Limonadentage - Annie Stone - E-Book
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Limonadentage E-Book

Annie Stone

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Beschreibung

Seit Kindheitstagen teilten Avery und Cade viele erste Male miteinander: den ersten Limonadenstand, den ersten Kuss, das erste Mal - und auch den ersten Liebeskummer. Als Cade am Ende ihrer Highschoolzeit ohne eine Erklärung mit Avery Schluss machte und aus ihrem Leben verschwand, brach für sie eine Welt zusammen.
Nun ist Avery gerade für ihren Traumjob als Journalistin nach Boston gezogen. Ihr Freund vergöttert sie, ihre Karriere nimmt Fahrt auf, sie könnte nicht glücklicher sein. Bis ihr ein nur allzu vertrauter Mann in die Arme läuft. Cade. Sofort erwachen in Avery die Erinnerungen an ihre prickelnd süße erste Liebe. Unweigerlich fragt sie sich: Was wäre, wenn damals alles anders gelaufen wäre?

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Seitenzahl: 394

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Zum Buch:

Als Kinder teilten sich Cade und Avery einen Limonadenstand. Später schien das Leben nur Zitronen für sie bereitzuhalten. Nun bekommt ihre Liebe eine zweite Chance.

»Es ist, als würden Cade und ich nach genau dem gleichen Drehbuch wie früher agieren. Einerseits erschreckt es mich ein wenig, aber andererseits löst es diesen unglaublichen Thrill in mir aus, weil ich unsere Liebesgeschichte immer mochte, bis sie zu Ende war – was ich gar nicht mochte. Es fühlt sich an wie der zweite Take. Alles auf Anfang. Nur dass wir nun älter sind. Cade ist heißer, ich verpeilter. Aber sonst fühlt es sich genau wie damals an.«

Zur Autorin:

Annie Stone, geboren 1981, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete als Fraktionsgeschäftsführerin in einem kommunalen Parlament in NRW, bevor sie diesen Job für ihre Leidenschaft, das Schreiben, aufgab. Mittlerweile ist sie ­erfolgreiche Selfpublisherin in den Genres Liebesroman und Historischer ­Roman.

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2019 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: FinePic / München} Redaktion: Lektorat: Anna Hoffmann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955768980

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Kapitel Eins

Avery

Ich trete durch die Tür ins Freie. Dabei trage ich ein perfekt abgestimmtes Ensemble, von einem namhaften Designer natürlich. Keine Falte, kein Knittern, alles sitzt an seinem Platz. Die Farben sind strategisch ausgewählt, die Länge sorgfältig geplant, alles passt zusammen.

Meine Haare sind mit viel Sorgfalt frisiert, kein Härchen tanzt aus der Reihe, alles liegt so, wie es sein soll. Mein Make-up könnte nicht besser sein, wenn es ein Star-Visagist aufgetragen hätte. Alles ist in sich stimmig und sorgt dafür, dass ich den bestmöglichen Eindruck mache. Einfach alles. Von meiner Gucci-Sonnenbrille bis hin zu meinen Prada-Heels. Perfektion ist mein zweiter Vorname.

Ja, so sollte die Realität aussehen. Wirklich. Sollte sie. Aber wenn ich so an mir herunterschaue, tut sie es nicht. Meine Füße stecken in schwarzen Chucks, meine Beine in einer beigen Hose, die – wie immer, möchte ich hinzufügen – Striche von Kugelschreibern aufweist. Meine weiße Bluse ist nur noch akzeptabel, wenn ich behaupte, dass sie aus Knitterstoff besteht, und meine Augen wurden noch nie von Gucci verdunkelt.

Und reden wir lieber nicht von meinen langweilig mausbraunen Haaren. Manche Frauen haben gute und schlechte Haartage, ich habe nur letztere. Immer. Jeden Tag des Jahres. Sie sind … ich will nicht zu harsch klingen … eine Katastrophe epischen Ausmaßes. Sie waren immer glatt, ganz glatt. Und dann mit zwanzig habe ich plötzlich Locken bekommen. Schön, oder? Nein, gar nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie nur in den oberen Lagen sind und sich im Unterhaar nicht wiederfinden. Nein, da ist noch der Schnittlauchlook angesagt. Wie gesagt … Katastrophe. Reden wir nicht weiter drüber, das macht mich nur depressiv.

Make-up? Haha. Make-up. Ich glaube, das letzte Mal hatte ich Make-up im Gesicht als … hm, war da noch Clinton Präsident? Ach nein, die ersten George-W.-Jahre. Also lange her. Gott sei Dank. Ich creme mein Gesicht morgens ein und hoffe, dass das reicht.

Stellen wir also fest: Avery McIntyre, du siehst aus wie eine wandelnde Vogelscheuche. Wie immer, möchte ich hinzufügen.

Und so trete ich aus dem Gebäude, in dessen elftem Stock sich meine Redaktion befindet, hinaus in den sonnigen Bostoner Tag. Bis zur nächsten U-Bahn-Station ist es nicht weit. Ich eile die Treppen hinunter, haste durch die Schranken und kann mich gerade noch durch die sich schließenden Türen des Bahnwaggons quetschen. Ich will einen weiteren Schritt nach vorne machen und werde zurückgehalten. Verdammt. Meine Tasche ist in der Tür eingeklemmt. Ich schaue mich um, um zu sehen, ob jemand meine Peinlichkeit beobachtet hat. Und natürlich ist es so. Da schmunzelt ein Mann bei meinem Anblick. Ich lehne mich gegen die Tür, tue so, als wollte ich auch gar nicht weiter in den Waggon. Als die Bahn anfährt, falle ich beinahe um, aber die feststeckende Tasche hält mich aufrecht. Man muss auch für kleine Wunder dankbar sein.

An der nächsten Haltestelle befreie ich meine Tasche, die ihr kurzes Abenteuer zum Glück unbeschadet überstanden hat, und setze mich hin. Ich schlage die Beine übereinander und hole den Flyer raus, um mir noch einmal durchzulesen, was die Kuratorin zur Vernissage dieses neuen Künstlers geschrieben hat. Ich bin wirklich gespannt auf die Ausstellung und auch auf ihn selbst. Meine Versuche, im Internet schon mal einen Blick auf seine Bilder zu werfen, waren leider vergebens – da war kein einziges zu finden! Das hat meine Neugier nur noch mehr angefacht.

Als ich zwei Haltestellen später aussteige, habe ich die Blamage schon wieder vergessen und steige beschwingt aus der kühlen Tiefe zurück in das pulsierende Leben Bostons. Ich gehe zwei Querstraßen weiter und stehe vor der kleinen Galerie, deren Adresse auf dem Flyer angegeben ist. Von den Kollegen der anderen Magazine ist niemand zu sehen. Merkwürdig, sonst stehen doch immer mindestens drei oder vier rauchend vor der Tür … Oh nein, bin ich etwa schon wieder zu spät? Schwungvoll öffne ich die gläserne Eingangstür und gehe hinein.

»Ja, bitte?«, fragt eine hagere Frau mit einem schwarzen Pagenschnitt.

»Hallo, ich bin Avery von Women’s Life. Ich bin hier für die Ausstellung von Vincent Tauber.«

»Oh … Das tut mir leid. Hat man Sie denn nicht informiert? Die Ausstellung ist bereits vor zwei Wochen abgesagt worden.« Sie schaut mich zuerst entschuldigend und dann ein wenig mitleidig an.

