. Sie weiß, das ist die Realität, die ihrer früheren Fantasie, im Oceanic einen gut aussehenden Fremden kennenzulernen, gegenübersteht. Jeder Mann, der hier reinmarschiert und sich der zierlichen Blondine nähert, die allein an der Bar sitzt, ist höchstwahrscheinlich und bestenfalls ein Typ für eine Nacht, schlimmstenfalls ein Arsch. Es ist schon mehr als einmal vorgekommen, dass sie mit einer Sexarbeiterin verwechselt wurde, und es hat jedes Mal viel zu lange gedauert, den jeweiligen Herrn davon zu überzeugen, dass »freiberufliche Kreative« kein Code für etwas anderes ist.
Dieses ständige Gefühl, von Blicken durchbohrt zu werden, mitspielen zu müssen, um zu erreichen, wofür sie hergekommen ist, sich ständig ihrer Umgebung bewusst sein zu müssen … Das alles wird mit der Zeit anstrengend. Andererseits ist es das, was es Cat so leicht macht, ihnen das Geld abzunehmen: Ihre schmale Statur, die wasserstoffblonden Haare und die großen blauen Augen sorgen dafür, dass sie von den meisten Männern unterschätzt wird. Bei all der unaufgeforderten Aufmerksamkeit, mit der Typen das andere Geschlecht überschütten, scheinen sie absolut keine Ahnung zu haben, wie genau diese Frauen sie im Gegenzug im Auge behalten.
»Also«, sagt Hugo und wendet sich wieder der Bar zu, scheinbar bereits gelangweilt von ihr. »Das Spiel?«
»Ich weiß nicht, Hugo«, heuchelt Jake Widerwillen. »Ist schon spät. Ich sollte wirklich langsam schlie…«
»Nein, nein, nein! Ich hab’s den Jungs versprochen«, sagt Hugo wie jemand, der es eindeutig gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen.
Jake zögert und seufzt dann. »Na gut.«
Nachdem er ihnen jeweils ein Pint eingeschenkt hat, lässt sich Jake schließlich überreden, ein Kartenspiel unter der Bar hervorzuholen, und beginnt, die Regeln von einem Spiel namens »Finde die Dame« zu erklären. Cat meint sich dunkel daran zu erinnern, es auf irgendeiner Kirmes, auf die sie ihr Vater einmal mitgenommen hat, gesehen zu haben. Sie wollte auch spielen, aber er hat sie fest an der Hand gepackt und zum Karussell mit den Teetassen weitergezogen.
»Es ist ganz einfach«, sagt Jake, während er schnell und gekonnt mischt. Aus den Augenwinkeln beobachtet Cat, wie seine Finger über die Karten tanzen, fast so, als würde er sie streicheln. Dann legt er drei Karten offen wie beim Tarot auf den Tresen. Das Kreuzass, die Karozehn und die Herzdame.
»Behalt die Dame im Auge«, sagt Jake, während er die drei Karten umdreht, bevor er sie im Kreis auf der Bar herumschiebt. »Wo ist sie?«
Hugo tippt auf die Karte in der Mitte. »Da«, sagt er stolz.
»Sicher?«, fragt Jake.
»Ja.«
»Wie sicher?«
Hugo zieht einen glänzenden, nagelneuen Zwanzig-Pfund-Schein aus seinem Portemonnaie und wirft ihn auf die Theke.
Jake greift wieder unter die Bar und holt etwas heraus, das wie das Trinkgeldglas aussieht. Sofort fühlt sich Cat schuldig; sie kann es sich nur selten leisten, so viel Trinkgeld zu geben, wie sie es eigentlich gerne tun würde. Jake zieht einen zerknüllten Zwanziger aus dem Glas und legt ihn neben Hugos. Dann dreht er die mittlere Karte um.
»Da ist sie.«
Hugo sammelt gierig beide Scheine ein, während er seine Freunde triumphierend angrinst.
»Okay«, sagt einer der anderen. »Jetzt probier ich’s.«
»Klar«, sagt Jake. Er legt drei weitere Karten auf den Tresen. Diesmal ist die fragliche Lady die Kreuzdame.
Jakes Hände bewegen sich schneller über die Karten als in der vorherigen Runde, und Cat hat den Eindruck, dass sich der neue Spieler, Toby, bei dem Versuch, die Dame im Blick zu behalten, den Nacken verrenkt.
»Da!«, ruft er, als Jake innehält, und tippt mit dem Zeigefinger auf die linke Karte.
»Wie sicher bist du?«, fragt Jake auch diesmal.
Toby greift in seine Tasche und holt zwei Zehner heraus. Jake entspricht dem Einsatz mit zwei Scheinen aus dem Trinkgeldglas und dreht anschließend die drei Karten um. Bei der ganz linken, bei der sich Toby so sicher war, handelt es sich um den Pikbube.
Jake nimmt die vier Scheine und steckt sie ein.
