Lillian, das Leben und die Männer - Alison Jean Lester - E-Book
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Lillian, das Leben und die Männer E-Book

Alison Jean Lester

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Beschreibung

Der charmant-sinnliche Roman um die Abenteuer einer New Yorkerin. Lillian sprüht vor Lebenslust, und sie liebt Männer: gut aussehende, intelligente, interessante Männer. In den Weltstädten der 1950er und 1960er-Jahre gibt es diese Spezies zum Glück in Hülle und Fülle. Lillian verliebt sich, sie lernt von "ihren" Männern – und verlässt sie dann genau im richtigen Augenblick. Bis Teddy kommt, ein verheirateter Mann, ihr Chef in der New Yorker Zeitungsredaktion – und mit ihm die große Liebe. Die schlaglichtartig erzählten fiktiven Erinnerungen einer mondänen, intelligenten Frau in den besten Jahren: Alison Jean Lester erzählt witzig, schonungslos ehrlich, leidenschaftlich und unschlagbar charmant. »Ein frischer, kluger, subversiver Ansatz! Ich habe es absolut geliebt.« Kate Atkinson »Frauenliteratur voller Leben und voller Weisheit.« Erica Jong

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Seitenzahl: 197

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Alison Jean Lester

Lillian, das Leben und die Männer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

Knaur e-books

Über dieses Buch

Lillian sprüht vor Lebenslust, und sie liebt Männer: gut aussehende, intelligente, interessante Männer. In den Weltstädten der 1950er und 1960er-Jahre gibt es diese Spezies zum Glück in Hülle und Fülle. Lillian verliebt sich, sie lernt von ihren Geliebten – und verlässt sie dann genau im richtigen Augenblick. Bis Teddy kommt, ein verheirateter Mann, ihr Chef in der New Yorker Zeitungsredaktion – und mit ihm die große Liebe.

Die schlaglichtartig erzählten fiktiven Erinnerungen einer Frau in den besten Jahren: Witzig, schonungslos ehrlich, leidenschaftlich und unschlagbar charmant.

»Ein frischer, kluger, subversiver Ansatz! Ich habe es absolut geliebt.« Kate Atkinson

Inhaltsübersicht

Über den doppelten Nutzen der DingeÜber die RücklehneÜber das LernenÜber Sex und die richtige Zeit dafürÜber das »Wir«Über die Notwendigkeit großer TaschenÜber das Benehmen, im Ausland und ganz allgemeinÜber Englisch als FremdspracheÜber InneneinrichtungÜber die Nahrung der LiebeÜber gehen, um zu bleibenÜber große EntscheidungenÜber die Gefahren des WassersÜber die Wahrung des ScheinsÜber das letzte GeleitÜber das Ende der LiebeÜber die Farbe WeißÜber One-Night-StandsÜber falsch einsortierte ErinnerungenÜber das AufstehenÜber das SchicksalÜber das ÜberfließenÜber das EndeÜber das, was als Nächstes kommtDanksagung
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Über den doppelten Nutzen der Dinge

Wann immer ich neben einem Mann aufwache, halte ich ihn, solange ich noch nicht ganz bei Sinnen bin, für Ted. Er ist es nie.

Aber das ist in Ordnung. Heute Morgen habe ich zugeschaut, wie Pandora einmal komplett über Michaels nackten Körper spaziert ist. Er bekam eine Gänsehaut, als sie auf seine Oberschenkel trat. Ihre hübschen grauen Pfoten drückten sich in seinen Unterleib, der schlafende Penis rollte auf den Bauchnabel zu. Sie schlich weiter und stieg erst auf Höhe seiner Schultern von ihm herunter. Sie hätte problemlos auf der Matratze gehen können, zwischen uns war eine schmale Lücke. Aber vielleicht existiert er für sie einfach nicht. Vielleicht wollte sie mir zu verstehen geben, dass er in ihren Augen nicht lebendiger ist als die Matratze. Sie schmiegte sich an meinen Hals und schnurrte leise, wie ein müder Jaguar.

Ich wünschte mir, Michael würde aufwachen und mich so sehen: eine unabhängige Frau, geliebt von ihrer teuren Rassekatze. Aber das passierte natürlich nicht. Es passiert nie. Die Männer wachen immer zur falschen Zeit auf und bekommen immer das Falsche zu sehen.

