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Susanne Fröhlich

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Beschreibung

Das Lieblingsstück der Spiegel-Bestsellerliste! "Ich kann von zu Hause aus arbeiten. Ich bin jederzeit für die Kinder da und absolut flexibel. Außerdem verdiene ich was, und es macht mir Spaß." Andrea Schnidt ist mittlerweile Top-Sellerin im Internet und hat im Hobbykeller ihr Büro – aber das platzt schon fast aus allen Nähten. "Such dir doch lieber was Richtiges", hatte Christoph, ihr Mann, vorgeschlagen. Aber der hat ja gut reden, der Herr Junior-Partner und seit neuestem besessener Jogger. Als würde die internationale Geschäftswelt auf sie warten! Außerdem hat sie auch so schon alle Hände voll zu tun, das ganz normale Chaos zu meistern – jetzt, wo noch ihr Vater mit dem Rollköfferchen in der Hand vor der Tür steht und bei ihnen einzieht und ihre Freundin Annabelle davon überzeugt ist, dass sie, Andrea, Jesus aus der Mehrzweckhalle in Eschborn verscheucht hat. Aber dass es sich mal auszahlen wird, alle afrikanischen Hauptstädte zu kennen, davon ist Andrea überzeugt!

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Seitenzahl: 345

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Dieses Buch ist für mein heißgeliebtes »Speckfrettchen« – ich vermisse Dich sehr! Und für Constanze, ohne die ich überhaupt nichts schreiben kann. Dass Du meine Freundin bist, ist wirklich ein großes Glück und Privileg. Danke für alles.

Ein verheirateter Mann kann tun, was er will, wenn seine Frau nichts dagegen hat.

George Bernard Shaw

1

»Jesus ist hier bei uns in Eschborn«, ruft die Stimme ekstatisch.

Jesus ist in Eschborn. Das wäre, wenn es tatsächlich stimmt, ein ziemlicher Knaller. Ich meine, ich möchte Jesus nicht zu nahe treten, aber warum um alles in der Welt sollte er nach Eschborn kommen? Ein Mann wie Jesus hat doch wirklich andere Möglichkeiten. Wozu ist er schließlich Jesus? Was nützt einem so eine Funktion, Beruf wäre wohl die unpassende Bezeichnung, wenn man dann doch in Eschborn rumhängen muss? Und noch dazu bei diesem Schmuddelwetter. Da wäre es doch bestimmt auf den Malediven oder den Seychellen netter. Wärmer allemal. Die Strände, die Palmen, das türkisfarbene Wasser, nette Cocktails, all das sollte Jesus ja wohl bekannt sein. Und ansonsten, falls ihm das Rumliegen am Strand nicht so gefällt, viele Männer langweilen sich da ja schnell mal, und Jesus ist ja nun eindeutig ein Mann, gibt es auch noch Städte wie New York, Rom, Venedig oder Paris. Internationale Metropolen. Und wenn es denn unbedingt Deutschland sein muss, würde ich an Jesus’ Stelle doch lieber mal nach Berlin. Für Jesus würde sich der Wowereit sicherlich einen Abend frei nehmen. Dass Jesus’ Wahl angeblich ausgerechnet auf Eschborn fällt, genauer gesagt aufs Gewerbegebiet Eschborn Süd, spricht entweder für seine Leidensfähigkeit (die ja weitreichend bekannt ist) oder auch nur dafür, dass er entweder keinen Geschmack oder keine Ahnung hat. Beides aber sollte man von Jesus doch erwarten können.

»Jesus ist in Eschborn und sagt uns hallo«, wiederholt die Stimme noch aufgeregter die gewagte These, und weil das so dermaßen bekloppt ist und alle trotzdem so irrsinnig bewegt sind, nutze ich diesen Moment, nehme meine Tasche und meine Decke und verlasse so unauffällig wie möglich den zugigen kleinen Raum über der örtlichen Mehrzweckhalle. Vielleicht hat Jesus ja Lust mitzukommen. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er an dieser Veranstaltung hier Spaß hat. Ich jedenfalls nicht. Überhaupt nicht, und deshalb muss ich hier weg.

Annabelle kommt mir hinterher.

»Wo willst du denn hin?«, fragt sie entsetzt, »das Seminar geht doch noch den ganzen Tag!«

»Ich bitte dich«, sage ich, »was soll denn nach Jesus noch kommen?«, und hoffe, dass sie den Scherz kapiert. Tut sie aber nicht.

»Hast du ihn auch gesehen?«, will sie ernsthaft wissen, und ich weiß wirklich nicht, wie diese Frau meine Freundin sein kann.

So viel habe selbst ich verstanden. Beim Channeling spricht man durch andere. Also Jesus durch unsere Seminarleiterin Asmara. Deshalb kann man ihn auch definitiv nicht sehen, höchstens hören. Annabelle, meine Freundin, ist, unter uns gesagt, nicht das hellste Licht, aber dafür eine absolut hartnäckige Person. Immerhin hat sie mich zu diesem bescheuerten Seminar überredet. »Channeling mit Asmara« nennt sich diese dubiose Veranstaltung, zu der man nur eine warme Decke, etwas zu essen und die Teilnahmegebühr von zweihundertneunzig Euro mitbringen muss. Natürlich auch eine gewisse Empfangsbereitschaft. Um die geht es Asmara, der Channeling-Fachkraft, die nun ebenfalls vor die Halle tritt, wohl weniger.

»Hey Moment mal«, keift sie mich an, »was ist denn mit dir los? Wo willst du denn hin? Du hast deine Teilnahmegebühr noch gar nicht bezahlt!«

Wie profan. Da hat sie gerade Jesus in sich selbst entdeckt, und anstatt mit ihm ein wenig zu plaudern – da gäbe es doch sicherlich Interessantes zu erfahren und, unter uns, auch jede Menge offene Fragen –, rennt sie mir hinterher und grämt sich um ihre zweihundertneunzig Euro. Als ob Jesus nicht wesentlich mehr wert ist. Wenn sie clever wäre, hätte sie die Zeitung angerufen. Die Taunuszeitung. Für Jesus wäre vielleicht sogar jemand von der Bildzeitung erschienen.

»Jetzt ist mir Jesus wegen dir entwischt!«, klagt sie mich nun auch noch an und macht ein bekümmertes Gesicht. »Jesus braucht absolute Aufmerksamkeit!«

Was soll man dagegen bloß sagen? Dass alle Männer absolute Aufmerksamkeit brauchen? Dass ich dachte, dass Jesus da drüber stehen würde und nicht so kleinlich wäre? Bevor ich anfange, mich zu rechtfertigen, gebe ich auf, stammle was von: »Ich war so überwältigt, musste nur mal eben an die frische Luft«, und fühle mich wie ein flüchtender Häftling, der kurz vor der ersehnten Freiheit von seinen Gefängniswärtern wieder aufgegriffen und hinter die Mauern zurückgeführt wird.