»Du hast nicht genau genug hingeschaut, Kumpel«, behauptet der dritte Typ. »Mir war klar, dass du danebenliegst.«
»Und warum hast du es mir dann verdammt noch mal nicht gesagt?«, protestiert sein Kumpel.
»Du meintest doch, dass du dir sicher bist. Na los, ich zeig dir, wie man’s richtig macht.«
Das Spiel geht immer weiter. Die drei Männer wetten eine Pfundnote nach der anderen, ohne aufhören zu können. Ihre Blicke sind unkonzentriert, und inzwischen sprechen sie undeutlich, trotzdem scheint Jake mehr Runden zu verlieren als zu gewinnen.
»Mach dir nichts draus«, sagt der Typ, der sich mit Hugo vorgestellt hat, mit einem Augenzwinkern, als Jake die letzte Runde beendet. »Du kannst nicht jedes Mal gewinnen.«
»Gutes Spiel, Jungs«, sagt Jake gnädig trotz seiner Niederlage und verabschiedet jeden der drei mit einem dieser typisch männlichen Handschläge, die so wirken, als wollten sie Armdrücken. Dann sind sie weg.
Und auf einmal begreift Cat. »Gut gespielt.«
»Hm?« Jake reißt die Augen auf und bedenkt sie mit einem unschuldigen Blick, und sie wundert sich erneut, wie lang seine Wimpern sind.
»Du hast sie oft genug gewinnen lassen, sodass sie leichtsinnig wurden.«
»Keine Ahnung, wovon du redest«, sagt er, nimmt ein Geschirrtuch und wischt so lässig die Theke ab, als würde er die Rolle eines Barkeepers in einem Film spielen.
»Du solltest als Zauberer arbeiten. Mit deiner Fingerfertigkeit.«
»Es ist ein Glücksspiel«, betont er.
»Und die Uhr?«
Jakes Arm erstarrt in der Bewegung.
»Uhr?«, fragt er unschuldig.
»Die hübsche Rolex«, sagt Cat. »Ich hätte schwören können, dass dein Lieblingskunde eine getragen hat, als er reingekommen ist. Aber gerade eben, auf dem Weg nach draußen … hab ich keine mehr an seinem Handgelenk gesehen.«
Jake erwidert nichts. Beflügelt von seinem Schweigen wagt sich Cat weiter vor.
»Dieser Bro-Handschlag – hast du es in dem Moment gemacht?«
»Ich glaube, du hattest einen Drink zu viel.« Er dreht sich zu ihr um und zeigt ein Lächeln, aber diesmal fehlt ihm das Strahlen.
»Kein Grund, mich zu gaslighten, dein Geheimnis ist bei mir sicher.«
»Ich habe keine Geheimnisse«, sagt er und wischt weiter über den Tresen.
»Natürlich nicht.« Sie kippt den Rest ihres Martinis hinunter und reicht ihm das leere Glas. »Aber auf einmal ergibt es Sinn. Dass du mich weiter reingelassen hast, nachdem du mich erwischt hattest … Na ja, du weißt schon wobei.«
Du dachtest, er mag dich, dabei schützt er sich nur selbst.
»Du hast damals nichts gesagt, weil du nicht wolltest, dass jemand zu genau hinsieht, was hier vor sich geht.«
Jake scheint einen Moment darüber nachzudenken, bevor er fragt: »Und was jetzt?«
»Sieht für mich sehr nach einem Patt aus.«
Wieder schweigt Jake.
»Und solange diese Bar für uns beide ausreicht …« Cat zuckt mit den Schultern.
Jake scheint auf der Innenseite seiner Wange zu kauen und lächelt dann. »Ich dachte wirklich, du willst mich erpressen«, sagt er schließlich.
»Das kann ich mir gar nicht erlauben«, antwortet Cat. »Autsch, meine Füße bringen mich um. Diese Schuhe sehen toll aus, aber gerade fühlen sie sich ziemlich frauenfeindlich an.« Sie rutscht von ihrem Hocker und beginnt, ihre Sachen zusammenzusuchen. »Andererseits scheint es, als hätten wir einige komplementäre Fähigkeiten. Zusammengenommen haben wir ein ziemliches Talent, Menschen von der Bürde ihrer Habseligkeiten zu befreien.«
»Danke, aber nein.« Jakes Miene wird ernst. »Ich dreh keine Partner-Dinger.«
»Oh. Okay. Cool. Ich meine, kein Problem. Ist wahrscheinlich besser so.« Cat nickt. »Ist eigentlich sowieso kein Lifestyle für mich. Ich meine, fühl dich bitte nicht angegriffen, aber ich mache das nur, wenn ich total klamm bin.«
»Scheint häufiger vorzukommen«, bemerkt Jake. »Nichts für ungut.«
»Kein Problem, du hast recht.« Sie streicht ihr Kleid glatt. Jetzt, da das Thema Geld aufgekommen ist, fühlt sie sich sogar noch verlegener als unter Hugos anzüglichen Blicken. »Schon lustig … Nein, nicht lustig, haha, ich meine nur … Du weißt schon. Interessant. Die meisten Leute, die ich kenne, würden bei finanziellen Engpässen einfach Mama oder Papa anrufen, und Sekunden später hätten sie Geld auf ihrem Konto.«
»Klingt für meine Begriffe ziemlich verlockend. Schade, dass das nicht bei jedem von uns funktioniert.«
Cat nickt. Irgendwann hat sie aufgehört mitzuzählen, wie häufig sie schon zum Telefon gegriffen hat, um ihren Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass sie in echten Schwierigkeiten steckt, nur um es sich dann in letzter Sekunde doch anders zu überlegen. Sie weiß, dass er eine zweite Hypothek auf ihre Doppelhaushälfte in Winsford aufnehmen würde, wenn er ihr damit aus der Klemme helfen könnte, und genau deshalb ruft sie ihn nicht an. Er kann es sich genauso wenig leisten, großzügiger zu sein, wie sie selbst.
