Liebesbriefe aus Brighton - Kathrin Reinke - E-Book

Liebesbriefe aus Brighton E-Book

Kathrin Reinke

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Beschreibung

Ein Liebesbrief aus Brighton versetzt Lord Christopher Walpole in Aufregung, denn er lebt völlig zurückgezogen nahe London und weiß mit der Absenderin Mary Jessup nichts anzufangen! Trotz seines Unbehagens, in weibliche Gesellschaft zu gelangen, sieht er sich gezwungen, die Dame aufzusuchen. Schließlich legt ihr Schreiben nahe, dass sie eine Eheschließung mit Baron Walpole - ihm! - erwartet. Oder hat sein Bruder Broderick etwas damit zu tun? In Brighton sieht er sich einigen Überraschungen gegenüber und kaum eine von ihnen ist gut zu nennen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
***
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15

 

 

Katherine Collins

 

Liebesbriefe aus Brighton

Umschlaggestaltung: Katherine Collins

Unter Verwendung von Abbildungen von

© VJ Dunraven Productions/periodimages.com

Bildmaterial : Images by Period Images, Pi Creative Lab and L2A4340;

Andrew Roland (Shutterstock)

Lektorat: Jessika Weber

Satz: Katherine Collins

 

 

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung wiedergegeben werden. Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

 

 

Über die Autorin

 

Katherine Collins liebt es zu reisen und sei es in ihren Gedanken. Einen Teil ihrer Zeit verbringt sie daher gerne bei ihrer Familie in England, auch wenn Birmingham nicht das passende Flair besitzt, um in ihren Geschichten aufzutauchen - noch nicht!

Neben dem Historischen liebt sie es, in den Highlands herumzustromern.

Mit ihren Töchtern lebt Katherine Collins noch im Ruhrgebiet und schreibt unter ihrem zweiten Pseudonym Kathirn Fuhrmann Liebesgeschichten, die mal mit Crime und mal mit Fantasy unterlegt sind.

kathecollins.wordpress.com

 

 

Kapitel 1

Worthing, nahe Brighton, April 1829

Christopher Fenton Barry Walpole, fünfter Baron of Walpole, stieg aus seiner einfachen Kutsche und schaute sich um. Worthing war ein kleiner Ort an der Küste von East Sussex und die Kate vor ihm gar noch winziger. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich am richtigen Ort befand, hatte er seinem Bruder Frederick doch noch nie einen Besuch abgestattet. Er pochte mit dem kleinen, an der Tür angebrachten Hammer an und schaute sich erneut unruhig um. Die Brise wirbelte sein Haar auf, weil er seinen Zylinder nicht aufgesetzt hatte, als er aus der Kutsche gestiegen war. Den hielt er, ebenso wie den Gehstock, in der anderen Hand.

Die Tür öffnete sich und seine Schwägerin riss die Augen auf. »Mylord!« Auch ihr war er erst einmal begegnet, und zwar am Tag ihrer Vermählung. Er deutete eine Verbeugung an.

»Mrs Walpole, guten Tag.«

»Kommen Sie doch herein, Lord Walpole.« Sie räumte die Tür und deutete an sich vorbei. »Freddy erwähnte nicht, dass Ihr Besuch ansteht, sonst hätte ich …« Sie runzelte die Stirn und strich sich über ihre Schürze. Darunter verbarg sich eine verräterische Rundung.

»Ich komme unangekündigt. Bitte verzeihen Sie die Umstände, aber ich müsste mit Frederick sprechen. Es ist dringend.« Die Kate war so niedrig, dass sein Kopf an der Decke entlang schrappte, und er mahnte sich, auf die Balken zu achten, um sich keine Beulen einzufangen. »Ich habe Geschenke in der Kutsche, der Bursche wird sie hereinbringen. Wenn Sie mir sagen, wo ich Frederick finde, brauchen Sie sich nicht weiter zu bemühen.«

Sie nickte eilig. »Im Garten.« Sie deutete durch den dunklen Flur zur anderen Tür, die offen stand und Sonnenlicht hereinfallen ließ.

Christopher nickte ihr zu und ging los. Er war sich bewusst, dass er unhöflich war, aber er konnte sich nicht mit ihr beschäftigen. Es lag nicht an Meredith, sondern allein an ihm.

Frederick hackte Holz. Man hörte ihn bereits, kaum hatte man den schützenden Kokon des Hauses verlassen. »Darling, ich beeile mich, aber mich zu hetzen führt zu nichts!«

Christopher schmunzelte, aber die Belustigung versickerte gleich wieder. »Ich habe nicht vor, dich zu hetzen, Freddy.«

Die Axt ging mit so viel Wucht herab, dass nicht nur das Scheit gespalten wurde, sondern das Blatt tief in den Block eindrang. Der Bruder fuhr herum, Überraschung in der Miene, und schaute an ihm herab. Es brauchte einen weiteren Moment, bis er auflachte und auf ihn zugelaufen kam, um ihn fest zu umarmen.

»Kit!« Er schob ihn an den Oberarmen von sich und musterte ihn freudestrahlend. »Du kommst uns besuchen!«

Christopher seufzte schwer. »Wenn mich die Neugierde packt, bin ich nun mal nicht zu halten.« Und das wusste Frederick auch zu genau.

Der Bruder zuckte die Achseln. »Mir ist jeder Grund recht! Komm.« Er schlang den Arm um Christophers Schultern und führte ihn zurück in die Kate und in den Wohnraum, der mit Wolle überfüllt war.

»Meredith strickt Kleidung für das Kind. Wir sind schon sehr aufgeregt und hoffen auf ein süßes, kleines Mädchen.« Er drückte ihn enger an sich, als befürchtete er, dass Christopher Reißaus nahm. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, war dies auch Christophers erster Gedanke. »Ein süßes, kleines Mädchen wie deines.« Frederick räusperte sich. »Sie fehlt uns. Dir und mir.«

Er nickte steif, unfähig, etwas zu äußern. Er war froh, dass sich der Bruder selbst ablenkte, indem er ihm Stock und Hut abnahm und seine Gemahlin suchen ging. Christopher setzte sich zittrig auf den Ohrensessel am Kamin und schloss die Lider. Leider machte es den Moment nur schlimmer, denn sein kleines Mädchen tollte vor seinem inneren Auge herum und lachte aus vollem Hals, wie nur sie es vermochte. Amelia.