»Oh …« Was anderes fällt mir nicht ein. Das ist mal wieder typisch für mich. Wahrscheinlich wurde ich informiert und habe es verpeilt. »Alles klar. Dann weiß ich Bescheid. Danke …« Bevor ich mich umdrehen kann, fällt mir noch etwas ein: »Ach so, haben Sie denn in der nächsten Zeit andere Ausstellungen?«

Sie lächelt mich an. »Selbstverständlich. Ich gebe Ihnen den Flyer für unsere nächste Vernissage mit. Wir würden uns freuen, wenn Sie es einrichten könnten.«

Ich verabschiede mich und trete wieder auf die Straße. Mit einem Seufzer schaue ich zuerst auf meine Uhr und dann in den Himmel. Na, wenigstens scheint die Sonne.

Cade

Ich sitze in meinem Lieblingscafé in Beacon Hill, wie immer, wenn mir niemand zuvorkommt, auf dem schon recht durchgesessenen roten Sofa in der Ecke. Vor mir steht irgendein fancy Kaffee mit ungefähr fünf verschiedenen Extras. Dabei hätte Filterkaffee gereicht, aber so etwas Profanes bekommt man hier natürlich nicht.

Mein Blick gleitet über den Ausdruck vor mir. Mit einem Kugelschreiber fahre ich jede einzelne Zeile entlang, um den Code zu bereinigen, den ich geschrieben habe. Manchmal neige ich dazu, Befehle nicht ganz so schlank zu schreiben, wie sie sein könnten. Aber am Bildschirm fallen mir die Fehler dann nicht auf. Nur hier, auf dem weißen Blatt Papier, kann ich sie finden. Ich habe mich schon ein paar Mal gefragt, wieso das so ist, aber eigentlich ist es egal. Hauptsache, ich finde auf diese Weise die Bugs in meiner Programmierung.

Ohne hinzusehen, hebe ich meine Tasse, trinke einen Schluck und kann gerade so eine angewiderte Grimasse unterdrücken. Das Zeug sieht vielleicht aus wie Kaffee, aber schmeckt überhaupt nicht danach. Kein bisschen. Vielleicht hätte ich doch einfach eine Limonade bestellen sollen, wie sonst auch.

Als mein Handy pingt, schaue ich drauf. Eine Nachricht von Christopher.

Mick hat schon wieder eine neue Idee.

Ich stöhne auf. Das kann doch nicht sein. Wenn es nach Michael geht, werden wir nie fertig.

Was denn für eine?

Ich mag es nicht zugeben, aber eigentlich rockt sie. Es ist eine Extrafunktion für die To-do-Liste.

Wenn ich vor zwei Jahren gewusst hätte, wie viel Arbeit es ist, eine beschissene App zu entwickeln, hätte ich es gelassen. Okay, wahrscheinlich nicht, aber ich rede mir das gerne ein. Es gibt mir das Gefühl, die Verantwortung weit von mir schieben zu können.

Zähneknirschend bewege ich meine Finger über den Touchscreen.

Er soll sich dransetzen.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Idee ist. Aber wenn man mit einem Genie zusammenarbeitet, muss man manchmal Chaos in Kauf nehmen. Oder?

Ich widme mich wieder meiner eigenen Aufgabe, aber irgendwie bin ich zu aufgeregt. Jetzt will ich auch wissen, was Michael geplant hat. Mit einem leisen Fluchen packe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg zurück ins Büro.

Die Sonne scheint, und ich genieße den kurzen Fußweg in unsere kleine Höhle. Und das ist nicht einmal eine Übertreibung. Wir haben die Vorhänge zugezogen, damit kein Licht auf die Bildschirme fallen kann. Programmierer könnten auch Vampire sein. Mich würde das nicht wundern. Wobei ich die berühmte Ausnahme darstelle – mir ist es immer zu düster, was bereits zu vielen Diskussionen mit meinen Partnern und besten Freunden geführt hat.

Avery

Als es Zeit wird für meinen nächsten Termin, stehe ich auf und packe meine Tasche.

»Bist du dir sicher, dass du dieses Mal den richtigen Zeitpunkt aufgeschrieben hast?«, scherzt meine Kollegin Sarah.

»Ich hoffe es, aber ich kann dafür keine Verantwortung übernehmen«, gebe ich zu.

Sie lacht. »Das wird schon. Vielleicht hat die Chefin ja bald ein Einsehen, und du bekommst eine Assistentin.«

»Oh, ich bete jeden Tag dafür.« Ich werfe mir die Tasche über die Schulter, wobei ich den Stifteköcher umreiße und alle Kugelschreiber rausfallen. »Auch das noch«, murre ich vor mich hin. Sarah lacht, hilft mir dann aber beim Aufräumen.

»Stress dich nicht, Ave. Ich glaube, du erwartest immer zu viel von dir selbst.«

»Danke dir.« Ein Blick auf die Uhr bestätigt, dass ich mich mal wieder beeilen muss, um rechtzeitig zu kommen.

Ich eile die Treppe hinunter auf die Straße, wende mich nach rechts Richtung U-Bahn und schaue noch einmal auf die Uhr. Knapp wird das, ganz knapp.

Also beschleunige ich noch mal das Tempo, biege hastig um die Ecke und laufe plötzlich gegen etwas Festes, und etwas kochend Heißes läuft an meiner Vorderseite hinunter. Erschreckt schreie ich auf und versuche den Stoff meiner weißen – oder nunmehr braunen – Bluse von meiner Haut zu ziehen. Verbrennungen haben mir gerade noch gefehlt, das brauche ich nicht auch noch heute.

»Es tut mir sehr …«, erklingt eine samtweiche Stimme. Hm, da könnte man sich hineinfallen lassen. Perfekter Märchenerzähler für Erwachsene. Ich bin versucht, die Augen zu schließen und ihr einfach noch einen Moment länger zuzuhören. Doch …

»Avery?«, fragt die Stimme nun eindeutig verwirrt.

Die Stimme kennt meinen Namen? Ich schaue hoch, vergesse die nasse, mittlerweile abgekühlte Bluse und sehe in ein paar Karamellaugen. Oh Gott. Karamellaugen!

»Ich … wow … was machst du hier?«, fragt der Märchenerzähler und weiß offenbar nicht, ob er lächeln oder schreien soll, ob er angeekelt oder amüsiert sein soll, erfreut oder wütend.

»Ich muss los«, murmele ich, ziehe den Kopf ein und renne beinahe die Straße entlang. Nein, nein, nein! Oh, Schicksal, wie kannst du mir das antun? Es hat so lange, so unglaublich lange gedauert, ihn zu vergessen, nein, nicht zu vergessen, aber damit klarzukommen, dass er nun kein Teil meines Lebens mehr ist. Und jetzt das?

Aber er ist schneller, er war es schon immer. Von hinten greift er nach meinem Arm und bringt mich zum Stoppen.

»Avery, komm schon«, murmelt er und ist mir so nah, viel zu nah.

