Liebe und Verlust - Black Heart Chroniken 4 - Kim Leopold - E-Book

Liebe und Verlust - Black Heart Chroniken 4 E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Wie viel würdest du für ein Leben in Sicherheit geben? Ivans Entschluss hat nicht nur schwere Konsequenzen für Alex und Lotta, sondern bringt höchst brisante Geheimnisse ans Tageslicht. Während der magische Rat die Ermittlungen einleitet, kämpfen Freunde und Verbündete für die Liebe. Doch dann stürzen die Magie und eine uralte Fehde alles erneut ins Chaos. Am Ende bleibt nur noch eine Frage: Wie hoch ist der Preis für ein Leben in Sicherheit? Ein Kampf in Zeiten der Dunkelheit, eine uralte Fehde und die Magie, die ihre ganz eigenen Spielregeln macht – Das großen Finale der mitreißenden Urban-Fantasy-Reihe!

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Liebe und Verlust

Black Heart Chroniken 04

 

 

Kim Leopold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Black Heart 13

Der Weg des Schicksals

 

[was bisher geschah]

 

1448 - Nachdem die Hexe Ichtaca ihren Vater von seiner tödlichen Krankheit geheilt hat, holt man sie in den Tempel, wo sie bald einem Gott geopfert werden soll. Ihr bester Freund und Geliebter Nanauatzin sucht nach einer Lösung, um sie zu befreien, und stößt dabei auf eine Magica, die auf der Durchreise ist.

 

2018 - Mikael und Farrah suchen den Cirque de la Sorcellerie auf, um dort Hilfe von Adele zu bekommen. Diese ist jedoch am Palast der Träume, um ihrer Tochter Hayet nach dem Angriff beizustehen. Mikael und Farrah nutzen die Gelegenheit und sehen sich eine Vorstellung des Cirque an, bevor sie von dort aus zum Palast weiterreisen.

 

Im Palast der Träume nimmt Emma die Redeposition im Rat an sich und manövriert die neuen Mitglieder durch die Wahlen. Zwischen Tür und Angel bricht sie den Bann, der Gestaltwandler vom Palast fernhalten soll, um ihre Freunde Mikael und Willem wieder hineinlassen zu können.

 

In der Zwischenzeit geraten Alex und Lotta in Panik, weil der Rat Zugriff auf Tyros’ Tagebuchaufzeichnungen hat und sich darin ein Hinweis auf Alex’ verbotene Beziehung zu Louisa finden könnte. Sie beschließen, die beiden leblosen Körper von Louisa und Ivan an einen anderen Ort zu schaffen, doch das geht gründlich schief.

 

[prolog]

Ichtaca

Norwegen, 1448

 

Ich tauche aus einem Strudel von Farben auf, die sich bald zu Gegenständen formen. Gegenständen, die sich bewegen, hin und her, langsam, als hätte ich zu viel Wein getrunken. In meinen Ohren rauscht es, und in dem Moment, in dem ich festen Boden unter den Füßen spüre, verliere ich den festen Halt an meiner Hand. Ich sinke auf die Knie und unterdrücke schwer atmend ein Würgen.

Was für eine Art zu reisen.

Es dauert eine Weile, bis ich mich so weit gefasst habe, dass ich mich umschauen kann. Nanauatzin kniet mir gegenüber. Er ist blass im Gesicht und wischt sich mit einem Arm über die Mundwinkel. Seine braunen Augen suchen mein Gesicht ab.

»Ist alles in Ordnung, Taca?« Seine Stimme ist kratzig und jagt mir einen Schauder über den Rücken.

Ich nicke und sehe mich nach der Magica um, doch sie ist verschwunden. »Wo sind wir?«

Nanauatzin zuckt mit den Schultern und blickt sich ebenfalls um. Wir sitzen in einer kleinen Hütte, die so unterschiedlich zu den Steinbauten in Mechtatitlan ist, dass mir ganz komisch wird. Hier ist so viel Holz und kein einziges Fenster, es sei denn, diese sind hinter den schweren Wandbehängen verborgen.

In einer Ecke liegen Decken und Kissen auf dem Boden und bilden ein gemütlich aussehendes Nachtlager, auf der anderen Seite gibt es eine kleine Kochnische und einen Tisch, an dem man sitzen kann. Den meisten Platz nimmt die große Feuerstelle ein, in der bereits ein Feuer lodert.

Ich wiederhole meine Frage: »Wo sind wir?«

»In Sicherheit«, erwidert Nanauatzin ernst und steht auf. Er reicht mir eine Hand, und ich nehme sie zögernd an, um mir auf die Beine helfen zu lassen.

Meine Knie zittern immer noch, während ich die Nacht Revue passieren lasse. So fest habe ich damit gerechnet, den Morgen nicht mehr zu sehen. Und dann taucht er auf, mein Held in der Nacht, an seiner Seite eine Magica, deren Berührung mich in einen Strudel voll Farben zieht.

Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich verstehe nicht, was geschehen ist. Wo sind wir? Was ist passiert? Und wo ist die Magica hin?

»In Sicherheit?«, frage ich argwöhnisch nach und gehe zur Wand, um einen der Teppiche zur Seite zu schieben.

Ich erstarre. »Was zum …?«

Wie vermutet befindet sich dahinter ein Fenster. Es ist die Welt dahinter, die mich zutiefst erschreckt. »Wieso ... wieso ist das alles weiß?«

»Hm?« Nanauatzin kommt zu mir und schaut ebenfalls hinaus. Ich spüre sein Erschaudern in meinem Rücken.

Es ist dunkel draußen, am Himmel stehen die Sterne und ein großer, voller Mond. Doch den bräuchte es überhaupt nicht, denn die Welt ist von einem so satten Weiß, dass alles hell ist.

»Was ist das?«, wispere ich nervös. So etwas kenne ich aus Mechtatitlan nicht.

»Ich glaube, das ist Schnee«, entgegnet Nanauatzin. »So sieht zumindest der Wipfel des Iztaccíhuatl aus.«

»Aber wir sind nicht auf einem Berg, oder?« Ich lasse den Wandbehang fallen und eile durch den Raum, um auch aus den anderen Fenstern zu blicken. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen, aber auch kein Abhang. »Sieht nicht so aus.«

»Ich weiß nicht, wo wir sind.« Nanauatzin legt etwas Feuerholz nach. »Ich weiß nur, dass die Magica uns Sicherheit versprochen hat. Hier wird dich keiner wegen deiner Kräfte den Göttern opfern wollen, Taca.«

Ich lasse seine Worte auf mich wirken, kann immer noch nicht glauben, dass er mich tatsächlich fortgebracht hat. Dass wir hier sind, fernab von der Zeremonie, die mich mein Leben gekostet hätte. Wie ...?

Nanauatzin tritt auf mich zu und hebt eine Hand, um eine lose Strähne von meiner Wange zu streichen. Am liebsten würde ich mein Gesicht in seine Handfläche schmiegen, doch ich erinnere mich noch zu genau daran, dass er dabei zugesehen hat, wie ich aus meinem Haus gerissen wurde.

Ich mache einen Schritt zurück und sehe, wie ihm meine Reaktion das Herz bricht.

»Ich ... ich bin müde«, lüge ich und deute aufs Bett. »Lass uns schlafen. Morgen früh können wir die Gegend erkunden.«

Er nickt mit zusammengepressten Lippen, lässt mich aber in Ruhe mit meinen widerspenstigen Gefühlen. Ich wünschte, ich könnte Nanauatzin verzeihen und mich darüber freuen, dass wir hier gelandet sind. Aber das kann ich nicht.

Noch nicht.

Also flechte ich mir in aller Ruhe die Haare neu, bevor ich mich auf unsere neue Bettstatt niederlasse und in die Kissen kuschle. Es ist warm und riecht nach Feuerholz und Natur.

Nach Sicherheit.

 

 

Es dauert einen ganzen Mondzyklus, bis das nagende Gefühl in meiner Magengrube verschwindet, wann immer Nanauatzin versucht, mir näherzukommen. Mittlerweile haben wir herausgefunden, dass wir uns in einem Land befinden, welches man Norwegen nennt. Hier ist es kalt und dunkel, aber die Dorfbewohner, die etwas abseits wohnen, sind freundlich und zuvorkommend.

Es ist, als hätten wir schon immer hier gewohnt.

Niemand stellt Fragen, niemand wundert sich darüber, dass wir so anders aussehen mit unserem dunklen Haar und der gebräunten Haut.

Doch es hat auch noch niemand mein Leuchten gesehen – und ich versuche, es so gut wie ich kann, vor ihnen zu verbergen. Es wird jedoch immer schwieriger, denn die Kräfte in mir wachsen mit jedem Tag weiter an.

Dass unser neues Zuhause noch nicht in Flammen aufgegangen ist, grenzt an ein Wunder.

»Du solltest lernen, damit umzugehen«, sagt Nanauatzin ernst, wenn er mitbekommt, wie die Kräfte unkontrolliert aus mir hervorbrechen. Ich weiß, er hat recht, aber ich habe doch keine Ahnung, wie ich etwas so Mächtiges jemals beherrschen soll – und so speise ich ihn jedes Mal mit einer schwachen Ausrede ab, während ich zu verbergen versuche, wie viel Angst mir das einjagt.