»Tee«, rief Frederick enthusiastisch und riss ihn aus der bittersüßen Erinnerung, die er sich sonst streng verbat. Das Tablett wurde auf dem Tisch am anderen Ende des schmalen Raumes abgestellt und der Hausherr selbst kümmerte sich um das Getränk, während ihm die Gattin lediglich zur Hand ging. »Setz dich doch, Meredith«, bat er schließlich und brachte ihm die Tasse.

Christopher intervenierte eilig. »Ich muss darauf bestehen, unter vier Augen mit dir zu sprechen.« Er war einmal mehr unhöflich und konnte nur hoffen, dass man ihm sein rüdes Verhalten irgendwann verzieh. »Sicher möchte deine Gattin die Dinge begutachten, die ich mitbrachte.«

Frederick verengte die Augen. Er durchschaute ihn sicherlich und wusste, dass nicht zwangsläufig das Gesprächsthema der Grund war, warum Christopher die Schwägerin loswerden wollte.

»Die Thematik«, schob er also vor, »ist delikat.« Und zum ersten Mal, seit er das Schreiben in die Hand genommen hatte, war er dankbar für den Inhalt. Schließlich konnte er dadurch darauf bestehen, dass Meredith den Raum verließ, und stand nicht als der uncharmante Kerl da, der er war. Denn er wollte schlichtweg nicht in Gesellschaft von Frauen geraten.

Frederick nickte bedächtig, wirkte aber nicht restlos überzeugt. »Verzeih bitte, meine Liebe. Sicherlich ist später noch Zeit für etwas höfliche Konversation.«

»Natürlich. Mylord.« Sie knickste falsch und hastete hinaus.

»Nun, wie delikat kann die Angelegenheit sein?«, erkundigte sich Frederick, während er sich selbst eine Tasse Tee eingoss und sich dann zu ihm setzte. »Oder magst du zugeben, dass du Meredith’ Gesellschaft nicht erträgst?«

Christopher räusperte sich. »Da liegst du zwar richtig, aber ich bin tatsächlich gekommen, weil ich … irritiert bin.« Er holte das Billett aus der Innentasche seines Jacketts und entfaltete es, bevor er das Papier weiterreichte. Frederick nahm es entgegen und überflog es mit zunehmender Irritation.

»Liebster, wie sehne ich mich nach der sanften Berührung deiner Lippen.« Er schaute auf und hob die Brauen. »Nanu.«

»Erst dachte ich, es wäre von Meredith. Und war entsetzt.«

»Sie war noch ein Kind, als dies hier verfasst wurde.« Frederick schüttelte den Kopf. »Denkst du, der Brief ist an Broderick gerichtet?«

Der Bruder war ein ausgemachter Taugenichts und der Verfasserin war zu wünschen, dass sie dem jüngsten Spross der Familie nicht begegnet war.

»Wie kommst du darauf, dass …« Christopher beugte sich vor, um das Papier zurückzunehmen. »Dass sie zu jung gewesen wäre?«

»Das Datum.« Frederick deutete auf die leicht verwischte Schrift. »23. November 1824. Vor fünf Jahren war Meredith vollauf damit beschäftigt, die Socken ihrer Geschwister zu flicken, und hat sicherlich keine Liebesbriefe an unbekannte Lords geschrieben.« Er wendete das Billett, um die Adresse in Augenschein zu nehmen.

Christopher richtete sein Augenmerk auf das Datum, das ihm beim Lesen nicht aufgefallen war. Das Schreiben war geschlagene fünf Jahre alt. »Und es ist an Walpole adressiert, an unseren Vater.« Der 1824 noch gelebt hatte. Genau wie Amelia. Christopher schluckte und verscheuchte den Gedanken eilig. »Warum sollte jemand einen fünf Jahre alten Liebesbrief versenden?« Er überflog die süßen Worte. »Und wer ist Mary?«

»Das fragst du mich?« Frederick lachte und schüttelte den Kopf. »Ich war seinerzeit in Dublin.«

Christopher nickte nachdenklich. »Und Broderick ist damit fein raus.« Der jüngere Bruder musste zu jener Zeit noch Eton besucht haben.

»Nur, wenn wir davon ausgehen, dass er den Missbrauch deines Namens erst kürzlich für sich entdeckt hat.« Frederick zuckte die Achseln. »Christopher Walpole war auch unser Vater.« Und Großvater, aber das musste nicht hervorgehoben werden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass der Erstgeborene der Walpoles stets den Namen Christopher trug.

Der Bruder seufzte. »Du wirst dem auf den Grund gehen, oder?«, erkundigte sich Frederick. »Und Broderick zur Räson bringen, wenn er nun auch noch Mädchen … in dem Glauben lässt, sie würden Lady Walpole.«

Christopher erschauerte. Er hatte kein Problem damit, seinen missratenen Bruder zur Rede zu stellen, aber verschmähten Frauen wollte er nicht begegnen. Nun, er wollte keinen Frauen mehr begegnen, egal in welchem Alter oder in welcher Lebenslage.

»Sie könnte auf die Idee kommen, dich auf Hampton Hall zu besuchen, wenn keine Reaktion auf ihr Schreiben erfolgt.« Frederick hob die Brauen.

Das war ihm ebenfalls in den Sinn gekommen, aber er hatte auch nicht bemerkt, dass bereits Jahre zwischen dem Verfassen und der Ankunft des Briefes lagen. »Vielleicht nicht.« Immerhin war sehr viel Zeit vergangen und das Schreiben möglicherweise lediglich auf seinem Weg verschüttgegangen. Immerhin war es frankiert und nicht mit dem Siegel eines Adelshauses versehen.

»Lässt du es drauf ankommen?« Frederick probierte den Tee. »Oder hattest du einen Grund, die Kutsche mit Geschenken vollzupacken?«

Christopher schoss die Hitze ins Gesicht. »Ich hatte gehofft, dass du …«, gab er zu.

Aber Frederick hob gleich die Hand. »Meredith steht kurz vor der Niederkunft.«

»Brighton ist nur einen Steinwurf entfernt«, murrte Christopher. »Du wärst nicht allzu lange fort. Wenn du dich eilst, kannst du die Strecke an einem Tag hin und zurück schaffen.«

»Und du bleibst derweilen hier und kümmerst dich um sie?«, fragte Frederick und schüttelte den Kopf. »Wir sind hier nicht auf Hampton Hall, wir haben keine Dienstboten und meine Gattin würde sich fürchten, ließe ich sie nun allein.«

Christopher senkte den Blick. Er konnte tatsächlich nicht erwarten, dass Frederick ihn unter den gegebenen Umständen vertrat.