Gerechterweise muss ich dazusagen, dass wir gestern Abend eine Menge Rotwein getrunken haben; ich vertrage einfach mehr als die meisten Leute, bekomme am nächsten Morgen problemlos die Augen auf. Der Wein ist mir immer noch ein Freund. Was leider nicht mehr klappt: im Morgengrauen Kaffee zu trinken und dann weiterzuschlafen. Der Körper verändert sich ständig, und ab einem gewissen Punkt geht es nur noch bergab. Es ist schrecklich. Man glaubt, sich zu kennen, bis man sich eines Tages nicht mehr wiedererkennt. Man vertrocknet. Das ist unangenehm.

Manchmal frage ich mich, ob ich mich glücklich schätzen sollte, dass Ted meine Wechseljahre nicht miterlebt hat. Ab fünfzig hat eine Frau ja so viel zu verbergen. Ich frage mich, wie er und ich mit den großen körperlichen Veränderungen und der unvermeidlichen Altersschwäche umgegangen wären.

Mit Michael habe ich solche Probleme nicht. Er kommt und er reist wieder ab. Er hat gar keine Gelegenheit, alles zu sehen.

In meinem Alter besteht der Trick darin, etwas Gleitgel griffbereit neben dem Bett aufzubewahren. Man kann es aus der Tube in ein schickes Töpfchen umfüllen, nur für den Fall, dass man Besuch bekommt. Wenn der Besuch mit den Liebkosungen beginnt, dreht man sich kurz weg und steckt die Finger in den Topf. In der Zwischenzeit lässt man sich Schultern oder Hintern streicheln. Dann dreht man sich wieder um, nimmt seinen Schwanz in die Hand und massiert ihn behutsam. Vielleicht hat er noch keine vollständige Erektion, in dem Fall kommt noch das gute Gefühl hinzu, ihm einen Gefallen zu tun. Ich weiß gar nicht, ob es im Leben etwas Schöneres gibt. Wenn er glaubt, all das geschähe nur ihm zuliebe, hat man ihn – und auch sich selbst – erfolgreich davon abgelenkt, dass man das Gleitmittel eigentlich für sich selbst braucht. Und obendrein hält man die Illusion aufrecht, man stünde noch voll im Saft. Zeigen Sie mir eine Ehefrau, die sich so viel Mühe gibt.

Michaels Frau ist verrückt. Vermutlich wirkte es anders, als sie jung war. Wahrscheinlich wirkte sie damals einfach nur jung. Heute kommt sie ziemlich einfältig rüber. Was für Banalitäten sie von sich gibt! Sie ist fast so groß wie ich und etwa fünf Jahre jünger, zweiundfünfzig, glaube ich. Sie blinzelt ständig. Sie hält sich kerzengerade, das kastanienbraune Haar fällt ihr vermutlich schon seit den Sechzigerjahren in den immer gleichen, sanften Wellen auf die Schultern. Sie lächelt und blinzelt pausenlos, als müsste sie sich vor allem schützen, was zu unangenehm oder zu modern ist. Stellen Sie sich ein Leben an ihrer Seite vor. Wie soll man zu so einem Menschen eine intime Beziehung aufbauen? Gar nicht.

Gibt es wirklich Leute, die sich nie nach Abwechslung sehnen? Ich dachte immer, das Menschenhirn wäre so komplex aufgebaut, dass es ständig neue Reize braucht. Wie schafft Michael es, seine Frau glücklich zu machen? Was tut sie, um ihn von der Scheidung abzuhalten? Ich verkneife mir meine Fragen. Ich habe gelernt, nicht zu klammern.

Wenn er bei mir ist, schläft er morgens lange aus. Wahrscheinlich darf er das zu Hause nicht, schon gar nicht nackt. Er hat einmal so etwas in der Richtung angedeutet. Auch von getrennten Betten war die Rede.

Als meine Eltern zwei Einzelbetten anliefern ließen, fürchtete ich, ihre Ehe wäre gescheitert. Ich wusste ja nicht, dass Einzelbetten damals in der ganzen Stadt in Mode waren, vielleicht sogar im ganzen Land, und dass meine Mutter lediglich mit den Nachbarn mithalten wollte. Aber wie oft gingen die Nachbarn ins Schlafzimmer meiner Eltern hinauf? Nie. Meine Mutter hörte sie trotzdem durch die Räume gehen, in ihrem Kopf, und sie wollte nicht zurückstehen.

