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Wenn ein Cold Case zu einer schrecklichen Wahrheit führt … Linda hat ihre Schwester, die in ihrer Kindheit beim Versteckspiel verschwand, nie vergessen. Als sie ausgerechnet am dreißigsten Jahrestag des Verschwindens die ominöse E-Mail eines britischen Autors erhält, beginnt sie sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Zurück im jahrzehntelang leerstehenden Elternhaus bemerken Linda und der Schriftsteller David, dass sie nicht allein sind. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden, wer sich dort im Wald herumtreibt. Dabei stoßen sie auf eine grausame Tat, die im Zusammenhang mit Lindas Schwester steht. Linda muss erkennen: Ihre Vergangenheit war mehr Schein als Sein ...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
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Danksagung
Merle van Norden
LIESCHEN,
LIESCHEN,
FANG MICH DOCH
Thriller
Die in diesem Werk vorkommenden Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie tatsächlichen Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Merle van Norden ist das Pseudonym der Autorin Jessica Pietschmann, geboren 1984 in Witten, NRW. Sie lebt südlich von München in der Nähe des Starnberger Sees. Unter dem Namen Merle van Norden schreibt sie Thriller und Krimis, während sie unter ihrem bürgerlichen Namen Ratgeber veröffentlicht und unter einem weiteren Pseudonym, Lilly Leev, Romane.
Impressum
Text & Cover © 2024 Copyright by Jessica Pietschmann
Lektorat: Nico Pietschmann
Verantwortlich für den Inhalt:
Jessica Pietschmann
Weidacher Hauptstraße 6
82515 Wolfratshausen
Für meine Schwester Melissa
Deutschland, in der Eifel, 30. August 1992
»Lieschen, Lieschen, fang mich doch,
50 Meter sind es noch.
Lieschen, Lieschen, komm schnell her,
Sonst siehst du mich nimmermehr.«
Lachend rannten die zwei Mädchen über den Hof. In ihren roten Radlerhosen, den weißen T-Shirts und den braunen Pferdeschwänzen glichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Und doch war Lotte ein Jahr älter als die achtjährige Linda.
»Na komm schon, Linda, fang mich doch!« Lotte drehte sich zu ihrer Schwester um und streckte ihr die Zunge raus.
»Ich kann nicht so schnell, ich bin schon völlig außer Puste«, rief Linda.
Lotte blieb stehen, als sie sah, dass Linda auf Höhe der Garagen stand, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt und die Hände in die Hüften gestützt.
»Was ist? Hast du etwa schon wieder Seitenstechen?«
Linda nickte.
»Du solltest mal wieder mit mir bei der Leichtathletik trainieren. Dann würdest du nicht so schnell schlapp machen.« Lotte kam mit einem spöttischen Grinsen näher. Als sie nur noch etwa einen Meter von ihrer Schwester entfernt war, sprang Linda vor und zog Lotte am Zopf.
»Lieschen, Lieschen hat dich jetzt, bist mit rotem Blut benetzt.«
»Du Biest!« Lotte quiekte erschrocken auf. Kurz darauf lachte sie los. »Das war verdammt schlau von dir!«
»Natürlich. Wie soll ich dich denn sonst fangen? Du bist einfach zu schnell für mich.«
»Ich sagte ja, mach wieder bei der Leichtathletik mit.«
Lindas Zopf flog hin und her, so heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich will nie wieder einen Weitsprung machen.« Sie hob ihr linkes Bein an und umklammerte ihr Fußgelenk. »Ich habe zu viel Angst, dass ich ihn mir wieder breche.«
Lotte zuckte mit den Schultern. Sie wollte es nicht zugeben, aber seit Lindas Unfall hatte sie auch Angst vor dem Weitsprung. Lindas Schmerzensschrei hallte vor jedem Sprung durch ihren Kopf.
»Schade, ich hatte die Hoffnung, dass wir wieder zusammen trainieren und eines Tages gemeinsam als die Bauer-Schwestern in die Leichtathletikgeschichte eingehen.«
»Ich denke, ich werde schwimmen. Das ist besser für die Füße. Doktor Schramm hat zwar gesagt, dass ich ruhig wieder springen darf, aber ich will es nicht.«
Eine schwarze Katze kam aus einer Garage gelaufen. Mit hoch erhobenem Schwanz strich sie um die nackten Beine der Mädchen.
»Hallo Sammy. Na, wo hast du dich wieder herumgetrieben?« Lotte kniete sich nieder und streichelte über das weiche Fell. Die Stellen hinter den Ohren waren die weichsten.