»Stell dich dem Problem, Kit«, riet Frederick sanft. »Es ist Jahre her. Du kannst dich nicht für den Rest deines Lebens verstecken und leiden. Sie sind tot. Es war nicht deine Schuld und du musst die Vergangenheit ruhen lassen!«

Das war leichter gesagt als getan. Er sog den Atem ein und versteckte seine Gedanken hinter der Tasse Tee. Er trank und schaute dann auf die schimmernde Oberfläche.

»Amelia ist tot.«

Und es war nicht nötig, ihm dieses Messer wieder und wieder ins Herz zu rammen. »Ich weiß.«

»Das Kindbett ist nicht gnädig mit den Walpole-Frauen und ich kann Meredith nicht allein lassen, um deine Zurückgezogenheit zu unterstützen.«

Christopher nickte. Er verstand es durchaus, und nur, weil er den Fehler gemacht hatte, seine Gattin im Stich zu lassen, musste er dies nicht von seinem Bruder verlangen. »Nun gut.«

»Du wirst Mary aufsuchen?«, fragte Frederick. »Du wirst herausfinden, ob Broderick damals bereits einen Namen nutzte, den er gar nicht trug, um sich durchzuschnorren? Du weißt, dass du ihm einen Riegel vorschieben musst?«

Christopher nickte zustimmend. »Ich habe ihn gewarnt, dass ich seine Kapriolen nicht länger dulden werde. Ich fürchte nur, dass er tatsächlich dahintersteckt und diesem Mädchen …« Er räusperte sich. »Nicht nur versprochen hat, es zu heiraten.«

»Sondern es getan hat? In deinem Namen? Kit, in dem Fall ist es unabdingbar, dass du die Sache richtigstellst und ihn endgültig zur Räson bringst. Das bist du unserem guten Namen schuldig.« Frederick streckte die Hand nach ihm aus, um seinen Arm aufbauend zu drücken. »Und nutze die Interaktion mit Mary, um deine Scheu zu überwinden. Frauen sind nicht die Ursache des Übels. Wir sind es, nur sie sind stets die Leidtragenden. Wie Clara. Wie unsere Mutter und die anderen Gattinnen unseres Vaters.«

Christopher spülte die Bitternis mit dem restlichen Tee hinunter und erhob sich. »Ich sollte keine Zeit vertrödeln und gleich nach Brighton aufbrechen.«

»Du solltest dir ein paar Minuten nehmen, um mit Meredith zu sprechen.« Frederick nahm ihm die Tasse ab.

»Bei meinem nächsten Besuch«, murmelte er fahrig. »Ich bin bereits mit der einen Frau bedient, Freddy.« Er fuhr sich durch den Schopf. »Wo habe ich eigentlich meinen Zylinder und Stock gelassen?«

»Es wird kein Vergnügen sein«, räumte der Bruder seufzend ein. »Aber auch keine Tragödie. Führe dir vor Augen, in welcher unerquicklichen Situation sie sich nun befindet. Hab etwas Mitgefühl und versuche, nicht an dich und deine Lage zu denken.«

»Ich soll Amelia vergessen?«

Frederick verkniff die Lippen, seine Miene wurde starr, dann nickte er. »Das wäre vielleicht das Beste.«

»Und mich nennst du unsensibel.« Er trat auf den Flur und zur Tür, die ihn wieder in die warme Sommersonne entlassen sollte.

»Du bist zu sensibel«, korrigierte Frederick. »Und das hilft niemandem. Verlust ist ein täglicher Bestandteil des Lebens. Jeden Tag verlieren wir ein Stück unserer Zukunft, ein Stück unserer Jugend, unserer Naivität oder auch der Herzensgüte, je nachdem, welchen Situationen wir ausgesetzt sind.«

»Ich bin gespannt, ob du auch noch so sprechen wirst, wenn …«

Meredith trat aus der Küche und lächelte ihm schüchtern zu. »Mylord, darf ich Sie zum Abendessen einplanen?«

Christopher verschluckte den Rest, schließlich hatte er ihren Tod prophezeien wollen.

»Kit hat leider schon andere Pläne, meine Liebe, aber auf dem Rückweg wird er noch einmal bei uns vorbeischauen«, stellte Frederick deutlich fest. »Übermorgen, nicht wahr?«

»Wenn es der Reiseplan zulässt«, murmelte Christopher und nahm den Zylinder entgegen, um ihn aufzusetzen. Dabei zerdrückte er ihn an der niedrigen Decke.

»Oh!« Meredith wollte nach ihm greifen, aber er verbarg ihn in seinem Rücken.

»Nun, guten Tag.« Er nickte ins Nichts und ließ sich eilig selbst hinaus. Die Kutsche wartete noch und der Bursche öffnete den Schlag, bevor er auch nur in der Nähe war. »Brighton!«, murmelte er, als er einstieg.

»Gute Reise!«, rief Frederick ihm nach. Er stand mit seiner Gattin im Arm in der Tür zu seiner Kate und hob die Hand.

Christopher tat es ihm gleich, als ein Ruck durch das Gefährt ging. Es war keine gute Idee, Mary gegenüberzutreten, ganz gleich, an wen der Liebesbrief tatsächlich gerichtet gewesen war. Er musste eine Untat eines Familienmitglieds eingestehen und war sich nicht sicher, wie er etwaigen Schaden berichtigen konnte.

 

Kapitel 2

 

Roedean Cottage, Brighton, April 1829, später am Abend

Gwen wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und schaute sich in dem engen Schlafzimmer um, in dem ihre Mutter vor fünf Tagen verstorben war. Es war bis auf die baren Möbel ausgeräumt, wie auch die anderen drei Zimmer im Obergeschoss. Gwens altes Zimmer war vor Jahren zu Rose’ Raum geworden, aber auch dort erinnerte nun nichts mehr daran, dass bis vor Kurzem ein kleines Mädchen dort gelebt hatte.

Es klopfte an der Haustür. Ein hartes Pochen und nicht das Kratzen, das in der Gegend häufig verwendet wurde, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie warf den Lappen in den Eimer.