Nach dem Frühstück reicht mir Nanauatzin plötzlich meine neuen Stiefel. »Hier, zieh dich an.«

»Was? Warum?« Verwirrt nehme ich sie entgegen und schlüpfe hinein. Sie sind dick gefüttert und fühlen sich immer noch ungewohnt an meinen Füßen an, bin ich in Mechtatitlan doch die meiste Zeit barfüßig gelaufen. »Wohin gehen wir?«

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Er lächelt mich warm an, und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie er so viel Geduld mit mir haben kann. »Es wird dir mit Sicherheit gefallen.«

Er schlüpft in seine eigenen Stiefel und wirft sich ein warmes Fell über den Rücken, bevor er mir meins reicht. Ihn so warm angezogen zu sehen ist ebenfalls immer noch ungewohnt. Er sieht aus wie einer der Jäger aus dem Dorf, die uns gelegentlich Felle, Fleisch und Leder verkaufen.

Draußen ist es kalt. Der Schnee der letzten Tage hat sich zu riesigen Bergen aufgetürmt, doch heute ist der Himmel vergleichsweise ruhig. Wir marschieren in eine Richtung, die ich noch nicht kenne. Im Gegensatz zu mir hat Nanauatzin die letzten Tage genutzt, um die Gegend zu erkunden. Mir war es dafür oft zu kalt und ungemütlich, aber wenn ich die Dorfbewohner richtig verstanden habe, ist der Winter bald vorbei.

Wir laufen eine ganze Weile durch den tiefen Schnee, vorbei an immergrünen Bäumen, die sich relativ bald lichten und einer großen, freien Fläche Platz machen.

Ich bleibe stehen, weil ich so sehr mit der Aussicht beschäftigt bin, dass ich kaum auf meine Füße achten kann. Es ist atemberaubend.

Wasser und Eis, in allen erdenklichen Weiß- und Blautönen. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.

»Wunderschön, nicht wahr?« Nanauatzin kommt zu mir zurück. In seinen Augen steht ein Funkeln, das der Natur Konkurrenz machen könnte. »Im Dorf nennt man das Breen.«

»Breen? Das Wort wird der Schönheit gar nicht gerecht«, murmle ich und gehe ein paar Schritte weiter, um noch mehr von dieser Naturgewalt in mich aufzunehmen. Auf der anderen Seite des Wassers befindet sich ein riesiger Berg aus Eis. Ich bezweifle, dass selbst der stärkste Krieger dieser Welt ihn bezwingen könnte.

Je weiter ich mich aufs Eis hinauswage, umso mehr spüre ich die Natur auch in mir. Es ist, als würde mein Leuchten auf den Zauber reagieren, der im Eis innewohnt.

»Spürst du das auch?«, frage ich dennoch sicherheitshalber nach. »Dieses Summen in dir?«

Nanauatzin schüttelt lächelnd den Kopf. »Das ist ganz allein deine Kraft, Taca. Versuch, sie zu benutzen.«

»Wie denn?« Unsicher hebe ich die Hände vor meine Augen und überlege, was ich ausprobieren könnte. Ich habe schon Feuer wie aus dem Nichts erschaffen und einen Sturm, der einen Baum entwurzelt hat. Aber das waren Versehen. Nichts davon habe ich wirklich gewollt.

»Nun, ein Feuer würde sich hier nicht ausbreiten«, schlägt Nanauatzin vor und zieht ein paar Holzscheite aus seinem Beutel. Erst da wird mir klar, dass er von Anfang an geplant hat, mich mit meinen Kräften zu konfrontieren.

Aber statt mich über ihn zu ärgern, füllt sich mein Herz mit Wärme. Er würde mich niemals aufgeben.

Zögernd nehme ich einen Holzscheit entgegen und halte ihn ausgestreckt vor mir in die Luft. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, also schließe ich einfach die Augen und konzentriere mich auf das Summen in mir. Es wird lauter, schwillt an, bis mir davon beinahe schwindelig wird. Erst da stelle ich mir vor, wie das Holz in meinen Händen zu brennen beginnt.

Ein leises Knistern. Als wenn man es an der Feuerstelle entzündet. Ein Knacken. Wärme, die durch meine eiskalten Fingerspitzen gleitet. Kleine Flammen, die sich an meinen Handflächen emporschlängeln.

»Taca!« Nanauatzins alarmierte Stimme dringt zu mir durch, und ich öffne die Augen. Mit einem leisen Schrei werfe ich das brennende Holzscheit vor mir auf das Eis und falle auf die Knie, um die Flammen an meinen Händen im Schnee zu ersticken.

Mein Herz rast.

»Bist du in Ordnung?« Nanauatzin hockt sich neben mich und berührt mich an der Schulter. »Das ging so schnell.«

»Es ist alles gut«, stelle ich verwundert fest und betrachte erstaunt meine unversehrten Hände. Das Feuer hat keine Spuren hinterlassen. »Es tat nicht weh.«

Ich sehe ihn mit großen Augen an, und wir müssen beide lachen. Es ist das erste Mal, seit wir in Norwegen sind, dass sich die Schwere in meinem Herzen löst.

 

 

Von da an wird es Tag für Tag besser. Immer häufiger kehren wir zum Breen zurück, um dort in Ruhe mit meinen Kräften zu arbeiten. Sie wachsen an, lassen sich aber auch besser beherrschen. Die Unfälle in der Hütte werden weniger, dafür kann ich mein Leuchten nun auch benutzen, um unsere Feuerstelle zu entzünden, nachdem wir den ganzen Tag im Dorf gewesen sind, oder das Essen warm zu halten, wenn Nanauatzin länger auf der Jagd braucht, als ich vermutet habe.

Der Schnee wird merklich weniger, und auch die Jagden sind häufiger erfolgreich. Ob es daran liegt, dass die Tiere zurück in die Wälder kehren oder daran, dass Nanauatzin mehr Übung hat, weiß ich nicht.

Wir verstehen immer mehr von der Sprache, die man hier spricht, und schließen die ersten Freundschaften. Manchmal bleiben wir sogar bis zum Einbruch der Dunkelheit und trinken etwas mit den anderen, bis Nanauatzin uns zum Gehen ermahnt, damit wir auf dem Rückweg nicht Opfer wilder Tiere werden.

Ich habe das Gefühl, seit wir in Norwegen sind, hat sich unsere Beziehung zueinander verändert. Er ist nicht mehr der große Krieger, der er in Mechtatitlan gewesen ist, und ich bin nicht mehr das junge Mädchen, das für ihn schwärmt. Nein, wir sind erwachsen geworden und leben wie Mann und Frau auf engstem Raum zusammen – nur, dass wir uns nicht wie Mann und Frau verhalten, sondern umeinander rumtänzeln, aus Angst, einander zu verletzen.

Eines Tages im Frühling nimmt er mich wieder mit auf Wanderschaft. Entgegen meiner Erwartungen gehen wir nicht den üblichen Weg zum Breen, sondern schlagen uns weiter durch die Wälder. Mein Herz flattert, während ich rätsle, wo er mich dieses Mal hinführt. Auf meine Fragen bekomme ich bloß dieses geheimnisvolle Lächeln, das er mir immer dann schenkt, wenn er eine Überraschung für mich hat.

»Es ist nicht mehr weit«, verspricht er mir – und tatsächlich: wenige Augenblicke später lichtet sich der Wald und macht Platz für eine weite Fläche, auf der sich der letzte Schnee mit dem Grün der Wiesen abwechselt. Zwischendrin befinden sich ein paar kleinere Seen, manche davon bloß so groß wie unsere Hütte.

Und sie dampfen.

»Was ist das?«, frage ich argwöhnisch.

Nanauatzin dreht sich zu mir um und grinst breit. »Das, meine liebe Taca, wird dein nächstes Bad.«

Er nimmt meine Hand und zieht mich über die Wiese, bis hin zu dem See, der uns am nächsten ist. Dort angekommen legt er seinen Beutel und das Fell ab, bevor er fröstelnd aus seiner Kleidung schlüpft.

»Was tust du da?«, frage ich panisch und wende beschämt den Blick ab, als er auch seine Hose fallen lässt. Hitze steigt mir in die Wangen, und obwohl ich die Augen schließe, fällt es mir schwer, das Bild seines starken Körpers aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Es plätschert laut. »Na los, komm rein. Es ist herrlich!«

»Was?« Schockiert drehe ich mich um und blinzle durch meine Finger hindurch. Nanauatzin ist tatsächlich in den See gestiegen und schwimmt entspannt auf dem Rücken. Er beobachtet mich belustigt. »Ist das nicht sehr kalt?«, frage ich ihn kritisch.

»Fühl doch mal.«

Immer noch skeptisch trete ich näher ans Ufer und hocke mich hin, um meine Hand ins Wasser zu halten. Es ist verdammt warm. So warm, dass man gut darin baden könnte.