Allerdings könnte sich das bald ändern.
»Eine Partnerschaft würde wahrscheinlich sowieso nicht funktionieren«, sagt sie zu Jake. »Wahrscheinlich wirst du mich nicht mehr besonders häufig zu Gesicht bekommen. Ich wechsle auf die legale Seite.« Wie zum Beweis holt sie ihr Handy heraus und zeigt ihm den Termin auf dem Startbildschirm. »Punkt acht, Montagmorgen. Ich habe als Freiberuflerin für diese große PR-Firma gearbeitet, und jetzt haben sie mich zu einem Gespräch eingeladen. Ich glaube, dass sie mir eine Stelle anbieten wollen.« Sie sagt das so leichthin, als hätte sie zahlreiche andere Optionen, doch die Wahrheit ist, dass dies zurzeit ihre einzige Chance auf einen Job ist. Das Projekt, an dem sie bisher für Velocity PR gearbeitet hat, neigt sich dem Ende zu, also hat Cat Augen und Ohren nach anderen Gelegenheiten offen gehalten. Vielleicht hat sie sogar in E-Mails gelesen, die zwar nicht unbedingt für sie bestimmt, aber auch nicht verschlüsselt waren, dass Mikhail, der CEO, über längerfristige Verträge für Freiberufler nachdenkt. Nachdem sie also am Freitag nicht gerade beiläufig die Möglichkeit einer erneuten Zusammenarbeit ins Spiel gebracht hatte, war sie begeistert, wenn auch nicht überrascht, als Mikhail vorschlug: »Warum kommst du am Montag nicht schon etwas früher rein? Um acht? Es gibt da etwas, worüber ich gerne mit dir reden würde.« Die gesamte Fahrt zur Hochzeit heute Morgen hat sie damit verbracht, seine Worte im Geiste zu sezieren.
»Glückwunsch«, sagt Jake. »Ich bin mir sicher, dass du dich großartig schlagen wirst.«
»Danke.« Sie lächelt ihn an und wendet sich dann ihrem Handy zu. »O Gott, schon so spät! Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause komme. Was schulde ich dir für den Drink?«
Er winkt mit dem Tuch in der Hand ab. »Geht aufs Haus.«
Cat bedankt sich noch einmal und wankt so anmutig aus der Bar, wie es ihre schmerzenden Füße zulassen.
Auf dem erfreulich kurzen Weg nach Hause denkt sie an Wimpern und Unterarme, obwohl sie sich alle Mühe gibt, es nicht zu tun. Neben der verschwundenen Rolex ist Cat an diesem Abend noch etwas anderes aufgefallen: der goldene Ehering an Jakes Finger, während er mit den drei Männern Karten gespielt hat. Hätte Cat noch enge Freundinnen, dann würden die ihr mit Sicherheit raten, sich nicht auf einen verheirateten Betrüger einzulassen.
So oder so hat das Oceanic seinen Zweck erfüllt. Mit etwas Glück muss Cat nie wieder zum Ende eines Monats schummeln, lügen oder stehlen. Begeistert sie die Aussicht, in den nächsten wie viel Jahren auch immer fünf Tage die Woche Firmenlogos und Infografiken für soziale Netzwerke zu entwerfen? Nicht wirklich. Aber das feste Gehalt und der bezahlte Urlaub wären eine nette Abwechslung.
Vielleicht probiert sie es sogar noch mal mit den Dating-Apps und lernt jemand Nettes, Zuverlässiges kennen, mit dem sie eine dieser Sonntagszeitung-und-Mittagessen-im-Pub-Beziehungen führen kann. Nach Jahren des Jobbens, Bewerbens und immer verzweifelterer Diebstähle, nur um über die Runden zu kommen, hat Cat das Gefühl, dass ihr wahres Erwachsenenleben endlich beginnt.