Wie ein Rind zur Schlachtbank lasse ich mich zurück in die Halle eskortieren. Mich empfängt allgemeines Schweigen. Es gibt freundliches Schweigen und böses Schweigen. Das hier ist eindeutig kein freundliches Schweigen. So viel ist sofort klar. Alle sind offensichtlich total sauer auf mich.

Eine kleine Frau mit wirrem Haar, die ein ganz klein wenig schielt, unterbricht die Stille.

»Du, Andrea, das war richtig mies von dir. Nur weil du noch nicht bereit bist zum Empfang. Jetzt hast du Jesus vertrieben.« Zur Unterstützung ihrer Worte rollen ihre Augen noch mehr als sonst. Wie bei einem Flipper-Automaten. Sieht schlimm aus, hat aber durchaus etwas Faszinierendes. Ich kann meinen Blick kaum von ihren Augen lösen. Schon weil man krampfhaft versucht, nicht so auffällig hinzuschauen, glotzt man oft umso mehr. Zustimmendes Gemurmel in der Halle und wie immer, wenn einer den Mut hatte, etwas zu sagen, kommt der Rest auch gleich begeistert aus der Deckung. »Genau« und »Du tust mir irgendwie so was von leid« sind noch die harmlosen Kommentare.

Ich werde also von nun an die Frau sein, die Jesus vertrieben hat. Die Frau, die Jesus zum Schweigen gebracht hat. Ich bin der Judas der Gruppe.

»Soll ich gehen?«, biete ich reumütig an und hoffe inständig auf ein Ja. Scheiß auf die zweihundertneunzig Euro. Alle schauen auf unsere Channeling-Meisterin Asmara und sind gespannt auf ihre Entscheidung.

»Nein«, sagt sie mit großmütigem Unterton. »Gerade du, Andrea, brauchst dieses Seminar. Vielleicht solltest du sogar überlegen, noch ein Weiteres zu belegen. Dein Empfang ist total blockiert. Da wartet wahnsinnig viel Arbeit auf dich.«

Was für eine wunderbare Mitteilung. Mein Empfang ist blockiert, und es wartet Arbeit auf mich. Deswegen bin ich nun wirklich nicht hier. Arbeit habe ich zu Hause ausreichend. Christoph, mein Mann, wird sich kaputtlachen. Verhaltensauffällig geworden im Channeling-Seminar. Betragen mangelhaft. Na bravo. Das muss man erst mal schaffen. Vor allem war diese kleine persönliche Ansprache nur der Anfang. Den gesamten Nachmittag über bekomme ich immer wieder Hinweise, wie ich meinen Geist auf Empfang schalten kann. Wir machen diverse Übungen und versuchen, mit unseren spirituellen Führern zu kommunizieren. Es wird irre viel geatmet, und wir wälzen uns auf dem leicht staubigen Boden durch den muffigen Raum. Außerdem fassen wir uns ständig an den Händen, und die meisten Übungen werden bei geschlossenen Augen absolviert. Generell liegt mir Kommunikation sehr, hier habe ich arge Probleme. Aus mir will überhaupt niemand sprechen. Wahrscheinlich liegt es an meinen Vorbehalten. Oder meinem mangelnden Ego. Insgeheim frage ich mich selbst, warum jemand ausgerechnet mich als Medium wählen sollte.

Ist das hier nicht alles grauenvoller Humbug? Oder bin tatsächlich ich es, die einfach noch nicht reif genug dafür ist? Der die Empfangsebene abgeht? Egal, wie absurd einem etwas erscheint, ein Restzweifel bleibt doch immer. Besonders in dieser Situation. Wenn alle so überzeugt sind, nur man selbst nicht, besteht ja nun durchaus die Möglichkeit, dass man diejenige ist, die sich irrt. So borniert, dass ich mich für unfehlbar halte, bin ich nun auch nicht. Liegt es an meiner mangelnden Sensibilität? Tauche ich nicht tief genug in mein Selbst ein? Ist da einfach nichts in mir drin? Nur eine gigantische Leere, ein großes Nichts? Fehlen mir bestimmte Bewusstseinsebenen, und wenn ja, wo kriege ich sie her?

Während ich noch still vor mich hin grübele, schreit Annabelle auf. Ihre Oma hat ihr etwas mitgeteilt. Alle sind ganz aufgeregt, schließlich ist Annabelles Oma vor gut zehn Jahren gestorben.

»Es war ganz deutlich«, freut sie sich.

»Und?«, frage ich, »was hat sie dir gesagt?«

»Ich soll weniger Kohlenhydrate essen!«, teilt sie mir mit erheblichem Pathos in der Stimme mit.

»Du sollst weniger Kohlenhydrate essen?« Das ist ja wohl der größte Käse, den ich je gehört habe. Als hätten sich die Frauen damals schon mit Kohlenhydraten beschäftigt. Das zum einen. Zum anderen meldet man sich doch nicht aus dem Jenseits, um über Kohlenhydrate zu sprechen. Da gibt es doch wirklich Bedeutsameres. Annabelle sieht an meinem Gesicht, dass ich gewisse Zweifel habe.

»Glaubst du mir etwa nicht?«, zischt sie mich an, und wieder mal habe ich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Saales.

»Na ja«, versuche ich meine Zweifel ein wenig abzumildern, »sagen wir mal so, ich finde das irgendwie komisch. Oder besser gesagt, seltsam.«

Jetzt wird Annabelle, die vorhin bei der Jesusnummer noch recht freundlich geblieben ist, zickig.

»Komisch, wieso komisch? Meine Oma sorgt sich um mich. Weil sie natürlich weiß, dass ich zu viel Weißbrot esse und ich deswegen auch oft zur Aggressivität neige. Da kümmert sich mal jemand um mich, und sofort machst du alles schlecht. Das finde ich echt blöd von dir. Du weißt ja sowieso immer alles besser.«

Jetzt habe ich nicht nur Jesus vergrätzt, sondern auch noch Annabelle. Und ihre Oma gleich mit. Eine tolle Bilanz. Und das Seminar ist noch nicht mal zu Ende. Mal schauen, wen ich noch alles vor den Kopf stoßen kann. Asmara versucht meinen Fehler auszubügeln. Sie lobt Annabelle und ist angeblich irre stolz auf ihr Talent. Die Kohlenhydratnachricht ist für sie absolut eindeutig.

»Du sollst dich mehr um deinen Körper kümmern, Annabelle, das ist das, was deine liebe Oma dir aus dem Jenseits mitteilen will. Die Kohlenhydrate sind ein Synonym.«

Annabelle nickt ehrfürchtig, obwohl sie hundertprozentig nicht weiß, was Synonym heißt. Dass Oma eventuell auch nur sagen wollte: »Gott, Annabelle Kind, was bist du fett geworden in den letzten zehn Jahren!«, und dafür eine höfliche Metapher gesucht hat, scheint Annabelle nicht in den Sinn zu kommen.