»Was hältst du davon, wenn wir verstecken spielen?«
»Eine tolle Idee! Ich fang an, mich zu verstecken. Du zählst und ich lasse mich von Sammy in ein Versteck führen.« Lotte sprang auf, ignorierte gekonnt Lindas Augenrollen und scheuchte den Kater auf, der sich gerade auf den Boden gelegt hatte.
»Aber nicht in die hinteren Kellerräume, du weißt, Mami und Papi wollen das nicht.«
»Ach, pah! Wenn wir immer auf Mami und Papi hören, werden wir nie etwas riskieren. Und sollten sie fragen, sagen wir einfach nein. Und jetzt los! Augen zu und zählen.« Lotte wartete, bis Linda ihre Augen schloss, drehte sie ein paar Mal im Kreis, damit sie die Orientierung verlor und sprang dann singend davon.
»Lieschen, Lieschen fang mich doch,
50 Meter sind es noch.
Lieschen, Lieschen komm schnell her,
sonst siehst du mich nimmermehr.«
»Das Lied ist doch nur fürs Fangen, du Doofi«, rief Linda ihrer Schwester hinterher. Dann zählte sie bis hundert.
England, Essex, Lee-over-Sands, 29. August 2022
1
Der Wind peitschte gegen das Dach des alten kleinen Hauses und ließ die Dachziegel klappern. Es war gefährlich, sich bei dem Sturm auf dem Dachboden aufzuhalten, aber David kam nicht gegen seine Mutter an. Sie wollte, dass er alles, was sich dort oben befand, ins Untergeschoss holte. Barbara Schütz wusste, der Dachstuhl würde nicht mehr lange halten, und ob das Haus dann nicht komplett zusammenbrechen würde, war fraglich. Sie mussten aus dem Haus weg. Aller-dings wollte sie einiges mitnehmen, was ihr lieb und teuer war. Und das meiste auf dem Dachboden gehörte dazu.
David war am Abend aus dem zehn Meilen entfernten Wivenhoe gekommen, um seine Mutter zu sich zu holen. Doch sie hatte sich geweigert. Der angekündigte Sturm machte ihr zwar Angst, aber sie konnte ihre Sachen nicht zurücklassen, hatte sie ihrem Sohn gesagt. Als er ihr anbot, einiges davon mitzunehmen, willigte sie ein.
»In Ordnung, ich hole ein paar Kartons aus dem Keller und packe hier unten schon einmal alles zusammen. Und du holst alles vom Dachboden«, hatte sie in ihrem bestimmenden Ton gesagt, der keine Widerworte duldete.
Seufzend war David auf den Dachboden gestiegen und sah sich dort um. Gerümpel über Gerümpel befand sich dort. Viele Kisten standen schon seit seiner Kindheit da und die zentimeterdicke Staubschicht verriet, dass sie seit Jahren nicht geöffnet worden waren.
»Ich sollte einfach alles vor die Tür stellen, der Wind kümmert sich dann schon darum«, sagte David zu sich selbst. Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und rief seinen besten Freund Stanley an. »Stanley, es tut mir leid, dass ich dich jetzt noch störe. Aber kannst du mir bitte helfen? Du weißt ja, ich wollte meine Mutter wegen des Sturms zu mir holen. Ich glaube, dass das Haus es dieses Mal nicht mehr übersteht. Aber sie will so vieles mitnehmen. Du kennst sie ja …«
Stanley lachte. »Willst du mir etwa weismachen, dass sie stur ist? Na klar, ich komme. Reicht der kleine Transporter?«
»Logisch. Ich will nicht ihren kompletten Hausstand mitnehmen. Außerdem muss ich es auch noch lagern können.« David fuhr sich durch die Haare und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, wo ich das Zeug unterbringen soll. Hättest du noch Platz in deiner Scheune?«
Stanley hatte eine Umzugsfirma und auf seinem Firmengelände zwei große Scheunen, in denen Kunden Lagerplätze mieten konnten. Obwohl David genau wusste, dass Stanley ihm immer half, hatte er ein schlechtes Gewissen. Weder er noch seine Mutter hatten viel Geld, um die Lagerkosten zu bezahlen.