Ich schüttele den Kopf, halte ihn gesenkt, will nicht, dass er in meinem Gesicht lesen kann, in meinen Augen. »Ich muss gehen. Ich bin schon viel zu spät dran.« Und das stimmt ja auch, es ist nicht vollends gelogen. Die pünktliche Ankunft kann ich vergessen.

Ich spüre, dass er irritiert ist, fühle es in seinen Fingern, die sich plötzlich anders auf meinem Arm anfühlen, erahne es in der Anspannung seines Körpers, und bei einem kurzen Aufschauen sehe ich es in der Härte seines Kiefers, in der Kraft, die er aufwendet, um die Zähne aufeinanderzubeißen. Nicht zu vergessen in seinen Augen, die jetzt gar nicht mehr karamellig aussehen, sondern feurig. Den Blick kenne ich so genau.

»Wir haben uns zwölf Jahre nicht gesehen, und du willst mich nicht mal anschauen? Hast keine Minute, um einfach nur mal Hallo zu sagen?« Seine Stimme klingt auf einmal rau, gar nicht mehr so samtig wie zuvor.

Stumm schüttle ich den Kopf und wünsche mich weit weg. Wie wäre es mit Vanuatu? Das wäre doch ideal …

»Ich hab dich nie für feige gehalten.«

Mein Kopf schnellt hoch, meine Augen verengen sich zu einem wissenden, herausfordernden Blick. Mein eisiges Grau trifft auf sein loderndes Feuer. »Was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, dass du feige bist, Avery McIntyre.«

»Und du bist genauso ein selbstherrlicher Arsch wie früher, Cade Turner! Aber du kannst nach so vielen Jahren nicht erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse, nur weil du plötzlich aus dem Nichts auftauchst!«, fauche ich.

Ein träges Grinsen erscheint auf seinem Gesicht, und einen Moment sieht er so aus, als hätte er aus dem Sahnetopf genascht. Dann hebt er langsam seine Hand. Er fasst an meinen Pferdeschwanz und zieht leicht daran. Ich stocke, in mir zieht sich alles zusammen. So ein beschissener Arsch!

Natürlich war ich damals viel zu klein, um mich zu erinnern, aber so hat es mir meine Mutter immer und immer wieder erzählt. Als ich drei Jahre alt war, saß ich mit meinen Förmchen und Schäufelchen im Sandkasten. Glücklich vor mich hin glucksend backte ich Sandkuchen und bot sie meiner Mama an, die auf einer Bank am Rand saß. Als ich aufsah, kam ein kleiner Junge auf mich zu. Karamellfarbene Augen, dunkelbraune Haare. Er ließ sich neben mich plumpsen und beobachtete mich einen Moment. Dann hob er langsam die Hand und zog an meinem blonden geflochtenen Zopf. Empört schaute ich auf und blickte in belustigte Augen, die sich nach einem Moment skeptisch bewölkten.

Ich drehte mich um und sah einen anderen kleinen Jungen auf uns zukommen. Er setzte sich neben uns und griff mir ebenfalls an den Zopf, wofür er von dem ersten Jungen gehauen wurde. Während der zweite anfing zu brüllen, schaute mich der erste selbstgefällig an. Noch einmal zog er leicht, und dieses Mal … lächelte ich.

»Das ist so unfair«, zische ich Cade an.

»Ich hab nie behauptet, fair zu spielen«, gibt er zurück. »Also, was machst du hier?«

Ich schaue ihn böse an, was ihn aber nur zum Lachen bringt. Früher hat er immer gesagt, Angst vor mir zu haben, wäre in etwa so, wie vor Bambi Angst zu haben.

Die Situation ist wirklich nicht leicht. Hochgradige Herzverwirrungsgefahr. Also für mich. Unser letzter Kontakt war nicht … Ich schlucke. Nein, nicht dran denken.

»Ich arbeite hier.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Seit wann arbeitest du in Boston?«

»Seit sechs Monaten.«

Langsam nickt er. »Was machst du?«

Ich schaue ihn zweifelnd an. »Warum interessiert dich das? Wir haben uns zwölf Jahre nicht gesehen. Und das hatte Gründe, Cade. Warum soll ich dir jetzt mitten auf der Straße mein Leben erzählen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Hast recht. Eigentlich ist es vollkommen egal.« Er kommt einen Schritt näher. Ist er größer geworden? Breiter auf jeden Fall. Solche Schultern hatte er damals nicht. »Aber irgendwie auch nicht, Avy.« Er streicht eine Strähne meiner unbändigen Haare hinter mein Ohr. »Vielleicht …«

Er bricht ab. Ich schaue zu ihm auf, blicke in seine so wunderbaren Augen, die mich immer in ihren Bann gezogen haben.

Er schüttelt den Kopf. »Nein, lassen wir das. Du musst zu deinem Termin. Oder was auch immer gerade so wichtig ist.«

In meinem Hirn bilden sich eine Million Fragezeichen. Was ist das denn?

Er lächelt noch einmal kurz und dreht sich dann um. Schnell und brüsk ist sein Schritt, als könnte er gar nicht schnell genug von mir wegkommen. Ohne es zu wollen, starre ich ihm hinterher. Auch von hinten sieht er sehr gut aus. Seine Kleidung sitzt makellos. Unwillkürlich wandert mein Blick nach unten. Ja, auch sein Hintern sieht in den Jeans echt heiß aus.

Wehmut erfasst mich. Und irgendwie fühlt es sich an, als würde alles in mir zum zweiten Mal zerbrechen. In mir breitet sich eine tiefe Traurigkeit aus. Dieser Mann – nein, damals war er noch ein Junge – war immer die andere Hälfte meiner Seele. Zumindest dachte ich das. Aber man kann sich nicht immer aussuchen, wie sich die Dinge entwickeln, oder? Manchmal ist man nicht der Kapitän des eigenen Lebens, sondern nur ein Beifahrer, und andere lenken es. Ihre Entscheidungen mögen nicht deine sein, aber … du kannst es auch nicht ändern. Du bist wie erstarrt. Und wenn du aufwachst, ist alles anders als zuvor, und du erwachst in einer neuen Welt, deren Regeln du nicht verstehst. Die besagen, dass dein bester Freund, dein Seelenverwandter, die Liebe deines Lebens nicht mehr dir gehört. Nie mehr. Er ist aus deinem Leben verschwunden, und du kannst nur noch die Trümmer aufräumen oder dich in eine Ecke zum Sterben legen.

Ich hatte mich für Letzteres entschieden, aber man hat mich nicht gelassen.

Und der Grund dafür ist …

Mein Handy klingelt.

»Hi, Mom«, sage ich leise.

»Hallo, Süße! Geht es dir gut? Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendwas mit dir nicht stimmt.«

Ich seufze. Meine Mutter hatte schon immer einen sechsten Sinn, was mich anging. Immer, wenn es mir schlecht geht, spürt sie es.

»Ich hab gerade Cade gesehen.« Meine Stimme klingt merkwürdig monoton, wie losgelöst von mir. »Oder vielmehr, ich bin mit ihm zusammengestoßen.«

»Oh«, haucht sie.

Sie weiß alles über ihn, über mich, über uns. Und sie war es auch, die nicht zugelassen hat, dass ich mich in eine Ecke zum Sterben legte. Sie hat mich ins Licht gezerrt, mir gesagt, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben – aber mal ehrlich: So einen schönen Sohn hat keine! – und dass ich mich nicht wie ein Baby verhalten soll. Sie war und ist die Kavallerie, die kommt, wenn der Kampf schon fast verloren ist.