In diesem Stil geht es den ganzen Tag weiter. Als um einundzwanzig Uhr endlich Schluss ist und wir nach ein paar Ohm-Stöhn-Übungen von Asmara verabschiedet werden, bin ich total erledigt. Das viele Liegen und Atmen hat mich arg ermüdet. Ich bin nur froh, dass ich nicht noch vor versammelter Channeling-Schar eingeschlafen bin.

Annabelle ist seltsam spröde, als wir rauskommen. Sie, die einen sonst zur Begrüßung und beim Verabschieden herzt und küsst, als gäbe es kein Wiedersehen mehr, nickt mir nur kurz zu und geht dann zu ihrem Auto.

»Halt«, rufe ich, »Annabelle, wir sind doch zusammen gekommen!« Will die mich jetzt hier in Eschborn stehen lassen? Zur Strafe für meine Kohlenhydratskepsis? Werden Jesus und ich hier in dieser Muff-Gegend enden? Vielleicht noch in Gesellschaft von Annabelles Omi? Ich habe nach dem Abdrücken der Kursgebühr nicht mal mehr genug Geld, um mir ein Taxi zu leisten.

»Komm halt, ich fahr dich noch nach Hause«, scheint sie sich zu erinnern, und wir treten ziemlich schweigsam die Heimfahrt an. Mein kurzer Versuch, an ihre Vernunft zu appellieren, scheitert.

»Annabelle, warum sollte Jesus denn nach Eschborn kommen?«, frage ich nett und heiter, so als hätte es unseren kleinen Disput gar nicht gegeben, und knuffe sie dabei liebevoll in die Seite. Nach dem Motto: Wir zwei wissen doch ganz genau, dass das Quatsch ist. Sich gemeinsam über etwas lustig zu machen, kann enorm verbinden. Es dauert lange, bis sie antwortet.

»Andrea«, sagt sie sehr ruhig und für ihre Verhältnisse auch sehr ernsthaft, »der Dalai Lama war auch schon in Eschborn. Beim Roland Koch. Der wohnt da. Warum sollte Jesus dann nicht auch kommen?«

Ich bin sprachlos. Sitzt Jesus vielleicht mittlerweile schon im Wohnzimmer von Roland Koch und trinkt mit ihm ein Weinchen? Gemeinsam mit dem Dalai Lama?

Als wir vor unserem Haus ankommen, sehe ich, dass noch Licht im Wohnzimmer brennt.

»Hast du noch Lust auf einen Wein oder so?«, lade ich Annabelle ein. Zur Wiedergutmachung und ehrlich gesagt auch als moralische Unterstützung, wenn ich gleich auf Christoph treffe. Der war von meiner Seminarteilnahme nämlich überhaupt nicht begeistert. Nicht, weil ich dann den ganzen Tag unterwegs bin und er mich unsagbar vermisst, sondern vor allem wegen der zweihundertneunzig Euro.

»Für so einen Scheiß gibst du mein gutes Geld aus!«, hat er sich beschwert, und allein für diesen selten dämlichen und unverschämten Satz hätte ich am liebsten jedes Wochenende in den nächsten zehn Jahren ein teures Seminar gebucht. Schließlich ist Christoph, wenn es um ihn selbst geht, auch nicht direkt knickerig. Aber das ist selbstverständlich etwas völlig anderes.

Annabelle schüttelt den Kopf und lehnt meine Einladung ab: »Ne, heute nicht. Mir langt es. Tschüs.«

Ich habe die Autotür noch nicht richtig zugeschlagen, da braust sie schon weg. Die ist richtig angefressen. Da muss ich mir eine sehr gute Entschuldigung einfallen lassen, obwohl ich eigentlich gar kein richtiges Schuldgefühl habe. Leider spielt das manchmal so gar keine Rolle. Außerdem ist Annabelle zwar nicht meine beste Freundin, aber doch eine wirklich treue Seele. Ich werde sie morgen früh anrufen und mich verbal in den Staub werfen. Nachtragend ist sie zum Glück nämlich nicht. Das bin leider nur ich. Ich weiß, dass es sich um keine besonders schöne Eigenschaft handelt, aber dieses Wissen allein hilft noch nicht. Angeblich ist zwar Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung, aber bei mir bleibt es bei diesem ersten Schritt. Ich weiß, dass es kleinkariert ist, nachtragend zu sein, bin es aber trotzdem. Nicht sehr erwachsen, aber leider kann ich nicht anders.

 

Christoph sitzt im Wohnzimmer, und die Glotze läuft. Keine große Überraschung. Entweder er arbeitet, oder er schaut fern. Er behauptet, es entspanne ihn. Ich glaube, es bewahrt ihn vor den Anstrengungen möglicher Kommunikation. Vor allem mit mir. Wenn der Fernseher läuft, hat man eine Tonkulisse und sitzt nicht da und muss nach unverfänglichen Themen suchen. Das klingt wahrscheinlich schlimmer als es ist. Unsere Ehe bewegt sich, würde ich sagen, auf etwa durchschnittlichem Niveau. Schulnotenmäßig zwischen zwei minus an guten und vier plus an schlechten Tagen. Es regnet keine Rosen, wir beteuern uns nicht stündlich unsere unbändige Liebe, aber ich glaube, generell mögen wir uns (bis auf einige Unarten von Christoph, aber dazu später in aller Ausführlichkeit mehr), und an den meisten Tagen würde ich ihn auch nochmal heiraten. Gut, außer an den Tagen, an denen ich ihn umbringen will.

»Na, wie war es?«, will er tatsächlich wissen. Bei der Frage wendet er seinen Blick sogar kurz vom Fernseher ab und zieht seine Augenbrauen ganz leicht nach oben. Wer ihn kennt, weiß, dass das ein Ausdruck von gewissem Spott ist. Das relativiert sein Interesse allerdings schon wieder etwas.

»Jesus war da. Ist aber wegen mir entwischt. Und Annabelles tote Oma. Die habe ich auch noch vertrieben«, antworte ich für meine Verhältnisse relativ knapp, und er guckt ein ganz klein wenig erstaunt. Aber so erstaunt, dass er mehr wissen will, ist er dann doch nicht, er schüttelt nur kurz, leicht angewidert und spöttisch den Kopf. Bevor er sich wieder seinem Lieblingsobjekt, dem Fernsehgerät, widmet, teilt er mir noch schnell mit, dass mein Vater angerufen hat.