Am nächsten Morgen fragt sich Cat, ob es wirklich so weise war, den letzten Martini zu bestellen, während sie den Kopf ins Kissen drückt, um den Raum um sie herum daran zu hindern, sich zu drehen. Ein Schlummertrunk wäre nach dem vielen Wein auf der Hochzeit nicht nötig gewesen. Ganz zu schweigen vom Inhalt des Flachmanns, der aus ihrer Handtasche hervorlugt, die neben dem Bett auf dem Boden liegt.
Sie kippt das Glas Wasser auf dem Nachttisch hinunter, dankt ihrem gestrigen Ich für diese kleine Aufmerksamkeit und quält sich aus dem Bett. Sie steigt über das Gewirr aus Kleid und Schuhen und zieht einen Hoodie und Leggings an, bevor sie sich auf den Treppenabsatz wagt. Das Haus ist still, es ist noch früh; wenn sie sich beeilt, kann sie es nach unten schaffen, eine Tasse Tee und Toast machen und in ihr Zimmer zurückkehren, bevor Tom und Alex aufwachen.
»Guten Morgen!«, ruft Tom, als sie die Küche betritt.
Cats Mitbewohner sitzen am Küchentisch vor French Toast, knusprigem Speck und einer Auswahl ziemlich Instagram-tauglicher Beeren. Tom Porter ist ein bekannter Radiomoderator, der letztes Jahr mit unterhaltsamen Beiträgen für Sunday Brunch und The One Show den Sprung ins Fernsehen geschafft hat; sein Freund Alex Georgiou ist ein Arzt, der so schnell wie möglich in eine Privatpraxis gewechselt und damit die Notaufnahme gegen wohlhabende Hypochonder eingetauscht hat.
»Hi«, krächzt Cat, räuspert sich dann und versucht es noch einmal. »Guten Morgen, Leute.«
»Wie war die Hochzeit?«, fragt Alex. »Muss lustig gewesen sein, so spät, wie du zurückgekommen bist. Wir wissen es übrigens zu schätzen, dass du versucht hast, leise zu sein.«
Alex ist normalerweise nicht der passiv-aggressive Typ. Er zieht es vor, einfach nur aggressiv zu sein, obwohl es sich aufgrund seiner nicht einmal 1,80 Meter Körpergröße und seines unglaublich hübschen Gesichts oft so anfühlt, als würde man von einem Chihuahua angekeift. Cat hat auf einer Party mal den Fehler gemacht, ihn scherzhaft »Scrappy-Doo« zu nennen. Danach hat er eine Woche lang nicht mit ihr geredet.
Sie kramt in ihrem Gedächtnis nach Vorfällen während ihrer Rückkehr letzte Nacht. Hat sie versehentlich die Haustür zugeschlagen? Ist sie gegen den ungünstig platzierten Tisch im Flur gestoßen? Die Treppe hochgestolpert?
»Ich habe dich nicht geweckt, oder?«, fragt sie. Das Letzte, was sie gebrauchen kann, ist, den Unmut der beiden auf sich zu ziehen.
»Nein, nein«, beruhigt Tom sie. »Wir waren selbst lange auf und haben uns Häuser auf Immobilienseiten angeschaut.«
»Mhm.« Cat schiebt sich an ihnen vorbei in Richtung Wasserkocher. Tee. Toast. Diese beiden Dinge werden zumindest alle ihre unmittelbaren Probleme lösen.
»Da wir gerade alle hier sind, Cat.« Tom legt Messer und Gabel weg, und Cats Magen zieht sich zusammen. Okay, vielleicht doch nicht alle ihre Probleme. »Wir haben uns gefragt, wie du mit deinen eigenen Recherchen vorankommst?«
Cat lebt inzwischen seit einigen Jahren in Toms und Alex’ Gästezimmer. Ein Wohnarrangement, das als Übergangslösung begonnen hat, zumindest hat sie das damals geglaubt. Davor hat sie mit drei anderen Frauen zusammen in Finsbury Park gewohnt. Drei Mitbewohnerinnen, die im Laufe der Jahre immer wieder wechselten, wenn eine von ihnen mit ihrem Freund zusammen oder wieder nach Hause zog oder auf Reisen ging. Schließlich war die Miete auf ein Niveau angehoben worden, das sich Cat nicht mehr leisten konnte, obwohl sie lediglich für ein Viertel des Betrags aufkommen musste. Das war das erste Mal gewesen, dass sie kurz davorstand, London zu verlassen, doch dann war sie auf irgendeiner Online-Vermittlungsseite für Wohngemeinschaften auf Tom und Alex gestoßen. Ein Paar mit einem Reihenhaus in Angel, das sein Gästezimmer für einen Schnäppchenpreis vermieten wollte. Für den Moment reicht es aus, hatte sich Cat damals gesagt. Bis ich mehr Kunden habe und mir etwas Besseres leisten kann. Das war vor drei Jahren gewesen. Aufträge kamen auch anschließend nur sporadisch rein, und die Träume vom Umzug in eine Wohnung, die zentraler gelegen war, begannen zu verblassen.
