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Die Liebe steckt voller Rätsel!
Vielleicht verbindet Vera und Stanley nicht mehr als eine enge Freundschaft. Vielleicht sollten sie endlich akzeptieren, dass sie es nicht lange miteinander aushalten. Aber vielleicht halten sie es alleine noch viel weniger aus. Ganz sicher ist es mehr als ein Zufall, dass ihre Wege sich immer wieder kreuzen. Denn da gibt es diese Kreuzworträtsel mit den versteckten Botschaften, die sie immer wieder zueinander führen - und vielleicht auch zu einem Lösungswort mit fünf Buchstaben: LIEBE vielleicht?
»Ich habe mich innerhalb von zwanzig Sekunden in dieses Buch verliebt, und ich schwöre - mit erhobener rechter Hand, die linke auf einem Jane-Austen-Roman -, dass Jeff Bartsch Ihr neuer Lieblingsautor wird.« Elinor Lipman, New-York-Times-Bestsellerautorin
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Über dieses Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Danksagung
Fußnoten
Die Liebe steckt voller Rätsel!
Vielleicht verbindet Vera und Stanley nicht mehr als eine enge Freundschaft. Vielleicht sollten sie endlich akzeptieren, dass sie es nicht lange miteinander aushalten. Aber vielleicht halten sie es alleine noch viel weniger aus. Ganz sicher ist es mehr als ein Zufall, dass ihre Wege sich immer wieder kreuzen. Denn da gibt es diese Kreuzworträtsel mit den versteckten Botschaften, die sie immer wieder zueinander führen – und vielleicht auch zu einem Lösungswort mit fünf Buchstaben: LIEBE vielleicht?
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Jeff Bartsch hat an der University of Wisconsin Kreatives Schreiben studiert und war danach Stipendiat an der Penn State University. Als Werbetexter hat er für viele bekannte Marken gearbeitet und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Liebe vielleicht ist sein erster Roman. Jeff Bartsch lebt in New York.
Jeff Bartsch
Aus dem amerikanischen Englischvon Sylvia Strasser
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Jeffrey Bartsch
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Two Across«
Originalverlag: Grand Central Publishing, a division of Hachette Book Group, Inc.
This edition published by arrangement with Grand Central Publishing, New York, NY, USA. All rights reserved.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2016/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Covergestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/MGS; © shutterstock/debra hughes; © shutterstock/gst
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-2032-8
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lesejury.de
Für meine Eltern
»Weisheit erlangen wir erst,wenn sie uns nichts mehr nützt.«
Gabriel García Márquez,
1960
»Scharlatan.«
Vera trat einen Schritt vor, legte die eine Hand auf ihre Hüfte und die andere an den Mikrofonständer und sagte: »Wie bitte?«
»Scharlatan«, wiederholte Mr. King, der Juryvorsitzende, der die zu buchstabierenden Wörter vorgab, mit der gleichen alttestamentarischen Korrektheit wie beim ersten Mal.
Flirrende Hitze ging von den Scheinwerfern an der Decke und am Rand des Podiums aus. Sie spürte, wie die Blicke der acht noch verbliebenen, hinter ihr sitzenden Kandidaten sich in ihren Rücken bohrten. Ihre kleinen Herzen hämmerten im Gleichklang. Veras Finger schlossen sich fest um den Mikrofonständer. Scharlatan. Woher wussten sie das?
»S-C…«, begann sie. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie hatte das Gefühl, dass der Festsaal im Bauch des großen Hawthorne Hotels ein klein wenig in die Höhe schwebte, und die scharlachroten Vorhänge, die das Podium einrahmten, schienen sich hin und her zu bewegen. Es gab kein Entrinnen. Ja, sie war ein Scharlatan. Die kleine Vera war ein Niemand, der nicht hierhergehörte. In der vordersten Reihe saß ihre Mutter, sie hatte die Hände in ihrem Schoß liegen und zog unauffällig die Brauen hoch, um ihr Mut zu machen.
Natürlich wusste sie, wie man dieses Wort buchstabierte. Das vorhergehende Wort war »Dhurrie« gewesen, und nachdem das grässlich kecke kalifornische Mädchen, dem ein langer Zopf über den Rücken fiel, beim Buchstabieren das H vergessen hatte, war die Glocke mit der ganzen Gnade eines scharfen Sensenblatts ertönt.
Scharlatan. Genau so kam sich Vera schon die ganze Woche vor, seit dem ersten Tag in Washington, D.C., als die Jugendlichen einen Blick auf Präsident Eisenhower erhascht hatten, der ihnen über den Rasen des Weißen Hauses hinweg zuwinkte. Sie gehörte nicht hierher. Sie gehörte überhaupt nicht in dieses Hotel, in dem eine Schar Zimmermädchen dafür sorgte, dass ihre Zahnbürste in dem dafür vorgesehenen kleinen Porzellanhalter steckte, und das Essen auf feinstem Porzellan und unter Silberhauben von zwei weiß behandschuhten Männern aufs Zimmer gebracht wurde. So richtig wohl fühlte sich Vera nur in ihrem kleinen Nest aus rotem Leder und Autoabgasen, mit den Fenstern, die hinunter- und wieder hinaufglitten, während draußen die Reklametafeln am Straßenrand vorbeizogen. Sie war daran gewöhnt, eine ganze Menge Zeit auf dem Rücksitz des rot-weißen 1955er Ford Fairlane Crown Victoria, den ihre Mutter Vivian fuhr, zu verbringen. Sofern sie sich nicht in ihrer New Yorker Wohnung aufhielten, wo sie in letzter Zeit aber kaum noch anzutreffen waren. New York war eigentlich nur noch auf dem Papier ihre Anschrift. Immer öfter saß sie ihre Zeit in muffigen Hotels ab, die in irgendwelche Winkel verfallender Ostküstenstädte gezwängt waren, Hotels aus Porenbeton, die nach feuchtem Lehm rochen, oder Motels an einsamen Highways, in deren altersschwachen Holzbauten es nach Dachboden und abblätternder Farbe roch.
Im Hawthorne Hotel jedoch schwebten herrliche Düfte genau in Nasenhöhe: Lavendel und Rose und Minze, Wohlgerüche, die Vera mit Paris verband, obwohl sie noch nie dort gewesen war. Als sie Französisch lernte, hatte sie einiges über die Stadt gelesen und sich in ihren Tagträumen ein Leben dort ausgemalt – très jolie!
»Ich würde gern noch mal von vorn anfangen«, sagte sie. Das war erlaubt, sofern man die bereits genannten Buchstaben noch einmal aufgriff. »Dürfte ich vorher um die Definition bitten?« Sie hielt es für taktisch klug, so viele Fragen wie möglich zu stellen, vor allem, wenn man sich unbehaglich fühlte – obwohl sie ja die Antworten kannte. Mit ihren fünfzehn Jahren hatte Vera schon eine kokette, routinierte Art im Umgang mit Erwachsenen entwickelt, die ihrer Meinung nach erstaunlich leicht hinters Licht zu führen waren.
»Scharlatan. Jemand, der besonders prahlerisch bestimmte Fähigkeiten oder Kenntnisse vortäuscht. Betrüger.« Mr. Kings bedächtige Stimme schien losgelöst von seinem Glatzkopf, der im Dunst hinter den Scheinwerfern feucht glänzte.
Vera holte tief Luft. Sie war bereit. Sie war hellwach. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet, den Herausforderungen einer gnadenlosen Welt gegenüberzutreten. Das ist gar nichts, verglichen mit dem, was kommen wird, sagte sie sich. Wenn du schon ein Scharlatan bist, dann sei wenigstens ein guter. Sie buchstabierte das Wort voller Stolz. »Scharlatan. S-C-H-A-R-L-A-T-A-N. Scharlatan.«
Sie schickte sich an, an ihren Platz zurückzukehren, noch bevor der Juryvorsitzende sagte: »Das ist korrekt.« Beifall brandete auf, hob sie empor wie eine Welle und trug sie zu ihrem Klappstuhl, um sie dort abzusetzen. Sie liebte den Applaus. Wie die meisten Scharlatane.
Arthur Ito, ein kleiner japanischstämmiger Junge, der Wörter wie »Daguerreotypie« und »Inkunabeln« gemeistert hatte und daher unschlagbar schien, trat ans Mikrofon, schob seine Brille die Nase hinauf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Aretalogie«, sagte Mr. King.