»Er klang irgendwie komisch, hat das aber abgestritten. Er meldet sich morgen bei dir.«

Auch gut. So spannend, dass ich noch stundenlang über das bekloppte Seminar reden möchte, ist es auch wieder nicht gewesen. Und für die Kursgebühr möchte ich mich auch nicht schon wieder rechtfertigen müssen. Außerdem wartet im Keller noch massenweise Arbeit auf mich. Meinen Vater kann ich um diese Zeit eh nicht mehr zurückrufen. Punkt halb zehn gehen bei dem die Rollläden runter, und Papa geht schlafen. Seit Jahren schon. »Was glaubst du, warum ich noch so fit bin?«, reibt er mir oft genug unter die Nase. »Mein Körper bekommt ausreichend Schlaf. Das ist und bleibt das A und O. Schlaf ist das billigste Schönheitsmittel. Da kann keine Creme gegen anstinken. Guck dir deine Mutter an. Was glaubst du, warum die immer noch so aussieht? Weil sie genug schläft. Du solltest besser auch mal früher ins Bett gehen. So wie die Mutti und ich. Selbst deine Schwester Birgit macht das jetzt. Und ehrlich, Andrea, sie sieht jünger aus als du. Ist nicht böse gemeint.« Fehlt noch, dass er sagt, ich solle es nicht persönlich nehmen. Ich hasse diesen Satz, der zu seinem Standardrepertoire gehört. Wie soll ich es denn sonst nehmen, wenn es um mein Aussehen geht? Aber in diesem Fall bin ich generös. Birgit war schon immer ein bisschen Papis Liebling, und sie sieht definitiv nicht jünger aus als ich. Allein ihre Krähenfüße! Mit diesem Wissen im Hinterkopf fällt es bedeutend leichter, großzügig zu sein.

Wäre Schlaf ein Produkt, mein Vater wäre der optimale Promoter. Anrufe nach halb zehn sind deshalb fast schon ein Sakrileg. Geburten und Todesfälle oder zumindest schwere Unfälle – dann ja, aber andere Gründe für Anrufe nach halb zehn sind undenkbar.

»Ich geh nochmal runter, ein paar Sachen erledigen«, sage ich zu Christoph, schnappe mir in der Küche ein Glas Wein und mache mich ab in den Keller.

Hier ist mein Büro. Also eigentlich ist es unser gemeinsames Büro. Christoph und ich teilen uns den so genannten Hobbyraum unseres Reihenhauses und nutzen ihn als Arbeitszimmer. Früher hießen diese Räume Partykeller. Meistens mit Theke und Barhockern und das Ganze in Eiche rustikal. Ziemlich spießig auf den ersten Blick, aber immerhin haben die damals noch Partys gefeiert.

Tolles Hobby: Arbeiten. Doch es gibt da draußen in der bunten Promi-Welt ja oft genug Leute, die behaupten, dass ihre Arbeit ihr größtes Hobby sei. Wer’s glaubt, bitte schön!

 

Aber ehrlich gesagt, hat mein momentaner Job wirklich mal als eine Art Hobby begonnen. So vor etwa einem Jahr.

Ich hatte akuten Aufräumdrang. Eine Art Ausmistschub, der mich etwa halbjährig überkommt und von dem ich mittlerweile überzeugt bin, dass er eindeutig hormonell begründet sein muss. Anders kann ich mir den verrückten Drang nach Ordnung und Klarheit bei meinem Naturell nicht erklären. Es ist geradezu zwanghaft. Ich muss es tun. Also habe ich es getan. Sich dagegen zu wehren, führt ja zu nichts. Man soll seinem Körper geben, wonach er verlangt. Wenigstens ab und zu. Und solange es sich um solch harmlose Begierden wie Ausmisten handelt, kann man allemal großzügig sein und froh darüber, dass es den Körper stattdessen nicht nach Koks oder Heroin verlangt. Noch dazu ist die Sucht nach Chaosbeseitigung wesentlich preiswerter zu befriedigen und man muss sich ja heutzutage schon Kohlenhydrate und andere herrliche Dinge verkneifen.

Ich war also am Ausmisten. Besonders gut bin ich darin, Dinge von anderen auszusortieren. Also beispielsweise Kindersachen. Wenn ein Kinderzimmer aussieht wie eine Zweigstelle von »Toys r us« nach einem Hurrikan bin ich in meinem Element. Meine Hauptutensilien beim Ausmisten sind riesige blaue Müllsäcke – waren riesige Müllsäcke. Bis Heike, meine Freundin, mich gefragt hat, ob ich denn völlig bescheuert sei. Schließlich könne man all die Dinge doch noch prima verscherbeln. Ich sah mich schon auf dem Flohmarkt stehen, bei leichtem Nieselregen und zwei Grad, mit anschließender Blasenentzündung und geschätzten sieben Euro Profit.

»Quatsch«, hat mich Heike, meine älteste Freundin, belehrt. »Heutzutage geht das doch kinderleicht. Du setzt den Kram ins Internet, und das Geld kommt auf dein Konto. Mach ich ständig. Ist leicht und effektiv. Vertick deinen Kram doch bei eBay.« Natürlich wusste ich schon vor Heikes Anruf was eBay ist. Nämlich eine Art Internetauktionshaus, wo man etwas ersteigern und logischerweise auch versteigern kann. Ersteigert habe ich ab und an schon mal was. Meistens für viel zu viel Geld. Ich habe einen klitzekleinen Hang zur Raffgier, wenn ich mich mal für etwas entschieden habe, und sei es in einem Internetkaufhaus, dann will ich es auch haben. Ich kann mich schlimmer in etwas verbeißen als ein Terrier. Auch ein Charakterzug, an dem ich mal arbeiten könnte. Nachtragend und raffgierig – keine Eigenschaften, mit denen man sich sonderlich beliebt macht oder auf Partnersuchseiten als begehrenswerte Beute gilt. Aber zum Glück habe ich ja schon einen Partner und kann deshalb ganz offen zu meinen kleinen Fehlern stehen. Natürlich nicht vor Christoph – aber doch zumindest vor mir selbst.

Auf die Idee, etwas zu versteigern, war ich noch nicht gekommen. Ich hatte mich immer vor dem Aufwand gefürchtet.

»Ist doch gar kein Thema«, beruhigte mich Heike, »du machst ein Foto, schreibst einen malerischen Text, wartest auf die Angebote und dann verschickst du den Krempel nur noch. Und kassierst natürlich.«

Das klang sehr verlockend. Ich dachte mir, einen Versuch ist es allemal wert. Also hatte ich die Kinderzimmer durchforstet. Meinen ersten Versuch wollte ich mit einem wahren Objekt der Begierde unternehmen. Wenn ich mir schon all die Mühe mache, soll wenigstens was bei rumkommen, war mein Gedanke. Mein Einstieg sollte richtig erfolgreich sein.