Ich habe das Bett verlassen, als mein Magen zu knurren anfing. Gott sei Dank lässt Michael sich auch davon nicht wecken. Vom Kuscheln mit Pandora war mein Nacken ganz steif. Ich sehnte mich nach meinem gewohnten Frühstück: Milch – eine fettarme Sorte, die fast bläulich schimmert –, eine Banane, ein Toast mit einer dünnen Scheibe Käse, schwarzer Kaffee. Zufällig ist mein Lieblingsfrühstück gut für Knochen, Muskeln und Verdauung, ganz besonders für die Knochen, die Muskeln und die Verdauung von Frauen meines Alters. Ich glaube, dass fast alles im Leben einen doppelten Nutzen hat, so wie die Gleitcreme.

Wenn man allein frühstückt, obwohl man nicht allein zu Haus ist, fühlt man sich schnell einsam; dann wiederum kann man in aller Ruhe auf die Toilette gehen und sein Geschäft verrichten, bevor der andere wach wird. Einer der Vorteile des Getrenntlebens besteht darin, dass man von den Körpergerüchen des Partners verschont bleibt. Michael entleert seinen Darm meistens woanders. Ich habe mir vor langer Zeit angewöhnt, Streichhölzer in der Schminktasche zu haben, nur für den Fall, dass ich unterwegs zur Toilette muss, und auch in meinem Bad liegen welche herum, für meine Besucher. Man entzündet ein Streichholz und führt es nach dem Spülen einmal durch die Schüssel. Man klemmt sich das Streichholz zwischen Zeige- und Mittelfinger, wie eine Zigarette, so verbrennt man sich nicht. Danach wäscht man sich gründlich die Hände. Weil das Waschbecken für gewöhnlich näher an der Tür ist als die Toilette, wird jeder, der später hereinkommt, zunächst die Seife riechen und nichts anderes.

Den Trick habe ich von Mary gelernt, damals in Missouri. In Poppas Badezimmer gab es viel Morgensonne, einen kleinen Fernseher (das war später) und auf der Fensterbank eine Schachtel mit Streichhölzern, die Mary dort platziert hatte. Als Kind konnte ich endlos viele Argumente aufzählen, die eindeutig belegten, dass schwarze Menschen den weißen überlegen waren. Ganz offensichtlich waren sie klüger als wir, außerdem waren wir auf sie angewiesen, weil sie unsere Mahlzeiten zubereiteten. Um nur zwei zu nennen.

Am schönsten war es, morgens aufzuwachen und Mary in den Badezimmern rumoren zu hören. In Poppas Bad öffnete sie das Fenster, schlug Handtücher aus und faltete sie neu, und dann folgte ein Moment der Stille, wenn sie das Streichholz in der Toilettenschüssel schwenkte. Poppas »Zeit« war nach einem frühen Frühstück mit zwei Tassen Kaffee. Nachdem sie sein Bad gelüftet hatte, kam Mary singend durch den Flur und in mein Zimmer, wo ich im Bett lag und mich schlafend stellte. Manchmal ließ sie sich schwer aufs Fußende fallen und spielte die Überraschte: »Was, Missy, immer noch im Bett? Du musst jetzt aber wirklich aufstehen, sonst wirst du nämlich viel zu hübsch, jawohl!« Sie stand auf, ging in mein Bad hinüber und sagte so etwas wie: »Dann putze ich mal schnell den Spiegel, damit du selbst sehen kannst, wie viel zu hübsch du bist.«

Ich frage mich, ob die Schönheit einen doppelten Nutzen hat.

Nein. Sie hat keinen Nutzen, und sie gibt keine Garantien. Meiner Erfahrung nach eröffnet die Schönheit höchstens Möglichkeiten: Erstens wird man häufiger von Fremden angesprochen, zweitens kann man schöne Fotos von sich anfertigen lassen, für später.

Alle Ehefrauen haben einen doppelten Nutzen, alle außer die von Michael.