»Geht es dir gut, Avy?«, fragt sie ruhig, und ich stelle mir vor, wie sie am Fenster steht und an ihren Blumen herumzupft.

Ich seufze. »Ja, Mom. Es ist beinahe ein halbes Leben her. Es ist … nun ja … wie es eben ist.«

Für einen Moment ist es still in der Leitung. »Aber es hat dich aufgewühlt, ihn zu sehen.«

Ja, klar. »Er ist einfach abgehauen, Mom. Wir haben kaum drei Sätze geredet, und dann ist er abgehauen. Was soll ich davon halten?«

»Ach, Avy …«

»Nein, Mom. Es ist seit mehr als einer Ewigkeit vorbei, es bleibt dabei. Ich war einfach nur überrascht, auf ihn zu treffen.« Meine Stimme hört sich kalt an, aber nur so kann ich mein Herz schützen. Und das hämmert immer noch viel zu schnell in meiner Brust.

Sie seufzt schicksalsergeben. »Okay, Süße, solange es dir gut geht …«

»Tut es.« Ich spiele das alles ein bisschen herunter. Meine Mom muss nicht wissen, wie sehr mich die Begegnung aus der Bahn geworfen hat. Es ist, als wäre kaum Zeit vergangen. All die Gefühle von früher kehren plötzlich zurück, die guten und die schlechten. Und sie verwirren mich. Weil ich dachte, dass ich schon damit abgeschlossen hatte. Aber vielleicht ja doch nicht … Dieser Gedanke bringt mich zurück in die Gegenwart. Und zum ersten Mal in den letzten Minuten fällt mir Dylan ein. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippe, weil mein Freund erst jetzt wieder in meinem Kopf auftaucht. »Mir geht es gut mit Dylan.«

»Ja, Dylan …« Sie spricht seinen Namen komisch aus, wie immer. Sie mag ihn nicht, aber das ist ja auch ganz unerheblich, weil ich ihn mag. Oder liebe ich ihn? Ich mag ihn. Sehr. Ja, mögen ist das richtige Wort.

Ich schaue auf meine Uhr. »Ich muss jetzt auch los, Mom. Ich bin auf dem Weg zu einem Termin.«

»Kommst du zu Dads Geburtstag?«

Schon immer fand ich es komisch, dass sich meine Eltern mit Mom und Dad ansprechen. Sie haben schließlich auch Vornamen, aber sie beide mögen es so und bleiben dabei.

»Natürlich, Mom«, verspreche ich und lege nach einer kurzen Verabschiedung auf.

Ich liebe meine Eltern, wirklich, aber manchmal ist es schon nervig, wenn sie immer wie das gute Gewissen über mir schweben. In solchen Momenten wünsche ich mir eine tiefgreifende Entfremdung … Ach, nein. Auch wenn ich manchmal am liebsten vor ihnen davonlaufen würde, würde ich doch nie auf sie verzichten wollen.

Cade

Avery fucking McIntyre. Meine Avy. Nein, korrigiere ich mich sofort, nicht meine. Meine ist sie schon lange nicht mehr. Ich habe sie von mir gestoßen, bin gegangen. Mit den Fingern fahre ich mir durch die Haare, während ich planlos die Straße hinunterlaufe.

Sie sah gut aus. Nicht wie diese aufgebrezelten Tussis, sondern wie … Avery eben. Ihre Frisur ist anders. Sie hatte immer glatte Haare, jetzt waren sie verwuschelt, aber wunderschön und wild. Nein! Denk nicht so über sie! Das ist lange vorbei.

Ihre stahlgrauen Augen, die eigentlich kalt aussehen sollten, haben warm und herzlich gestrahlt. Wie damals. Sie ist so anders und gleichzeitig auch nicht. Sie ist erwachsener geworden, und irgendwie auch weicher. Weiblicher.

Sie zu verlassen war das Schlimmste, was ich in meinem Leben je getan habe, und heute, zwölf Jahre später, frage ich mich immer noch, ob das die richtige Entscheidung gewesen ist oder ob ich das Beste, was mir je passiert ist, für nichts und wieder nichts weggeworfen habe.

Ich weiß nicht, wo ich hinlaufe, aber es ist auch egal. Nur weg. Weg von ihr.

Das Stechen in meiner Brust kommt mir vertraut vor – sie fehlte mir die ganze Zeit, aber der Schmerz war abgestumpft, war nur noch dumpf. Nun ist er wieder entflammt, als wäre die Trennung erst gestern geschehen. Wie verrückt das Leben manchmal ist … und wenn ich ehrlich mit mir bin, wollte ich gar nicht gehen. Ich wollte sie in meine Arme ziehen, sie küssen, bis ihr schwindelig wird. Wollte hören, wie sie meinen Namen sagt. Wenn sie ihn aussprach, klang er immer besser als bei allen anderen. Aber dann haben meine Beine ein Eigenleben begonnen und mich von ihr weggeführt. Von ihr. Wieso, ist mir immer noch schleierhaft. Eigentlich wollte ich doch mit ihr reden und war sogar irritiert, weil sie nicht von sich erzählen wollte, und dann brach plötzlich wieder alles über mich herein. Ich erinnerte mich an ihren Gesichtsausdruck, als ich mit ihr Schluss gemacht habe. Sie war so … zerstört.

Als ich endlich wieder bewusst meine Umgebung wahrnehme, sehe ich, dass ich in einem kleinen Park angekommen bin. Ich setze mich auf eine Bank, atme tief durch. Ganz ruhig, Mann, sage ich mir. Es ist nur Avy. Nur. Ja, klar. Wen will ich verarschen?

All meine ersten Male habe ich mit ihr erlebt. Die großen ersten Male, den ersten Kuss, den ersten Sex, den ersten Herzschmerz, aber auch all die kleinen. Das erste Mal vom Dreimeterbrett springen. Das erste Mal Poker spielen. Das erste Mal das Gefühl haben, dass man der wichtigste Mensch für jemanden ist …

Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie, vergrabe mein Gesicht in den Händen und atme ihren Geruch ein, der noch immer wie eine Erinnerung an ihnen haftet. Sie riecht immer noch nach Zitronen. Alle meine guten Erinnerungen sind von diesem einen Duft begleitet, dem Duft nach Zitronen.

»Nicht so schnell«, jammerte Avery, aber ich zog sie hinter mir her. An der Ecke wartete der Eiswagen. Meine Mom lief langsam hinter uns her. Ich wusste, wenn ich mich umdrehte, würde sie mich anlächeln, weil ich Avy seit mehr als einem Jahr kaum aus den Augen und von den Händen gelassen hatte.

Ungeduldig standen wir vor dem Wagen, und der nette Mann beugte sich zu uns. »Na, was wollt ihr?«

Ich schaute Avy fragend an. Ihre Augen leuchteten, als sie sagte: »Zzzitrone.« Sie lispelte. Ich grinste, nahm auch Zitrone, und Mom bezahlte für uns.

Als wir drei Schritte gegangen waren, fiel ihr Eis auf den Boden. Sie schaute mich entsetzt an, ihre Unterlippe fing an zu zittern, die schönen Augen füllten sich mit Tränen.