»Rose, komm her.«

Gwen griff nach der Hand der Nichte. Es pochte wieder. Der unerwartete Gast war wohl ungeduldig. Gwen hastete die Stufen hinunter und wischte sich dabei die Hand an ihrem grauen Kleid ab. Es war nicht ihres, da sie ihre Garderobe nicht beschmutzen wollte, sondern ein Überbleibsel ihrer Mutter, wodurch sie sich nur noch unbehaglicher fühlte. Das Kind stolperte hinter ihr her und sie hob es kurzerhand von der letzten Stufe. »Rose, bleib bitte hinter mir.«

Vor der Tür schob sie sich noch das Haar aus der Stirn, das sich bei der Arbeit des Tages gelöst hatte, und öffnete dem erneut Klopfenden. Der Gehstock blieb in der Luft hängen, worüber sie durchaus froh war, hätte sie der Knauf doch sonst erwischt.

Vor ihr stand deutlich ein Gentleman, auch wenn er keinen Hut trug. Der Garrick und der fein verzierte Knauf seines Gehstocks bewiesen dies ohne Frage. Eine Ente starrte sie an. Die Figur des Knaufs war eine Ente!

Sie hob verblüfft den Blick, um auch den Mann hinter dem Accessoire erkennen zu können, der immerhin den Stock senkte und den Kopf neigte. Er war groß, trug sein leicht rötliches Haar mondän geschnitten und brachte kein Lächeln auf die Lippen. In Brighton wimmelte es in den Wintermonaten von Adligen und die Stadt bekam auch genügend Wissenschaftler, Geistliche und Geschäftsmänner ab, schließlich waren sie Englands Hafen in die Welt. Trotzdem verirrte sich kaum jemand hoch nach Roedean, schließlich gab es hier nur die Farm und Wald.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Sie schob Rose hinter sich, die ein begeistertes Oh ausstieß und auf den Gentleman zueilen wollte. »Schätzchen, nicht. Sei bitte artig.«

Der Gentleman räusperte sich und machte eine Andeutung einer Verbeugung. »Walpole, Madam.«

Gwen starrte ihn überrascht an. Er war gekommen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er nach all den Jahren Worten der Sehnsucht nachgeben würde, schließlich hatte er ihre Schwester schnöde im Stich gelassen. Hätte es etwas geändert, wenn die Schreiben gleich versandt worden wären? Zeitnah und nicht mit bis zu fünfjähriger Verspätung? Trauer zermalmte ihr Herz. War all das Drama letztlich unnötig gewesen?

»Ich suche Miss Mary Jessup.« Seine Brauen hoben sich, da sie ihn schlicht weiter anstarrte. »Madam?«

Sie stieß den Atem aus. Es war zu spät und damit müßig, sich zu überlegen, was anders hätte gewesen sein können. Sie wandte sich ab. »Einen Moment, Mylord, ich bringe Sie zu Mary Jessup.« Sie griff nach dem Umhang für das Kind und legte ihn ihm um. Ihren schnappte sie sich auf dem Weg hinaus. »Wir müssen ein Stück gehen.« Sie deutete den Weg entlang, der sich neben dem Haus in den Wald schlängelte. »Es ist eine Abkürzung.«

Der Gentleman beäugte sie kritisch, dann den Pfad. »Wir nehmen die Kutsche«, brummte er dann. Seine Stimme klang rau und dadurch tiefer, als sie vermutlich war.

Gwen hielt den Atem an. Es war keine gute Idee, mit einem Mann, den sie nicht kannte, in eine Kutsche zu steigen. Er bemerkte wohl ihr Unbehagen, denn er reckte den Hals und lockerte sein Krawattentuch.

»Es ist bereits Abend, wir wollen nicht den Rest des Tages damit verbringen, durch den Wald zu spazieren.«

Nun, sie hatte einen strammen Marsch im Sinn gehabt, da sie ihre Zeit tatsächlich nicht mit ihm vergeuden konnte. Sie atmete tief durch und vergewisserte sich, dass das Wappen tatsächlich jenem auf den wenigen Schreiben glich, die sie in der Truhe auf dem Dachboden gefunden hatte, in der ihre Mutter Marys Nachlass aufbewahrt hatte. Dann nickte sie und umfasste die Hand ihrer Nichte fester. »Also schön.«

Der Bursche hielt die Tür auf und reichte ihr die Hand, da der Lord dazu keine Anstalten machte. Gwen hob Rose in das Gefährt und kletterte dann nach, um sich das Kind gleich auf den Schoß zu ziehen und sie als Bollwerk zu nutzen, sollte der Lord auf dumme Ideen kommen. Der setzte sich aber so weit entfernt von ihr auf die gegenüberliegende Bank, dass sie vor Erleichterung seufzte.

»Wohin soll es gehen?«, fragte er.

»St Nicholas Church.« Sie umarmte Rose fester, da sie unwillkürlich daran denken musste, dass die Kirche auch ein Kinderheim unterhielt.

Walpole gab die Order und umfasste den Knauf seines Gehstocks mit beiden Händen. Den Blick richtete er aus dem Fenster, durch das genügend Sonnenlicht fiel, damit sie das Spiel seiner Wangenmuskulatur beobachten konnte. Es war ihm nicht recht, dass sein Anliegen warten musste. Nun, er würde noch weniger Gefallen an der Tatsache finden, dass der Ausflug umsonst war. Die Kutsche ratterte über die holprige Straße und schüttelte sie durch.

»Zu Mama und Granny?«, fragte Rose.

»Ja, Schätzchen. Wir machen noch einen kleinen Besuch.« Entweder der letzte oder eben nicht, denn wie es weitergehen sollte, stand noch nicht fest.

Der Lord verkniff die Lippen.

»Kann ich dann den Apfel haben?«

Den sie sich redlich verdient hatte. »Nach dem Abendbrot. Dann lesen wir und dann wird geschlafen.« Der feste Ablauf der letzten Woche, auch wenn die Routine nur die Abende betraf. Die Tage waren chaotisch und energiezehrend verlaufen, da sie die Beerdigung organisieren und das Haus zur Übergabe bereitmachen musste.

»Gut.« Rose kuschelte sich an sie und spielte mit Gwens Kette, wodurch sich die Glieder in ihren Nacken bohrten und an den Haaren ziepten. Sie hätte sich besser einen Hut aufgesetzt oder zumindest das Haar gerichtet, aber der überraschende Anblick des Adeligen hatte sie aus dem Takt gebracht. Er war anders als erwartet. Sie warf ihm heimlich einen Blick zu. Streng, unfreundlich, wortkarg. Herrje, was hatte Mary an ihm gefunden? War sie auf sein adrettes Äußeres hereingefallen? Mondäne Kleidung, hübsche Augen? Verkniffene Lippen. Sie runzelte die Stirn.