Der Junge zwinkerte. »Können Sie mir bitte die Herkunftssprache nennen?«
»Das Wort stammt aus dem Griechischen«, antwortete Mr. King.
Arthur schloss die Augen und sagte praktisch in einem Atemzug: »Aretalogie. A-R-A-T-A-L-O-G-I-E.«
Nach dem kurzen, niederschmetternden Bimmeln der Glocke war hier und da ein Aufstöhnen zu hören – trotz des vom Zweiten Weltkrieg herrührenden und immer noch anhaltenden Misstrauens Japanern gegenüber war das Publikum weitestgehend auf Arthurs Seite. Er schob seine Brille hoch und ging mit der gleichen ausdruckslosen Miene davon, die er auch nach einem korrekt buchstabierten Wort aufgesetzt hatte. Erst auf dem Weg zur Seitenbühne ließ er den Kopf hängen und schlug die Hände vors Gesicht.
Vera, die regungslos und angriffslustig auf ihrem Klappstuhl am hinteren Rand des Podiums saß, blickte erst nach links, dann nach rechts. Jetzt waren nur noch sieben übrig. Noch hatte sie eine Chance, eine Chance von 14,29 Prozent, um genau zu sein. Aber sie waren jetzt in der Endrunde, wo die Wörter heimtückisch wurden und die Fallen sehr viel hinterhältiger als die simple Verwechslung von E und A, die Arthur zum Verhängnis geworden war.
Während sie darauf wartete, bis sie wieder an der Reihe war, versuchte sie, sich vorzustellen, wie das Leben dieser Jugendlichen, die einen festen Wohnsitz in Minneapolis, San Francisco oder Denver hatten, wohl aussehen mochte. Einerseits war sie neidisch auf die soliden Verhältnisse, in denen die anderen lebten und über die sie gern mehr gewusst hätte, andererseits ging sie davon aus, dass ihr Leben schrecklich öde sein musste. Woraus waren ihre Häuser? Waren sie schick oder schlicht? Gab es dort lange, gerade Auffahrten und Hunde, die auf dem Wohnzimmerteppich lagen?
Vera seufzte abschätzig und dachte: Was für ein langweiliges Leben. Im Geist buchstabierte sie die Wörter, die zwei weitere Kandidaten aus dem Rennen warfen – »Katharometer« und »Krepitation«. Dann kam ein hübscher, schlanker Junge an die Reihe, fünfzehn wie sie selbst, der, wie sie gehört hatte, auch in einem Hotel wohnte, allerdings immer im selben, und zwar in diesem hier, dem luxuriösen Hawthorne in Washington, D.C., nur wenige Straßen vom Weißen Haus entfernt.
Er hieß Stanley. Ein merkwürdiger Junge. Vera wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Er machte einen trägen, zurückhaltenden Eindruck und drückte sich so tief in seinen Klappstuhl, dass er regelrecht mit ihm zu verschmelzen schien, aber auf der anderen Seite strahlte er für einen Fünfzehnjährigen eine unglaubliche Lässigkeit und eine viel zu große Selbstsicherheit aus. Wie er in seiner Tweedjacke und den übergroßen Budapester Schuhen mit federnden Schritten zum Mikrofon ging, es in die Hand nahm, sich räusperte und sich dann ganz dicht zu ihm hinbeugte, als wäre das ganz normal und keineswegs irgendwie komisch – wie ein Professor am Vortragspult oder wie ein Zauberer.
»Unkorrigierbar«, sagte Mr. King.
Ganz genau, dachte Vera. Diesen Eindruck macht er. Und dazu vielleicht eine Spur arrogant. Unkorrigant. Das wäre ein Wort für ihn.
»Unkorrigierbar«, wiederholte Stanley. Er buchstabierte sorgsam, wobei er jeden Buchstaben aussprach, als handelte es sich um etwas Zartes, Empfindliches – einen Welpen oder einen Schössling –, wartete höflich, bis der Juryvorsitzende bestätigte, was er bereits wusste – dass er korrekt buchstabiert hatte –, sagte: »Danke, Sir«, drehte sich um und kehrte lautlos an seinen Platz zurück. Eine Sekunde lang richtete er scheinbar desinteressiert seinen Blick auf Vera und sah dann wieder weg.
Ich werde ihn schlagen, dachte Vera. Wenn dieser Tag vorbei ist, wird sich der Name Vera Baxter tief in sein Gedächtnis gebrannt haben.
*
Zum ersten Mal, seit er an solchen Wettbewerben teilnahm, fühlte sich Stanley ein bisschen erschöpft, als er auf seinem Klappstuhl Platz genommen hatte. Er hatte sein Leben lang so getan, als wäre er ehrgeizig, fleißig, verantwortungsbewusst, dabei war er lediglich begabt und mit einem Gedächtnis ausgestattet, das niemals etwas vergaß. Die Wahrheit war, dass er keinen anderen Ehrgeiz verspürte als den, auf seinem Bett zu liegen, an die Decke zu starren und über alles Mögliche nachzudenken. Manchmal hätte er gern ein Mädchen an seiner Seite gehabt, aber das war so ziemlich alles, was er sich vom Leben wünschte. Einfach nur in Ruhe gelassen zu werden.
Stattdessen saß er jetzt hier auf diesem Podium und täuschte einmal mehr vor, jemand zu sein, der er nicht war. Noch waren die Wörter nicht sonderlich schwierig geworden, aber der Druck, sich zusammenzunehmen, zum Mikrofon zu gehen, sein Wort unter der erdrückenden Aufmerksamkeit, insbesondere der seiner Mutter, zu buchstabieren und dann langsam an seinen Platz zurückzukehren, machte ihm zu schaffen. Nach Arthur Itos Ausscheiden hatte Stanley das Gefühl, jetzt tatsächlich eine Chance zu haben. Er hatte ruhig dagesessen und sich gesagt, dass es ihn nicht interessiere, ob er gewann oder nicht, aber als er jetzt den Kopf drehte und den Pokal auf einem Tisch am Rand des Podiums glänzen sah, musste er sich eingestehen, dass er ihn zu gern mit auf sein Zimmer nehmen würde.
Der nächste Kandidat war ein blonder Junge, der auf einer Farm in Indiana zu Hause war. Stanley hatte im Hotelfoyer mit ihm geplaudert. Es war, so lange er denken konnte, sein Wohnzimmer. Hier verbrachte er die meiste Zeit, hier sprach er mit Senatoren, Generalen und Admiralen, mit Mitgliedern des diplomatischen Diensts von einfachen Angestellten bis zu Botschaftern, mit politischen Redenschreibern, Lobbyisten, Reportern von der Washington Post und der New York Times, mit Douglas Edwards von den Fernsehnachrichten. Aber er hatte nur äußerst selten Gelegenheit, sich mit einem anderen Jungen zu unterhalten, erst recht nicht mit einem von einer Farm im Mittleren Westen. Die beiden hatten sich in die tiefen, bequemen Ledersessel zwischen den Marmorsäulen in der Hotelhalle gesetzt und sich gegenseitig Wörter abgefragt. Stanley wünschte ihm insgeheim Glück, er hoffte, dass, falls er selbst nicht gewann, dieser Junge Sieger wurde.
Sein Wort lautete »Biolumineszenz«. Das weiß er bestimmt, dachte Stanley, schließlich hat er da, wo er herkommt, schon jede Menge Glühwürmchen gesehen.
»Die Definition, bitte?«, fragte der Junge. Seine vom Mikrofon verstärkte Stimme knackte.
Eine Pause entstand, als Mr. King seinen dicken Finger im Wörterbuch auf das betreffende Wort legte und vorlas: »Die Erzeugung von Licht in lebenden Organismen durch innere oxidative Prozesse.«
Wider Erwarten ertönte die Glocke: Der Junge hatte das Wort am Ende falsch buchstabiert – »-essenz« statt »-eszenz«. Ein dummer Flüchtigkeitsfehler. Stanley beobachtete, wie sich Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen abzeichnete, als er herumwirbelte, um das Podium zu verlassen. Das war das Ende seiner langen Reise. Er hätte die richtige Antwort wissen müssen, das war ihm klar, aber vielleicht war er müde oder nervös oder beides.