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Über die Rücklehne

Das erste Auto unserer Familie, an das ich mich erinnern kann, war ein Studebaker Champion. Irgendwann schafften sich auch Corkys Eltern einen an, in einem blassen Meergrün, das bei Sonnenschein aquamarin schimmerte. Ich war neidisch auf die Farbe, denn unser Studebaker war gelbbraun, unabhängig von den Lichtverhältnissen. Immerhin war er der Erste seiner Art in unserem Wohnviertel in Columbia, Missouri. Mutter tat mir leid, weil sie immer vorn saß, niemals hinten, von wo aus man Poppa beim Fahren zuschauen konnte. Heutzutage kann man die Leute von der Rückbank aus kaum noch sehen, wegen der hohen Lehnen und der Kopfstützen. Außerdem sind die Lenkräder heute viel kleiner als früher. Poppa hatte unseren Studebaker 1948 gekauft – ja, ich weiß das noch so genau, weil ich in dem Jahr fünfzehn wurde und meine Mutter mir erlaubt hatte, mir an meinem Geburtstag Ohrlöcher stechen zu lassen. Wann immer wir mit dem Auto fuhren, legte ich größten Wert darauf, Ohrringe zu tragen. Das Lenkrad war ein glatter, großer Reifen, und wenn Poppa fuhr, sah ich nicht nur seinen Kopf und seinen Nacken und seine Schultern, sondern auch seine Hände und den Freimaurerring an seinem rechten kleinen Finger.

Nach Poppas Tod bekam George junior den Ring. Ich erhielt Poppas Kriegstagebuch, es ist irgendwo hier in der Wohnung, und seine Tapferkeitsmedaille. Er hatte aufgeschrieben, wie er über französische Felder marschiert war und die Kameraden rechts und links von ihm stürzten und starben. Ich wusste längst davon, Mutter hatte es mir erzählt. Auch nach dem Krieg führte er Tagebuch, als er wieder bei seinen Eltern und seinen Schwestern in Hannibal wohnte und sich fragte, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Meine Mutter lernte er in der Kirche kennen, auch wenn es nicht im Tagebuch steht. Er erwähnt sie erst später, als er sie schon eine Weile kannte. »Ich weiß auch nicht, was es ist«, schrieb er in seiner leicht verkrampften Handschrift, »aber wenn ich mit Vivian zusammen bin, spüre ich diese unbeschreibliche Enge in der Brust. Eine Art Beklemmung, die nur sie lösen kann.«

Konnte sie das tatsächlich? Er wirkte recht zufrieden, trotz der Einzelbetten und des Lippenstiftes, den sie auftrug, bevor sie morgens herunterkam, und der ihm für den Rest des Tages ein Kussverbot auferlegte. Natürlich ließ sie sich manchmal noch küssen, sie hielt uns die Wange hin, wenn wir von der Schule nach Hause kamen, und mir gab sie gern mal einen Klaps auf den Po. Ich kann mich aber nicht erinnern, je gesehen zu haben, wie sie und Poppa sich küssten.

»Ich spüre diese Enge in der Brust.« Wie seltsam, diese Worte zu lesen und zu wissen, dass er sich meiner Mutter zu dem Zeitpunkt noch nicht erklärt hatte, dass die beiden später aber Hunderte und Tausende von gemeinsamen Momenten erleben würden, ohne mich, was ich nie verstehen und schon gar nicht akzeptieren konnte. Ihre Beziehung schien einem undurchschaubaren Muster zu gehorchen, aber zu erfahren, dass es für ihn mit einem Engegefühl in der Brust und einer Hoffnung auf süße Erlösung angefangen hatte – nun ja, das stimmte mich nachdenklich. Und als ich vor drei Jahren in meinem Wohnzimmer vor der Kiste mit Poppas Sachen stand, stimmte es mich wütend. Sie hatte ihn nicht genug wertgeschätzt. Wenn ich an mein vergangenes Ich zurückdenke, das auf der Rückbank des Studebaker sitzt und beobachtet, wie geschickt er uns durch die Stadt chauffiert, während sie aus dem Fenster blickt und die Häuser der Nachbarn bewertet, wird mir klar, dass sich damals alles richtig anfühlte. Ich legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter, um ihn daran zu erinnern, dass er nicht allein war.

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Über das Lernen

Wo habe ich das Kreuzworträtsel hingelegt? Ich wollte es eigentlich beim Frühstück lösen, aber dann konnte ich es nicht finden, zumindest nicht dasjenige, an dem ich gerade sitze. Wo ist es nur? Mein Gott. Ständig geht das so. Wie dumm, Lillian. Einfach nur dumm. Denk nach. Konzentrier dich.