»Kann ich auch Blumen pflücken?«

Gwen zuckte zusammen und wandte eilig den Blick ab. »Nein, dafür ist keine Zeit mehr.«

Sie bogen ab, der Friedhof lag nun vor ihnen und der Moment der Offenbarung sollte folgen. Wieder schaute sie zu ihm. Er war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte. Herrje, er war jung! Gut, natürlich waren auch die jungen Adeligen schnell mit Versprechungen, die sie nicht einhalten wollten, aber aus den beiden Briefen, die sie gefunden hatte, hätte sie vermutet, es mit einem reiferen Gentleman zu tun zu haben. Ihr Blick fiel auf seinen Siegelring, der ihr noch einmal bestätigte, dem Baron Walpole gegenüberzusitzen.

Einem Mann, der ihrer Schwester großes Unrecht angetan hatte und sich vor der Verantwortung drückte. Sie konnte nur hoffen, ihn zur Vernunft bringen zu können, denn es war ausgeschlossen, dass Rose bei ihr blieb. Sie lehnte sich vor, um die Nase in das Haar des Mädchens zu stecken und den Duft des Kindes einzuatmen. Das letzte Stück Familie, das ihr geblieben war, und sie musste es hergeben.

 

***

 

Christopher starrte angespannt aus dem Gefährt, sich der Nähe des Kindes nur zu bewusst. Er wollte sie nicht anschauen, denn allein die Pausbäckchen und die schimmernden Augen erinnerten ihn an Amelia, auch wenn das Kind eher braunes Haar hatte.

»Aber Mama mag doch Blumen«, sagte die Kleine. Sie spielte mit dem Kreuz, das ihrer Begleitung an einer langen Kette um den Hals hing. »Und Granny doch auch.«

»Und wir haben ihnen bereits Blumen gebracht.« Ihre sanfte Stimme war so leise, dass er ihre Worte eher erriet als verstand, daher runzelte er die Stirn. Die Kutsche hielt vor der St Nicholas Church und der Bursche riss den Schlag auf. Christopher stieg zuerst aus, um der unerquicklichen Gesellschaft des Duos für einige Augenblicke zu entfliehen.

Er hatte sich auf ein Gespräch mit einer Frau eingestellt, aber nicht darauf, dass ein kleines Mädchen anwesend sein sollte, das unglücklicherweise in dem Alter war, aus dem seine Amelia nicht mehr hatte herauswachsen können. Sein Hals war ihm so eng, dass er kaum Luft bekam und er seine Krawatte weiter öffnen musste.

Er musste Mary finden, ihr sagen, dass sein Vater sein Versprechen nicht hatte halten können oder der Bruder es nie vorgehabt hatte, und dann schleunigst verschwinden.

»Dort entlang.« Die Unbekannte deutete zur Seite und lief los.

Christopher erkannte die Grabsteine und schaute sich unbehaglich um. Da war etwas, was er übersehen hatte, das merkte er nun ganz deutlich, und es wurde ihm noch unangenehmer, der Frau folgen zu müssen. Die Brise spielte mit seinem Haar und ein Hauch Salz lag in jedem Atemzug, den er einzog.

Am Ende der eingezäunten Fläche blieb sie stehen. Einige Waldblumen und Unkräuter lagen auf der Wiese vor dem schlichten Stein. Mary Ellen Eleonore Jessup. 1806-1825. Geliebte Tochter.

Daneben war ein zweites Grab soeben mit Erde bedeckt worden.

»Wir sind hergefahren, um ein Grab zu besichtigen?«, stellte er fest.

»Wir sind hergefahren, weil ein Bild besser als tausend Worte ist.« Sie ließ die Hand des Mädchens los, das die verstreuten Blumen aufsammelte und sie wieder als Strauß vor den Stein legte.

Christopher holte den Brief aus seiner Tasche und hielt ihn ihr unter die Nase. »Haben Sie den verfasst?«

Sie schaute das Corpus Delicti nicht einmal an. »Nein. Ich fand ihn beim Aufräumen auf dem Speicher.« Sie legte die Hände übereinander. »Mit einigen anderen. Ich dachte, dass Sie die Gelegenheit haben sollten, sich zu erklären. Und …«

»Wie meinen?« Christopher presste die Lippen aufeinander. War dies das Geheimnis? Hatte er sich aus Hampton Hall hergequält, um mit einer Frau zu sprechen und einem Kind zuzuschauen, wie es um einen Grabstein herumtanzte? Immerhin blieb ihm erspart, Brodericks Untat oder den Tod seines Vaters besprechen zu müssen und eine Verlobte zu entschädigen. Aber die Impertinenz dieser Frau war doch bodenlos. Eine Erklärung zu verlangen! Er richtete den Blick in die Ferne, wozu er das Kinn anheben musste. Zumindest brauchte er beide nicht mehr zu sehen. »Ich werde mich Ihnen nicht erklären.«

»Natürlich nicht! Nun, Rose wuchs bei meiner Mutter auf.«

Ihre Lebensgeschichte wollte er nicht erfahren, also brachte er sie mit einem ungehaltenen Blick zum Schweigen. Sie atmete tief ein und Entschlossenheit machte sich in ihren weichen Zügen breit. Ihre Augen blitzten. Sie waren von einem helleren Braun als die des Kindes.

»Meine Mutter verstarb Anfang der Woche«, fuhr sie fort. Notgedrungen murmelte er eine Beileidsbekundung. »Wir sind nun allein und ich kann mich nicht um sie kümmern.«

Er verengte die Augen. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ist es nicht offenkundig?« Ärger glomm in ihren Augen auf. »Mary war ein gutes Mädchen. Sie hat Mutter zu Hause unterstützt, wo es ihr möglich war, während ich mir Arbeit suchte. Sie wissen, wie sie war!« Sie presste die Lippen aufeinander. »Sie haben sie ausgenutzt und sitzen lassen. Sie hat es nicht verstanden. Ich kenne Männer wie Sie zur Genüge.« Wieder verkniffen sich die Lippen zu einem kargen Strich. Sie straffte die Schultern. »Während ich weiß, dass es Lügen sind, hat Mary Ihnen jedes Wort abgekauft. Sie glaubte fest daran, dass Sie sie zur Gemahlin wünschen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben sie manipuliert. Sie haben sie benutzt und sie dann sich selbst überlassen.« Ihr Blick richtete sich auf das Kind. »Rose sollte nicht darunter leiden müssen, dass ihre Mutter zu unbedarft war, um eine Lüge zu durchschauen, oder dass ihr Vater seine Versprechungen nicht hält.«

Christopher folgte der Blickrichtung unwillig. »Sie wollen nicht behaupten …« Der Anblick des Kindes bewirkte die übliche Trauer, die mit einem Zittern und dem Heben seines Magens einherging. Sein Herz zog sich zusammen und er bekam noch schlechter Luft. Er wandte sich ab und ging. Er konnte das nicht. Er brauchte Abstand, er musste nachdenken und sich womöglich mit Frederick beratschlagen.