»Mach dir keinen Kopf, David. Für euch habe ich immer Platz. Und ich denke, wenn deine Mutter tatsächlich nicht zurück ins Haus kann, habe ich auch schon eine schicke neue Wohnung für sie.«
»Okay, danke dir. Kannst du dich dann auf den Weg machen? Wir sollten hier so schnell wie möglich weg.«
Gerade als David aufgelegt hatte, deckte der Sturm die ersten Ziegel vom Dach. »Fuck! Jetzt aber schnell. Und Mama kann sich auf den Kopf stellen, die alten Kisten bleiben hier.«
»David, ist da oben alles in Ordnung?« Barbara Schütz stand unten an der Treppe und zitterte am ganzen Körper.
»Nein. Der Sturm zerstört das Dach. Es ist gefährlich hier oben.«
»Bitte rette meine ganzen Schätze.« Sie drehte sich um und lief in die Küche zurück.
In der nächsten Dreiviertelstunde brachte David eine Kiste nach der anderen die Treppe hinunter. Glücklicherweise waren in der Zeit keine weiteren Ziegel heruntergerissen worden.
Erst als David gerade die letzte Kiste im Wohnzimmer abstellte, stürmte ein heftiger Windstoß über das Haus hinweg und riss das halbe Dach mit sich. Die alte Tanne im Garten durchbrach das große Fenster im Wohnzimmer.
»Mama! Wo bist du?« David schrie gegen den Wind an und klammerte sich verzweifelt am Treppengeländer fest. Er hoffte inständig, dass Stanley sich nicht auf den Weg zu ihnen gemacht hatte. Er würde es sich nie verzeihen, seinen besten Freund in Lebensgefahr gebracht zu haben.
»Mama?« Der Wind ließ für einen Moment nach und David lief in die Küche.
Seine Mutter hatte sich in die Nische zwischen Hauswand und Kühlschrank gezwängt. Sie war kalkweiß im Gesicht. »David«, flüsterte sie. »David, das ist unser Ende. Wir werden das nicht überleben. Und das ist meine Schuld.«
David nahm seine Mutter in den Arm und sie fing an zu weinen. Sie klammerte sich wie ein Affe an seinem Pullover fest.
»Ach, Quatsch. Wir schaffen das schon. Wir …« Ein Hupen unterbrach ihn. Er blickte aus dem Fenster und erkannte, dass Stanley seinen Transporter nah an die Haustür herangefahren hatte.
»Komm, Mama. Stanley ist da. Wir können deine Sachen in den Wagen packen und dann nichts wie weg hier.« David zog seine Mutter hinter sich her durch den Flur.
Der Wind blies stark durch das zerstörte Fenster, aus dem Wohnzimmer in den Flur. Es war ihm fast nicht möglich, die Haustür zu öffnen. Stanley und sein Mitarbeiter John, den Stanley zur Verstärkung mitgebracht hatte, warfen sich von außen dagegen. Mit vereinten Kräften schafften sie es endlich und Stanley zog Barbara sofort in den Transporter.
»Setz dich bitte einfach auf den Beifahrersitz, okay? Alles andere ist zu gefährlich.« Eindringlich blickte er sie an.
»Chef, das ist eine saublöde Idee, mitten in der Nacht das Haus auszuräumen«, sagte John. Der Mann war bereits im Rentenalter, aber seine unersättliche Neugier trieb ihn immer wieder dazu, bei Umzügen mitzuhelfen. Er fand es spannend, was die Menschen alles aufheben wollten und wie sie lebten. Bei diesem Wetter wäre er zwar am liebsten in seiner kleinen Wohnung geblieben, aber seine Neugier gewann.
»Ich weiß. Aber ich sagte dir bereits, dass es sich hier um einen Teil meiner Familie handelt.«
David warf Stanley einen dankbaren Blick zu und rief dann zur Eile auf.
John und Stanley luden in Windeseile die Kisten in den Transporter, während David noch Kleidung seiner Mutter sowie sämtliche Dokumente zusammensuchte. Daran hatte Barbara nämlich nicht gedacht. Ihr waren das Geschirr und die Familienbilder wichtiger gewesen.
»So! Das war die letzte Kiste. Nimm John in deinem Auto mit, ich nehme deine Mutter bei mir mit.« Stanley schlug die Türen des Wagens zu und eilte zur Fahrertür.
David wies mit dem Kopf auf den Peugeot auf der anderen Seite der kleinen Straße und die Männer rannten unter dem mittlerweile einsetzenden Regen los.
»Deine Mutter ist wohl ganz schön stur, wie?« John schüttelte sich wie ein Hund, als sie im Auto saßen. David wischte sich missmutig das Gesicht ab. Er wollte den alten Mann nicht zurechtweisen, immerhin hatte er ihm beim unfreiwilligen Umzug geholfen.