In der Highschool war ich keins von den Mädchen, die immer alles in Gruppenarbeit machen wollen. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie man so arbeiten soll. Zum Arbeiten braucht man Ruhe, man muss vorher alle Stifte anspitzen, das richtige Papier finden, sich sammeln. Ich erledigte meine Hausaufgaben spätnachmittags in meinem Zimmer, nachdem ich mit Mary in der Küche eine Cola getrunken hatte. Wenn Poppa nicht auf Dienstreise war, kam er gegen halb sechs nach Hause. Normalerweise arbeitete ich eine gute Dreiviertelstunde an meinem Schreibtisch vor mich hin, während Poppa nebenan in seinem Büro hinter dem Elternschlafzimmer saß und Zahlen zusammenrechnete oder die zusammengefalteten Zettelchen durchging, die sich im Laufe des Tages in seiner Brusttasche angesammelt hatten. Ich war hellwach. Ich spürte eine große Konzentriertheit. Eine frische Brise. Was immer ich schrieb, hatte Witz und Gehalt. Was immer ich las, ergab auf Anhieb Sinn. Ich hatte Ideen für Referate. Ich zeichnete akkurate Schaubilder. Dann räusperte Poppa sich. Seltsam, dass Männer sich räuspern, wenn ihre Konzentration gegen Ende eines Projekts nachlässt. Das war mein Zeichen. Es war an der Zeit für ihn, Drinks zu mixen. Mutter saß unten auf dem Sofa und wartete, hielt die Hand schon nach dem Bourbon ausgestreckt. Am Ende des Tages saß sie mit nachgezogenem Lippenstift im Wintergarten und wartete darauf, dass der Abend seinen Lauf nahm, und zwar so, wie es sich gehörte.

Beim Essen wollte Poppa vor allem hören, wie mein Tag in der Schule gewesen war, aber er sorgte jedes Mal dafür, dass Mutter als Erste zu Wort kam. »Wollen wir hören, was Vivi Anne heute über die Welt zu sagen hat?«, fragte er dann, und ich überlegte kurz und nickte. Ihr Name war Vivian. Ich habe ihn nie gefragt, warum er mit der Aussprache gespielt hat. Vielleicht, weil sie eine Frau war, die sich auf körperlicher Ebene nicht necken ließ. Es war spöttisch und respektvoll zugleich, sie Vivi Anne zu nennen, sie erzählen zu lassen und so zu tun, als interessierte es ihn tatsächlich, als würde er morgen noch wissen, welches Geschäft gerade welchen Ausverkauf veranstaltete.

Eigentlich konnte ich nur klar denken, wenn Poppa in der Nähe war. Als wäre mein Gehirn ein Boot, als hätte ich vor meinem Studium am Vassar College vergessen, den Anker zu lichten und an meinem neuen Wohnort zu setzen. Immer wieder wollte mein Hirn sich aus dem neuen Hafen fortschleichen. Das hatte etwas mit Händen zu tun, mit Händen und Anrufen.

Ab Mittwochabend klingelte im Wohnheim das Telefon. Zuerst nur vereinzelt, und die meisten Anrufe galten denselben Mädchen. Nur manchmal gab es eine Überraschung. Am Donnerstag häuften sich die Anrufe dann. Wer am Freitagmorgen immer noch ohne Date war, schleppte sich schweren Herzens zum Unterricht. Dabei war bis zum Wochenende doch noch Zeit.

In den ersten Wochen meines ersten Semesters bekam ich gar keine Anrufe. Statt in meinem Zimmer herumzusitzen und auf das Läuten des Telefons im Eingangsbereich zu warten, verbrachte ich die Abende in der Bibliothek. Immerhin war ich zum Lernen hier. Ich hatte mich für mehr Seminare angemeldet als nötig, weil ich plante, in gleich zwei Hauptfächern einen Abschluss zu machen – in frühkindlicher Pädagogik und englischer Literatur. Viele Mädchen studierten ein Haupt- und ein Nebenfach, manche auch ein Hauptfach mit zwei Nebenfächern. Aber was war das eigentlich für ein Ausdruck, Nebenfach? Religion oder Philosophie im Nebenfach? Als würde man nur ein hauchdünnes Stück von der Obsttorte nehmen und in Kauf nehmen, dass die Kirsche woanders lag und man sie nie zu schmecken bekam. Dafür war ich zu hungrig.