Dann kam das stille, sichtlich aufgeregte Mädchen in dem blauen Kleid an die Reihe. Sie hieß Vera, und Stanley glaubte auf einmal zu wissen, was an ihr so anders war: Sie glich einem jener lumineszierenden Lebewesen. Ihre bleiche, fast bläuliche Haut schien das Licht vom Podium förmlich aufzusaugen und wieder abzugeben. Das war zwar reizvoll, aber sie hatte andererseits etwas an sich, das ihn abstieß – vielleicht ihre Verschlossenheit, ihre verbissene Konzentration. Sie war gut. Sie stellte eine Bedrohung dar. Er wusste nicht, warum er gewinnen wollte – diese ganze Geschichte war die Idee seiner Mutter gewesen –, aber gewinnen wollte er, und so hoffte er auf ein richtig fieses Wort für sie.
»Nigromant«, sagte Mr. King, den Finger auf der Buchseite, als bestellte er eine Weinrarität.
»Ich hätte gerne die Definition.« Trotz ihres zarten Äußeren sprach das Mädchen in kräftigem, fast provozierendem Ton.
»Zauberer, Magier, insbesondere einer, der schwarze Magie betreibt.«
Stanley ertappte sich dabei, wie er sie fasziniert anstarrte, als sie die Buchstaben geradezu hervorsprudelte und dann aufreizend langsam an ihren Platz zurückkehrte.
Er sah seine Mutter in der ersten Reihe; die Augen weit aufgerissen, zuckte sie immer wieder zurück wie ein in die Enge getriebenes Tier. Es war ihrem gemeinsamen Freund Sonny Jones, einem der Geschäftsführer des Hotels und Hans-Dampf-in-allen-Gassen, zu verdanken, dass sie sich von ihrem Lesesessel in ihrem Zimmer losgeeist hatte und heruntergekommen war, um sich den Buchstabierwettbewerb anzusehen. Diese Wallfahrt war ein eindeutiger Beweis für Sonnys Begabung, weil Stanleys Mutter eine krankhafte Furcht vor Menschen hatte – Anthropophobie nannte man das – und dies einer ihrer höchst seltenen Ausflüge aus ihrer Suite war. Nach dem Tod ihres im Zweiten Weltkrieg gefallenen Mannes, der im Hotel als Gepäckträger angestellt gewesen war, hatte die Geschäftsleitung ihr und ihrem Sohn, der seinen Vater nie kennengelernt hatte, die Suite 512, die William-Henry-Harrison-Suite, zur Verfügung gestellt. Seitdem wohnten Stanley und seine Mutter dort für die symbolische Miete von einem Dollar pro Monat. Die Suite war die am wenigsten einladende im ganzen Hotel, und Stanley vermutete, dass die Großzügigkeit der Geschäftsführung nicht zuletzt auf diesen Umstand zurückzuführen war. Wer sich eine Suite leisten konnte, würde alles andere als begeistert sein von diesen beengten Räumen, die nach einem amerikanischen Präsidenten benannt worden waren, der nach nur einmonatiger Amtszeit verstorben war.
Stanleys Mutter, die ihren Sessel am Fenster mit Blick auf die Vermont Avenue seit den frühen 1950er-Jahren nicht mehr verlassen hatte, hatte in der Washington Post von dem Buchstabierwettbewerb gelesen. Es war nicht so sehr der Wettbewerb selbst, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, sondern die Tatsache, dass der Gewinner am regionalen und anschließend sogar am Nationalen Buchstabierwettbewerb teilnehmen konnte, der in diesem Jahr in ihrem Hotel stattfinden würde.
»Das wär doch was«, sagte sie zu Stanley und klatschte mit dem Handrücken gegen die Zeitung – eine für sie ungewöhnlich lebhafte Geste. »Hier, bei uns, in unserem eigenen Festsaal!«
Aus allen Bundesstaaten würden Kinder zu diesem Wettbewerb anreisen, aber ihr Stanley, ihr künftiger Senator, bräuchte einfach nur über den scharlachroten Teppich im Korridor zum Lift zu gehen und in der goldenen Kabine zum Festsaal hinunterzufahren. Es war diese Bequemlichkeit und weniger ein übermäßiges Interesse am Buchstabieren, die in ihr die Idee keimen ließ, ihr Sohn müsse ein Meister des Buchstabierens werden, der erst regionale, dann landesweite Wettbewerbe gewann, bis er unter den letzten vier von ursprünglich einhundertdrei Kandidaten wäre und, bereit für die nächste Herausforderung, mit federnden Schritten ans Mikrofon treten würde.
Mr. King blickte prüfend auf das Wort, das er unter seinem Zeigefinger gefangen hielt.
»Palimpsest.«
*
Veras Neugier war in heftige Abneigung umgeschlagen. Dieser Stanley war zu arrogant, zu selbstbewusst. Er war ihr von Anfang an irgendwie scheinheilig vorgekommen. Und jetzt, als sie das Wort hörte, das er buchstabieren sollte, war sie enttäuscht. Sie hatte gehofft, er bekäme etwas Schwierigeres, ein richtiges Killerwort.
»Palimpsest«, wiederholte Stanley. »Wie lautet die Definition, Sir?«
»Ein antikes oder mittelalterliches Schriftstück auf Pergament oder Papyrus, auf dem nicht mehr der ursprüngliche Text steht«, antwortete Mr. King. »Dieser wurde abgeschabt und etwas Neues darauf geschrieben.«
Vera schob eine Hand unter ihren Oberschenkel und betrachtete Stanley prüfend.
»Ist es richtig, dass dieses Vorgehen bisweilen auch zur Urkundenfälschung diente?«, fragte Stanley.
Mr. King war deutlich anzusehen, was er dachte. Er blickte auf sein Buch hinunter und sagte: »Äh, ja, das ist richtig.«
Leises Gelächter war im Publikum zu hören. Vera hatte ihre Hand unter ihrem Bein hervorgezogen und vor den Mund geschlagen. So ein Angeber, dachte sie.
Stanley buchstabierte das Wort sorgfältig und mit Leichtigkeit und kehrte dann unerträglich würdevoll an seinen Platz zurück. Vielleicht bin ich nicht der einzige Scharlatan hier, dachte Vera.
Sie ließ ihre Blicke über die Zuschauer schweifen und fragte sich, welches wohl Stanleys Eltern waren. Jetzt war Donna Walker, eine sehr gescheit aussehende Dreizehnjährige aus Seattle mit Brillengläsern so dick wie Sicherheitsglas, ans Mikrofon getreten und begann zu buchstabieren. Vera hatte das vorgegebene Wort nicht gehört. Donna sprach die Buchstaben so zögernd und vorsichtig aus, als wagte sie sich auf einen zugefrorenen See.
»I-M…«
Um welches Wort handelte es sich wohl?
»P-O-S-S…«
Vera wusste, dass Donna einen Fehler gemacht hatte. Mechanisch legte sie sich eine Hand über die Augen.
»A-N-T.«
Die Glocke ertönte. Mr. King buchstabierte die korrekte Version des Wortes »imposant«, und eine der Hilfskräfte führte das leise schluchzende Mädchen vom Podium.
Jetzt waren nur noch drei Kandidaten übrig. Vera legte den Kopf schief und warf Stanley einen verstohlenen Blick zu.
Agatha, die Letzte, die noch mit im Rennen war und die mit ihren Eltern, ihren Großeltern und einigen Dutzend Malamut-Hunden in Alaska lebte, trat ans Mikrofon. Ihr Vater war Chemiker, und ihre Mutter züchtete Hunde. Agatha war sehr kontaktfreudig und hatte sich gleich am allerersten Tag in Washington mit Vera angefreundet. Vera hatte auch ihre Eltern kennengelernt. Sie entdeckte sie im Publikum, wo sie sich auf ihren Plätzen angespannt vorbeugten. Ihre Haltung ähnelte jener der Hunde in ihren Schlittengeschirren.
»Thuribulum.«
Agatha bat um die Wortbedeutung und bekam sie: ein im Gottesdienst benutztes Weihrauchfass.
Agatha bat um die Herkunftssprache und bekam sie: das Lateinische.