Ich entschied mich für das alte Puppenhaus von Claudia. Schon aus Mitleid für das Teil. Es war seit Jahren nicht mehr bespielt worden und mittlerweile so staubig, dass es eine Art Milbenausflugsparadies geworden war. Dabei war es ein wirklich gutes Stück. Eines meiner Lieblingsstücke. Kein schäbiges Plastikteil, sondern ein stabiles klassisches Holzhaus. Mit niedlichen Gardinen aus richtig schönem rot-weiß kariertem Baumwollstoff und herrlichen winzig kleinen Holzmöbeln. Detailgetreue Doppelstockbetten, ein Holzklo – alles, was die Puppenmutti mag. Ein winziger Herd, kleine Schemelchen, eine Plüschcouch und passende filigrane Kissen. Alles, einfach entzückend. Ich hätte als Kind für ein solches Traumpuppenhaus getötet. Als ich es damals im Laden gefunden hatte, war ich dermaßen euphorisiert, dass ich wirklich jedes erhältliche Zubehörteilchen gekauft habe. Wie im Rausch. Für die Gesamtrechnung hätte ich eine Eigentumswohnung anzahlen können. Die Verkäuferin war so beglückt, dass sie wahrscheinlich erwogen hat, nach mir den Laden zu schließen, weil ich den Tagesumsatz gerettet hatte. Habe damals bei Christoph auch ein ganz klein wenig geschwindelt, was den Preis anging. Die Begeisterung unserer Tochter würde schließlich alles wettmachen. Für die lieben Kleinen sollte einem nichts zu teuer sein. Außerdem wird Geschmack in frühester Kindheit geprägt, und da sollte man nichts unversucht lassen, um die Kleinen auf den richtigen Weg zu führen. Dachte ich jedenfalls. Das war allerdings ein grober Irrtum. Claudia hatte Weihnachten ein Gesicht gezogen, als hätte sie versehentlich das Geschenk für ein anderes Kind ausgepackt oder als würde sie unter dem falschen Baum sitzen. Sie war, ehrlich gesagt, absolut sprachlos. Leider nicht vor Begeisterung, sondern vor Entsetzen. Gut, sie hatte sich ein Puppenhaus aus Vollplastik gewünscht. Irgend so ein Playmobilteil. Wir (also ehrlich gesagt ich) dachten, so ein Holzteil sei wesentlich hochwertiger (Christoph neigt nicht dazu, sich über Kindergeschenke allzu viel Gedanken zu machen), und man hat länger davon. Hat man bestimmt auch. Vor allem, wenn man, wie Claudia unsere Tochter, es kaum benutzt. Holz ist leider nicht so bunt wie Plastik. Vor allem hat es weniger rosa Anteile. Und es ist nun mal Holz. Ein eklatanter Fehler in unserem Fall. Wir haben fast das Doppelte ausgegeben (unglaublich, wie teuer kleine Holzklos sein können) und hatten dafür ein Kind, das bitterlich enttäuscht war. Das hat man dann von all der Pädagogik! Mir tat Claudia in dem Moment eigentlich leid, aber Weihnachten ist ja nun mal auch kein schnöder Bestellvorgang, bei dem genau das geliefert wird, was man sich wünscht. Ich weiß, wovon ich rede!

Schon deshalb war es die brillanteste Idee schlechthin, das Puppenhaus als erstes Versteigerungsobjekt auszuwählen. Vielleicht existierten da draußen, in der eBay-Gemeinde, ja Menschen, die solch ein Prachtpuppenhaus zu schätzen wussten. Es genügte ja, wenn es mehr Mütter wie mich gab. Bis ich alle Teile zusammengesucht hatte, vergingen Stunden. Zum Glück war wenigstens das Puppenhaus schnell gefunden. Im Keller. Sicherheitshalber hatte ich vorher nicht bei Claudia um Erlaubnis gefragt. Man kennt das ja von sich selbst. Auch wenn man etwas jahrelang keines Blickes mehr gewürdigt hat, entdeckt man plötzlich seine unbändige Liebe dafür und kann sich keinesfalls davon trennen, sobald es tatsächlich weg soll. Mir ist dieses Phänomen nicht fremd. Wenn ich Klamotten aussortiere und sich dann erstaunlicherweise jemand anderes dafür interessiert, fällt mir das Hergeben ungemein schwer. Manchen Frauen geht das sogar bei Männern so. Man trennt sich, weil man den Anblick kaum noch ertragen kann, nahezu allergisch auf den Kerl reagiert, und dann kommt da eine andere Frau, signalisiert Interesse, und schwups ist man selber unsicher. Offenbar muss ja doch was an dem Kerl dran sein, wenn ihn eine andere haben will. Hergeben ist generell eine schwierige Angelegenheit. Egal, worum es sich handelt!

Die Puppenhaus-Aktion musste also eine geheime Mission bleiben. Ich wühlte unzählige Kisten durch, und wäre Claudia in der Nähe gewesen, hätte ich mein Schweigen auch garantiert gebrochen. Schon aus Zorn. Wie konnte man seinen Krempel nur so wahllos verstreuen? Was zog ich da bloß für eine maßlose Schlampe groß? Wo sollte das bloß enden? Würde sie später Star in einer dieser Messy-Serien bei RTL2? Oder eine der Frauen, die beim Frauentausch vor laufender Kamera von der Tauschmutti als Dreckschlampe beschimpft würde?

Puppenhöckerchen in der Lego-Kiste, der Esstisch im Playmobil-Zoo und zwischen etwa dreißig Barbies das Doppelstockbett. Mittendrin noch einige vergammelte Ostereier, die nach gar nichts mehr schmeckten (ja, ich gebe es zu, ich habe eines probiert!), und eine verschrumpelte Mandarine, die aussah wie eine Mandarinenmumie. Ekelhaft! Das Reliheft mit einer Arbeit, die ich noch nie gesehen hatte (3–), steckte im Barbie-Wohnmobil. Immerhin – perfekte Tarnung. Ein Versteck, auf das ich sonst wohl erst nach ihrem Auszug gestoßen wäre. Um internationalen Hygienestandards zu genügen, wären Op-Handschuhe und ein Mundschutz bei dieser Suche eigentlich das Minimum an Ausstattung gewesen. Und literweise Sagrotan. Schon, um akuter Ausschlaggefahr vorzubeugen. Das Ärgerliche an der Sache war vor allem, dass ich nicht mal über das Grauen, auf das ich gestoßen war, sprechen konnte. Sonst hätte ich ja den Grund der Wühlerei offenbaren müssen. Aber das Reliheftversteck wollte ich mir merken und es in den folgenden Tagen ganz zufällig entdecken. Nach dem Motto: Huch, was haben wir denn da? Die sollte sich auf was gefasst machen. Auch die Mandarine steckte ich schön wieder zwischen die Klamotten, die zu einer reichlich abgeliebten Babypuppe gehörten. Ein weiterer Trumpf für später. Hoffentlich vergaß ich sie dort nicht, und sie würde anfangen sich zu vermehren – durch Gasfäulnisbildung oder Ähnliches. Heutzutage war ja fast alles möglich. Irgendwann würde ich dieses Zimmer betreten wollen, und eine gigantische Mandarine mit zahlreichen Nachkommen und riesigen weißen netzartigen Fäden, die quer durchs Zimmer laufen, würde mir den Weg versperren und mich nach einer fiesen Explosion mit diesen weißen Fasern verschlingen. Trotz dieser Bedenken musste die Mandarine an Ort und Stelle bleiben. Nichts im Leben ist eben ohne Risiko.