Ich reichte ihr mein Eis, und auf ihrem Gesicht ging die Sonne auf.

»Danke«, murmelte sie, leckte an meinem Eis, bevor sie es mir hinhielt und wir gemeinsam die Kugel verspeisten. Meine Mom lief hinter uns, und ich wusste, dass sie lächelte, weil ich alles für Avy tat. Und Avy für mich.

Kapitel Zwei

Avery

Als ich abends nach Hause komme, sitzt Mr. Spock maunzend an der Tür. Sie kann es gar nicht leiden, wenn ich den ganzen Tag unterwegs bin. Ich habe die Katze von meinen ehemaligen Nachbarn in Los Angeles, deren dreizehnjähriger Sohn sie Mr. Spock nannte, wahrscheinlich als Ausdruck der Rebellion gegen gängige Klischees und die Festlegung von geschlechtlichen Rollen und Erwartungen. Oder vielleicht einfach nur, weil er es witzig fand.

Ich nehme sie hoch und genieße, dass sie ihr Köpfchen an meinem Gesicht reibt.

»Na, meine Kleine. Hast du mich vermisst?«, murmele ich, während ich sie in die Küche trage. Sie schnurrt mich glücklich an und beginnt mit ihren Vorderpfoten auf meinem Arm rumzukneten.

Ich setze sie auf die Arbeitsplatte und öffne eine Dose Futter. Anschließend beuge ich mich runter, um ihren Napf zu füllen, und wie jeden Abend springt sie auf meinen Rücken. Sie macht es sich dort bequem und rollt sich zusammen.

»Spocky, runter von mir«, sage ich, auch wie jeden Abend. Dies ist ein gut einstudierter Sketch. Denn je mehr ich versuche, sie abzuschütteln, desto fester krallt sie sich an meiner Kleidung und – aua! – an meiner Haut fest. Am Ende richte ich mich einfach auf, sie rutscht an mir herunter und landet auf dem Boden. Und meine Bluse hat ungefähr tausend Fäden gezogen.

Beleidigt dreht sie mir den Rücken zu und macht sich über ihr Fressen her. Undankbare kleine Kröte, denke ich, während ich den Kühlschrank öffne. Ich mache mir ein Sandwich mit Marmelade und Erdnussbutter, gieße mir ein Glas Wein ein und setze mich mit einem Stapel Magazine auf die Couch.

Ich arbeite als Redakteurin für ein Lifestylemagazin, was bekanntlich der neumodische Begriff für Klatschblatt ist. Ich bin für die Rubrik Was gibt’s Neues? zuständig. Das kann alles sein, von einem besonderen Küchenutensil und einem neuen Megabestseller, bis hin zu einem neuen Gesetz oder einer hippen Show. Ich gebe zu, das mit dem Gesetz kommt nicht so häufig vor, immerhin sind wir ein Frauenmagazin. Damit will ich nicht sagen, dass Frauen sich nicht für Politik interessieren, aber diese Frauen lesen dann wohl eher selten unser Blatt. Theoretisch jedoch darf ich über alles schreiben, was ich will.

Bis es von meiner Chefin abgesegnet wird. Oder auch nicht. Sie ist da eher, sagen wir, konservativ. Sie glaubt, in so ein Magazin wie unseres gehören Unterhaltungsthemen, und nur weil Occupy Wall Street wieder einmal die Schlagzeilen ziert, müssen wir nicht unbedingt auch darüber schreiben. Aber meist lässt sie mir freie Hand. Ob ich über einen neuen Supervibrator oder einen hippen Künstler aus Boston schreiben will, interessiert sie nicht.

Ich mag nicht den anspruchsvollsten Job der Welt haben, aber ich liebe ihn. Es gefällt mir, skurrile neue Dinge zu finden, unentdeckte Künstler zu unterstützen oder die neusten Eissorten des Sommers durchzuprobieren. Und dass ich nicht immer über gesellschaftlich relevante Themen schreiben darf … nun ja, man kann nicht alles haben, oder?

Ich blättere durch die Zeitschriften und knicke Eselsohren an Stellen, die ich interessant finde und später noch mal nachlesen möchte. Nach einigen Minuten hat mir Mr. Spock verziehen und kuschelt sich auf meine Beine. Aufdringlich bettelt sie um Aufmerksamkeit, die sie – natürlich – auch bekommt. Schließlich ist eines ganz klar: Ich bin nicht der Boss hier. Das verdeutlicht sie mir, als ich versuche, aufzustehen, um mir noch ein Glas Wein zu holen. Als ich ihre Krallen aus meiner Hose gezogen habe, ist diese voller Löcher. Irgendwas muss ich falsch machen, andere Menschen haben doch auch Katzen und eine tadellose Garderobe.

Nachdem ich mir noch einen Schluck Rotwein eingeschenkt habe, starre ich in die dunkle Flüssigkeit in meinem Glas. Cade. Die Begegnung heute war wie ein Schlag in die Magengrube.

Er war so lange ein Teil meines Lebens. Ich dachte, er wäre der Eine. In Gedanken hatte ich schon Hochzeitskleid und Babystrampler ausgesucht. Okay, ich war erst achtzehn, aber zu diesem Zeitpunkt kannte ich ihn schon fünfzehn Jahre. Er war immer mein bester Freund, derjenige, auf den ich mich zu einhundert Prozent verlassen konnte. Er war mein Erster in jeder Weise, und ich wollte, dass er auch mein Letzter ist. Und alle dazwischen. Ich … ich hatte mir niemals vorstellen können, dass wir mal so enden würden. Er und ich, nicht zusammen, sondern getrennt.

Ich trinke einen Schluck, kraule Spocky, die wieder bei mir ist, hinter den Ohren und ignoriere den nervös zuckenden Schwanz, der anzeigt, dass ihre Stimmung gleich umschlagen wird.

Vor etwa sieben Jahren habe ich mal versucht ihn zu googeln, aber Cade Turner ist ja eher ein Allerweltsname. Ein Handy hatte er früher nicht, und ich wusste, dass er nicht mehr bei seinem Vater zu Hause wohnte. Das Haus meiner Eltern liegt seinem gegenüber, und daher sehe ich Mr. Turner immer dann, wenn ich meine Eltern in Irvine, meiner beschaulichen Heimatstadt in Kalifornien, besuche. Was, ehrlich gesagt, früher wesentlich häufiger vorkam. Ich bin ganz in der Nähe auf die UCLA gegangen. Dann habe ich für zwei Magazine in Los Angeles gearbeitet, bevor ich diesen Wahnsinnsjob angeboten bekam. Hier in Boston, am anderen Ende des Landes. Seitdem war ich noch nicht wieder zurück in Irvine. Aber ich fliege bald zum Geburtstag meines Vaters. Ich kann es nicht erwarten, meine Eltern wiederzusehen. Vielleicht auch ein paar Freunde.

Und neben einer Auffrischung, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlt, bekomme ich jetzt auch noch Heimweh. Na toll!

Wie bekämpft man ein emotionales Tief? Mit mehr Wein. Als die Flasche leer ist, bemerke ich, dass das gar keine gute Idee war, denn jetzt bin ich noch trauriger. Oder vielleicht war es doch die Lösung, denn die vielen Tränen machen müde, und ich schlafe auf der Couch ein.