»Das gibt’s doch nicht«, wispere ich verblüfft. »Dreh dich um. Na los, ich will nicht, dass du mir etwas wegguckst.«

Nanauatzin lacht, dreht sich aber tatsächlich um. Ich lege meine Kleidung so schnell wie möglich ab, denn außerhalb des Wassers ist es wirklich frisch. Dann hocke ich mich ans Ufer, um mich ins Wasser gleiten zu lassen.

Das Gefühl ist unbeschreiblich. So lange war ich nicht mehr in der freien Natur baden. Mich immer nur an dem nahegelegenen Bach zu waschen, ist einfach nicht das Gleiche.

»Bei den Göttern, tut das gut«, japse ich und mache ein paar Züge durch das warme Wasser. Es ist sogar noch schöner als der Fluss in Mechtatitlan, denn es zerrt nicht an den Gliedern, sondern erwärmt die Haut und das Herz. »Ich glaube, ich habe meinen neuen Lieblingsort gefunden.«

Nanauatzin dreht sich um und lächelt mich an. »Ich wusste, du würdest es lieben.«

»Und wie.« Eine Welle der Dankbarkeit überrollt mich und treibt mir beinahe die Tränen in die Augen.

Wir albern eine Weile ausgelassen herum und genießen die Natur, die uns diesen Moment überhaupt erst ermöglicht. Ich bespritze Nanauatzin mit Wasser, bis er meine Hand abfängt und mich an sich heranzieht.

»Taca«, beginnt er und legt meine Hand auf seinem Herzen ab. Ich spüre den beschleunigten Herzschlag, als wäre es mein eigener. Seine braunen Augen suchen mein Gesicht nach einem Zeichen der Ablehnung ab, doch heute findet er es nicht. Heute habe ihm endlich verziehen.

 

[1]

 

Moose

Österreich, 2018

 

Ein Schrei reißt mich aus dem Schlaf. Ich schlage die Decke zurück und lausche mit rasendem Herzen in die Dunkelheit. Da höre ich Stimmen und Gepolter auf dem Flur.

Nicht schon wieder ein Angriff, schießt es mir durch den Kopf, während ich schon hochspringe, mir die Hose von gestern schnappe und hineinschlüpfe, bevor ich mir die Glock aus meiner Nachttischschublade nehme und rausrennen will. Dabei stolpere ich über einen Haufen Akten, der sich in meinem gesamten Wohnzimmer verteilt.

»Shit«, murmle ich, doch die Akten sind gerade nicht wichtig. Ich reiße die Tür auf, die Waffe im Anschlag, und blinzle gegen das grelle Licht der Neonröhren. Als sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, kann ich kaum glauben, was ich vor mir sehe.

Ein umgekippter Wäschewagen, ein schwarz angelaufener Körper. Alex, mit erhobenen Händen. Lotta, die eine Hand in die Luft hält und mit der anderen hektisch versucht, ihre Tränen zu trocknen. Um sie herum versammeln sich die Männer, die von dem Tumult ebenfalls wach geworden sind. Wie ich sind einige von ihnen bewaffnet. Und genau wie ich scheinen sie alle nicht zu wissen, wie sie handeln sollen.

»Was zum …« Ich blinzle noch einmal, aber das absurde Bild vor mir verschwindet nicht. Lotta fängt meinen Blick auf, was ihre Tränen nur zu verstärken scheint. Verständnislos sehe ich von ihr zu dem leblosen Körper auf dem Boden.

Johann kniet neben ihn, fasst ihn an den breiten Schultern, die mir irgendwie bekannt vorkommen, und rollt ihn auf den Rücken. Ich weiche keuchend einen Schritt zurück.

»Das ist Ivan.«

»Ist er tot?«

»Oh, fuck.«

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Was machen wir jetzt?«

Die Stimmen um mich herum vermischen sich mit dem Chaos in meinem Kopf. Was zur Hölle ist hier passiert? Was ist mit Ivan? Und warum sehen Alex und Lotta aus, als hätten sie vorgehabt, eine Leiche zu vergraben?

Johann steht auf und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Er ist blass. Der Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Wie … was …«

»Wir können das erklären«, bringt Alex heiser über die Lippen. Ich mustere den Mann, von dem ich dachte, er wäre einer meiner besten Freunde. Erst jetzt fällt mir auf, wie blass und müde er aussieht. Seine Augen leuchten nicht mehr, sie sind matt und abgeschlagen. Wie konnte mir nicht auffallen, dass er so dicht am Abgrund wandelt?

»Auf die Erklärung bin ich gespannt.« Eine Stimme mit russischem Akzent mischt sich ins Gespräch. Ein paar der Männer treten zur Seite und lassen Jegor Stanislav in den engeren Kreis treten. Es fühlt sich merkwürdig an, dass er das Kommando an sich reißt, aber andererseits: er ist jetzt Mitglied des kleinen Rates. Wenn nicht er, wer dann? »Ich glaube, wir können die Waffen runternehmen. Ihr werdet sicher kooperieren.«

Alex nickt, und Lotta schnieft.

Ich sichere meine Waffe und stecke sie in meinen Gürtel.

»Herr Kavanagh«, richtet Stanislav das Wort an mich. »Benachrichtigen Sie bitte den kleinen Rat.«

Ich nicke sprachlos und öffne die Tür zu meiner Wohnung, um mein Handy zu holen, während er weitere Anweisungen gibt. Drinnen gestatte ich mir einen Moment des Luftholens. Ich habe keine Ahnung, was mit Ivan geschehen ist oder wie Alex und Lotta in diese Lage kommen konnten. Ich weiß nicht, was sie im Schilde führen, aber so schuldig wie sie dreingeblickt haben, kann es nichts Gutes bedeuten.

Wie konnte ich mich so sehr in ihnen täuschen?

Meine Hände zittern, während ich Emmas Nummer wähle. Es klingelt ein paar Mal, bevor sie drangeht.

»Moose? Was ist passiert?« Sie klingt alarmiert. Kein Wunder, wenn ich sie mitten in der Nacht anrufe. Dann kann es sich nur um einen Notfall handeln.

»Du musst sofort in den Männerflur kommen«, erwidere ich. »Ich … Gott, ich kann nicht mal erklären, was passiert ist. Das musst du mit eigenen Augen sehen. Beeil dich. Stanislav übernimmt das Kommando.«

Sie stellt keine Fragen, sondern bedankt sich bloß für den Anruf, bevor sie auflegt und ich die übrigen Mitglieder des kleinen Rates informiere.

Wenn Emma da ist, wird sich alles aufklären. Das ist das Einzige, was ich denken kann. Emma wird wissen, was zu tun ist.

 

 

Mir schießen die unterschiedlichsten Möglichkeiten durch den Kopf, während ich darauf warte, dass es Nachricht von Emma und dem kleinen Rat gibt. Vielleicht haben meine Freunde uns nur einen Streich gespielt, einen bösen zwar, aber einen, in dem niemand zu Schaden gekommen ist. Vielleicht war Ivan nur bewusstlos. Vielleicht … Nein, dieser schwarze Körper … das ist nicht gesund.

So sahen diejenigen aus, die beim Angriff auf den Palast von einem Fluch getroffen wurden. Mit dem Unterschied, dass sich Ivans Augen noch bewegt haben, als würde er bloß träumen. Ich erschaudere. Was ist passiert? Wo war er? Wer hat ihn … getötet? Und was haben Alex und Lotta damit zu tun?

Ich beschließe, nicht länger vor der Tür zum Ratssaal zu warten, sondern stattdessen in mein Büro zu gehen, um die Bänder der Überwachungskameras zu überprüfen. Vielleicht kann ich darauf etwas finden, was mir eine Erklärung gibt, mit der ich nachts noch einschlafen kann.

Mittlerweile ist es drei Uhr früh. Zeit für den ersten Kaffee. An Schlaf ist heute Nacht sowieso nicht mehr zu denken.

Im Sekretariat vermeide ich es, Lottas Schreibtisch allzu genau zu betrachten. Solange ich nicht weiß, was los ist, will ich nicht drüber nachdenken, wer sie wirklich ist.

Ich schalte die Kaffeemaschine ein, bevor ich die Tür zum Kontrollraum aufschließe und meinen Rechner hochfahre. Die neuen Bildschirme zeigen Ausschnitte aus dem Palast, in dem alles ruhig ist. Die gesamte Schülerschaft schläft noch, niemand ahnt etwas von dem, was sich gerade auf dem Flur der Lehrer ereignet hat. Und dabei sollte es besser bleiben.

Bevor ich mich den Aufzeichnungen widme, mache ich mir einen Kaffee mit viel Milch und Zucker und suche in unserem »Service-Schrank« nach einer Packung Keksen. Unser unausgesprochenes Gesetz, in diesem Schrank immer genug zuckerhaltige Lebensmittel für lange Arbeitstage zu lagern, erinnert mich bloß wieder an Lotta.

Sie kann nichts Böses im Schilde führen. Jemand, der so gut und nett wie sie ist, wandert nicht plötzlich zur anderen Seite über. Oder?