Die Wahrheit ist, dass ihr das Zusammenleben mit einem Paar viel besser gefällt, als sie es sich je hätte vorstellen können. Bei ihrem Einzug haben sie ihr das Gefühl gegeben, ganz besonders willkommen zu sein, und ihre gemeinsamen Wein-und-Drag-Race-Nächte waren ein seltenes Highlight in ihrem ansonsten ziemlich terminfreien Gesellschaftskalender. Im Gegenzug tut sie ihr Bestes, um eine ruhige, ordentliche Untermieterin zu sein, die nur dann von zu Hause aus arbeitet, wenn sie nicht genug Kleingeld für einen Filterkaffee bei Starbucks zusammenkratzen kann. Die Wohnsituation ist nicht optimal, aber Cat kann damit leben. Sie ist nichts anderes gewohnt.
Dann, vor ein paar Monaten, haben sich Tom und Alex mit ihr hingesetzt und ihr mit großen und vor Freude glasigen Augen erzählt, dass sie ein Adoptionsverfahren einleiten wollten. Davor wollten sie jedoch in ein größeres Haus ziehen, das etwas weniger zentral lag. Cat hätte bis September Zeit, eine neue Bleibe zu finden.
»Ich bin dran«, sagt sie zu Tom und gießt ihren Tee auf. »Eigentlich sollte ich diese Woche noch von ein paar Vermietern Rückmeldung bekommen.«
»Das ist großartig!«, ruft er. »Sehr gut.«
Okay, in Wahrheit hat Cat noch keinen einzigen Vermieter kontaktiert. Bei ihren Recherchen im Internet hat sie bisher nur Sachen gefunden, die entweder unerschwinglich teuer waren oder aus der Kulisse eines Horrorfilms zu stammen schienen. Inzwischen ist es Juli, und ihr bleiben weniger als zwei Monate Zeit, um eine neue Wohnung zu finden. Ohne Geld für eine Kaution und ohne Nachweis über ein regelmäßiges festes Einkommen. Das reicht aus, um sie an ihre Couchsurfingzeiten nach ihrem Umzug nach London zu erinnern, als die Leute noch nichts dagegen hatten, ihr für ein paar Tage oder sogar Wochen kostenfrei ihr Wohnzimmer zur Verfügung zu stellen, wenn sie selbst nicht in der Stadt waren. Cat hat später, in der Wohnung in Finsbury Park, das Gleiche für die Freundin einer Freundin getan, als diese eine Trennung durchmachte und eine Bleibe brauchte. Der Stress und die Unsicherheit, die damit einhergehen, sich als junge Berufstätige in der Großstadt zurechtzufinden, haben ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen. Ein bisschen hat es sogar Spaß gemacht. Sobald man auf die dreißig zugeht, hat es jedoch eher etwas Erbärmliches, wenn man Freunde darum bittet, auf ihrem Sofa schlafen zu dürfen. Und selbst wenn Cat sich überwinden würde, ihren Stolz hinunterzuschlucken, kennt sie gar nicht mehr besonders viele Leute in London. Susie und Johnny vielleicht? Nein. Das Zusammenleben mit einem Paar ist eine Sache. Das Zusammenleben mit Frischverheirateten ist ausgeschlossen.
Ich will wirklich, wirklich nicht Dad anrufen müssen, denkt sie. Als Bittstellerin bei ihm auf der Matte zu stehen wäre fast genauso demütigend, wie auf dem Futon ihrer verheirateten Freunde zu übernachten.
Aber das ist okay. Cat hat einen Plan. Sie muss sich morgen nur diesen Designjob sichern. Ein Gehalt verhandeln, das für Kaution und Miete ausreicht. Das wird sie als Mieterin attraktiver machen, und dann kann sie sich eine Wohnung suchen, die sie sich hoffentlich nur mit einer Person teilen muss. Idealerweise mit jemandem, mit dem man Spaß haben kann. Jemand mit coolen Freunden. Vielleicht sogar mit ein paar Singlebekannten.
Aber sie greift vor. Eine Hürde nach der nächsten. Angefangen bei ihrem Kater.
Cat erscheint um Punkt acht Uhr zu ihrem Termin bei Velocity PR. Sie ist seit sechs auf den Beinen, um sich die Haare zu föhnen und die Liste mit Ideen durchzugehen, die sie für das Gespräch vorbereitet hat, um zu zeigen, was für ein Gewinn sie für das Unternehmen sein kann. Mach dich unentbehrlich. Zeig ihnen, dass sie sich auf dich verlassen können.