»Du musst Avery sein«, sagte die Lehrerin lächelnd. Es war mein erster Schultag, aber für alle anderen hatte dieser bereits vor drei Wochen stattgefunden. Ich aber hatte Scharlach gehabt. Sechs Wochen lang musste ich das Bett hüten.

Vor Angst zitterten mir die Knie. Alle kannten sich bereits, nur ich war die Neue und kannte fast niemanden. Ich schaute durch die Klasse, sah die Jungs und Mädchen und blieb an karamellfarbenen Augen hängen, die mich belustigt anschauten. Einen kannte ich doch. Cade.

»Möchtest du dich neben Danielle setzen?«, fragte mich die Lehrerin, Ms. Hammond.

Ich schüttelte den Kopf. Obwohl es mir Angst machte, griff ich nach den Trägern meines Rucksacks, hielt mich an ihnen fest und marschierte durch die ganze Klasse, bis ich neben Cade stand. Er grinste, als ich mich neben ihn setzte.

»Ich hab dir den Platz freigehalten, Avy«, sagte er mir leise ins Ohr.

Die Klasse tuschelte, bis Ms. Hammond um Ruhe bat. Immer wieder wurden uns Blicke zugeworfen.

In der Pause gab ich ihm mein Pausenbrot, Schinken und Käse, und er gab mir seins, Erdnussbutter und Marmelade. Er wusste, wie sehr ich diese Kombination liebte, und grinste, als ich hineinbiss.

»Wieso magst du mich nicht?«, fragte ein kleines Mädchen, als ich vor der Klingel noch schnell auf die Toilette huschte.

Verwundert schaute ich sie an. »Tut mir leid«, murmelte ich. »Wie heißt du noch mal?«

»Danielle. Du wolltest nicht neben mir sitzen«, sagte sie anklagend.

»Das hatte nichts mit dir zu tun, aber Cade ist mein bester Freund«, erklärte ich.

Im Nu änderte sich ihre Haltung. »Wirklich? Er ist so süß.«

Süß? Cade? Ich zuckte mit den Schultern. Ich war sechs. Mich interessierte, dass er gut darin war, die Leiter zu meinem Baumhaus hoch- und runterzuklettern, dass er manchmal bis in die Krone des Baumes stieg, um mir die letzten Kirschen zu pflücken. Mich interessierte, dass er nicht so lange unter Wasser tauchen konnte wie ich. Mich interessierte, dass er mit mir sein Sandwich tauschte. Aber ob er süß war? War mir egal. Er war mein Freund. Mein bester Freund.

»Findest du ihn nicht süß?«, fragte sie.

»Er ist Cade.«

»Ja, Cade«, schmachtete sie, und ich fragte mich, warum sie so komisch redete. Er war doch nur ein Junge.

»Er ist okay für einen Jungen«, sagte ich.

Sie schaute mich an und schien sich einen Ruck zu geben. »Dann geht ihr nicht miteinander?«

»Gehen? Doch, wir gehen immer zusammen nach Hause.«

Sie kicherte. »Nein, das meine ich nicht. Ich meine … küsst du ihn?«

»Igitt! Echt jetzt? Bäh!« Ich konnte gar nicht angeekelt genug gucken.

Sie grinste zufrieden. Und ich wusste nicht, wieso.

Ein paar Tage später kam Danielle dann wieder zu mir und fragte: »Gibst du ihm diesen Brief?«

Ich nickte und steckte ihn in die Tasche.

Als ich neben Cade im Klassenzimmer saß, schob ich den Brief zu ihm rüber. Er schaute mich verwundert an, bevor er ihn öffnete.

Willst du mit mir gehen? Ja, Nein, Vielleicht.

»Wohin will sie mit dir gehen?«, fragte ich ihn leise.

Man sah ihm an, dass er das Lachen zurückhielt, weil ich mich mal wieder als kleines Naivchen outete. »Sie will meine Freundin sein.«

Ich schaute ihn zweifelnd an. »Aber ich bin deine Freundin.«

Er grinste. »Sie will meine Hand halten.«

Verrückte Leute … »Wieso?«

»Das machen Freunde.«

»Wir machen das nicht.«

Er grinste und zeigte dabei seine Zahnlücke, was ihm einen sehr frechen Ausdruck verlieh. »Wir sind nicht solche Freunde.«

»Woher weißt du das alles?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hat mir Jeremy erzählt.«

Jeremy, ein Junge aus der Nachbarschaft und so was wie ein Halbgott, weil er immerhin schon neun war, musste es schließlich wissen. Ich nickte also, als wären seine Worte die pure Weisheit.

»Und willst du sie als Freundin?«

Er kreuzte Nein an. »Ich hab doch schon dich.«

Cade

»Hey«, sage ich, als ich am Abend in das schicke Restaurant komme, in dem meine Freundin Melinda bereits auf mich wartet.

Sie schaut mich missbilligend von oben bis unten an. »Wolltest du nicht einen Anzug anziehen?«

Ich beuge mich zu ihr, will sie auf die Lippen küssen, aber sie hält mir die Wange hin. Diese High-Society-Begrüßung hasse ich. Ich will meine Freundin nicht nach irgendwelchen Regeln küssen müssen, sondern so, wie es uns gefällt. Aber etwas Gutes hat ihre kühle Begrüßung auch. Ich muss mir wohl keine Sorgen machen, dass wir uns heute nahekommen. Irgendwie fände ich das komisch, wenn mir noch immer eine andere Frau im Kopf herumspukt.

»Entschuldige die Verspätung«, sage ich und blicke an mir herunter auf meine Jeans und die Sneaker, »und den Aufzug. Ich hatte keine Zeit mehr zum Umziehen.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Du bist der Einzige, der mit Turnschuhen in ein Fünf-Sterne-Restaurant geht.«

»Danke.« Ich schenke ihr mein Markenzeichen-Lächeln, das mir schon so manche Tür geöffnet hat, rein beruflich, meine ich natürlich.

»Das war kein Kompliment«, antwortet sie unbeeindruckt.

Wieso bin ich mit der einzigen Frau zusammen, die mir widerstehen kann? Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Obwohl … Herausforderungen haben mich schon immer magisch angezogen. Melinda ist wunderschön auf eine kühle Art, was mir sehr gefällt. Sie ist niemand, den man auf den ersten Blick liebt, aber sie wächst einem ans Herz, wenn man sie kennenlernt. Dann erkennt man, wie sie unter der rauen Schale wirklich ist. Leidenschaftlich, großzügig, hart arbeitend für die, die sie liebt. Sie versetzt Berge, wenn das ihrer Familie und ihren Freunden nützt. Manchmal nervt mich ihre High-Society-Art, aber ihre guten Seiten überwiegen die negativen. Bei Weitem. An jedem anderen Tag bin ich mir bewusst, dass ich eine tolle Frau an meiner Seite habe. Nur heute … heute habe ich ja die eine Frau getroffen, die als Maßstab für alle gilt.

Ich setze mich auf den Stuhl neben sie, was sie hasst, weil man das so nicht macht. Aber ich mag es, denn dadurch sind wir uns näher. Heute würde ich allerdings gerne ein wenig Abstand zwischen uns bringen, da ich befürchte, dass sie meine Gedanken lesen kann, die sich nicht um sie drehen. Allerdings kann ich mich schlecht auf die andere Seite setzen, weil sie dann wissen würde, dass etwas nicht stimmt. Ich streichele ihr über die Hand, bevor ich nach dem Menü greife, das bereits am Platz liegt.