Leise Zweifel nagen an mir. Ich habe mich auch in Tyros getäuscht, obwohl er wie ein Vater für mich war. Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet er eine Frau und ein Kind hat, die er vor allen geheim hält. Was, wenn ich mich auch in Lotta und Alex so sehr getäuscht habe?

Dann sollte ich dringend an meiner Menschenkenntnis arbeiten, schießt es mir deprimierend durch den Kopf, während ich mich mit meinem Frühstück auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz mache. Mein Rechner ist mittlerweile hochgefahren und startbereit.

Ich logge mich ein und rufe die Video-Aufzeichnungen der letzten Nacht auf. Ein Hoch auf die neuen Sicherheitskameras, die wir seit dem Angriff im Palast installiert haben. Ohne sie wären wir allein auf das angewiesen, was uns Alex und Lotta erzählen. Aber so besteht wenigstens die Möglichkeit, ihre Worte zu unterstützen.

Oder zu widerlegen.

Wer weiß das schon so genau.

Mit einem Knoten im Magen suche ich die richtige Kamera raus und spule zurück, bis ich den Punkt erreicht habe, an dem die Traube aus Männern sich auflöst. Dann gehe ich langsamer zurück bis an die Stelle, an der Alex und Lotta auf dem Flur auftauchen. Sie kommen aus Alex’ Quartier und manövrieren den Wäschewagen auf den Fahrstuhl zu. So wie sie sich dabei abmühen, gehe ich davon aus, dass sie Ivans leblosen Körper tatsächlich darin transportiert haben.

Er ist also schon so gewesen, als sie ihn aus Alex’ Quartier gebracht haben.

Bevor sie jedoch den Fahrstuhl erreichen können, öffnet sich die Tür zu Johanns Wohnung. Ich kann das Entsetzen in ihren Gesichtern sehen. Sie verlieren den Halt am Wäschewagen, und er fällt um. Ivans Körper poltert raus wie ein Sack nasser Wäsche.

»Scheiße«, murmle ich, immer noch schockiert über das, was ich vor mir sehe. Es will einfach nicht in meinen Kopf gehen.

Und trotzdem spiele ich die Sequenz noch zwei weitere Male ab, um auf irgendwelche Hinweise zu achten, die Alex und Lotta entlasten könnten. Die mir beweisen, dass sie nicht so schuldig sind, wie es gerade aussieht.

Schließlich nippe ich nachdenklich an meinem Kaffee. Vielleicht kann ich rekonstruieren, was die drei vorher gemacht haben. Wo Ivan gewesen ist. Wann er … wann er gestorben ist.

Dann finde ich vielleicht die Wahrheit heraus.

Mit neuer Entschlossenheit spule ich das Video weiter zurück – und halte erschrocken den Atem an, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe.

Kurz bevor Alex und Lotta aufgeflogen sind, sind sie schon einmal über den Flur gelaufen. Mit dem gleichen Wäschewagen und dem gleichen gehetzten Gesichtsausdruck.

Der Knoten in meinem Magen verdichtet sich, während ich ihren Weg weiterverfolge und feststelle: Ivans Körper ist nicht der einzige, den sie in dieser Nacht transportiert haben.

 

[2]

 

Farrah

Österreich, 2018

 

Ich vermisse die Casa bereits jetzt. Es gibt keinen gemütlicheren Ort auf dieser Welt, mit ihren bunt gestrichenen Wänden und der liebevollen Einrichtung. Dagegen kann der Palast der Träume mit seinen kahlen Steinmauern und den schnöden Möbeln nur abstinken.

Aber was tut man nicht alles, um den Mann zu unterstützen, der einem überhaupt erst ein Zuhause wie die Casa ermöglicht hat?

Doch obwohl Mikael meint, wir würden nicht lange hierbleiben, nagt das schlechte Gefühl an mir, seit wir in die Alpen teleportiert sind. Ich ahne, dass unsere Aufenthaltsdauer hier sehr viel länger ausfallen wird.

Und ich ahne auch, dass das keinen freudigen Grund hat.

Irgendetwas wird furchtbar schief gehen.

Dennoch ziehe ich das Ding mit ihm gemeinsam durch. Vielleicht auch ein bisschen aus Eigennutz, denn ich würde gerne herausfinden, wie dieser Mann ist, wenn er sein Herz zurückhat. Wenn sein oberstes Ziel im Leben nicht mehr die Rückgewinnung seines menschlichen Zustands ist.

Mein Handy vibriert. Ich ziehe es aus der Hosentasche und werfe einen Blick aufs Display. Es ist die Erinnerung an das gemeinsame Frühstück mit Emma und Willem, welches sich Willem und Mikael trotz der Dringlichkeit unserer Angelegenheit nicht nehmen lassen wollten.

Mikael überrascht mich in letzter Zeit immer wieder. Seit ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, kommt es mir nicht mehr so vor, als wären seine Missionen das Einzige, was ihm wichtig ist. Nein, im Gegenteil. Allein die schwierige Situation mit Willem zeigt mir, dass ihm seine selbstgewählte Familie wichtiger als alles andere ist.

Auch wenn er das vielleicht nicht glaubt.

Ich stecke das Handy zurück in die Tasche und schlüpfe in meine Stiefeletten, bevor ich das Zimmer verlasse und mir meinen Weg durch die Flure bahne. Ich lasse mich von meiner Intuition leiten, weil ich mir den Weg zu Emmas Quartier unmöglich hätte merken können, als sie ihn mir gestern erklärt hat. Aber so dauert es nicht lange, bis ich den Flur der Lehrerinnen erreicht habe und Mikael bereits vor einer der Türen stehen sehe. Die blonden Haare sind immer noch etwas ungewohnt, und seine wahre Gestalt ist mir deutlich lieber, doch ich muss zugeben, dass auch der Norwege ihm gut steht.

Sein Gesicht leuchtet auf, als er mich erkennt.

Ich schmunzle. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Farrah.« Er fragt mich, ob ich gut geschlafen habe. Ich zucke mit den Schultern, und er grinst wissend. Scheint, als wüsste er genau, dass ich an keinem anderen Ort als der Casa gut schlafe.

Er klopft an die Tür zu Emmas Wohnung. Einen Moment später öffnet uns ein sichtlich nervöser Willem und bittet uns hinein.

Ein Schatten legt sich über meine Gedanken. »Was ist los?«, frage ich, sobald wir im Wohnzimmer stehen. Mikael, der offenbar noch nicht mitbekommen hat, dass Willem sich Sorgen macht, reißt verblüfft die Augen auf. »Wo ist Emma?«

»Sie wurde mitten in der Nacht zu einem Notfall gerufen.« Willem knetet seine Hände. »Ich hab keine Ahnung, was los ist. Der Anrufer hat wohl nicht viel gesagt, und sie ist seitdem noch nicht wieder zurückgekehrt.«

»Ihr geht es sicher gut«, versucht Mikael ihn zu beschwichtigen. »Sie kann auf sich aufpassen und kommt bestimmt gleich zurück.«

Willem nickt und deutet auf den gedeckten Tisch. »Setzt euch. Ich hab schon alles vorbereitet. Wusste nicht, was ich sonst tun soll. Kaffee?«

»Gerne.« Ich schicke eine Welle Ruhe zu Willem hinüber, ganz subtil, damit er nicht merkt, dass ich seine Gefühlswelt beeinflusse. Es dauert nicht lange, da werden seine Schritte weniger rastlos, und nachdem er uns Kaffee eingeschüttet hat, setzt auch er sich an den Tisch.

Zufrieden lehne ich mich zurück, während Mikael ihn auf den neuesten Stand bringt und ihm von unserem Besuch im Cirque de la Sorcellerie erzählt. Besonders viel gibt es da allerdings nicht zu erzählen, zumindest nicht in Bezug auf Mikaels Herz. Die Zeit im Café und unseren wundervollen Abend in der Vorstellung kürzt er stark ab, doch er wirft mir ein Lächeln zu. Eins von der Art, das mir das Gefühl gibt, wir hätten ein gemeinsames Geheimnis.

In meinem Magen kribbelt es aufgeregt. Ich streiche mir die Haare hinter die Ohren und erwidere seinen tiefgründigen Blick. Wann wird er den nächsten Schritt wagen?

Oder sollte ich es tun? Ich spüre instinktiv, dass er mich genauso anziehend findet wie ich ihn. Aber irgendwas hält ihn zurück. Sonst hätte er mich gestern schon geküsst.

Ich komme nicht dazu, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn die Wohnungstür geht auf, und eine abgehetzte Emma betritt den Raum. Willem springt auf.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt er und geht ihr entgegen. Sie drückt ihm eine Papiertüte in die Hand, bevor sie ihre Schuhe abstreift und tief ein- und ausatmet. Mir fällt auf, dass sie immer noch ihr Nachthemd über der Jeans trägt.

»Tut mir so leid«, sagt sie schließlich und reibt sich über die Schläfen. Sie wirkt hundemüde. Hat sie letzte Nacht überhaupt geschlafen? »Ich hab Brötchen mitgebracht.«

Sie deutet auf die Papiertüte in Willems Hand, in die er nun einen neugierigen Blick wirft, bevor er sie auf den Tisch legt und Emma eine Tasse Kaffee einschüttet.