Cat ist nicht naiv; schon vor ihrem Umzug nach London war ihr klar, dass es nicht möglich sein würde, von Anfang an als professionelle Künstlerin ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Also hat sie es zunächst mit Grafikdesign versucht und hielt sich für ziemlich fleißig – bis sie herausfand, dass sie nicht die einzige junge Absolventin in Bildender Kunst ist, die diese Idee hatte. Alles gut, dachte sie. Ich werde damit etwas Geld verdienen und in meiner Freizeit an meinen Skizzen arbeiten. Es schien so einfach.
Sie hat nicht damit gerechnet, sich fast ein Jahrzehnt später noch immer in der gleichen Position zu befinden, in der sie sich von großen Markenprojekten bis hin zur Fleißaufgabe um so ziemlich jeden Pitch bewirbt. Schlimmer noch, inzwischen konkurriert sie mit Leuten, die jünger, weniger abgestumpft und bereit sind, für weniger Geld zu arbeiten. Doch das wird sich heute ändern, hat Cat entschieden. Sie ist die Herrin über ihr Schicksal. Eine Frau der Tat mit, wie ihre Mutter vielleicht gesagt hätte, Grips.
Mikhail, der Geschäftsführer von Velocity, ist ein außergewöhnlich fröhlicher Fünfundzwanzigjähriger mit einer federnden Stirnlocke und schmalen Lippen. Er ist der Typ Mann, der nur ein Software-Upgrade davon entfernt ist, gut aussehend zu sein. An diesem Morgen trägt er einen Kapuzenpulli und eine an den Knöcheln gekrempelte Jeans, aber Cat ist sich bewusst, dass die wahrscheinlich genauso viel – wenn nicht mehr – gekostet haben wie der orangefarbene Hosenanzug, den sie trägt. Sie hat monatelang gespart, um ihn sich leisten zu können, und ihn inzwischen so häufig getragen, dass der Stoff an den Ellbogen leicht glänzt.
»Kittycat«, sagt Mikhail und begrüßt sie mit einer Umarmung. »Es ist viel zu lange her, seit wir dich das letzte Mal gesehen haben. Hast du dir schon einen Kaffee genommen? Einen Gemüsesaft? Gebäck? Obst?«
»Es ist toll, mal wieder hier zu sein«, erwidert sie. »Und nein, ich möchte nichts, vielen Dank.« Ihre schwitzigen Handflächen und das nervöse Gefühl in ihrer Magengegend sind klare Anzeichen dafür, dass sie heute Morgen schon mehr als genug Koffein zu sich genommen hat.
»Okidoki«, sagt Mikhail strahlend, »du kommst sofort zur Sache, das schätze ich an dir. Wollen wir in mein Büro gehen?«
Sobald sie Platz genommen haben, erläutert Cat ihre Ideen und listet die vielen Möglichkeiten auf, mit denen sie nicht nur bereit, sondern begeistert bereit wäre, mehr Aufträge zu übernehmen. Anschließend erörtert sie ihm, wie das Unternehmen Geld sparen könnte, wenn es Cat statt auf Stunden- auf Vorschussbasis für bestimmte Projekte bezahlen oder sie vielleicht sogar auf Teilzeitbasis ins Haus holen würde, und …
»Wenn ich dich kurz unterbrechen darf«, sagt Mikhail und hält einen Finger hoch. »Das klingt alles ganz toll. Du hast dir offensichtlich einige Gedanken gemacht, und ich bewundere deinen Fleiß. Das tue ich wirklich, Kittycat. Tatsächlich erinnerst du mich sehr an mich selbst.«
Cat lächelt und versucht, sich nicht über den Spitznamen zu ärgern oder sich von diesem Mann, der fünf Jahre jünger ist als sie, herablassend behandelt zu fühlen.
»Ich fürchte nur, wir befinden uns noch in keinem Stadium, in dem wir eine interne Stelle in Betracht ziehen«, fährt Mikhail fort.
»Oh. Okay. Kein Problem. Einen Versuch war es immerhin wert. Dann lass uns einfach über dieses neue Projekt sprechen.«
»Projekt?« Mikhail legt den Kopf schief.
»Ja. Weswegen ich heute herkommen sollte.«
»Ah.« Seine charakteristische Fröhlichkeit hat einen Dämpfer erhalten. »Es ist so, Cat. Wir sind gerade dabei, uns vorübergehend zu verkleinern. Das derzeitige Wirtschaftsklima, du weißt schon. Die Leute stellen einfach kein Budget mehr für maßgeschneiderte PR-Lösungen bereit. Wenn du mich fragst, ist das ziemlich kurzsichtig gedacht. Was wollen die machen, wenn es wieder aufwärtsgeht und alle vergessen haben, wer sie sind? Aber wie auch immer. Ich wollte, dass du als Erste erfährst, dass wir ab dieser Woche eine Menge unwichtigere Designarbeiten an unabhängige Auftragnehmer rausgeben.«
»Das klingt gut«, sagt Cat. »Ich …«
»Über Tenner«, fügt Mikhail hinzu.