»Wie war dein Tag?«, frage ich sie.

Melinda ist die Tochter eines Kongressabgeordneten von Massachusetts. Früher hat ihr Vater eine Bank geleitet, Geld hat also nie eine Rolle in ihrer Familie gespielt. Die meisten würden denken, dass Melinda von Beruf hauptsächlich Tochter ist. Und das stimmt auch zu einem gewissen Teil. Aber nur, weil man kein Geld für seine Arbeit bekommt, heißt es nicht, dass man nicht auch hart arbeitet. Gemeinsam mit ihrer Mutter engagiert sie sich für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, ist in Clubs und Vereinen tätig und leitet das Wahlkreisbüro ihres Vaters gemeinsam mit Lewis Vaughan. Aber ihre eigentliche Sternstunde wird kommen, wenn ihr Vater sich wieder im Wahlkampf befindet.

»Sie versuchen im Kongress ein paar der Gesetze zurückzunehmen, die nach der Lehman-Pleite verabschiedet wurden. Den ganzen Tag haben Leute angerufen, die dagegen sind. Aber ich bitte dich … Das ist nun mal unser System. Kapitalismus und Demokratie. Wenn wir unsere Unternehmen daran hindern, Gewinne zu machen, schaden wir der gesamten Wirtschaft.«

Wieder einmal macht es sich Melinda sehr leicht, aber ich habe schon früh erkannt, dass es sich nicht lohnt, mit ihr – oder ihrer Familie – über Politik zu diskutieren. Zum einen wissen sie eh alles besser, und zum anderen ändern sie niemals ihre Meinung. Schon gar nicht, wenn Daddy sie als sakrosankt ausgibt.

»Hm«, mache ich, weil ich gerade überlege, ob ich das Steak lieber mit Kartoffelpüree oder mit Pommes möchte.

»Du könntest ein bisschen mehr Interesse heucheln«, gibt sie eisig zurück.

Ich blicke auf. »Hey, entschuldige. Ich war abgelenkt. Ich finde deinen Job interessant und wichtig.«

»Ja, natürlich.«

»Doch, wirklich. Es ist nur so, dass wir da unterschiedlicher Meinung sind.«

Sie lacht spöttisch auf. »Natürlich. Du kommst ja aus Kalifornien.« Sie stellt dies fest, als wäre das ansteckend.

»Na ja, Neuengland ist auch nicht unbedingt eine republikanische Hochburg«, gebe ich zurück.

Was wieder die falsche Antwort war. Ehrlich gesagt, weiß ich das auch, aber es ärgert mich auch nach zwei Jahren noch, dass sie so hochnäsig reagiert, wenn es um meinen Heimatstaat geht. Ja, sicher, wir sind ein bisschen mehr Hippie, ein bisschen weniger Geldadel, aber das macht mich aus.

»Ich weiß wirklich nicht, was heute mit dir los ist«, sagt sie, nachdem sie beim Kellner den Salat mit dreiundfünfzig Änderungen bestellt hat.

Was heute mit mir los ist? Avery ist mit mir los. Sie ist nach so vielen Jahren urplötzlich wieder in mein Leben geschneit, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich hatte die Erinnerungen in irgendeine hintere Ecke meines Gehirns verbannt, sie in eine Schublade gestopft, die ich mit zwanzig Schlössern verschlossen habe. Wann immer der Gedanke an sie auftauchte, habe ich mich gewehrt, weil ich nicht wollte, dass sie sich wieder einnistet, aber kaum stehe ich ihr gegenüber, ist jede meiner Verteidigungslinien überrannt, als gäbe es sie gar nicht.

»Keine Ahnung, Sweetheart. Tut mir leid. War ein harter Tag.«

Melinda lächelt, aber es fehlt die Wärme, die sie sonst für mich reserviert hat. »Das verstehe ich. Dann lass uns jetzt einfach vergessen, dass wir beide einen anstrengenden Tag hatten, und den Abend genießen.«

Sie hebt ihr Weinglas, und ich proste ihr zu. Vergessen. Ich wünschte, ich könnte vergessen …

Avery

Am nächsten Morgen rächt es sich, dass ich im Suff auf der Couch eingeschlafen bin. Mir tut alles weh. Meine Augen sind zugeklebt, und mein linkes Bein ist eingeschlafen, weil offensichtlich eine Katze die ganze Nacht auf selbigem geschlafen hat. Dieses kleine Monster!

Ich rappele mich auf, tapse in die Küche und mache mir einen Becher Kaffee, obwohl ich eigentlich eine Gießkanne voll brauchen würde, aber man kann ja nicht alles haben.

Ich dusche und ziehe mich an. Während ich meine Chucks zuschnüre, klingelt mein Telefon. Ich schaue aufs Display und setze ein strahlendes Lächeln auf.

»Dylan«, rufe ich erfreut ins Telefon.

»Hi, Love«, erklingt seine tiefe Stimme mit dem wunderbaren britischen Akzent. Eine Tonlage, die in mir normalerweise sofort Verlangen auslöst, aber heute keinen solchen Effekt auf mich hat.

»Wie geht es dir? Wann kommst du wieder? Ich vermisse dich!«, sprudelt es aus mir raus. Ich versuche die ausbleibende körperliche Reaktion mit umso mehr Enthusiasmus auszugleichen.

Er stutzt einen Moment. »Alles okay bei dir?«

Mist. Er kennt mich wohl schon zu gut. »Ähm, ja, klar. Alles okay. Nur wahnsinnig viel zu tun mit dem Magazin. Du weißt schon, neue Ausgabe und so.«

»Du hörst dich merkwürdig an, Avery.«

Und jetzt sagt er auch noch Avery … Das sagt er nur, wenn irgendwas im Busch ist. »Nein, alles super. Ich … nun ja … hab gestern eine Flasche Roten getrunken.« Ich schließe die Augen. Dylan hasst es, wenn ich Alkohol trinke.

»Wieso?« Er klingt irgendwie enttäuscht.

»Ich hab mit meiner Mom telefoniert und …«

»Dann ist ja alles klar«, sagt er mit abfälliger Stimme. Die Antipathie ist definitiv beidseitig.

Bei den beiden fühle ich mich immer wie zwischen zwei Stühlen, weiß nicht, was ich darauf antworten soll, wie ich mich verhalten soll. Also schweige ich.

Am anderen Ende der Leitung höre ich Papiere rascheln. »Ich weiß, es geht mich nichts an …«, beginnt er, und ich frage mich unwillkürlich, was jetzt kommt. »Du bist erwachsen, und wenn du was trinken willst, kannst du das natürlich. Nur weil ich nichts trinke, musst du nicht drauf verzichten.«

In mir breitet sich ein schlechtes Gewissen aus, das sich gewaschen hat. Ich weiß von seinem Alkoholikervater, weiß von seinen eigenen Exzessen als Teenie, die ihn mehr als einmal ins Krankenhaus gebracht haben. Seit er dreiundzwanzig ist, hat er weder getrunken noch geraucht oder irgendwelche Drogen konsumiert. Das ist zehn Jahre her, aber er hat immer noch keine Toleranz für Menschen entwickelt, die gern mal ein Glas Bier oder Wein trinken. Vielleicht kann er das durch die Schrecken seiner Vergangenheit auch nicht, aber es macht unser gesellschaftliches Leben nicht einfacher, weil er nicht gerne in Bars und Restaurants geht – oder in andere Lokalitäten, in denen Alkohol ausgeschenkt wird.