»Ich zieh mir nur schnell etwas anderes an, dann bin ich sofort für euch da.« Ehe wir etwas erwidern können, verschwindet sie hinter einer der anderen Türen.

»Sie wirkt total erledigt«, murmle ich. »Vielleicht sollten wir wann anders wiederkommen und sie erst mal schlafen lassen.«

»Sie wird sich sowieso nicht wieder hinlegen.« Willem verzieht das Gesicht. »Dazu müsste sie schon im Stehen einschlafen. Diese Frau hat keinen Standby-Modus.«

Wir lachen leise auf und plaudern eine Weile weiter, bis Emma zurückkehrt. Sie hat ihre rosa Haare in Form gebracht und ihr Nachthemd gegen einen schwarzen Pullover mit Cut-Outs getauscht. Ihr Stil gefällt mir gut.

Erschöpft lässt sie sich auf den einzigen freien Stuhl fallen. »Ihr hättet ruhig schon anfangen können.«

»Ach quatsch, wir warten auf dich«, erwidert Willem und beugt sich zu ihr hinüber, um ihr einen kurzen Kuss zu geben. Wärme schleicht sich in mein Herz, während ich die beiden beobachte. Es gleicht einem Wunder, dass sie sich nach all der Zeit wiedergefunden haben, und auch wenn Willem sich nicht an die gemeinsame Zeit in Frankreich erinnert – seine Gefühle für Emma scheinen den Wandel zum Gestaltwandler überstanden zu haben.

Das macht mir Hoffnung für all unsere Schützlinge.

Vielleicht ist ihre Erinnerung doch nicht für immer verloren.

Wir beginnen mit dem Frühstück, während Emma uns von den letzten Tagen erzählt. Davon, wie sie gerade rechtzeitig zur Ratswahl zurückkehrte und sich zwischen ihren Terminen nicht nur um Mikaels Herz kümmerte, sondern auch um ein paar befreundete Hexen und Wächter, die sich in eine ziemlich blöde Lage manövriert haben.

»Das ist eine absolute Katastrophe.« Sie seufzt. »Seit ich wieder hier bin, geht alles den Bach runter. Alex und Lotta haben dem Ganzen heute nur das Sahnehäubchen aufgesetzt, weil sie von sämtlichen Wächtern dabei erwischt wurden, wie sie eine vermeintliche Leiche durch die Gänge schmuggeln wollten. Ich habe keine Ahnung, wie ich den beiden noch helfen soll.«

»Meinst du die Alex und Lotta, die wir gestern kennengelernt haben?«, stellt Mikael die Frage, die uns allen ins Gesicht geschrieben steht.

Emma nickt. »Alex’ Bruder Ivan ist beim Angriff auf den Palast durch einen Fluch verletzt worden. Ich konnte ihn verlangsamen, aber mir fehlte die Zeit, um ihn komplett zu heilen. Er ist gestorben, kurz bevor ich zurückgekehrt bin. Aber irgendwie … scheint er nicht richtig tot zu sein. Genauso wenig wie diese Schülerin. Louisa.«

Ich runzle die Stirn. In all den Jahren, die ich schon lebe, habe ich noch nie davon gehört, dass jemand nicht richtig tot sein könnte. »Wie kann man sich das vorstellen?«

»Ich zeig dir das Mädchen später gerne. Vielleicht hast du so was schon mal gesehen.«

»Das bezweifle ich.« Ich nehme mir ein zweites Brötchen und schneide es auf. »Aber ich kann gerne einen Blick drauf werfen. Und sie haben versucht, die beiden woanders hinzubringen?«

»Ja. Sie hätten einfach warten sollen. Keine Ahnung, was sie da getrieben hat.« Emma seufzt und hebt unsicher die Schultern. »Ich habe versucht, ihnen zu helfen, aber nach heute früh … kann ich nicht mehr viel machen. Sie befinden sich gerade in Untersuchungshaft. Ich fürchte, das wird alles andere als gut für sie ausgehen. Nach dem Angriff auf den Palast sind alle noch angespannt, und ich weiß nicht, wie die neuen Ratsmitglieder ticken. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass sie nur das Richtige tun wollten. Sie haben nichts von dem verdient, was ihnen eventuell bevorsteht.«

»Das hört sich übel an.« Mikael verzieht nachdenklich das Gesicht. »Wenn wir sie aus dem Palast bekommen, könnten wir ihnen Schutz gewähren.«

Sein großzügiges Angebot sorgt dafür, dass mir das Brötchen aus der Hand fällt und mit der Marmeladenseite nach unten auf dem Teller landet. Normalerweise kommen solche Angebote von Willem oder mir. Mikael ist meist zu konzentriert auf das große Ganze, als dass er einen Blick nach rechts oder links werfen könnte. Willem sieht nicht minder überrascht aus.

»Das ist ein sehr großzügiges Angebot.« Emma lächelt ihren alten Freund an. »Ich bin mir sicher, Lotta würde sofort darauf zurückkommen. Bei Alex weiß ich es allerdings nicht. Er hat sein Leben dem Palast verschrieben, und ich bin mir fast sicher, dass er die Konsequenzen seines Handelns lieber tragen würde, als davor zu flüchten. Aber wir sollten es zumindest versuchen – zumindest dann, wenn es tatsächlich danach aussieht, als würde der Rat ihn verurteilen wollen.«

Ich kenne das Regelwerk des Rates. Ich weiß, welche Konsequenzen manch ältere Wächter und Hexen schon tragen mussten, die sie dann letztendlich in unsere Arme getrieben haben. Dass es noch keinen Aufstand gegeben hat, wundert mich immer wieder.

»Was ist denn das Schlimmste, was ihnen passieren könnte?«, fragt Willem nach, obwohl auch er mit den Regeln dieser Welt vertraut sein müsste.

Emma kaut einen Moment nachdenklich auf ihrer Lippe, bevor sie spricht. »Naja, Lotta ist ein Mensch. Dementsprechend unterliegt sie nicht den Gesetzen unserer Welt. Vermutlich würde man ihr Gedächtnis manipulieren und sie an einen Ort bringen, an dem es keine Hexen und Wächter gibt.«

»Und Alex?«

»Tja.« Emma lacht trocken auf. »Alex hat sich in eine Lage gebracht, aus der ihm niemand mehr raushelfen kann, fürchte ich. Er hat Gefühle für Louisa und sich mit ihr verbunden. Er ist nicht nur ihr Lehrer, sondern auch ein Wächter. Und ihr wisst ja, was das in unserer Welt bedeutet. Sollte der Rat davon erfahren, steht ihm eine Enteignung bevor.«

»Oh Mann.« Willem seufzt. »Ich hasse diese Gesetze. Welcher Idiot hat sich das eigentlich ausgedacht?«

»Noch haben sie Louisas Körper jedenfalls nicht gefunden«, erzählt uns Emma. »Ich hoffe, ich kann das verhindern, aber ich habe keine Ahnung, wo sie ihren Körper hingebracht haben. Ich vermute zu Lotta … doch ich kann es mir nicht leisten, beim Einbrechen erwischt zu werden. Dafür hängt zu viel von meiner Position im Rat ab.«

Nervenkitzel durchflutet meine Adern. Zu einem guten Abenteuer konnte ich noch nie Nein sagen. »Ich mach’s.«

 

[3]

 

Hayet

Österreich, 2018

 

Meine innere Uhr weckt mich wie jeden Morgen weit vor dem Wecker. Ich rolle mich auf die andere Seite, seufze, weil ich eigentlich immer noch müde bin und kneife die Augen zu, in der Hoffnung, dass ich wieder einschlafe.

Aber ich weiß genau, dass mein Körper mir einen Strich durch die Rechnung macht. Es ist jeden Morgen so.

Dennoch bleibe ich noch eine Weile liegen und denke über die Nacht nach. Über meinen viel zu kurzen Traum mit Moose, um genau zu sein. Irgendwas hat ihn wohl geweckt, so dass wir nur wenig Zeit miteinander verbringen konnten. Aber es tat gut, ihn zu sehen und mit ihm über unsere Magie zu sprechen.

Jedenfalls freue ich mich jetzt schon auf unser nächstes nächtliches Zusammentreffen und kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Schnell unterdrücke ich das aufkeimende Kribbeln in meiner Magengrube.

Er ist mein Lehrer.

Theoretisch zumindest, auch wenn ich keinen Kurs bei ihm habe.

Ganz abgesehen davon gibt es in dieser Welt immer noch das Gesetz, das Gefühle zwischen Hexen und Wächtern verbietet.

Ich frage mich, wie sie das mit einer Black Heart handhaben würden.

Herausfinden möchte ich es lieber nicht.

Gähnend strecke ich mich und rolle mich zurück auf den Rücken, just in dem Moment, in dem Azaleas Wecker mit der nervigsten Melodie aller Zeiten losgeht. Im Gegensatz zu mir könnte sie ständig und überall schlafen und braucht anscheinend das Geschrei einer Rockband, um aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen.

Ich bewerfe sie mit meinem Kissen, um ihr beim Aufwachen behilflich zu sein.