Nach etwa zweieinhalb Stunden hatte ich alles, was noch übrig war vom ehemaligen Puppenhauszubehör, zusammengesucht. Ein Stuhl hatte leider keine Beine mehr, und das Klo blieb definitiv verschwunden. Ansonsten war alles in ziemlich gutem Zustand. Da sag nochmal einer, Qualität lohnt sich nicht. Jetzt musste ich nur noch ansprechende Fotos machen und einen schönen Text schreiben, und schon bald würde das Geld auf mein Konto fließen. Ein herrlicher Gedanke. Endlich würden sich die Kosten, post mortem sozusagen, amortisieren. Das wäre dann eigentlich nur fair, schon als Ausgleich für die damalige Weihnachtsschmach.

Die Puppenmöbel und ich hatten eine wunderbare Fotosession. Als ginge es um ein internationales Puppenmöbel-Casting, arrangierte und dekorierte ich die einzelnen Möbel auf Kissen. Selbstverständlich machte ich auch noch ein Gruppenbild. Haus und Möbel. Im Hintergrund eine unserer wenigen Grünpflanzen in gutem Zustand. Die Bilder sahen herzerweichend niedlich aus. Gut so, denn Heike hatte mir gesagt, dass Bilder, gute Bilder, die halbe Miete bei eBay seien und dass der, der keine Bilder zu seinen Artikeln veröffentlichte, sie sowieso gleich behalten konnte.

Das Texten machte mir erstaunlicherweise richtig Spaß. Mal ordentlich auf den Putz zu hauen, jegliche Bescheidenheit zu vergessen und in Adjektiven zu schwelgen. Heike hatte mir geraten, nicht zu professionell aufzutreten. Lieber ein bisschen schlichter und dafür grundehrlich. Glaubwürdigkeit sei das Zauberwort bei eBay.

Am Ende war ich äußerst zufrieden mit meinem schleimigen Text. Er war wirklich überhaupt gar nicht anspruchsvoll, aber dafür hätte selbst ich mir garantiert alles abgenommen.

 

Eines meiner Lieblingsstücke:

Gigantisches Puppenhaus, mehrstöckig, dekorativ und robust. Ein zauberhaftes, nostalgisches, aber dennoch zeitlos klassisches Puppenhaus, das nicht nur Kinderherzen höher schlagen lässt. Mit diesem Puppenhaus erfüllen sich Träume und das zu einem spektakulär günstigen Preis!!!

Jegliches Zubehör (unten gesondert aufgelistet), Mobiliar im Landhausstil, alles nur Vorstellbare (bis auf die Toilette) ist im Preis inbegriffen. Eine Super-Chance! Normalerweise kostet allein das Kinderzimmer mit Doppelstockbett, Nachttisch und kleiner Sitzecke über 20,– Euro! Das Puppenhaus hat fast keinerlei Gebrauchsspuren und wird auch in zwanzig Jahren noch absolut top-aktuell sein! Ich trenne mich nur schwer davon, aber unsere Tochter ist einfach aus dem Puppenalter raus. Sie macht Abitur und will sich dann mit dem Erlös eine Reise nach Afrika mitfinanzieren. Wir wünschen uns liebevolle Hände für das wirklich schöne Haus! Viel Glück beim Ersteigern!!!

 

Das musste an Süßholzraspelei dann doch reichen. Dicker auftragen ging ja kaum mehr. Okay, ein wenig geschwindelt war das alles schon. Aber richtig gelogen dann auch wieder nicht. Jedenfalls war alles irgendwie im Bereich des Möglichen. Claudia würde ja irgendwann hoffentlich ihr Abitur machen, und ich hatte mich ja auch zeitlich nicht festgelegt. Außerdem ging es die Leute ja nun auch echt nichts an, wann genau das sein würde. Und vielleicht wollte sie dann tatsächlich nichts mehr als mal nach Afrika. Konnte ja sein. Da das eine sehr weite Reise war, konnte man gar nicht früh genug mit dem Sparen anfangen. Das klang vor allem prima und auf jeden Fall wesentlich besser als: »Unsere Tochter hatte nie Spaß an dem Holzteil. Sie hat das Puppenhaus von Anfang an gehasst. Sie ist zwar noch in einem Alter, in dem man noch wunderbar damit spielen könnte, sie hat seine Existenz aber längst vergessen und wird es mit Sicherheit nicht vermissen.«

Das Einstellen bei eBay funktionierte recht einfach.

»Sei mutig und biete die Sachen ab einem Euro an. Da denken die Leute, sie könnten einen Riesenschnapper machen«, hatte mir Heike empfohlen, und da sie eine kluge Person ist, hatte ich mich daran gehalten.

Dann hieß es abwarten. Sieben Tage, und dann würde der Rubel rollen. In diesen sieben Tagen hatte ich Stunden vor dem Computer verbracht. Bis endlich das erste Angebot einging, verstrichen zwei Tage. Zwei Euro fünfzig! Ich gebe zu, das hatte mich doch ein wenig nervös gemacht. Die Vorstellung, am Ende nur zwei Euro fünfzig für das Puppenhaus zu bekommen, war ernüchternd. Und irgendwie auch ein wenig beleidigend. Mit dieser Beschreibung und diesem Produkt – da sollte doch mehr drin sein. Ich musste mich schwer zügeln, um nicht jede Viertelstunde in den Keller zu rennen, um nachzuschauen, ob sich schon was getan hatte. Wenn man sich schon so bemüht, dann möchte man auch, dass es was bringt! Während man seine Zeit damit verbringt, das eigene Angebot zu beobachten, bleibt auch noch genug Zeit übrig, um ein bisschen bei eBay herumzustöbern. Um es kurz zu machen: Bis meine Sieben-Tage-Frist abgelaufen war, hatte ich einen Kaffeevollautomaten und eine angeblich original Prada-Handtasche ersteigert. Beides zusammen für fünfhundertziebzig Euro. Insgeheim war mir schon klar, dass mein, also besser gesagt, Claudias Puppenhaus nicht ganz so viel abwerfen würde. Schließlich hätte es dafür wenigstens auch von Prada und nicht aus Holz, sondern aus Gold sein müssen. Designerpuppenhäuser – das könnte eine Marktlücke sein. Gucci-Puppenhäuser oder Chanel-Häuschen. Warum baut die eigentlich keiner? Da draußen waren doch genug bekloppte Frauen. Und wenn das Puppenhaus der Tochter zum Handtäschchen der Mami passt, dann könnte das doch für Frauen, die schon alles haben, ein schlagendes Kaufargument sein. Oder auch Puppenhäuser, die wie die Originalhäuser, beziehungsweise die Villen der Leute aussehen. Von Stararchitekten nachgebaut. Puppenhauskinderzimmerchen, die bis aufs Kuscheltier identisch sind mit dem Kinderzimmer des verzogenen Nachwuchses. Musste ich mir unbedingt notieren. Ich führe nämlich diverse Listen. »Dinge, die ich dringend mal machen will«, »Dinge, die sich lohnen könnten«, »Dinge, die ich noch lernen muss« und meine Lieblingsliste: »Leute, die mich mal können.« Eine Liste, die etwa so schnell wächst wie die Staatsverschuldung eines Entwicklungslands und auf der gewisse Leute sich nach und nach in die Poleposition vorarbeiten.