»Ich …« Was soll ich darauf sagen? »Es tut mir leid.« Nicht wirklich, aber manchmal ist es einfacher, so zu tun, oder?

»Schon gut.« Er hört sich nicht so an, als würde er mir verzeihen. »Ich bin in drei Tagen wieder da.«

»Das ist schön. Schickst du mir deine Ankunftszeit? Dann hole ich dich ab.«

»Ich komm mit dem Taxi, mach dir keine Umstände. Ich bin nach dem Flug eh kaputt und will nur schlafen.«

Ähm. »Bestrafst du mich gerade?«

Er klingt ertappt, als er sagt: »Nein, Ave… äh … Love. Schau, ich brauch nach dem langen Flug eine Dusche und ein bisschen Schlaf. Wir sehen uns am Tag darauf.«

»Okay«, sage ich, versuche die Traurigkeit aus meiner Stimme zu verjagen, schaffe es aber nicht ganz.

»Okay. Ich freu mich, dich wiederzusehen.« Er schickt mir einen Kuss durchs Telefon.

Wir sind noch nicht in der Phase, in der wir uns »Ich liebe dich« sagen. Wir haben uns vor fünf Monaten kennengelernt. Meine Mutter hatte für mich ein Profil bei einer Online-Dating-Seite angelegt, damit ich nicht so alleine in Boston bin. Diese Vorstellung hat ihr tatsächlich großen Kummer bereitet. Statt mir aber Freundinnen zu suchen, hat sie die Gelegenheit am Schopf gepackt und mich in die aufregende Welt des organisierten Datings gestoßen. Mit Dylan. Den sie aber gar nicht leiden kann. Sie kennt ihn eigentlich nicht, doch sie findet, dass er nicht zu mir passt. Weil er nicht Cade ist. Aber niemand ist Cade.

Kapitel Drei

Avery

Ich sitze im wöchentlichen Meeting. Für jede Ausgabe von Women’s Life gibt es vier Planermeetings. Beim ersten werden die Beiträge festgelegt, beim zweiten schauen wir, ob wir alles schaffen oder ob wir noch anderes Material brauchen, beim dritten und vierten versuchen wir die Hindernisse auszuräumen, die sich oftmals wie Gebirge vor uns auftürmen. Dazwischen gibt es jede Menge andere Meetings, mit dem Layout, dem Bildredakteur, den Fashionexperten, den Fotografen, den Redakteuren der einzelnen Themenschwerpunkte und noch viele mehr. So viele, dass ich froh bin, dass ich damit nichts zu tun habe, sondern weitestgehend in Ruhe arbeiten kann.

»Uns fehlt noch ein Artikel«, sagt Giselle, unsere allseits gefürchtete, aber ebenso geliebte Chefin. Ihr Blick richtet sich auf mich. »Avery.«

»Nein.«

Sie lächelt leicht. »Doch. Du schreibst uns einen schönen Artikel zu einem kontroversen Thema.«

Innerlich stöhne ich. »Was meinst du mit kontrovers?«

Sie tippt sich gegen die Lippen. »Zehn Gründe für Morgensex.«

Ich verdrehe die Augen. »Oh, bitte! Kann ich denn nicht über diese neue Ausstellung …?«

»Nein. Zehn Dinge, die Sie über sein bestes Stück wissen sollten.«

»Ich hätte da auch noch was zu diesem neuen Immobilien…«

»Nein. Zehn Geheimnisse Ihrer Vagina.«

»Giselle …«, jammere ich.

Sie grinst mich an. »Auf keinen Fall. Solange da nicht das Wort zehn drin vorkommt, nehme ich deine Vorschläge nicht ernst.«

»Zehn Gründe, jetzt ein Haus zu kaufen?«

Um mich herum ertönt belustigtes Gemurmel. Giselle lacht nur. »Ich finde die zehn vaginalen Geheimnisse am besten. Und ihr?«, fragt sie in die Runde. Zustimmendes Nicken. Sie schaut mich zufrieden an. »Dann begib dich mal auf … Selbsterfahrung.«

Das Gelächter um uns schwillt an, es versucht gar keiner mehr, es zu vertuschen. Na toll. Jetzt glauben meine Kolleginnen, dass ich die nächsten Tage mit Masturbieren verbringe.

Langsam gehe ich an meinen Platz zurück, mache den Mac an und schaue auf die weiße Seite mit dem Google-Logo. Ich weiß nicht mal, welches Wort ich googeln will. Oder welche Kombination. Ich tippe einfach mal den vorgesehenen Titel des Artikels ein und wundere mich, dass mehr als eine Million Ergebnisse ausgespuckt werden.

Es gibt zehn geheime Vaginafakten und neun unglaubliche Fakten zur Vagina. Nicht zu vergessen die zehn lustigen Fakten und die sieben Geheimnisse, die jede Frau kennen sollte. Ich klicke auf die Links, und es dauert nicht lange, bis ich mich festgelesen habe. Ha! Wie gut, dass dies Recherche ist.

Ich stoße auf ein Buch namens G-spot and friends von Dr. Leonora Rosenbaum und rufe sie an. Schließlich ist es immer gut, sich nicht einfach was aus den Fingern zu saugen, sondern Experten zu befragen. Sie beantwortet alle meine Fragen, schickt mir ein Exemplar ihres Buches zu, erlaubt mir, sie im Artikel zu zitieren, und empfiehlt weitere Experten.

Vielleicht, ganz vielleicht ist dieser Artikel ja doch nicht so schlimm.

»Avery, könntest du mir einen Gefallen tun?«, fragt Giselle hinter mir.

Ich zucke zusammen, als ich ihre Stimme höre. »Schleich dich nicht so an!«

Sie beugt sich vor. »Ach, wirklich?«, fragt sie interessiert. »Man sollte den Tag mit einem Orgasmus starten?«

Ich drehe mich zu ihr um und blicke sie misstrauisch an. »Was kann ich für dich tun?«

Sie wirkt etwas unsicher. »Ich habe dich noch nie Kaffee holen geschickt.«

Ich nicke. »Das ist wahr.« Allerdings weiß ich nicht so ganz, worauf sie hinauswill.

»Du musstest nie Klamotten für mich von der Reinigung abholen.«

»Das stimmt.«

»Ich habe nie verlangt, dass du irgendwelche Hilfskraftarbeiten erledigst.«

»Was soll ich tun?«

»Ich habe jetzt gleich ein Meeting, daher kann ich es nicht selber machen. Ich frage dich nur ungern, aber es bleibt mir keine Wahl. Du musst es auch nicht tun, das hat keinerlei Einfluss auf deinen Job. Versprochen.«

»Du bist ja richtig aufgeregt«, stelle ich amüsiert fest.

»Ich bin keine von diesen Chefinnen, die ihre Mitarbeiter versklaven wollen.«