»Ey«, grummelt sie und reibt sich müde über die Augen. »Ich bin ja schon wach.«

»Dann mach diesen verdammten Wecker aus. Das ist Folter, so früh am Morgen!«

Sie lacht, wirft mein Kissen zurück und lehnt sich aus dem Bett, um nach ihrem Handy zu angeln, das neben der Steckdose liegt und über Nacht geladen hat. Einen Moment später ist endlich Ruhe.

Meine Anspannung löst sich, und ich klemme mir das Kissen zurück unter den Kopf, um mich ins Bett zurückfallen zu lassen.

»Kannst du nicht irgendwas anderes einstellen? Vogelzwitschern oder so?«, frage ich sie zum gefühlt zwanzigsten Mal. Dabei schlafen wir noch gar nicht so lange in einem Zimmer. Sie ist erst vor ein paar Nächten bei mir eingezogen, weil wir ohne Zoe und Louisa genauso gut ein Zimmer teilen können. So ist keine von uns allein.

»Wer wird denn von Vogelzwitschern wach?« Sie dreht sich auf die Seite, legt ihren Kopf auf ihre Hand und sieht mich aus müden Augen an. »Ich brauch da schon was Stärkeres.«

»Ich könnte dich auch einfach wecken«, schlage ich vor. »Ich wach sowieso immer vorher auf.«

»Wenn du doch schon wach bist, warum stört dich die Musik dann so?«

»Weil ich meinen Morgen lieber friedvoll beginne«, erwidere ich, als läge das auf der Hand. »Wer steht schon gerne mit einem Adrenalinschub auf?«

Sie zuckt mit den Schultern und grinst. »Mein Körper braucht das.«

»Geh lieber kalt duschen, das ist besser für dein Herz.«

»Bist du wahnsinnig? Es ist Winter. Da geh ich doch nicht kalt duschen.«

Ich muss lachen und setze mich schließlich auf, weil ich nicht länger liegen bleiben will und kann. Wir müssen uns schließlich beide noch fertig machen, um pünktlich zum Frühstück unten zu sein. Heute beginnt der Unterricht wieder, und auch wenn mein erster Kurs erst um elf beginnt, muss Azalea pünktlich um neun auf der Matte stehen.

»Ich geh zuerst ins Bad«, biete ich ihr trotzdem an, weil ich genau weiß, wie gerne sie noch eine Weile liegen bleibt. »Aber nicht wieder einschlafen.«

Sie rollt übertrieben mit den Augen und nimmt ihr Handy zurück in die Hand, um sich damit wachzuhalten. »Ist ja gut, Maman.«

Grinsend suche ich mir ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank und verkrümle mich ins Badezimmer, um mir eine schnelle Dusche zu genehmigen. Entgegen meines Rates drehe ich das Wasser warm und genieße, wie es die Anspannung in meinen Schultern einfach wegwäscht. Seit ich im Palast bin, bereiten sie mir aufgrund der harten Betten hier Schwierigkeiten. Daheim – im Cirque de la Sorcellerie – hatte ich damit nie Probleme. Da habe ich viel mehr Kissen in meinem Bett gehabt, die mir die bequemsten Positionen ermöglicht haben.

Vielleicht sollte ich einfach im Sekretariat nach einem zweiten Kissen fragen.

Ich drehe die Dusche ab und wickle mich in mein Handtuch. Unser Badezimmer gleicht eher einer Nasszelle als einem wirklichen Bad, aber das bin ich aus dem Wohnwagen sowieso nicht anders gewohnt. So stoße ich mir beim Abtrocknen und Anziehen auch nicht die Ellbogen an. Den Fön nehme ich mit nach draußen, damit Azalea in der Zwischenzeit duschen gehen kann.

Zurück im Zimmer stelle ich fest, dass sie wieder eingeschlafen ist. Das Handy ist ihr aus der Hand gerutscht und auf ihrem Brustkorb gelandet, der Mund steht leicht offen.

Mit einem teuflischen Grinsen stecke ich den Fön in die Steckdose, trete näher an ihr Bett und stelle ihn auf höchster Stufe an. Es dauert keine drei Sekunden, da sitzt sie aufrecht im Bett.

»Ich bin ja wach!«

»Sah aus, als könntest du noch einen Adrenalinschub gebrauchen.«

 

 

Im Frühstückssaal herrscht bereits reges Treiben, als wir dort ankommen und uns einen Platz suchen. Einige unserer Mitschüler scheinen echte Frühaufsteher zu sein.

Wir gehen abwechselnd zum Buffet, um unseren Platz nicht aufgeben zu müssen. Ich lade mir den Teller mit einem Croissant und einem Körnerbrötchen sowie verschiedenen Aufstrichen voll, bevor ich mich in die Schlange vor den Automaten einreihe, um mir einen Kaffee zum Frühstück zu gönnen. Tee trinke ich später in der Bibliothek. Dort besteht er wenigstens aus richtigen Kräutermischungen und nicht diesen fertig abgepackten Beuteln, die hier so beliebt sind.

Ich lausche dem Gespräch meiner Mitschüler vor mir mit halbem Ohr. Sie reden deutsch, eine Sprache, die ich nicht besonders gut verstehe.

Ohne Zoe, Louisa, Mikael und Willem ist es an unserem Frühstückstisch ruhig geworden. Wir reden nicht darüber, wie sehr uns die vier fehlen, aber das tun sie. Zoe ganz besonders.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und mich frage, wieso um alles in der Welt sie unbedingt mit an den Palast kommen musste. Im Cirque wäre sie soviel sicherer gewesen.

Eine der Kaffeemaschinen wird frei, und ich nehme mir ein großes Glas für einen Latte Macchiato. Mit richtigem Kaffee werde ich wohl niemals warm, dafür ist er mir einfach zu bitter.

Die Maschine mahlt die Bohnen geräuschvoll auf, und ich beobachte hypnotisiert, wie die Flüssigkeit in mein Glas fließt. Dabei denke ich wieder zurück an meinen Traum, aus dem Moose so plötzlich verschwunden ist. Die Ereignisse der letzten Tage scheinen ihn wirklich fertiggemacht zu haben. Zumindest weicht der dunkle Schatten in seinem Blick nur selten einem fröhlichen Funkeln. Da wundert es mich, dass er nicht länger geschlafen hat. Ich frage mich, was ihn geweckt hat.

Ob er mir heute Nacht davon erzählt? Ob wir wieder gemeinsam träumen?

Ein Mitschüler stupst mich an und fragt mich auf englisch, ob ich fertig bin. Ich reiße mich aus meinen Gedanken, entschuldige mich und nehme mein Getränk, um zum Tisch zurückzukehren, damit Azalea sich etwas zum Frühstück holen kann.

Sie kehrt wenige Zeit später mit einem vollbeladenen Teller zurück. »Gott, hab ich einen Hunger«, japst sie und lässt sich auf die Bank gegenüber fallen. »Seit wir hier sind, könnte ich nur essen. Ich hoffe, das liegt an der Magie.«

Ich lache leise auf. »Vielleicht auch an der Alpenluft.«

»Woran es auch liegt, ich hoffe, mein Körper verbrennt die ganzen Kalorien auch so fleißig, wie er sie verlangt.« Sie schüttelt ungläubig mit dem Kopf und bestreicht ihr Croissant dick mit Nussnougatcreme, bevor sie sehnsüchtig seufzend hineinbeißt. »Vielleicht liegt es auch an dem verdammt guten Essen hier«, überlegt sie mit vollem Mund.

»Das mag sein.« Das Essen am Palast der Träume ist wirklich gut. Viel besser als ich es von einer Schulkantine jemals erwartet hätte. »Ich mein, ich war nie an einer Schule. Aber ich dachte, es gibt jede Woche die gleichen Gerichte – und die sind dann auch nicht besonders gut.«

»An meiner alten Schule war das auch so. Montags Hähnchen mit Kartoffeln und Erbsen, Dienstags Nudelauflauf, Mittwochs Burger ... und so weiter. Es war grauenvoll. Bis auf den Nudelauflauf hat davon eigentlich nichts geschmeckt.«

»Das hört sich schrecklich an.«

»Ich hab meistens zu Hause gegessen«, erzählt Azalea. »Papa und ich waren ja allein, also hab ich abends oft für uns gekocht. Sonst hätte er vermutlich niemals etwas Gesundes zum Essen bekommen.«

Es ist selten, dass sie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählt. Umso neugieriger bin ich auf das Gespräch mit Emma, das uns heute Nachmittag bevorsteht. Dass Azalea mich dabeihaben möchte, wundert mich, wo sie doch eher zurückhaltend im Erzählen ist.

»Entschuldigung.« Ich blicke auf und sehe in ein gebräuntes Gesicht mit dunklen Augen und Stoppelbart. Weiße Zähne blitzen auf. »Ich hab gehört, dass ihr Französisch sprecht«, redet der Kerl weiter. Er scheint in unserem Alter zu sein, aber ich habe ihn hier noch nicht gesehen. »Darf ich mich vielleicht zu euch setzen?«

»Na klar«, erwidert Azalea und rutscht rüber, um ihm Platz zu machen. »Ich bin Azalea, und das ist Hayet«, stellt sie uns vor.