Vera buchstabierte das Wort im Stillen und wartete. Sie würde als Nächste an die Reihe kommen. Ein Anflug von Nervosität erfasste sie, und sie kämpfte dagegen an. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, zog die Stirn in Falten und wünschte Agatha, obwohl diese ihre Konkurrentin war, dass sie ihr Wort richtig buchstabierte. Die neunzig Sekunden, die Agatha zustanden, waren fast um.
»T-H-U-R-R…«
*
In diesem Moment wusste Stanley, wer seine letzte Herausforderin sein würde. Er beobachtete, wie Vera zum Mikrofon stolzierte. Es sah aus, als hätte sie sowohl die Jury als auch das Publikum völlig unter Kontrolle. Sie glühte förmlich in all ihrem von innen heraus leuchtenden Glanz.
Während Vera wartete, gab Mr. King bekannt, dass es in dieser Schlussrunde mit nur noch zwei Kandidaten um die Meisterschaftswörter gehe. Sie waren einer Furcht einflößenden Liste der fünfundzwanzig schwierigsten Wörter der englischen Sprache entnommen, die teuflischerweise in den tiefsten Tiefen des Wörterbuchs ausgegraben worden waren. Wer zuerst einen Fehler machen würde, schied aus. Der übrig gebliebene Kandidat müsste noch ein letztes Wort richtig buchstabieren, bevor er zum Gewinner erklärt werden würde.
Veras Finger schlossen sich fester um den Mikrofonständer. Mr. King räusperte sich. An den staubigen Strahlen der Scheinwerfer konnte man sehen, wie stickig die Luft war. Irgendwo im Publikum knarrte ein Stuhl.
»Oligopsonie«, verkündete Mr. King in einem Ton äußerster Ernsthaftigkeit, und in diesem Moment sackte Vera in sich zusammen.
In einer großen wellenförmigen Bewegung von vorn nach hinten sprangen die Zuschauer von ihren Stühlen auf. Hilfskräfte eilten herbei, und der Tisch der Jury leerte sich, als die Mitglieder das junge Mädchen umringten. Dann bahnte sich eine Frau einen Weg durch die Menge, so zielstrebig und energisch wie eine Ärztin. Sie kniete sich neben Vera, nahm sie in ihre Arme und schob ihr mit routinierter Geschicklichkeit Rosinen, die sie aus ihrer Handtasche kramte, in den Mund.
»Ein niedriger Blutzuckerspiegel«, sagte die Frau zu den Jurymitgliedern, den Hilfskräften und zu Stanley Owens, der sich den Hals verrenkte, um über die Köpfe der anderen hinweg etwas sehen zu können. »Sie ist…«
»Hypoglykämisch«, murmelte Vera sachlich. Sie lag da und starrte an die insektenähnliche Unterseite der Decke hinauf.
Mr. King und die anderen Jurymitglieder kannten die Frau offenbar, die sich jetzt den Umstehenden vorstellte: »Ich bin Veras Mutter, Vivian Baxter.« Als sie kurz schilderte, dass ihre dickköpfige Tochter sich geweigert habe, am Morgen ihren Haferbrei zu essen, fiel Vera ihr ins Wort.
»Oligopsonie«, sagte sie, immer noch auf dem Rücken liegend und an die Decke starrend. »O-L-I-G-O-P-S-O-N-I-E.«
Mr. King beugte sich vor, sodass Vera sein fleischiges Gesicht sehen konnte, und stellte in amüsierter Verwirrung fest: »Das ist korrekt, junge Dame.«
*
Als Vera wieder an ihrem Platz zwischen all den leeren Stühlen der ausgeschiedenen Kandidaten saß und verbissen Rosinen kaute, beobachtete sie Stanley, wie er sich durch die Haare fuhr. Sie konnte sich ihren Schwächeanfall nicht verzeihen. Zu gern hätte sie sich aus dem Saal geschlichen und draußen eine von den Chesterfields gepafft, die sie vor ihrer Mutter versteckte, nicht unbedingt weil sie jetzt eine Zigarette gebraucht hätte, sondern weil sie sich darin gefiel, etwas Gewagtes zu tun, etwas, für das sie eigentlich noch zu jung und das deshalb verboten war.
Sein Wort war »seigneural«. Da musste er nicht erst nach der Herkunft fragen: Das Wort stammte natürlich aus dem Französischen. Die beiden letzten Silben waren nicht das Problem. Deren Schreibweise kannte er, das wusste sie. Es war der Anfang, über den er nachdachte. Aber so viele Möglichkeiten gab es nun auch wieder nicht. So furchtbar schwer war das Wort nicht. Ließ er sich absichtlich so viel Zeit, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen? Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, sie gönnerhaft zu behandeln. Zu guter Letzt seufzte er, buchstabierte das Wort korrekt und kehrte an seinen Platz zurück. Im Vorübergehen schaute er auf sie hinunter und lächelte. Misstrauisch fragte sie sich, ob sein Lächeln aufrichtig oder selbstgefällig gewesen war.
*
Stanley vermied es nach Kräften, seine Mutter anzusehen. Sonny saß hinter Martha und hatte ihr seine Hände fest auf die Schultern gelegt, als versuchte er, eine nasse Katze in der Badewanne festzuhalten. Sonny, der die Onkelrolle in Stanleys Leben einnahm, war vierzig und ging auf die achtzehn zu. In gewisser Weise war er das Gegenteil von Stanley. Sonny lächelte die ganze Zeit. Er hatte prächtige Zähne und war gertenschlank, obwohl er alles Essbare, das in Reichweite seiner schnuppernden Nase vorbeikam, zumindest probieren musste. Er hatte den Stoffwechsel eines Löwen und die Gier eines Eichhörnchens nach den unproduktiven Beschäftigungen des Lebens. Er war so etwas wie ein Vaterersatz für Stanley, jemand, der ihm väterliche Ratschläge gab, der ihm auf dem Tennisplatz den Aufschlag zeigte und auf dem Hoteldach, wie man einen Pitch warf. Jetzt war er Stanley mit Martha behilflich, die dieser nicht ansehen konnte ohne den bangen Gedanken, was wohl passieren würde, wenn er den Wettbewerb verlor. Durch die Tür an der Rückseite des Saals traten ein paar Männer ein, Senatoren aus Virginia, Maryland und Delaware, mit denen Stanley gut bekannt war. Deren prüfende Blicke machten ihn nicht so nervös wie seine Mutter, die reglos dasaß, das Kinn auf ihre Faust gestützt.
Veras Wort lautete »thukydideisch«. Vera pflegte eine kleine Sammlung nervöser Ticks: Augenreiben, Ellenbogenbeugen, Nackenknirschen, Fingerknacken, Haarezurückwerfen – allesamt entwickelt unter dem Druck ihrer Ansprüche an sich selbst. Jetzt, während »thukydideisch« wartete, ging sie sie nacheinander durch. Ob sich das Wort vom griechischen Historiker Thukydides herleite, wollte sie dann wissen, ehe sie es korrekt buchstabierte. Stanleys Mutter lehnte sich zurück, nahm ihre Brille ab und putzte sie mit ihrem Taschentuch.
*
Vera beobachtete, wie ihre Mutter Stanley beobachtete. Ihre Mutter war eine gewiefte Wettkämpferin, und Vera ahnte, dass sie am liebsten das Podium betreten und selbst am Wettbewerb teilgenommen hätte. Seit vielen Jahren waren sie miteinander unterwegs, Jahre, in denen sie teils in New York City, teils in Hotels wohnten, während Vivian auf der Suche nach einem Ehemann und als Sekretärin eines Vertriebsleiters viel auf Reisen war – wobei sie zuweilen hoffte, Letzteres würde zu Ersterem führen. Vera hatte sich unterdessen in ihre Bücher geflüchtet und zu einem scharfen Lerninstrument geformt. Das Lernen wurde ihre Leidenschaft, vor allem die Mathematik hatte es ihr angetan. Sie konnte nicht verstehen, dass Mathematik im Allgemeinen als trocken galt. Für sie war Mathematik eine Spielwiese der Fantasie, reich an Ideen und faszinierender Magie. Vera begeisterte sich aber auch für Sprachen, sie liebte französische Romane, die sie aus dem Auto ihrer Mutter in völlig andere Welten voller Abenteuer und Leidenschaft entführten.