»Ja. Das war sie schon immer und man kommt einfach nicht gegen sie an.« David wendete den Wagen und fuhr langsam hinter Stanley her. Der Transporter schwankte im Sturm. Die weitläufigen Felder boten ihm eine gute Fläche zur Vernichtung allen Lebens.
»Lieber Gott, steh uns bei.« David war nicht gläubig, aber es fühlte sich gut an, ein Stoßgebet zu sprechen. »Aber dieses Mal ist sie echt zu weit gegangen. Ich hoffe sehr, dass wir alle heil in Wivenhoe ankommen und dass der Sturm dort nicht so viel zerstört.«
»Jo.« Johns Augen verengten sich. Er schien Angst zu haben. Vermutlich bereute er den nächtlichen Ausflug.
Es war kurz nach Mitternacht, als er endlich auf Stanleys Hof fuhr. Stanley hatte den Transporter bereits direkt in der Scheune geparkt, als David draußen hielt. Er hatte John, der nur eine Straße weiter wohnte, direkt nach Hause gefahren.
»Danke, Stanley. Wir kommen morgen früh nach dem Frühstück vorbei und misten dann aus. Alles muss nun wirklich nicht eingelagert werden.«
Barbara packte ihren Sohn erbost am Arm. »Hier wird nichts ausgemistet. Das brauche ich alles noch.«
»Mama! Das …«
»Das müssen wir nicht jetzt besprechen«, unterbrach Stanley. Er sah seinem Freund an, dass dessen Geduld am Ende war. Die Angst vor dem Unwetter saß ihnen allen in den Knochen.
»Barbara, ich denke, du schläfst heute Nacht bei mir, Martha und den Kindern. In Davids Wohnung ist es zu eng für euch beide. Bei uns hast du ein eigenes Zimmer.«
Barbara musterte ihren Sohn. »Du willst mich gar nicht bei dir haben, stimmt’s?«
»Herrgott im Himmel! Mama, und gleich behauptest du noch, dass ich den Sturm herbeigerufen habe …« David schüttelte den Kopf und spannte seine Hände zu Fäusten. Ohne ein weiteres Wort stieg er in sein Auto und fuhr mit viel zu hohem Tempo vom Hof.
Fünfzehn Minuten später schrieb er Stanley eine WhatsApp: »Danke, dass du Mama zu dir genommen hast. Das war heute Abend einfach zu viel.«
»Du weißt doch, ich liebe deine Mum. Und ich will nicht, dass du zum Mörder wirst.«
»Bring mich nicht auf dumme Gedanken!« David lachte. Vielleicht sollte er tatsächlich in seinem nächsten Thriller seine Mutter zum Opfer werden lassen.
2
Bevor David morgens zu Stanley fuhr, telefonierte er mit einem Nachbarn seiner Mutter. Glücklicherweise war bis auf Barbaras Haus kein weiteres zu Schaden gekommen. Bäume waren entwurzelt, einige Autos unter ihnen begraben, aber ansonsten war nichts weiter passiert. Zwei weitere Bäume waren auf das Haus von Barbara gestürzt und hatten dabei eine Hauswand eingerissen. David nahm es mit einem Schulterzucken hin. Das alte Haus war seit jeher eine Bruchbude gewe-sen und er war sogar froh darüber, dass die Natur seiner Mutter dies nun klargemacht hatte. Es würde schwer für sie sein, das war ihm klar, aber nun würde sie bestimmt ihre Renovierungspläne aufgeben.
»Guten Morgen zusammen.« David betrat die Küche des Bauernhauses. Seine Mutter erzählte Stanleys Kindern gerade, wie der Wind durch ihr Haus gefahren war und dass sie Angst hatte.
»Ach, guten Morgen, mein Junge. Mabel und Poppy sagten gerade, dass du so mutig warst, auf den Dachboden zu steigen.« Barbara tätschelte ihrem Sohn den Arm, als er sich neben ihr niederließ.
»Ich glaube, noch mutiger wäre ich gewesen, wenn ich es nicht getan hätte.«
Stanley lachte. »Ja, das hätte ich mich auch nicht getraut.«
Die Zwillinge wollten wissen, was sie damit meinten.
»Ich glaube, euer Vater will damit andeuten, dass ich David hinaufgeprügelt hätte, wenn er nicht von allein hinaufgegangen wäre.«
Mabel und Poppy rissen die Augen weit auf.