An der Wand über meinem Bett hing mein selbst gezeichneter Arbeitsplan, aus dem hervorging, wie viele Stunden ich täglich für welches Fach zu lernen hatte. Er erschien mir durchaus realistisch. Mit penibel angespitzten Stiften, unbefleckten Notizblöcken und der Überzeugung, die noble Institution Vassar wolle nur mein Bestes, stürzte ich mich ins Studium. Aber nachdem ich mit ein paar anderen Mädchen in Yale gewesen war, zu einem Dinner mit anschließendem Tanz, erhielt ich plötzlich selbst Anrufe. Ich beschloss, nicht mehr in der Bibliothek zu lernen, sondern in meinem Zimmer. Letztendlich tat ich nichts anderes als die anderen Mädchen, ich wartete. Wenn es meiner Zimmergenossin Ann zu langweilig wurde, spielte sie an ihren Haaren herum. Ann nahm das Studium sehr ernst, und von ihren heiß geliebten Wirtschaftsbüchern verstand ich kein Wort. Na ja, vielleicht hätte ich doch etwas verstanden, aber ich fing zu schielen an, sobald ich einen Blick in ihre Bücher werfen sollte. Dann musste sie lachen. Ann. Nettes Mädchen. Sie war eine der ersten Frauen an der Wall Street. Ich glaube, sie arbeitet immer noch dort, bei J.P. Morgan. Sie hatte langes, glattes Haar und beklagte sich gern darüber, dass sich damit so gar nichts anstellen ließe; mittwoch- und donnerstagabends, wenn wir in unserem Zimmer saßen und lasen und dabei auf das Telefonklingeln warteten, zupfte sie einzelne Haarsträhnen aus ihrem Pferdeschwanz und zwirbelte sie auf ihre Finger auf. Wir waren beide abgelenkt, irgendwann holten wir eine Zeitschrift heraus und sahen uns die Mode an, oder Ann posierte vor dem Spiegel und wir stellten uns vor, sie würde sich für ein Date zurechtmachen.

Die Anrufe warfen meinen Studienplan über den Haufen. Ich nahm mir vor, sonntags früher aufzustehen und ab sofort wieder in der Bibliothek zu lernen. Manchmal klappte es, manchmal nicht. Ich nahm mir vor, verstärkt in den Abendstunden zu lernen, statt auf Anrufe zu warten; sollten die anderen ans Telefon gehen und Nachrichten für mich entgegennehmen. Manchmal klappte es, manchmal nicht, aber wenn ich dann in der Bibliothek war, machte ich immer öfter früher Schluss. Sonntags nickte ich zwischen meinen Bücherstapeln ein.

Hände. Die Männer in Yale wussten, wohin ihre Hände gehörten. Erstes Date: an den Ellenbogen, am frühen Abend, wenn man auf dem Weg ins Restaurant war. Auf dem Weg hinaus legte sich die Hand zwischen die Schulterblätter, mit sanftem Druck. Zweites Date: an den unteren Rücken. Fast schon besitzergreifend, fast schon anmaßend, ganz nach dem Motto Ich weiß, wo es langgeht, was sehr beruhigend sein konnte, auch wenn man ahnte, dass das Angebot nicht ganz seriös war. Drittes Date: Taille oder Hand. Hals. Beim Küssen berührten sie meinen Nacken, sie schoben ihre Finger in meine Haare, legten den Daumen an mein Ohrläppchen. Zum Schluss: Hüfte, Oberschenkel. Ich fand das sehr schön. Es durfte nicht zu früh geschehen, am besten mitten im Gespräch, wenn der Mann sich vorbeugt, um eine Pointe anzubringen oder ein Argument zu wiederholen; alles andere wäre plump und zu durchschaubar gewesen. Diejenigen, die sich beim ersten Date besonders zurückhaltend gaben – die mir die Tür aufhielten, jedoch darauf verzichteten, mich hindurchzuschieben –, erinnerten mich an Poppa. Ich mochte ihre Zurückhaltung – aber nur, wenn sie nicht übermäßig lange anhielt.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, dass Poppa mir und Mutter immer die Tür aufhielt. Wir ließen ihr den Vortritt, dann war ich an der Reihe, und jedes Mal berührte er mich flüchtig. Er berührte mich immer, wenn ich durch eine Tür ging.