»Rose, wir müssen nun gehen.« Ihre Stimme war beherrscht. Ihr Ärger kam nicht durch, aber er meinte, Leid ausmachen zu können.

»Können wir nicht noch …«

»Nein, Schätzchen. Der Weg ist lang und wir müssen noch zu Abend essen. Komm, auf dem Heimweg erzähle ich dir eine Geschichte.«

»Von Mama und dir?«, griff die Kleine auf und jauchzte.

Christopher konnte sich nicht umwenden. Er sollte es womöglich, dann jedoch blieben zu viele Fragen offen und ein Schreiben einer unzüchtigen Frau bedeutete nichts. Er fuhr sich durch den Schopf und schaute sich nun doch um. Die beiden hatten den Friedhof verlassen und hielten auf den Wald zu. Er war nicht für sie verantwortlich, versicherte er sich. Und selbst wenn er es wäre, ertrüge er es nicht. Es durfte nichts seine Routine stören, nichts durfte ihn an Amelia erinnern. Er ertrug es nicht. Mit steifen Schritten begab er sich zu seiner Kutsche und ließ die Unerwünschten zurück.

 

 

Kapitel 3

 

Worthing, nahe Brighton, April 1829, am nächsten Tag

Christopher stieg aus der Kutsche und schaute sich um. Abgesehen vom Wetter hatte sich nichts in den letzten beiden Tagen geändert, außer dass er seiner Schwägerin nun noch lieber aus dem Weg ginge. Er hatte genug von Frauen, und da war es gleich, ob sie blond oder brünett waren.

Meredith öffnete auch dieses Mal die Tür. Ein Hauch Röte schlich sich auf ihre Wangen und sie bat ihn, im Salon Platz zu nehmen. Dieses Mal nahm er das Angebot an und drückte ihr auch den notdürftig ausgebesserten Zylinder und den Stock in die Hand. Dann wanderte er in dem kleinen Aufenthaltsraum umher, bis der Bruder endlich eintrat.

»Nun? Was ergab sich in Brighton?«

»Mary ist tot und hinterlässt ein Kind.« Er biss die Zähne zusammen, da ihm neben Amelia nun auch dieses Mädchen vor Augen stand und ihre Ähnlichkeit deutlich hervorstach, trotz der unterschiedlichen Haarfarben. Er fluchte und wandte sich ab, um weiterzuwandern.

»Ein Kind?« Frederick schaute sich um. »Wo ist es?«

»In Brighton.« Er stieß den Atem aus. »Hol du sie her, wenn du dich um sie kümmern willst. Ich kann das nicht.«

Frederick murmelte eine Verwünschung und setzte sich auf den Stuhl. Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und rieb die Hände aneinander. »Broderick ist der Vater?«

»Ich weiß es nicht.« Er war zu unruhig, um ebenfalls Platz zu nehmen.

»Sie könnte also auch unsere Schwester sein?«

»Oder das Kind eines jeden!« Immerhin waren Pausbacken nicht ein alleiniges Merkmal der Walpole-Nachkommen.

»Ja, natürlich«, murmelte Frederick. »Mit wem hast du gesprochen? Was hatte die Person zu sagen? Warum wurde dir der Liebesbrief zugesandt?«

»Mit Marys Schwester. Sie kann sich nicht um das Kind kümmern und verlangte, dass ich ihr das Problem abnehme!« Er fuhr sich durch das Haar, da er nun Miss Jessup vor Augen hatte. Sie hatte einen Kussmund, hohe Wangenknochen und einen filigranen Körperbau. War ihm dies alles aufgefallen, während er zwanghaft bemüht gewesen war, nicht in ihre Richtung zu schauen? Herrje!

»Warum kann sie sich nicht um ihre Nichte kümmern? Ist ihr Gatte dagegen? Gibt es keine anderen Optionen?«

Christopher starrte Frederick entgeistert an.

»Du wirst dich doch über ihren Hintergrund erkundigt haben?« Nach einem Moment verstand er wohl, wie verrückt sein Ansinnen war, denn er schüttelte den Kopf. »Du bist postwendend umgekehrt, glücklich, dich nicht mit Mary auseinandersetzen zu müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Herrgott, Kit!«

»Welchen Unterschied machen die Hintergründe? Es ist ein Bastard.« Er rieb die Hände aneinander. »Von dem wir nicht einmal mit Gewissheit wissen, dass es … eine Walpole ist. Sie hätte sich früher melden sollen.« Er reckte erneut den Hals, das runde Gesicht des Mädchens vor Augen, wie es begeistert an der Kette herumgespielt hatte. »Es gibt nicht einmal einen Beweis, dass Mary Jessup Broderick oder unserem Vater tatsächlich begegnet ist. Miss Jessup könnte alles ersonnen haben.«

»Natürlich.« Frederick verdrehte die Augen. »Weißt du was? Du kannst deiner Verantwortung vielleicht davonlaufen, ich nicht. Bring sie her. Beide. Wir werden schon … eine Lösung finden.« Er stand auf und ging durch den Raum. »Entschuldige mich, ich muss mit Meredith beraten, wie wir das Mädchen versorgen sollen.«

»Freddy«, hielt er ihn zurück. »Deine Mildtätigkeit in Ehren …«

Der Bruder warnte ihn mit einem Blick, fortzufahren, aber Christopher war nun mal der Ältere und trug nominell die Verantwortung für die gesamte Familie.