»Hättest du das gemacht?«
»Aber das ist doch nicht richtig! Dad sagt immer, dass Gewalt keine Lösung ist!« sagte Mabel.
»Und damit hat er auch recht«, antwortete Barbara. David bemerkte ihren Blick und konnte sich denken, dass sie in Gedanken hinzufügte, dass sie es aber trotzdem getan hätte.
3
Nach dem Frühstück schlug David vor, dass Barbara mit den Kindern spazieren gehen sollte, während er Stanley im Haushalt unter die Arme griff. Samstags fuhr Martha, Stanleys Frau, bereits vor dem Frühstück immer zu ihrem Vater ins Pflegeheim ins zwei Stunden entfernte London und kam erst spät zurück. Stanley war also an diesem Tag für alles im Haus zuständig.
Mabel und Poppy waren begeistert, sie wollten Barbara ihren Lieblingsplatz im nahegelegenen Wald zeigen. Barbara stimmte zu. Allerdings blickte sie David eindringlich an. Wenn nicht die Mädchen anwesend gewesen wären, hätte sie ihm sicherlich auch noch mit scharfen Worten dazu angehalten, nicht ohne ihr Einverständnis aus den Kisten etwas wegzuschmeißen.
»Dann bin ich jetzt mal gespannt, was meine Mutter alles so in den ganzen Kartons aufbewahrt«, sagte David, nachdem die Männer innerhalb einer Stunde das Haus aufgeräumt und gesäubert hatten.
»Sie wird es lieben, dass du darin rumwühlst.« Stanleys Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Er wies zur Haustür. »Nach dir.«
In der Scheune machten die Männer sich daran, die Kartons aus dem kleinen Transporter herauszuholen und in Stanleys Büroraum zu bringen.
»Hinter der Tür ist genug Platz für die zehn Kartons. Da fallen sie nicht auf und stören mich auch nicht. Und Kundschaft kommt hier eh nicht herein.«
»Danke, Stan. Ich hätte keinen Platz dafür in meinem kleinen Minikeller. Mehr als mein Fahrrad passt da kaum rein.«
»Ist doch klar. Ob es nun deine oder die Sachen deiner Mom sind, bei uns findet alles einen Platz.«
»Warte! Noch nicht aufeinanderstapeln, ich will wissen, was drin ist.«
»Du witterst wohl geschichtsträchtige Inhalte, wie?« Stanley spielte auf Davids Wunsch an, einen Roman zu schreiben, der ihn endlich auf die Bestsellerliste bringen würde.
»Ich glaube, dafür suchen wir in den Kartons der falschen Frau. Was soll meine Mutter schon auf ihrem Dachboden lagern, das für einen Bestseller geeignet ist?«
In einem Karton waren die Klamotten und privaten Dinge drin, die Barbara am Vorabend in aller Eile zusammengesucht hatte. David nahm einen dicken schwarzen Stift von Stanleys Schreibtisch und schrieb in großen Buchstaben PRIVAT auf die Außenseite. Im nächsten Karton mit der Aufschrift VORSICHT! ZERBRECHLICH! befand sich altes, sehr filigranes Porzellangeschirr. Stanley stieß einen Pfiff aus, als er eine der Tassen aus der Zeitung holte, die zum Schutz um jedes einzelne Stück gewickelt war.
»Das ist ja richtig alt. Ich würde schätzen, so achtzig Jahre hat es auf dem Buckel.« Er platzierte die Tasse vorsichtig auf dem Schreibtisch, ging in die Hocke und betrachtete sie genauer.
David lachte. »Bist du nun unter die Antiquitätenliebhaber gegangen? Ist es wertvoll?«
»Also für deine Mutter scheint es jedenfalls einen ideellen Wert zu haben, wenn sie das Geschirr aufbewahrt. Weißt du, wo sie es her hat? Und nein, das war gerade nur ein Scherz. Ich habe keine Ahnung davon. Sonst wüsstest du es vermutlich.«
»Ganz ehrlich, ich habe das noch nie gesehen. Benutzt haben wir es jedenfalls nie. Und auf dem Dachboden bin ich nie gewesen. Die Luke war immer abgesperrt. Und auch wenn ich zugeben muss, als Kind das ein oder andere Mal danach gesucht zu haben, als meine Eltern nicht zu Hause waren, ich habe den Schlüssel nie gefunden.«
Während Stanley ein Geschirrstück nach dem anderen auspackte und bewunderte, wand sich David dem nächsten Karton zu.