Stanleys Wort war »Skordatur«. Vera konnte ihrer Mutter ansehen, wie sie über die Schreibweise nachgrübelte und insgeheim damit rechnete, dass Stanley darüber stolpern würde. Sie spürte aber auch, wie fasziniert Vivian von dem frühreifen Jungen war. Stanley hob grüßend die Hand in Richtung der wichtig aussehenden Männer ganz hinten im Saal und begann dann zu buchstabieren. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, während er jeden Buchstaben laut und deutlich als ehrenwertes Mitglied des Alphabets vorstellte. Die Männer hinten im Saal klatschten Beifall, als Mr. King erklärte, das Wort sei korrekt buchstabiert worden. Stanley nickte und bedankte sich bei Mr. King.
*
Der Wettbewerb ging flott voran, und keiner der beiden Fünfzehnjährigen zeigte irgendein Anzeichen von Schwäche.
Vera buchstabierte »Myzetismus«.
Stanley buchstabierte »Pyrrhussieg«.
Vera buchstabierte »Ageusie«.
Stanley buchstabierte »Chopine«.
Vera bekam »piscivor« und durchlief nacheinander das Augenreiben, das Ellenbogenbeugen, das Nackenknirschen und das Fingerknacken. Sie stolperte und hielt sich am Mikrofonständer fest. Die Zuschauer sprangen auf.
»Alles in Ordnung«, sagte sie beruhigend. Ein nervöses Lachen ging durch den Saal. Gelassen fragte sie die Jury, ob sich das Wort vom lateinischen piscis, Fisch, ableite. Als das bejaht wurde, räusperte sie sich und buchstabierte das Wort mühelos und in vollendeter Haltung. Das sei korrekt, bestätigte Mr. King. Vera vollführte einen kleinen Freudenhopser und kehrte an ihren Platz zurück.
Als Stanley nach kurzer Überlegung »Insessores«, in der Vogelkunde die Sitzfüßler, buchstabiert hatte, waren ein Lächeln und ein leichtes Zehenwippen seine einzigen Freudenbekundungen, bevor er an seinen Platz neben Vera zurückging. Seine Welt war zu einem kleinen Dreieck geschrumpft, dessen Eckpunkte seine Mutter, die Jury und sein Platz nahe der rätselhaften Vera bildeten. Alles andere verschwamm im Dunst. Hinter Veras statischem Äußeren spürte Stanley einen Tiger, der unruhig in seinem Käfig hin und her wanderte.
»Damaszener«, sagte Mr. King.
»Damaszener«, wiederholte Vera und buchstabierte: »D-A-M-A-S-Z-E-N-E-R. Damaszener.« Sie stellte keine Fragen, zeigte keinerlei Gefühlsregung. Stanley spürte die sengende Hitze ihrer Konzentration, als sie an ihm vorbei zu ihrem Platz ging.
Mr. King machte mittlerweile einen erschöpften Eindruck. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Schweigen im Publikum. Stille im Saal, abgesehen vom Summen der Deckenventilatoren und dem lautsprecherverstärkten Knistern der Papiere auf dem Tisch der Jury. Stanley trat an das riesige Mikrofon in seinem Drahtkäfig.
*
»Exsikkose«, verkündete Mr. King würdevoll.
Vera beobachtete, wie Stanleys Kiefer und seine Schultern sich bewegten, als er um die Definition und die Herkunftssprache bat. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Seine Schulterblätter zeichneten sich unter seinem Jackett ab.
Im Geist versuchte sie sich selbst an Stanleys Wort, gerade als dieser zu buchstabieren begann: »E-X-I-K-O-S-E.«
Die Glocke bimmelte. Eine Katastrophe. Es schien, als könnten die Jurymitglieder ihn nicht ansehen. Seine Mutter starrte auf einen fernen Punkt an der Decke, und Sonny drückte seine Hände fest auf ihre Schultern. Stanleys Beine trugen ihn irgendwie zu seinem Platz zurück.
»Wird das nächste Wort korrekt buchstabiert«, sagte Mr. King, obwohl ja alle die Regeln kannten, »haben wir einen Gewinner.«
Vera trat ans Mikrofon.
»Dioskuren«, sagte Mr. King.
»Dioskuren«, wiederholte sie. »Stammt das Wort aus dem Griechischen?«
»In der Tat.«
Eine lange Pause entstand. Veras Mutter schlug die Beine übereinander, stellte sie wieder gerade, schlug sie andersherum übereinander und wiederholte das Ganze mehrmals, wobei sie jedes Mal ihren Rock glatt strich.
»D…«
Die Zuschauer holten kollektiv Luft.
»I-O-S-C-U-R-E-N. Dioscuren.«
Ding! ertönte die Glocke. Bewegung kam in die Zuschauer, aufgeregtes Gemurmel brandete auf. Stanley war wieder im Rennen.
»Wir haben noch sechs Wörter«, sagte Susan Nestor, die Veranstalterin des Wettbewerbs. »Wenn ihr beide diese Wörter richtig buchstabiert, sind wir am Ende der Liste angelangt. Das wäre erst das zweite Mal in der Geschichte des Nationalen Buchstabierwettbewerbs, dass wir ein Unentschieden haben.«
In Vera gärte es, sie bekam plötzlich Platzangst und wäre am liebsten vom Podium und aus dem Gebäude gestürmt, aber sie ließ sich treiben, orientierungslos in einem Nebel von Buchstaben und Vorsilben und Endungen. Stanley bekam »Flambeau« und buchstabierte es richtig. Vera hasste ihn. Sie hasste ihn.
Vera buchstabierte »Oecus«.
Stanley buchstabierte »Salaam«.
*
»Appoggiatura.«
Stanley beobachtete, wie ihre schlanke Gestalt ein wenig schwankte, während sie ihre gewohnte Prozedur durchlief. Er machte die Augen zu und wünschte, sie würde ein P oder ein G auslassen oder so dumm sein, ein zweites R einzufügen.
»Appoggiatura«, hörte er sie sagen. »A-P-P-O-G-G-I-A-T-U-R-A. Appoggiatura.«
*
»Eudämonistisch.«
Vera stellte sich vor, wie ein Auto auf einer Bergstraße eine Leitplanke, dünn wie Aluminiumfolie, durchbrach, ein Auto mit Stanley auf dem Rücksitz, der endlich seine nervtötende Selbstbeherrschung verlor, als der Wagen in die Tiefe schoss und eine gewaltige Explosion wie in einem Zeichentrickfilm folgte.
»Eudämonistisch«, sagte er ruhig. »E-U-D-Ä-M-O-N-I-S-T-I-S-C-H. Eudämonistisch.«
*
»Wir kommen jetzt zum letzten Wort auf unserer Liste der Meisterschaftswörter. Unsere letzte Chance, einen einzigen Gewinner zu haben«, sagte Susan Nestor. Leises Raunen im Publikum. Vera stand am Mikrofon.
Dann sagte Mr. King: »Das Wort lautet Ornithorhynchus. Ornithorhynchus.«
Vera erkundigte sich nach der Wortbedeutung – es handelte sich um ein Schnabeltier – und schwieg. Kein Nackenknirschen. Kein Fingerknacken. Kein Haarezurückwerfen. Sie ließ den Kopf hängen, als wollte sie ihre Niederlage eingestehen. Stanley blickte ins Publikum und sah, wie seine Mutter nach ihrer Handtasche griff. Dass ihr Sohn gewann, stand für sie außer Frage. Sie stand auf und ließ sich von Sonny aus dem Saal begleiten.
Veras Mutter, Vivian, saß in ihrem schwarzen Kleid angespannt auf der Stuhlkante und bildete dank ihrer perfekten Haltung ein zackiges L. Im Saal herrschte Stille. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, hing im Raum. Was war denn los? Hatte sie etwa aufgegeben? Stanley, die Hände in den Hosentaschen, saß einfach nur da. Wie ein Sieg fühlte sich das nicht an.
Als seine Mutter durch die Doppeltür an der Rückseite des Saals hinausging, fuhr ein Luftzug herein und bis zum Podium hinauf, wo er Vera endlich aus ihrer Benommenheit riss.