In meinem zweiten Jahr am College wurde ich von anderen Händen abgelenkt. Weil ich mich für frühkindliche Pädagogik eingeschrieben hatte, musste ich zu Beginn des Semesters ein Praktikum in einem Kindergarten absolvieren. Nach der Arbeit ging ich in mein Zimmer im Wohnheim, stellte mich vor den Spiegel und zupfte die Klebstoffreste aus meinem Haar. Stolz zeigte ich die Fingerfarbe unter meinen Nägeln vor, ich hatte Geschichten von Anbetung und Zurückweisung zu erzählen, und immerzu dachte ich an die kleinen Hände, die mich berührt hatten. Die Kinder legten ihre Hände an meine Knie, um sich abzustützen oder um auf sich aufmerksam zu machen, und immer hatte ich das Gefühl, als würde durch diese winzigen Handflächen die Energie der ganzen Welt in mich einströmen. Nach dem Mittagessen lautete die Anweisung, dass ich alle Kinder hinlegen und allein zur Ruhe kommen lassen sollte, doch das schaffte ich nie. Ich suchte immerzu nach einem Vorwand – der Schnürsenkel war verknotet, die Nase lief –, um das eine oder andere Kind im Arm zu halten, zu fühlen, wie es sich entspannte, der kleine Körper schwerer wurde, wie es instinktiv einen Arm um meinen Hals schlang, sobald ich es ablegen wollte. Die Berührung der kleinen Hände verursachte mir jedes Mal eine Gänsehaut.

Ein kleines Mädchen hieß Joan. Sie war die Kleinste in ihrer Gruppe, und ihre weichen, dunkelbraunen Locken erinnerten mich an mich selbst, wie ich als Kind gewesen war. Sie spielte auf eine methodische Weise, sodass sie immer einen Schritt hinter den anderen herhinkte. An einem kühlen Oktobertag stand ich in der Tür zum Außengelände und schaute den Kindern beim Spielen auf dem kleinen Spielplatz zu. Ich wartete auf Joan, die drinnen dabei war, alle Puppen in einer langen Reihe schlafen zu legen. An den Tagen davor hatte sie sich, wenn sie fertig war, einfach an mir vorbei ins Freie gezwängt, aber heute tätschelte sie meine Kniekehle und streckte mir, als ich mich umdrehte, ihre Ärmchen entgegen. Sie legte den Kopf in den Nacken, zeigte mir ihren langen, blassen Hals, wie es kleine Kinder tun, die signalisieren wollen, dass es ihnen wirklich ernst ist, dass sie ein Theater veranstalten werden, sollten sie ihren Willen nicht bekommen. Es war, als hätten wir die erste Verhandlungsrunde bereits hinter uns, als wäre sie nun gezwungen, den Druck zu erhöhen. »Oh, Schätzchen«, sagte ich und nahm sie auf den Arm, »bist du ganz müde, weil du all deine Babys ins Bett gelegt hast?« Sie blickte auf den Spielplatz hinaus, war anscheinend zufrieden damit, auf meinem Arm zu sitzen. Sie hielt ganz still, strampelte nicht mit den Beinen und bog sich auch nicht durch, wie es Kinder tun, die abgesetzt werden wollen. Auch ich schaute hinaus. Wir sahen aus wie eine Frau und ihr Kind, wie Mutter und Tochter, die am Küchenfenster stehen und den anderen Geschwistern beim Spielen zuschauen. Sie hatte einen Arm auf meine Schulter gelegt, und nach einer Weile spürte ich ihre Finger in meinem Haaransatz.

Gänsehaut.

Am Ende des Semesters lud mich die Fachbereichsleiterin zum Gespräch. Alle Praktikantinnen bekamen eine Bewertung von der Erzieherin, mit der sie zusammengearbeitet hatten, und anschließend wurde ihnen eine neue Stelle zugewiesen. Die Fachbereichsleiterin hieß Mrs Wade. Sie trug eine Nickelbrille und schminkte sich nie. Sie sah aus wie ein Mann, wie ein alternder Schauspieler, Spencer Tracy vielleicht. Sie hatte breite, weißgraue Zähne und hellwache Augen. Sie sagte mir, sie habe nur Gutes über mich gehört, ich sei eindeutig geeignet, kleine Kinder zu betreuen und zu unterrichten. Sorge bereite ihr einzig und allein mein Zeitmanagement.