Ihr erster Gedanke ist, dass er einen Scherz macht. Schließlich ist Tenner für alle Freelancer, die ihr Geld wert sind, ein Witz: eine App, auf der man alle möglichen kreativen und digitalen Dienstleistungen – Logodesign, Texterstellung, Fotoshoots, Videobearbeitung – für zehn Pfund pro Auftrag einkaufen kann.
»Meinst du das ernst?«, fragt sie ungläubig. »Tut mir leid. Ich meine … Ernsthaft? Was denkst du dir dabei?«
»Wir denken«, sagt Mikhail mit zusammengepressten Lippen, »dass das Unternehmen dadurch in den nächsten sechs Monaten mehr als zweihunderttausend Pfund einsparen wird. Steht in deiner Mappe irgendetwas, das dem Unternehmen auch nur die Hälfte dieser Summe einsparen könnte, Catherine? Denn wenn dem so ist, dann höre ich mir die Idee sehr gerne an.«
Die Verwendung ihres vollen Namens bringt den Topf mit ihrer bereits brodelnden Frustration zum Überkochen. Der Mann, der letztes Jahr fast fünf Riesen für einen für eine einzige Kampagne benötigten 3-D-Drucker ausgegeben hat, nur weil er das tollste Spielzeug haben wollte, fordert sie tatsächlich auf, ihr Honorar zu rechtfertigen, das sie in den letzten zwei Jahren nicht angehoben hat, weil sie Angst hatte, dass genau das passieren würde, was in diesem Moment passiert?
»Das hättest du mir auch in einer E-Mail zusammenfassen können«, sagt sie und tut ihr Bestes, um einen neutralen Ton anzuschlagen.
»Wie bitte?« Mikhail runzelt verwirrt die Stirn.
»Ich verstehe nicht, warum du mich an einem Montagmorgen um acht Uhr in dein Büro bestellst, nur um mir zu sagen, dass du mich nicht mehr brauchst. Das hättest du genauso gut mit einer Mail erledigen können. Oder mit einem Anruf.«
»Auf keinen Fall. Das ist nicht unsere Art. Wir sind schließlich eine Familie. Es war richtig, dir das von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen. Das ist das Mindeste, nachdem du so lange für uns gearbeitet hast.«
Erschreckenderweise scheint er das wirklich zu glauben. Und ja, Cat hatte ebenfalls das Gefühl, dass sie eine Art Familie sind: In den letzten Wochen hat sie häufiger mit Velocity telefoniert als im ganzen letzten Jahr mit ihrem Vater. Sie hat sich daran gewöhnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit E-Mails zu bekommen und unverhältnismäßige Projektanfragen anzunehmen, die sie sich nie getraut hat abzulehnen. Sie ist davon ausgegangen, dass auch das etwas zählt. Dass sie, indem sie Bereitschaft gezeigt hat, jederzeit erreichbar war und ihren Frust für sich behalten hat, bewiesen hat, dass sie eine Teamplayerin ist. Doch in diesem Moment wird ihr klar, dass sie etwas ganz anderes war – ein Trottel.
»Bei Tenner bekommt man keine Arbeit in der gleichen Qualität«, sagt sie. »Ich weiß, das klingt, als würde ich nur meinen Hintern retten wollen, aber es stimmt. Dahinter verbergen sich irgendwelche Content-Farmen in Delhi und Teenager in ihren Kinderzimmern.«
Sie merkt eine Sekunde zu spät, dass sie einen Fauxpas begangen hat. Mikhail, erinnert sie sich, hat ihr bei ihrem Kennenlernen stolz erzählt, dass er diese Firma mit achtzehn Jahren am Küchentisch seiner Eltern gegründet hat. In diesem Moment ist sein Gesichtsausdruck beinahe etwas mitleidig. Als würde er ein geliebtes Haustier ansehen, das inkontinent geworden ist.
»Die Wahrheit ist«, sagt er, »dass Qualität bisher das Problem war.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, du erfüllst immer den Auftrag, aber …«
»Aber was?«
»Einige deiner letzten Projekte mussten wir von anderen Designern überarbeiten lassen, weil sie, wie drücke ich das am besten aus … nicht besonders ordentlich ausgeführt waren.«
»Wie bitte?«, fragt Cat verblüfft.
»Mir ist bewusst, dass das nicht immer so war«, fährt er fort. »Aber mit dem Niveau, auf dem du inzwischen arbeitest, sind wir ehrlich gesagt schon lange nicht mehr wirklich zufrieden. Zum Teil wirken deine Arbeiten ziemlich uninspiriert. Wenn ich eine Vermutung anstellen sollte, würde ich sagen, das Problem liegt in der Leidenschaft. Oder einem Mangel daran. Diese Umstrukturierung kommt zu einem guten Zeitpunkt.«
»Ach ja?«
»Ja. Schau doch mal, damit hast du endlich die Freiheit zu tun, was ich auch meinem Team immer wieder rate: deinen wahren Traum zu leben!«
»Grafikdesign ist meine Leidenschaft.«
»Dann lass mich das noch mal anders formulieren. Finde etwas, das dir Spaß macht … und worin du gut bist.«
Cat weiß nicht, was sie darauf erwidern soll, und ist von Mikhails freundlicher Hinrichtung ihres einzigen marktfähigen Talents so überrumpelt, dass sie auf sein Stichwort zum Ende des Meetings und ihrer Geschäftsbeziehung hin aufsteht.