Ich bin nämlich nicht nur ein bisschen nachtragend und raffgierig, sondern auch noch einen kleinen Hauch rachsüchtig. Aber wie lautet das kluge Sprichwort? – Rache ist eine Speise, die kalt genossen werden muss. Deshalb habe ich auch meine feine kleine Liste angelegt, um selbst nach Jahren noch zu wissen, wer mich so schlimm verärgert hat, dass ich das auf keinen Fall ungesühnt auf mir sitzen lassen kann. Es gibt ja Leute, die halten, so wie in der Bibel empfohlen, auch noch die zweite Wange hin, wenn sie auf die erste was draufbekommen haben – ich bewundere diese Haltung sehr, so viel Großmut ist fantastisch –, mir würde ein solches Verhalten aber im Traum nicht einfallen. Weil ich leider auch ein wenig zur Vergesslichkeit neige, führe ich also diese Liste. Irgendwann, und wenn es in der Seniorenwohnanlage ist, werde ich die Zeit haben, sie abzuarbeiten, und niemand wird auch nur ahnen, wer sich da rächt, weil der Anlass schon Jahrzehnte zurückliegt. Raffinierte Taktik, finde ich, und vor allem werde ich so, im Gegensatz zu den anderen Alten in meinem Heim, noch schön was zu tun haben. Schließlich braucht der Mensch eine Aufgabe. Natürlich besteht bei dieser Taktik die Möglichkeit, dass ein Großteil der Leute, die auf meiner Liste stehen, schon tot sein wird, aber das ist ja dann schon Strafe genug.

Zurück zu meinen eBay-Einsteigerfahrungen. Ich hatte nicht erwartet, dass da draußen in der großen Welt der eBay-Anhänger so dermaßen viele begriffsstutzige Menschen waren. Trotz meiner ausführlichen Beschreibungen blieben anscheinend noch zahlreiche Fragen offen. Bei eBay hat man die Möglichkeit, dem Verkäufer Fragen zu stellen. Eine Funktion, über die man geteilter Meinung sein kann, vor allem, wenn man auf der Verkäuferseite steht, denn die Fragerei macht vor allem eins: Arbeit.

Dummerweise hatte ich, um mich besonders kundenfreundlich darzustellen, auch noch meine private E-Mail-Adresse angegeben. Und es kamen reichlich Mails. »Wie groß ist der Esstisch genau?«, »Kann man die Gardinen auch zuziehen?« und »Wohin will Ihre Tochter denn in Afrika?« waren nur einige der Fragen, die mir gestellt wurden. Wofür, um alles in der Welt, musste man wissen, wie groß der Puppenhaustisch genau war? Wollte die Familie etwa selbst dran sitzen? Die Neugier der Menschen kennt kaum Grenzen.

Warum interessiert sich jemand für die Reiseroute einer Abiturientin, die er nicht mal kennt? Ich hatte trotzdem geantwortet. Schon aus reiner Höflichkeit. »Ghana«, hatte ich geschrieben, »meine Tochter will quer durch die Sahara Richtung Ghana.« Ich dachte, damit sei die Neugier ausreichend befriedigt. Ich hatte sogar extra unseren Atlas zur Hilfe genommen, um mich nicht zu blamieren. Geographie ist eines der Gebiete, auf denen man sich meisterhaft blamieren kann. Stand auch auf einer meiner Listen: Hauptstädte lernen. Sofort hatte ich bei Ghana nachgeschaut. Die Hauptstadt war Accra. Ich dachte, nun würde man Ruhe geben. Aber Pustekuchen. Jetzt ging es um Details. Wie will sie reisen? Was ist mit den Impfungen? Hat sie genug Reiseliteratur? Und das alles von einer Frau, die nicht mal aufs Puppenhaus geboten hatte. Das zeigte ja nun eindeutig, wie viel Zeit und Neugier manche Leute hatten.

Interessant waren auch die Namen der Ebayer. Die Reiseroutenneugierige nannte sich Studienrätlerin. Das implizierte Fachwissen. Ich hatte sofort Respekt. Einer Lehrerin schrieb man nicht eben mal, dass sie das alles einen Dreck anging, obwohl es genau so war. Allerdings, man fragt sich schon, was eine Frau dazu treibt, E-Mails mit Wildfremden auszutauschen. War sie – garantiert eine pensionierte Erdkundelehrerin mit extremem Mitteilungsdrang – so einsam, dass sie ihre Zeit damit verbrachte, Reisepläne von angeblichen Abiturientinnen zu hinterfragen? Sollte ich Mitleid haben und sie mal zu uns nach Hause einladen oder brauchte sie eher professionelle Hilfe? So oder so, diese hartnäckige Person machte jede Menge Arbeit. Ich nahm meinen Mut zusammen und trat in den Kommunikationsstreik. Ich bin nun wahrlich aus dem Alter raus, in dem ich mich vor Lehrern fürchten müsste (tue es aber insgeheim immer noch), und deshalb schrieb ich ihr so freundlich, aber auch so bestimmt wie möglich, dass die genauen Pläne nicht feststünden und ich leider sehr beschäftigt sei. Ein verschlüsseltes Gehen-Sie-mir-bitte-nicht-mehr-auf-den-Keks. Anscheinend war das die völlig falsche Taktik gewesen. Studienrätlerin antwortete mit einem ausgefeilten Hilfsangebot. Wenn ich so wenig Zeit für die große und wichtige Reise meiner Tochter hätte, würde sie gerne gemeinsam mit der Reisenden die Planung übernehmen. Schließlich sei es mehr als schade, dass mir diese erste große Reise meiner Tochter nicht am Herzen läge. Besonders weil eine Reise wie diese ja auch einiges an Risiken berge. Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber das grenzte schon an Wahnsinn. Und war, gelinde gesagt, auch etwas übergriffig. Die tat ja gerade so, als hätte ich mein Kind vernachlässigt. Obwohl die Reise ja nicht mehr als ein Phantasiegespinst gewesen war, war ich doch etwas beleidigt. Es gibt nur wenige Vorwürfe, die eine Mutter so treffen wie der, sich nicht ausreichend um ihr Kind zu kümmern. Selbst wenn objektiv nichts an den Vorwürfen dran ist, nagt so etwas extrem an Frauen. Wir haben das schlechte Gewissen von Geburt an. Schon deshalb hatte ich dieser Studienrätlerin nochmal geschrieben und einfach behauptet, die Reise wäre wegen dringender Familienprobleme abgesagt. Daraufhin war tatsächlich endlich Ruhe.