»Aber du musst mit deinen Ressourcen haushalten. Es wird eine andere Lösung für das Kind geben. Miss Jessup sprach davon, dass sie Arbeit hätte. Sicherlich wird es schwierig werden, aber sie wird das Kind allein durchbringen.«

»So kann nur ein Mann sprechen, der von Armut und Leid keine Ahnung hat. Mach dir keine Sorgen um uns, Kit, ein Stück Brot weniger am Tag wird uns nicht schaden.« Er trat aus dem Zimmer und ließ Christopher mit einem Gefühl zurück, versagt zu haben, aber auch mit Erleichterung, denn wenn Frederick sich um das Kind kümmerte, brauchte er keinen weiteren Gedanken an es zu verschwenden.

 

***

 

Roedean Cottage, Brighton, April 1829, am Abend

Gwen weinte lautlos. Es gab keinen Ausweg. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Lord seiner Verantwortung nachkam. Welcher Mann tat das schon?

Sie klammerte sich an den schmalen Leib der Nichte. Welcher Mensch stellte sich schon seiner Verantwortung? Sie lief doch auch davon. Sie hatte damals alles hinter sich gelassen, als ihre Schwester vom Weg abgekommen war. Hatte sich losgesagt von ihr, der Mutter, ja von allem, was sie in Brighton zurücklassen konnte, nebst Verlobtem, und hatte ihr Heil in der Ferne gesucht. In Schottland, wo man sie nicht mit der Hure von Brighton in Zusammenhang bringen konnte. Sogar den Namen hatte sie geändert, nannte sich Miss Mertens, nach dem Mädchennamen der Mutter. Sie hatte Mary im Stich gelassen, als die Schwester sie dringend gebraucht hatte. Und die Mutter in den Jahren nach Marys Tod. Und nun ließ sie Rose zurück.

In Brighton, wo jeder wusste, wer sie war. Gwen drückte das Mädchen an sich. Es gab keine Alternative. Keine Familie, an die sie sich wenden konnte, keine Möglichkeit, für ein Auskommen zu sorgen, wenn sie die Stelle als Gesellschafterin der Lady Chesterfield aufgab. Und es war ausgeschlossen, dass Gwen die Erlaubnis der Dienstherrin erhielt, sich nebenbei um die Nichte zu kümmern. Die Countess war mehr als garstig zu nennen.

Das Mädchen drehte sich und klammerte sich mit ihren kleinen Händen an ihr Nachthemd. Sie lagen im Salon vor dem Kamin auf dem Boden. Lediglich einige Decken schützten sie vor der Kälte der Nacht. Schließlich war alles andere bereits veräußert oder verstaut. Selbst die heugefüllten Matratzen hatte sie bereits weggeworfen, um in aller Herrgottsfrühe aufbrechen zu können. Der Weg nach Falkirk in Schottland war lang und die Reise mit der Postkutsche unerquicklich und anstrengend.

Gwen konnte Rose nicht bei sich behalten. Sie besaß nicht genügend Wertsachen, um sie beide zu versorgen. Es war aussichtslos. Sie musste jemanden finden, der das Kind gegen ein Entgelt, das sie sich von ihrem Lohn leisten konnte, aufnahm. Vertrauenswürdige Menschen, die Rose liebevoll aufzogen, wie sie es verdiente.

Gwen seufzte und legte das Kinn auf dem Schopf des Kindes ab. So jemanden gab es in Brighton ohnehin nicht. Die ganze Stadt hatte sich immer schon über Mary lustig gemacht und schließlich über sie hergezogen, als offensichtlich wurde, wie weit sie gegangen war, ohne ein Ehegelübde abgelegt zu haben.

Das Kinderheim hier wäre ein Desaster für das Kind. Aber wo sollte sie hin?

Wo sollte sie Rose lassen, wenn sie doch zurückmusste, um ihre Anstellung nicht zu verlieren? Was blieb ihr schon übrig, als sie in dem Kinderheim abzugeben, das von der örtlichen Kirche betrieben wurde?

 

***

 

Roedean Cottage, Brighton, April 1829, am nächsten Tag

Christopher klopfte ungeduldig. Dass dieses Frauenzimmer so lange brauchte, um ein kleines Haus zu durchqueren, war lachhaft, wenn man bedachte, dass seine hochschwangere Schwägerin noch deutlich schneller war als diese Miss!

»Miss Jessup!«, rief er, da er schon gezwungen war, die beiden abzuholen, und sie ihm nun auch noch Zeit und Nerven raubten. »Machen Sie auf!« Er donnerte gegen die Tür und fluchte unterdrückt.

Hätten am Morgen nicht die Wehen bei Meredith eingesetzt, wäre er nicht hier. Er hätte Frederick seine Torheit selbst ausbaden lassen. So aber hatte die Furcht des Bruders sein Herz erweicht.

Er trat vom Haus fort und schaute es sich kritisch an. Gut möglich, dass sie gar nicht da waren. Sollte er also nach Brighton hineinfahren und sie suchen?

Er fluchte erneut. Die Stadt war deutlich zu groß, als dass man jemandem zufällig über den Weg lief. Natürlich war es möglich, dass sie den Friedhof aufsuchten, aber auch das war nur eine Möglichkeit von vielen.

»Mylord«, sprach der Kutscher ihn an. »Die Möbel sind abgedeckt.« Er deutete zum Fenster, das in den Wohnbereich zeigte.

Christopher stapfte in das Beet, um selbst einen Blick hineinwerfen zu können. Tatsächlich waren das Sofa und mindestens ein Lehnstuhl von Laken bedeckt. Der Kamin war sauber und leer und es standen keine Dinge herum. Keine Vasen oder Bildnisse. Er trat auf die Straße und schaute sich das Haus genauer an. Der Schornstein spuckte keinen Rauch aus, die Läden im Obergeschoss waren geschlossen. Wo zum Henker war sie hin?

Frederick würde ihm niemals glauben, dass eine bedürftige Frau einfach ihren Krempel nahm und verschwand!

Christopher schaute sich um. Verzweiflung stieg in ihm auf. Natürlich wurde es zu einer Tortur. Er wusste es ja, dass Frauen und Kinder dies nun mal mit sich brachten, aber das Ausmaß erschreckte ihn nun doch.

Frederick beharrte sicherlich darauf, dass er sie fand. Seufzend trat er zur Kutsche. »Brighton.« Sie konnte über Nacht nicht weit gekommen sein, mit Kind und Kegel. Da sollte es möglich sein, sie aufzubringen.