»Ornithorhynchus«, sagte sie wie in Trance. »O-R-N-IT-H-O-R-H-Y-N-C-H-U-S.« Sie sprach das Wort noch einmal aus und wusste, sie hatte es geschafft. Ihre Stimme schwoll triumphierend an. Das Publikum jubelte und klatschte wie wild. Susan kam auf das Podium, fasste Stanley und Vera an den Händen und brachte sie zusammen.
»Wir haben ein Unentschieden! Diese zwei hier haben den Sieg gleichermaßen verdient, weil sie sich tapfer durch die ganze Liste der Meisterschaftswörter buchstabiert haben!«
Vera hüpfte aufgeregt auf und ab. Obwohl sie nicht, wie erhofft, die alleinige Gewinnerin war, kannte ihre Freude keine Grenzen. Stanley machte ein zufriedenes Gesicht. Mit diesem Ergebnis würde seine Mutter leben können.
*
Gemeinsam trieben Vera und Stanley durch die bunte Welt des obligatorischen Begafftwerdens, wo das Licht – die Blitzlichter, die Beleuchtung der Fernsehstudios, die ausgeleuchteten Standfotos unter Reflexschirmen, die Großstadtlichter – allem eine traumähnliche Qualität verlieh und den Eindruck schuf, die Tage seien mit Feenstaub bestäubt. Ihre gegenseitige Abneigung wurde einfach unter den Teppich gekehrt. Sie mussten Auftritte absolvieren wie ein königliches Paar, posierten pflichtgemäß in nachgestellten Buchstabierwettbewerben und wurden unsanft herumgeschubst und -gestoßen wie Jahrmarktsattraktionen. Sie ließen das Ganze in einem rauschähnlichen, benebelten Zustand über sich ergehen, was eine Erklärung dafür sein mochte, dass eine erschöpfte Vera eines Abends nach der Rückkehr in ihr Hotelzimmer Sie sind herzlich eingeladen auf einen Notizblock kritzelte. Und dann in sorgfältigen Buchstaben hinzufügte: zur Hochzeit von Vera Baxter und Stanley Owens. Sie starrte das Geschriebene ausdruckslos an, riss das Blatt angewidert ab, zerknüllte es und warf es in den Müll.
*
Juni 1962
»Sieht nach gar nichts aus, oder?«, sagte Vera.
»Ja. Wie ein zusammengedrückter Penny«, erwiderte Stanley.
»Oder ein verrosteter Kronkorken.«
Zwei Jahre waren seit dem Wettbewerb vergangen. Im Juni des Vorjahres, bei ihrem ersten Besuch in der Stadt als »Ehemalige«, waren sie von einem Reporter der Washington Post für einen Gewinner im Doppelpack betitelten Artikel über ihren gemeinsamen Sieg interviewt worden. Dabei hatte sich herausgestellt, dass Vera sich Washington noch nie richtig angesehen hatte. Und deshalb waren sie jetzt hier, in einer Abteilung des Army Medical Museum, die sich Abraham Lincoln widmete, und lasen von einem kleinen Messingschild an dem schneekugelähnlichen Glasbehälter ab, worum es sich bei dem Ding darunter handelte: Die Kugel, mit der der Präsident ermordet wurde.
»Ich krieg richtig Gänsehaut«, sagte Vera.
»Ja, geht mir auch so. Aber das ist lange nicht so gruselig wie die anderen Sachen, die wir hier gesehen haben.« Stanley spielte auf die Gipsabdrücke von Lincolns Gesicht mit den leeren Augenhöhlen und von seinen Händen an, die aussahen, als wollten sie nach ihnen greifen. Und diese schauerlichen Amputationsinstrumente aus der Bürgerkriegszeit. Das Verstörendste, Beklemmendste aber war der wachsbleiche Fötus, der in einem Glasgefäß schwebte und an einer schweren Fehlbildung litt, der Zyklopie: Er hatte ein einzelnes Auge oberhalb des Mundes und darüber eine Rüsselnase.
»Machen wir, dass wir hier rauskommen«, sagte Vera. »Und wohin jetzt, Herr Fremdenführer?«
Stanley führte sie an altertümlichen Prothesen, antiquierten Mikroskopen und Probenbehältern mit sonderbaren Inhalten vorbei nach draußen. Sie winkten ein Taxi heran und stiegen ein.
»1529 Eighteenth Street Northwest, bitte«, sagte Stanley und fügte an Vera gewandt hinzu: »Ich glaube, unser nächstes Ziel wird dir gefallen.«
Das Taxi hielt vor einem hellbraunen Backsteingebäude mit einem Gitterzaun und einem Gittertor davor. Vera stieg aus und sagte: »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Wo sind wir hier?«
»Das ist der Hauptsitz der Mathematical Association of America. Keine Ahnung, ob es hier irgendetwas zu sehen gibt, aber ich dachte mir, das ist allemal spannender als Skulpturen von toten Präsidenten.«
»Das seh ich genauso.« Vera öffnete das Tor und ging die Treppe zum Eingang hinauf.
Auf einem Tisch in der Eingangshalle entdeckten sie eine Staffelei mit einem Schild, auf welchem stand: Aufgabe des Tages. Die beiden blieben stehen und lasen den Text: Al erkrankt an Algebritis und muss zwei Wochen lang täglich eine grüne und eine rosarote Tablette nehmen. Eine grüne Tablette kostet zehn Cent mehr als eine rosarote, und die Kosten für alle Tabletten in diesen zwei Wochen belaufen sich auf $ 54.60. Wie viel kostet eine grüne Tablette?
»Ganz schön teuer, diese Tabletten«, meinte Stanley.
»Das ist ja kinderleicht«, sagte Vera und ging weiter. Stanley blieb noch einen Augenblick grübelnd stehen und folgte ihr dann.
Sie wandten sich an die Empfangsdame, die ihnen mitteilte, sie hätten den Vorsitzenden der Vereinigung, Albert Tucker, leider verpasst, er sei am Tag zuvor nach Princeton zurückgefahren, sie dürften sich aber gerne umsehen. Vera machte sich mit einigen umherschlendernden Mathematikern bekannt und verkündete forsch, dass sie eines Tages ebenfalls Mitglied der Vereinigung sein werde, »vielleicht sogar Vorsitzende. Vorausgesetzt, mein künftiger Mann hat nichts gegen eine Karrierefrau einzuwenden«, fügte sie spöttisch lächelnd hinzu. Von zwei zottelhaarigen Herren bekam sie eine Mathematikaufgabe zum Mitnehmen und von der Empfangsdame eine Ausgabe der von der Vereinigung herausgegebenen Zeitschrift American Mathematical Monthly. Beim Durchblättern fiel Vera ein Foto des Gebäudes auf.
»Ah! Deshalb kam mir das gleich so bekannt vor. Ich habe die Zeitschrift nämlich schon abonniert«, flüsterte sie. »Ich hab nichts gesagt, weil ich ihr die Freude nicht nehmen wollte.«
»Ein Punkt steht noch auf dem Programm«, sagte Stanley, als er das Tor vor dem Hauptsitz der Mathematical Association of America hinter ihnen schloss. Sie gingen zu Fuß und versanken in nachdenkliches Schweigen. Nach ungefähr einer halben Meile hatten sie die Ecke Fifteenth und L Street erreicht, wo Stanley eine Hand hob, auf das Gebäude vor ihnen zeigte und sagte: »The Washington Post«, als ob das Redaktionsgebäude die nobelste Adresse der Stadt wäre. Sie nahmen am Betriebsrundgang teil, und als sie in dem stickigen Raum waren, wo die Rotationsmaschinen ratterten, sagte Stanley mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen: »Diese Matheaufgabe – die Lösung heißt zwei Dollar.« Vera drehte sich zu ihm um, schüttelte ihm die Hand und nickte lächelnd.
Im Hotel verabschiedeten sie sich in der Halle mit der für intellektuelle Teenager typischen Schüchternheit voneinander. Doch da war noch etwas anderes, etwas, das mit algebraischer Tiefe um sie herum aufblitzte und aufzuckte. Stanley stand stocksteif da, Vera ebenfalls, als sie verabredeten, in den nächsten Tagen gemeinsam zum Buchstabierwettbewerb zu gehen.
»Dann bis morgen«, sagte sie schließlich. »Und sei schön brav!«, fügte sie hinzu, während sie sich gespielt schüchtern eine Haarsträhne um den Finger wickelte und zwischen den sich schließenden Türen in den Fahrstuhl schlüpfte.