»Dir stehen aufregende Zeiten bevor, so viel kann ich dir sagen.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Die Welt liegt dir zu Füßen. Du kannst dich unglaublich glücklich schätzen. Ich bin beinahe ein bisschen neidisch!«
Sie sieht auf seine Hand, immer noch vollkommen schockiert, was Mikhail eventuell als unangemessenes Verhalten seinerseits interpretiert. Hastig zieht er seine Finger zurück, bevor er ihr noch einmal alles Gute wünscht und sie sanft aus seinem Büro bugsiert.
Zumindest in einer Hinsicht schätzt sich Cat tatsächlich glücklich: Sie fängt nicht an zu weinen, bis sie im Aufzug steht und sich die Türen hinter ihr geschlossen haben. Was zur Hölle ist gerade passiert? Als sie die Lobby erreicht, sind die ersten Tränen Wut gewichen. Wenn ihre Arbeit so schlecht war, dass sie »überarbeitet« werden musste, warum hat ihr das dann nie jemand gesagt? Warum wurde ihr keine Möglichkeit gegeben, sich zu verbessern? Warum hat man sie nicht darüber aufgeklärt, was sich der jeweilige Kunde genau vorstellt? Die Antwort, das erkennt sie jetzt, ist simpel. Mi-khail hat gelogen oder zumindest die Wahrheit verschleiert, um sich als geduldiger, wohlwollender Arbeitgeber darzustellen und ein unangenehmes Gespräch schnellstmöglich zu beenden. Sie wurde dazu verleitet, ihre eigene Überflüssigkeit gelassen hinzunehmen.
Und ich dachte, ich wäre die Betrügerin.
In der Lobby legt Cat einen kurzen Stopp ein, um ihr Make-up zu überprüfen, wobei sie schockiert feststellt, dass es keine äußeren Anzeichen für die seismische Veränderung gibt, die gerade in ihrem Leben stattgefunden hat und ihre einzige verbleibende Aussicht auf ein rechtschaffenes Dasein nivelliert.
Sie erwischt den Wachmann am Empfang dabei, wie er sie misstrauisch beäugt, und fragt sich, ob Mikhail ihn angerufen hat, um sicherzustellen, dass sie das Gebäude verlässt, ohne eine Szene zu machen. Sie schenkt dem Mann ihr gewinnendstes Lächeln, lässt ihre Schlüsselkarte mit der deutlichen Aufschrift »Gast« vor ihm auf den Tisch fallen und zeigt ihm diskret den Mittelfinger, während sie durch die Drehtür nach draußen tritt.
Anschließend steht sie auf einer überfüllten Straße und ist fast überrascht, dass die Stadt noch genauso aussieht wie vor einer halben Stunde, als sie das Gebäude betreten hat. Hunderte von Menschen eilen an ihr vorbei, starren sie an oder raunzen in Handys und beeilen sich, um bis neun Uhr an ihren Schreibtischen zu sitzen. Wirklich unsensibel von ihnen, ihr das dermaßen unter die Nase zu reiben. Kapieren diese Leute nicht, wie absolut am Arsch sie ist?
Cat tritt in den Menschenstrom und lässt sich von ihm bis zur nächsten U-Bahn-Station tragen. Als sie ihr Handy über die kontaktlose Bezahlschranke hält, fragt sie sich, wie lange es wohl noch dauert, bis das nicht mehr funktioniert, und nimmt die Rolltreppe nach unten. Beinahe unbewusst, aus einer Kombination von Langeweile und Gewohnheit heraus, tut sie das, was niemand mit gesundem Menschenverstand tun sollte, wenn er Aufmunterung braucht. Sie öffnet Instagram.
Hier im Untergrund, wo zwischen ihr und dem nächsten Funkturm mehrere Schichten Beton und Stahl liegen, lädt die App nicht. Was wahrscheinlich auch besser ist. Sie steigt in ihren Zug und starrt auf das Display, versucht, ihren Feed zu aktualisieren, während sie dieser runde Pfeil dazu auffordert, es immer wieder zu probieren, obwohl es offensichtlich sinnlos ist. Cat steht vielleicht unter Schock, aber die metaphorische Bedeutung des Ganzen entgeht ihr nicht.
Die Seite beginnt sich aufzubauen, als der Zug in einen Bahnhof mit öffentlichem WLAN