 

 

Kapitel 4

 

Worthing, nahe Brighton, Mai 1829

Christopher stieg aus der Kutsche und seufzte. Er hätte nicht gedacht, dass er sich so schnell wieder bei seinem Bruder einfinden würde, aber nach ihrem Streit um das verlorene Kind wollte er den Versuch einer Schlichtung unternehmen. Er steckte den Stapel Briefe unter seinen Arm und setzte den Hut auf, um die wenigen Schritte zur Tür zurückzulegen. Meredith öffnete mit dem Baby auf dem Arm.

»Mylord.« Sie knickste und deutete ins Haus. »Wie schön, dass Sie uns besuchen kommen.«

Er nickte peinlich berührt. Frau und Kind, als wäre eines von beidem nicht bereits schlimm genug. »Ich habe dringende Angelegenheiten mit Frederick zu besprechen«, sagte er gestelzt und wand sich innerlich vor Agonie. Sein Neffe hatte ungefähr das Alter, in dem er seine Amelia zum ersten Mal gesehen hatte, und sah ihr schmerzlich ähnlich, glatzköpfig und zerknautscht, wie er war.

»Natürlich, Mylord. Werden Sie zum Essen bleiben?«

»Machen Sie sich bitte keine Umstände«, quetschte er hervor, bevor er sie ungalant stehen ließ und in den Salon flüchtete.

Hut und Gehstock legte er ab und auch den Umhang nahm er von den Schultern, bevor er die Briefe an den Tisch brachte. Er hatte sie nicht alle gelesen, nur einige davon und das Begleitschreiben, das von der anderen Miss Jessup verfasst worden war.

»Wie kann ich dir helfen?«, brummte Frederick in seinem Rücken. Christopher fuhr herum. Der Bruder war immer noch verärgert, das bezeugte seine grimmige Miene, also wies ihn Christopher auf sein Mitbringsel hin.

»Miss Jessup machte sich die Mühe, diese Billetts nach Hampton Hall zu bringen.« Er fischte in seiner Tasche nach einem Ring und warf ihn seinem Bruder zu. »Den hier inklusive.«

Frederick fing ihn auf. »Ein Verlobungsring?«

»Mutters Verlobungsring. Ich habe ihn mit dem Porträt in der Galerie abgeglichen und mich erkundigt. Er liegt nicht bei der Bank und findet sich nicht in der Schmuckschatulle zu Hause. Es ist keine Kopie.«

»Herzlichen Glückwunsch, Kit, du hast unserer Schwester die Tür gewiesen.«

Und dabei hatte Frederick die Briefe nicht einmal gelesen. Christopher seufzte. Aus den beiden Schreiben seines Vaters ging deutlich dessen Geneigtheit hervor. Es war gelinde gesagt verstörend gewesen, die Lobpreisung Marys in der Handschrift des alten Herrn zu lesen, den Christopher nicht als gefühlvollen Mann kannte.

»Oder genügt dir der Ring nicht als Nachweis, dass Vater Mary Jessup tatsächlich ein Versprechen gab? Dass sie und ihr Kind ein Anrecht auf unsere Unterstützung haben?« Frederick schüttelte den Kopf und deutete auf die mit einem Satinband umwickelten Briefe. »Was steht da drin?«

»Liebesworte.« Er zuckte die Achseln. »Er muss auf dem Weg zu ihr gewesen sein, als er starb.«

»Wundervoll! Nun, ist sie jetzt in deiner Obhut?«

Christopher begegnete peinlich berührt seinem Blick.

»Auf Hampton Court«, fuhr der Bruder fort und deutete auf die Billetts. »Schließlich hat sie dir die Post gebracht und den Ring gegeben, der dem Kind gehört. Unserer Schwester.«

Christopher musste wohl eingestehen, dass die Annahme falsch war. »Nein«, murmelte er. »Man schickte sie fort.« Hitze stieg ihm in die Wangen. »Du weißt, ich verbitte mir Störungen, und man wies ihr die Tür.«

Frederick biss grimmig die Zähne aufeinander und durchbohrte ihn mit einem bitterbösen Blick.

Christopher hob die Hände. »Ich konnte nicht ahnen, dass sie kommen würde.« Dies machte den Bruder nicht gewogener. »Das war unbedacht von mir, aber nachdem sie nicht einmal den Versuch unternahm, mich umzustimmen, stand nicht zu erwarten, dass sie mir folgen würde!« Und auch dort hätte Beharrlichkeit geholfen. Ein kurzes Schreiben, eine zweite Vorsprache, eine Vorwarnung!

»Ich bin sprachlos, Kit. Zwei Gelegenheiten und du setzt beide in den Sand. Absichtlich?«

»Ich versuchte, ihr zu folgen, aber sie war nicht in einem der Gasthäuser in der Umgebung untergekommen und an der nächstgelegenen Postkutschenstation konnte man mit meiner Beschreibung auch nichts anfangen.« Er hatte sich schlicht nicht weiter zu helfen gewusst.

Frederick presste die Lippen aufeinander. »Ich nehme an, Miss Jessup hat auch keinen Aufenthaltsort angegeben? Irgendetwas, wodurch sie zu finden wäre?«

»Wenn sie ein Vermögen zurückgibt, wird es ihr nicht an Mitteln mangeln«, hob Christopher hervor. »Und das Kind ist bei ihr besser aufgehoben …« Als bei ihm. So viel stand unbestreitbar fest.

»Einen Verlobungsring von deutlichem Wert? Es wäre ein Risiko, ihn zu veräußern. Wenn sie in einer Anstellung ist, wird sie entsprechend gekleidet sein und man könnte ihr unterstellen, Diebesgut zu verkaufen.« Der Bruder schüttelte den Kopf. »Ist das alles? Ich möchte mich dann wieder um meine Frau und meinen Sohn kümmern.«

Christopher runzelte die Stirn, klang dies in seinen Ohren doch wie ein Rauswurf. »Du bittest mich nicht, zum Essen zu bleiben?«, fragte er irritiert. Wegen eines strittigen Punktes, aus welchem Grund Miss Jessup einen Wertgegenstand zurückgab? Er hatte schließlich sein Möglichstes getan, um die Frau aufzufinden. Sie stand ihm gleich vor Augen. Ihre Enttäuschung, als er sie stehen gelassen hatte, war fast schlimmer als Fredericks offensichtliche Zurückweisung.

»Nein.«

Sie sahen einander an. Es war wohl unbestreitbar, dass er den Groll des Jüngeren nicht beschwichtigt hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---