Als die sieben Tage Ersteigerungszeit abgelaufen waren, stand mein Puppenhaus (ich hatte mittlerweile so viel Zeit mit dem Ding verbracht, dass ich mit Fug und Recht »mein Puppenhaus« sagen konnte) bei einhundertsiebenunddreißig Euro fünfzig. Ich selbst hätte mit Sicherheit mehr dafür geboten, aber ein Blick auf ähnliche Offerten zeigte, dass meine schwülstige Beschreibung gefruchtet hatte. Die anderen Anbieter hatten deutlich weniger für ihre Häuser bekommen. Somit war das Ganze tatsächlich ein richtiger Erfolg. Wenn auch ein mühsamer. Bis ich das Geld auf meinem Konto hatte, vergingen weitere vier Tage.

Aber das Schlimmste an eBay ist das Verschicken der Ware. Vor allem, wenn es sich um ein Puppenhaus handelte, das nun beim besten Willen in kein handelsübliches Postpaket passte und die Verkäuferin, ich eben, sich schon schwer tat, ein durchschnittliches Weihnachtsgeschenk so zu verpacken, dass es nicht aussah, als habe ein Dreijähriger mit mangelnder Feinmotorik daran gearbeitet. Da die Käuferin, »Starwinnerin«, auch nicht um die Ecke, sondern mitten in der Lüneburger Heide lebte, konnte sie auch nicht eben mal vorbeikommen, um das Haus abzuholen. Das Ende vom Lied: Ich hatte jedes einzelne Puppenmöbelchen separat verpackt, in Folie eingeschlagen und etwa zweihundert Meter Tesafilm verbraucht. Das Puppenhaus hatte ich dann mit einem Paketdienst verschickt und den Rest in einem Megapäckchen. Ins Päckchen hatte ich eine Postkarte gelegt und geschrieben: »Danke, bald kann ich nach Afrika. Und Sie haben mir dabei geholfen.« Unterschrieben hatte ich mit »Claudia«. Schließlich wollte sie ja nach Afrika.

Nach all diesen Behauptungen war ich kurz davor, tatsächlich ihren Koffer zu packen. Man kann sich ja dermaßen in etwas reinsteigern, dass man am Ende fast selbst dran glaubt. Ich war kurz davor gewesen, das Kind gegen Gelbfieber impfen zu lassen.

Der Aufwand hatte sich gelohnt. Starwinnerin (auch ein eher seltsamer eBay-Name, der auf eine gewisse Egozentrik oder gar eine narzisstische Störung schließen ließ) war verzückt und gab mir eine bombastische Bewertung. Diese Bewertungen sind bei eBay äußerst wichtig. Wusste ich, wie das meiste zu diesem Thema, von Heike. Wer keine gescheiten Bewertungen hat, dem trauen die eBayer nicht. Wie so oft im Leben gilt auch hier: Je mehr – je besser. Ähnlich wie im Dschungelcamp gilt es auch bei eBay Sterne zu sammeln. Zum Glück muss man dafür aber hier keine Kakerlaken schlucken oder in Maden baden.

Obwohl ich es damals noch nicht ahnte – das Puppenhaus war mein Einstieg ins eBay-Geschäft. Schon allein deshalb, weil ich meine Klappe nicht halten konnte. Ich hatte überall rumerzählt, wie gewitzt ich gewesen war und wie erfolgreich ich das Puppenhaus verhökert hatte. Natürlich immer unter dem Siegel der Verschwiegenheit, schließlich sollte Claudia es ja nicht erfahren. Nachher hätte sie womöglich das Geld für sich beansprucht. Die kann in solchen Dingen sehr gewitzt sein und ist gerne mal auf ihren Vorteil bedacht. Nicht unbedingt sympathisch, aber fürs Leben doch ganz erfolgversprechend.

Ich hatte ja nicht ahnen können, was mein Geschwätz für Folgen haben würde. Zu Beginn war alles auch noch ganz harmlos. Die Erste war Tamara, meine Nachbarin aus dem Reihenhäuschen gegenüber.

»Du, Andrea, ich würde so gerne auch mal was bei eBay verkaufen, aber ich kann das irgendwie nicht. Mit diesen Fotos und dann noch was schreiben, also das ist alles so kompliziert. Ich schaffe das nicht. Und du, du hast das so super gemacht. Kannst du mir nicht auch mal was verkaufen?«

Ich war geschmeichelt. Tamara ist sonst keine der Frauen, die mit Komplimenten um sich schmeißen. Außer es handelt sich um ihren angeblich hochbegabten Sohn Emil. Da ist sie extrem großzügig mit Lob, so großzügig, dass es schon an Verherrlichung grenzt. Ansonsten beißt die sich eher die Zunge ab, als etwas Nettes über andere zu sagen.

Insofern war ich auch einigermaßen verdattert gewesen und hatte in einem Anfall von Sich-extrem-geschmeichelt-Fühlen »Ja, klar, sehr gerne«, gesagt. Tamara hatte sich überschwänglich bedankt und schon eine Viertelstunde später mit einem Schwung Klamotten überm Arm vor meiner Tür gestanden. Da war es für einen Rückzug definitiv zu spät gewesen. Also hatten wir die Sachen gemeinsam sortiert. Eine komplizierte Angelegenheit, denn Tamara hatte zu jedem Teil einen kleinen Vortrag gehalten. Warum gerade dieses Kleidungsstück, obwohl es nicht direkt ein Designerteil war, doch von irrem Wert war. Sie hatte ein Gesicht gezogen, als müsste sie sich die Kleidungsstücke direkt aus dem Herzen reißen oder eine ihrer Nieren zum Verkauf anbieten. Ziemlich unverständlich, denn die Teile waren nur eins: schön bunt. Wäre eine nette Auswahl für Farbenblinde oder Depressive gewesen. Ansonsten ist es mit knallbunten Sachen eher schwierig. Die meisten Frauen greifen intuitiv eher zu Schwarz. Auch Tamara. Ich hatte sie noch nie in dieser mintfarbenen Strickjacke gesehen, die jetzt hier vor mir lag. Strickpatchwork. Ein Albtraum in allen erdenklichen Mintschattierungen. Als hätte jemand eine Wollfabrik aus den Siebzigern geplündert und aus allen Mintresten irgendwas zusammengeklöppelt.

»Ein absolut besonderes Stück«, sagte Tamara schwärmerisch und blickte versonnen auf ihr Strickmonster. So viel Ekstase zu zerstören kostete einen gewissen Mut, den ich dummerweise nicht aufbrachte.