An einem ruhigen Herbstabend des Jahres 1962, zweieinhalb Jahre nach dem Buchstabierwettbewerb, saß Stanley in seinem Sessel in der Lobby des Hawthorne Hotels und schlug in seinem Notizbuch eine leere Seite auf. Dann zog er sechzehn senkrechte Linien und weitere sechzehn waagrecht darüber, sodass Kästchen entstanden. Darunter schrieb er eine Liste von Lösungswörtern zu dem Thema, das er für sein Kreuzworträtsel ausgesucht hatte, und notierte sich Ideen für Fragen dazu.
Sein Stift kratzte über das Papier, als er zuerst die längsten Wörter in die Kästchen eintrug. BLITZKRIEG schrieb er in die waagerechte Zeile rechts oben. Die dazugehörige Umschreibung, die er sich notierte, lautete: »Aggressiver Angriff bei einem Gewitter auftretender elektrischer Entladungen«.
Stanley, der schon seit vielen Jahren Kreuzworträtsel löste, wusste, dass die diagonale Symmetrie eine der Grundregeln bei der Erstellung eines Rätsels war. Daher gehörte in die waagrechten Kästchen links unten ein Wort mit ebenfalls zehn Buchstaben. RASSENHASS schrieb er. Den dazugehörigen Hinweis hatte er bereits: »Was die Nazis geschürt haben«. Er begutachtete sein Werk rund um das Dritte Reich und die Nazis, die ihm seinen Vater genommen hatten.
Mit seinen achtzehn Jahren war Stanley einen Meter fünfundsiebzig groß und konnte es in puncto Intelligenz sicher mit jedem in Washington aufnehmen. Er war so unglaublich neugierig, dass es fast schon gefährlich war, aber was ihm fehlte, war Weisheit. Sein Gehirn schmerzte, so vollgestopft mit Wissen war es, und dennoch fühlte sich alles verkehrt an. Sein Vater war tot, er war ums Leben gekommen, noch bevor Stanley geboren worden war, und ohne ihn fühlte sich alles falsch an, wirklich alles: jeder Aufsatz, den er schrieb, jedes Buch, das er las, jedes Rätsel, das er sich ausdachte oder löste, jeder Blick von seiner Mutter, jedes Tennismatch, das er spielte, sogar das Mittagessen.
Alles – bis auf den Zeitungsstand im Hotel. Er wirkte in der prunkvollen Empfangshalle wie ein Segelschiff, das in einer Bucht vor Anker lag. Er war das tonnenschwere Flaggschiff aller Zeitungsverkäufer. Mit seinen Säulen an allen vier Ecken und dem Himmel darüber, von dem heraldische Cherubim die neuesten Nachrichten hinausposaunten, erinnerte er Stanley an den Baldachin im Petersdom. In der Encyclopaedia Britannica hatte er unter dem Stichwort »Vatikan« ein Foto davon gesehen. Vom Vatikan hatte er sich durch W wie Wyoming und X wie Xerxes und Y wie Yamswurzel und Z wie Zambia gearbeitet und danach seiner Mutter einen Aufsatz mit einer abschließenden enzyklopädischen Zusammenfassung überreicht, womit die Aufgabe, die sie ihm als Zehnjährigem gestellt hatte – die gesamte vierundzwanzigbändige Ausgabe von A bis Z zu lesen –, beendet war.
Der Zeitungsstand war ein freistehendes, autonomes Gebiet aus poliertem Mahagoni, Marmor und Beschlägen, das sich jederzeit für unabhängig erklären, sich vom Hotel abspalten, losmachen und davonsegeln konnte. Zeitungen hingen an Klammern, lagen für den Verkauf gefaltet und gestapelt da oder waren über Holzgriffen eingerollt, sodass man sie wie in einer Bücherei ausleihen konnte. Die Gäste in ihren tiefen Sesseln und mit den aufgeschlagenen großformatigen Zeitungen in den Händen sahen wie Dinghis aus, die in der windstillen Lobby nach Luv drehten. Jeden Morgen rumpelten Lastwagen an die Rampe auf der Rückseite des Hotels. Dann trennte Charlie, der tagsüber für den Zeitungsstand zuständig war, in Weste und Fliege die Schnüre durch, die die Zeitungsbündel zusammenhielten, und hisste die Segel des großen Flaggschiffs: die Washington Post, die New York Times, den Philadelphia Inquirer, den Boston Globe, die Chicago Tribune, die Los Angeles Times, den Charlotte Observer und all die kleineren Blätter zwischen Ost- und Westküste. Charlie zog sie alle auf, und die Entdeckungsreise konnte beginnen, angetrieben von den starken Böen lokaler, nationaler und internationaler Ereignisse.
Stanley wandte sich wieder seinem Rätsel zu und fügte weitere Wörter ein. HEILTHITLER schrieb er. Der Hinweis dazu lautete: »Aufforderung, den Führer in Ordnung zu bringen«. Als Antwort auf die Frage »Religiöses Symbol mit Aufhängern« schrieb er HAKENKREUZ in die Kästchen. Als er die Wörter sorgfältig eingetragen hatte, dachte er über die Anordnung der schwarzen Felder und das Muster nach, das sie bilden könnten.
Als er wieder aufblickte, sah er Albert, Charlies Gegenstück von der Nachtschicht. Er hatte beide Hände flach auf den Marmor gelegt und seine Bifokalbrille an den äußersten Rand seiner Nasenspitze geschoben. Albert lächelte ihm zu und winkte, und Stanley stand auf und ging hinüber, um Hallo zu sagen.
»Guten Abend, Professor«, sagte Albert.
»Hallo, Albert, wie geht’s Ihnen?«, erwiderte Stanley so schneidig und elegant wie ein Hollywood-Gangster.
Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er hatte das Gefühl, dass Albert ihn auf der Suche nach kleinen Veränderungen prüfend beäugte. Seit dem Unentschieden in dem Buchstabierwettbewerb empfand Stanley einen wachsenden Widerwillen gegen seine Bücher. Zum Teil war das die natürliche Folge der Belastungen in seinem Leben und der Tatsache, dass er es als mehr oder weniger beendet betrachtete. Sein ganzes Leben lang hatte er nichts anderes getan, als zu lernen, er war praktisch ein Sklave seiner Bücher gewesen, hatte wie ein abgerichteter Affe funktioniert, um seine neurotische Mutter glücklich zu machen, und die Zukunft, die sie für ihn geplant hatte, würde genau das Gleiche bereithalten. Ehrlich gesagt lernte er sehr gern. Er war regelrecht süchtig nach Wissen, nach Informationen aller Art, ob es sich nun um eine atomare Struktur oder die Meister des japanischen Haiku handelte. Aber er hasste es, quasi nach der Stoppuhr – in seinem Fall dem Küchenwecker – lernen zu müssen, er hasste die monatlichen IQ-Tests. Das Maß war voll.
Andererseits hatte seine Mutter bereits eine großartige, glanzvolle Zukunft für ihn vorausgeplant: Harvard, ein Jurastudium in Harvard, eine Stelle in Washington, der Aufstieg zum Bezirksstaatsanwalt, Umzug nach Virginia, wo er sich um ein Senatorenamt bewerben konnte, dann eine lange, bemerkenswerte Karriere im Senat und ein Ruhestand auf dem Golfplatz. Vielleicht würde sie ihn irgendwann, wenn ihre Knochen spröde und zerbrechlich wie mürbes Gebäck sein würden, sonntagmorgens in Meet the Press sehen.
»Das werd ich nicht, Albert«, sagte Stanley leise. »Ich weiß nicht, was ich machen werde, wohin ich gehen oder wovon ich leben werde, aber ich werde kein Professor. Dann könnte ich mich auch gleich beerdigen lassen.« Aber Albert hatte sich bereits abgewandt und war gegangen, um einem Kunden behilflich zu sein, noch bevor Stanley angefangen hatte zu reden.