»Tarek.« Er lächelt uns beide verlegen an. »Ich bin noch nicht lange hier und verstehe kein Wort von dem, was die anderen so reden.«

Wenn es nicht seine Hautfarbe und die dunklen Haare und Augen getan hätten, hätte spätestens sein Akzent verraten, dass er aus Nordafrika stammt. »Das geht uns ähnlich. Wo kommst du denn her?«

»Marokko.« Ein Schatten huscht über sein Gesicht. Kurz nur, bevor er sich wieder fängt und seine Aufmerksamkeit der Umgebung zuwendet. »Ganz schön großer Palast. Habt ihr lange gebraucht, um euch hier zurechtzufinden?«

Damit ist dann wohl klar, dass seine Herkunft ein Tabu-Thema ist. Aber das macht nichts, denn Azalea ist mittlerweile wach genug, um ihn vollzuquatschen, während ich in Ruhe meinen Latte Macchiato trinke und versuche, nicht die ganze Zeit an Moose zu denken.

 

[4]

 

Moose

Österreich, 2018

 

Mein Herz rast, während ich die Möglichkeiten durchgehe, die ich nun habe.

Ich könnte den Rat benachrichtigen. Ihnen sagen, was ich herausgefunden habe und Alex und Lotta damit vermutlich in noch größere Schwierigkeiten bringen. Ich könnte auch Emma Bescheid geben. Ihr vertraue ich zumindest genug, um zu ahnen, dass sie den Rat erst einweiht, wenn sie mehr Informationen gesammelt hat.

Ich könnte mir diese fehlenden Informationen aber auch selbst beschaffen, bevor ich entscheide, wie ich weiter vorgehe, und meinen Freunden zumindest einen Vertrauensvorschuss gewährleisten. Nach allem, was Alex und Lotta für mich getan haben, hätten sie das mehr als verdient.

»So ein Mist«, murmle ich, während mir bewusst wird, dass mir wohl oder übel nichts anderes übrigbleibt, als meine Nase selbst in diese Angelegenheit zu stecken. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch mehr als genug Zeit habe, um vor dem Meeting mit dem Sicherheitsteam nach dem anderen Körper zu sehen. Am liebsten wäre es mir, ich könnte die Aufzeichnungen der Sicherheitskameras durchgehen, um eine geeignete Aufnahme zu finden, mit der ich den Körper identifizieren kann – aber insgeheim weiß ich, dass es leichter wäre, Lottas Quartier aufzusuchen, ein Foto zu machen und es mit unserer Datenbank abzugleichen.

Viel weniger Aufwand.

Dafür deutlich mehr Nervenkitzel.

Was eindeutig nicht mein Ding ist. Aber gut, ein Mann muss tun, was ein Mann eben tun muss, beschließe ich und schalte meinen Computer in den Standby-Modus, bevor ich es mir doch noch anders überlege.

Mein Herz schlägt schneller, während ich Handy und Generalschlüssel einpacke und mich umschaue, ob ich noch mehr Gadgets für meine kleine Mission gebrauchen könnte. Ein bisschen fühle ich mich wie der Agent, der ich früher immer sein wollte. Zumindest, bis ich festgestellt habe, dass es innerhalb der Palastmauern sehr viel sicherer ist als da draußen. Warum sein Leben riskieren, wenn man hier genauso viel Gutes bewirken kann?

»Also dann«, murmle ich und schließe die Tür hinter mir ab. Mein Blick bleibt an Lottas Schreibtisch hängen, der aussieht, als würde sie gerade nur Pause machen. Wenn ich zurück bin, werde ich die Zeit nutzen, um ihre Unterlagen und ihren Computer nach Hinweisen zu untersuchen. Zwar kann ich mir kaum vorstellen, dass sie dumm genug ist, etwas Wichtiges offen herumliegen zu lassen, aber man weiß ja nie.

Im Palast ist es ruhig. Der Unterricht hat gerade angefangen, und der kleine Rat berät sich noch wegen der Vorkommnisse in der Nacht. Alle anderen Ratsmitglieder nutzen die freie Zeit, um sich und den Palast kennenzulernen, aber ich begegne kaum jemandem auf meinem Weg in den Flur der Lehrerinnen.

Kurz bevor ich Lottas Quartier erreiche, sehe ich mich um und zücke den Generalschlüssel, damit ich möglichst schnell drin verschwinden kann. Denn selbst wenn ich nur gute Absichten verfolge, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mich nicht gut erklären könnte.

Im Inneren der Wohnung schließe ich die Tür mit einem leisen Klick und bleibe einfach nur einen Moment stehen, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Hier riecht es unverkennbar nach Lotta – diesen blumigen Geruch gemischt mit einer Spur von Kaffee würde ich überall erkennen, denn er ist es, der mich in den letzten Monaten immer wieder bei der Arbeit begleitet hat.

Ihre Wohnung ist baugleich mit meiner, so fällt es mir nicht schwer, mich zurechtzufinden. Ähnlich wie bei mir liegen auch hier jede Menge Akten und Bücher herum, und ich nehme mir vor, diese gleich zu durchsuchen. Die Chancen, hier etwas zu finden, sind sehr viel höher als an ihrem Arbeitsplatz.

Aber erst einmal muss ich den Körper finden und identifizieren.

Ich schleiche durch die Wohnung, vorsichtig, um nichts zu verändern, und öffne die Tür zum Schlafzimmer. Innerlich bereite ich mich schon auf den Geruch von Verwesung vor, doch auch hier riecht es bloß nach Lotta. Verwundert trete ich näher ans Bett, auf dem tatsächlich ein von einem Betttuch bedeckter Körper liegt.

Mein Magen macht einen Salto, während ich die gruseligen Bilder in meinem Kopf zu verdrängen versuche. Obwohl ich in dieser Welt der Magie aufgewachsen bin, habe ich noch nie etwas Schaurigeres gesehen als Ivans leblosen Körper. Bei der Vorstellung, nun das Betttuch zurückzuziehen und etwas Ähnliches aus nächster Nähe anzuschauen, wird mir übel.

Aber ich zwinge mich trotzdem dazu, einen Schritt vor den anderen zu setzen und meine zitternden Hände auszustrecken.

Du kannst das, rede ich mir Mut zu. Meine Finger berühren den weichen Stoff, ich fasse ihn und atme tief durch, dann ziehe ich ihn zurück.

»Halleluja«, stoße ich hervor.

Das ist Louisa!

Ihre stechend blauen Augen und das weiche Gesicht würde ich überall wiedererkennen – schwarz gefärbte Haut hin oder her.

Mir ist sofort klar, dass sie nicht tot sein kann. Denn wie auch bei Ivan bewegen sich ihre Augen hin und her, als würde sie mit offenen Augen träumen.

Alex und Lotta haben keine Leichen transportiert.

Im Gegenteil, mir dämmert, dass sie versucht haben, Ivan und Louisa vor dem sicheren Tod durch die Totenverbrennung zu bewahren – denn niemand im Rat hätte bezweifelt, dass die beiden gestorben sind, wurden sie doch offensichtlich von einem Fluch getroffen.

Aber wieso sind sie nicht wie all die anderen Opfer des Angriffs …

Oh Gott. Mir wird schlecht. Ich weiche zurück und lasse mich in den Sessel in der Ecke falle, weil ich mir nicht sicher bin, ob mich meine Beine noch länger tragen.

Was, wenn all die Hexen und Wächter, die wir vor wenigen Tagen in den Himmel verabschiedet haben … Was, wenn die gar nicht tot waren?

 

 

Ich brauche eine ganze Weile, um mich zu sammeln und die Erkenntnisse zu verarbeiten, die innerhalb weniger Augenblicke auf mich eingeprasselt sind. Nun da ich weiß, wer der andere Körper ist, kann ich zumindest einen Teil der Geschehnisse rekonstruieren.

Louisa war zum Zeitpunkt des Angriffs bereits hier, während ich mit Alex und den anderen noch auf dem Rückweg von Marokko gewesen bin. Sie war unter den Toten, dessen bin ich mir sicher, obwohl es so unzählige waren, dass ich nicht jeden einzelnen Namen von ihnen in Erinnerung habe. Doch Alex’ Zustand in den Tagen nach dem Angriff bestätigt nur das, was ich denke. Irgendwie müssen sie sie vor der Verbrennung der Toten bewahrt haben, weil sie wussten, dass irgendetwas mit ihrem Körper nicht stimmt.

Was mit Ivan geschehen ist, weiß ich nach wie vor nicht. Angestrengt überlege ich, wann ich ihn zuletzt gesehen habe. War es zur Verbrennung der Toten? Oder habe ich ihn danach noch mal getroffen?

Diese Fragen könnten sich in einem Gespräch mit Alex und Lotta klären, die mir mittlerweile immer weniger wie Verbrecher vorkommen. Vielmehr scheint es mir inzwischen schon fast ungerecht, dass sie für ihre Taten in Untersuchungshaft sitzen.

Zischend atme ich ein.

Untersuchungshaft! Das bedeutet, es dauert nicht mehr lange, bis ein Team aus Wächtern ihre Quartiere genauestens unter die Lupe nehmen wird. Dann werden sie Louisa hier finden, und es wird mit Sicherheit nicht lange dauern, bis man die Verbindung zwischen Alex und Louisa erkannt hat. Spätestens wenn der Rat den Tresor öffnet und man in Tyros’ Tagebuch liest, wird man wissen, dass Alex Gefühle für sie hatte. Hat.

Was für eine Katastrophe! Ich reibe mir durchs Gesicht, unentschlossen, wie ich weiter vorgehen soll. Einerseits hat er mit seiner Verbindung zu ihr eindeutig gegen die Gesetze unserer Welt gehandelt, aber andererseits … Ich habe live miterlebt, was die Enteignung mit seinen Eltern gemacht hat.

Jetzt habe ich die Chance, ihn davor zu bewahren – oder sein Urteil zumindest so lange aufzuschieben, bis wir eine Lösung finden.

Wer wäre ich, würde ich ihm meine Hilfe verweigern?

 

[5]

 

Farrah

Österreich, 2018

 

Das gemeinsame Frühstück fühlt sich an wie ein Get-together alter Freunde. Es gibt so viel zu erzählen, aber wir haben nur so wenig Zeit – und selbst wenn ich Emma noch nicht kannte, fühle ich mich schnell, als wäre ich damals dabei gewesen, als die drei noch ein goldenes Trio gewesen sind.

Ab und zu kann man Willem ansehen, dass ihn der Gedächtnisverlust schmerzt. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie schwer es für ihn sein muss, dass Emma und Mikael über alte Zeiten lachen, bei denen er zwar dabei gewesen ist, sich aber nicht erinnern kann. Ich glaube, wäre ich an seiner Stelle, ich hätte den Raum längst verlassen.

Doch er sitzt bloß da und lässt sich die Geschichten seiner Vergangenheit erzählen. Er saugt sie auf, jede einzelne von ihnen, als unterliege er der irren Hoffnung, er könnte sich dadurch an sein altes Leben erinnern.

Ich würde es ihm jedenfalls wünschen.

»Und dann habt ihr euch also in den Palast der Träume geschlichen, um dein Herz zu suchen?«, fragt Emma nach.

Mikael nickt. »Wir haben einen Hinweis auf Freyas Aufenthaltsort bekommen und den Palast gefunden.«

»Hm.« Emma kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Ich habe das Gefühl, dieses alte Gemäuer bietet nicht den Schutz, den wir all unseren Schülern versprechen.«

»Na ja, ihr habt ja die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren.« Willem zuckt mit den Schultern. »Welcher Ort auf dieser Welt ist schon wirklich sicher?«

»Und ich habe den Bann durchbrochen.« Emma seufzt. Das schlechte Gewissen steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Wisst ihr, bei euch weiß ich, dass ich euch vertrauen kann. Aber da draußen sind so viele Gestaltwandler, die einfach umherziehen und Hexen ermorden oder entführen …«

Ich sehe den richtigen Zeitpunkt für eine Grundsatzdiskussion gekommen. »Nicht alle Gestaltwandler haben Böses im Sinn. Die Hexenjäger waren auch keine Gestaltwandler.«

»Ich weiß, ich weiß.« Emma blickt entschuldigend zu Mikael und Willem. »Ich blicke nicht mehr durch. Wer ist gut, wer ist böse? Wer will uns schaden und wer nicht?«

»Ich glaube, die meisten wollen in erster Linie ein Leben in Freiheit verbringen«, erwidere ich sanft. »Zumindest ist das der Wunsch derer, die bei uns Zuflucht suchen.«

»Ich kann das verstehen, Farrah, glaub mir.« Sie lächelt mich an, doch beinahe sofort verdüstert sich ihr Blick wieder. »Aber Gesetz ist Gesetz. Und eine Welt mit so vielen unterschiedlichen Parteien kann nur funktionieren, wenn man sich an diese Gesetze hält und darauf wartet, dass sie geändert werden.«

»Würdest du so lange warten wollen, um mit Willem zusammen zu sein? Jahrzehnte womöglich?«, springt Mikael zu meiner Unterstützung ein.

Sie schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Und ich bin mit Sicherheit nicht die Einzige an dieser Schule, die das Gesetz hintergeht. Ich bin da vollkommen auf eurer Seite. Der Rat handelt nach veralteten Richtlinien. Es müsste dringend einiges neu entschieden werden, doch Hexenjäger und Gestaltwandler machen es nicht leichter, wenn sie ständig als Bedrohung auftauchen. Sie treiben die Ratsmitglieder wieder in eine konservativere Richtung. So wird sich nichts verändern.«

»Wenn jemand die Macht hat, etwas zu verändern, dann du.« Willem legt eine Hand auf ihren Unterarm und sieht sie stolz an. »Sieh doch nur, wie viel Arbeit du in den letzten Stunden bereits in den Rat gesteckt hast, und wie viel du nebenbei machst. Ich bin mir sicher, mit dir wird sich alles ändern.«

Sie schnaubt auf. »Du redest von mir, als wäre ich irgendeine Auserwählte. Ich versuche einfach nur, nicht die Kontrolle zu verlieren. Was mir meine Leute echt nicht leicht machen.«

Trotzdem. Ich denke, Willem hat recht. Sie kann etwas verändern, und sie wird. Sie weiß es nur noch nicht.

»Na ja, lasst uns nicht darüber reden«, meint sie schließlich. »Ich bin froh, gerade mal eine kurze Auszeit davon zu haben. Erzählt mir lieber von euren Plänen mit Adele.«

Willem steht auf, um noch eine Runde Kaffee für uns zu kochen, und Mikael erzählt ihr, wieso wir an den Palast der Träume zurückgekehrt sind. Er spricht vom Cirque de la Sorcellerie, unserem kurzen Besuch dort, und erwähnt sogar unseren Abend in der Show. Immer wieder erstaunt es mich, wie viel herzlicher er im echten Leben ist. Unsere Telefonate waren immer rein aufs Business bezogen. Dass er gefragt hat, wie es mir geht, war ein Highlight, mit dem ich nur alle paar Tage rechnen konnte.

Und doch wusste ich irgendwie, dass dieser Mann in ihm schlummert. Dieser Mann, der anderen zuhört und Gutes tun will. Mit dem ich abends im Pool Schneeflocken fangen und über Dinge sprechen kann, die so vertraut sind, dass ich sie nicht einmal mit Antonio teile.

Ich bilde mir ein, ihn besser zu kennen als jeder andere – und das macht mich unbeschreiblich glücklich.

»Jedenfalls meinte Farrah, dass sie unsere beste Chance auf eine Antwort ist.« Mikael lächelt mich an, und mittlerweile scheint er genauso überzeugt davon zu sein wie ich, dass Adele der Schlüssel ist. Als wir im Cirque gewesen sind, sah das noch ganz anders aus. »Ich möchte sie später aufsuchen und um Rat bitten.«

Emma lacht schnaubend auf. »Bist du dir sicher, dass das so eine gute Idee ist? Hast du noch nie davon gehört, was sie für ihren Rat verlangt?«

»Ich weiß, dass ihr Preis hoch sein wird.« Mikael zuckt mit den Schultern. »Aber es geht um mein Herz. Um mein ganzes Leben. Ich habe so lange danach gesucht, Emma, und jetzt, da ich zum Greifen nah dran bin, wäre ich bereit, alles dafür zu geben.«

Sie seufzt. »Dann wünsche ich dir wohl lieber viel Erfolg dabei.«

 

 

»Denkst du immer noch, Adele ist die richtige Entscheidung?« Überrascht von Mikaels Frage bleibe ich stehen. Seine dunklen Augen schimmern nachdenklich. »Ich meine, ich werde sie aufsuchen. So oder so. Ich habe mich nur gefragt, ob Emmas Worte etwas an deiner Meinung geändert haben.«

»Ich weiß nicht.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich meine, sie hat ihre eigenen Erfahrungen mit Adele gemacht. Vielleicht ist sie auch einfach nur stinkwütend auf ihre Mutter und hält sie deshalb für keine gute Wahl. Aber mit einer Sache hat sie ganz bestimmt recht: Ihr Preis wird hoch sein. Aber darauf hast du dich ja jetzt eingestellt.«

Er nickt und reibt sich mit einer Hand über den Nacken. »Ich bin gespannt, was sie fordert. Ich kann mir kaum vorstellen, was es sein könnte.«

»Geld? Schmuck? Einen Lapislazuli, falls sie noch keinen besitzt?« Das wären zumindest die Dinge, um die ich handeln würde. »Vielleicht auch Macht. Du bist der Leiter einer relativ großen Organisation. Wenn sie gerne Macht besitzt, dann wird sie das eventuell ausnutzen.«

»Hm.« Mikael setzt sich wieder in Bewegung, und ich begleite ihn. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn sie unsere Organisation übernehmen will. Ich kann doch nicht einfach alle darin aufgeben.«