Stanley kehrte in die Bequemlichkeit seines Sessels zurück und nahm sich wieder sein Rätsel vor. Ins Zentrum schrieb er: DRITTESREICH. Die dazugehörige Umschreibung würde lauten: »Währte doch nicht tausend Jahre«. Dann GESTAPO (Hinweis: »Am Anfang ein übler Geruch, am Ende ein italienischer Fluss«) und FANATISCH (»Von einer Ideologie besessen«). Jetzt musste er nur noch die schwarzen Felder zu einem Muster anordnen und die verbliebenen leeren Kästchen ausfüllen. Er warf einen letzten zufriedenen Blick auf sein gitterförmiges Rätsel, klappte sein Notizbuch zu und kehrte in die William-Henry-Harrison-Suite zurück.
Stanleys Mutter Martha arbeitete für einen Verlag, die Honeythorne Publishing Company, als Korrektorin. Sie bekam in Packpapier eingewickelte Manuskripte, die sie, konzentriert wie eine Gerichtsmedizinerin, mit dem Rotstift auseinandernahm, wobei sie wegen der dort begangenen grammatikalischen Verbrechen immer wieder ungläubig mit der Zunge schnalzte. Gelegentlich schnappte sie sogar hörbar nach Luft, sodass Stanley, der zum Beispiel in die Essays von John Stuart Mill vertieft war, erschrocken zusammenfuhr. Was hatte sie denn jetzt wieder Schockierendes entdeckt? Doch wenn er sie fragte, stellte sich jedes Mal heraus, dass es nichts Schlimmeres war als eine skandalöse Subjekt-Verb-Kombination oder ein verirrter Apostroph, der zwischen zwei Buchstaben steckte wie ein Mohnsamen zwischen den Zähnen.
Drei Monate zuvor, gerade als der Sommer ein paar Gänge herunterschaltete, hatte Stanleys Mutter an dem kleinen Tisch im Wohnbereich ihrer Suite schon auf ihren Sohn gewartet, als dieser von seinem wöchentlichen Hallentennismatch mit Sonny zurückkam. Statt der üblichen Sprachlehrbücher hatte sie eine Reihe von Broschüren von allen Elitehochschulen wie eine Wahrsagerin ihre Karten fächermäßig vor sich ausgebreitet.
»Also, Stanley«, sagte sie, »ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir Harvard mit einem brillanten neuen Studenten beschenken.« Sie schaute auf, ihren gewohnt stechenden Blick mit der Überlegenheit eines Löwenbändigers auf ihren Sohn gerichtet. »Die anderen Bewerbungsunterlagen hier nehmen wir zum Üben.«
»Ich glaube, ich will doch nicht aufs College«, sagte Stanley und fummelte an seinem Tennisschläger herum. Er stellte die gleichbleibend positive Stimmung seiner Mutter gern auf die Probe, unter der sich, wie er wusste, ein tiefer Pessimismus verbarg.
Sie stieß einen entnervten Seufzer aus, als wollte sie sagen: Ich finde deinen Humor gar nicht komisch.
»Ich habe mir überlegt, Kreuzworträtselerfinder zu werden«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu, allerdings in einem Ton, der nahelegte, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte.
Martha senkte ihren Blick und zog die Bewerbung an der Harvard-Broschüre unter der Büroklammer hervor. »Harvard, Stanley. Hör zu. Du wirst zuerst die Bewerbungen für die anderen Colleges schreiben, damit du gut in Form bist.«
Martha wollte es zwar nicht zugeben, aber es bestand die winzig kleine Möglichkeit, dass er nicht an Harvard aufgenommen wurde. Stanley wusste, dass sie das wusste. Es war möglich, so wie es möglich war, dass im National Mall in Washington ein Vulkan ausbrach. Aus diesem Grund hatte sie sich mit all den anderen Bewerbungen gewappnet – eine reine Vorsichtsmaßnahme. Yale, Princeton, Cornell, Dartmouth – alle Eliteschulen eben. Die Zusammenarbeit zu verweigern kam nicht infrage, weil Martha Owens keine Enttäuschungen duldete. Nicht seit jenem grauenvollen Tag 1945, als ein gewisser Sergeant Promise von den United States Army Air Forces an ihre Tür geklopft hatte. Martha, den neugeborenen, schläfrigen Stanley in der Armbeuge, hatte geöffnet, und Sergeant Promise hatte seine Kopfbedeckung abgenommen.
Martha hatte ihren Mann sehr geliebt, und von jenem Tag an war sie nicht mehr gewillt gewesen, Enttäuschungen, schlechte Nachrichten oder irgendeine Form von Negativität hinzunehmen. Sofort hob sie die Hand, und schon kamen die Worte, die Stanley mit der Zeit zu hassen gelernt hatte: »Ich will nichts darüber hören. Davon hab ich für den Rest meines Lebens genug gehabt.« Auf diese Weise wurde alles mit falschem Glück übertüncht. Stanley durfte nicht über seine Zweifel sprechen, nicht über seine Albträume, nicht über seine Zukunftsängste oder über seine schier unstillbare Sehnsucht nach dem lächelnden Mann auf dem Foto neben der Tür. Er durfte keine der Fragen über seinen Vater stellen, die ihm auf der Seele brannten: Hatte er seine Arbeit gemocht? War er klug gewesen? Genau wie sein Sohn neugierig auf alles? Hatte er auch gern Kreuzworträtsel gelöst?
Stanley konnte mit seiner Mutter über das reden, was er gerade las oder was im Hotel vor sich ging; er konnte ihr von den Tauben auf dem Dach erzählen oder von den Leuten, die er in der Lobby gesehen hatte; er konnte ihr sagen, ob er Hunger hatte oder nicht und was er gern essen würde. Aber er konnte nicht mit ihr über die Dinge sprechen, die ihm wirklich wichtig waren. Und so ging er in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch, nahm Papier und Stift aus einer Schublade und fing an zu schreiben:
Lieber Dad,
ich möchte nicht studieren. Ich will das nicht. Wenn ich ganz ehrlich bin, will ich dieses ganze Leben nicht mehr. Ich sitze in diesem Hotel fest, während Mom durch ihre selbst auferlegte Gefangenschaft immer mehr entstellt wird. Sie hat ihre Einsamkeit akzeptiert und sich von der Welt abgewandt. Niederlage und Verfall hausen in allen Ecken dieser Suite, die einem die Luft zum Atmen nimmt, und die einzige Hoffnung, die einzige Rettung ihres Lebens heißt College, College, College. Ich hasse den Gedanken daran und an ein Jurastudium und an ein Leben voller Arbeit ohne Leidenschaft. Ich hasse das ebenso sehr, wie Mom sich danach sehnt. Zu einer Kraft gibt es immer eine gleichgroße Gegenkraft, die in die entgegengesetzte Richtung wirkt. Kennst du das dritte von Sir Isaac Newtons Bewegungsgesetzen? Kannst du dir vorstellen, dass er diese Gesetzmäßigkeiten bereits 1687 beschrieben hat?
Eine bessere Frage: Warum rede ich mit dir über diese Dinge, obwohl du gar nicht mehr da bist? Das ist unheimlich. Wahrscheinlich möchte ich einfach glauben, dass du mir helfen kannst, irgendeine Lösung zu finden. Dad, setz eine Botschaft in die Headline einer Zeitung. Schick mir eine Idee in einem Songtext. Hilf mir, einen Weg zu finden, wie ich aus dieser Sache herauskomme.
In Liebe,
Stanley
Er faltete den Brief sorgfältig, schob ihn in einen Umschlag, verschloss ihn und klebte eine Camp-Fire-Girls-Briefmarke im Wert von vier Cent darauf. Auf die Vorderseite schrieb er in Großbuchstaben DAD. Dann steckte er den Umschlag hinten in seine Hosentasche und verließ die Suite, während seine Mutter in ihrem Sessel ein Nickerchen machte.
Martha hielt ihn permanent besetzt, ganz so, als wäre sie daran festgenäht. Die Polster hatten sich im Lauf der Jahre ihrem Körper angepasst, ihr Hinterteil hatte eine tiefe Delle auf der Sitzfläche hinterlassen, und der Samtbezug der rechten Armlehne war so abgewetzt, dass er glänzte.
Stanley ging die drei Straßen bis zu dem Briefkasten, der wie ein kleiner blauer Soldat an der Ecke postiert war, und warf seinen Brief ein. Die Hände in den Hosentaschen, blieb er einen Moment stehen, den Blick sehnsüchtig auf den Briefkasten gerichtet, seufzte dann und kehrte ins Hotel zurück.