Limonadenträume - Annie Stone - E-Book
SONDERANGEBOT

Limonadenträume E-Book

Annie Stone

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus den Augen verloren, wiedergefunden und doch den Neuanfang verpasst: Avery kann nicht glauben, dass ihre Sandkastenliebe Cade ihr ein weiteres Mal das Herz bricht. Verzweifelt zieht sie sich in ihre Heimat Kalifornien zurück. Doch am Ort ihrer Kindheit lassen die Erinnerungen sie nicht los. Tief in ihrem Herzen weiß Avery genau, dass es immer nur den Einen für sie geben wird. Aber wie viele Chancen kann die Liebe noch vertragen?

Der zweite Teil der süßesten Liebesgeschichte, seit es Limonade gibt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 415

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Avery ist sich sicher, dass ihre Jugendliebe Cade sich für sie entscheiden wird. Doch es kommt alles ganz anders. »Cade war ja nicht nur mein fester Freund, er war auch mein bester Freund. Und das war beinahe der größere Verrat. Auch wenn man es romantisiert – was ich auf jeden Fall tue! –, beweist die Statistik, dass man wohl nicht mit seinem ersten festen Freund gemeinsam alt wird. Den besten Freund aber kann man sein Leben lang haben. Klar lässt sich das in unserem Fall nicht trennen, aber was Cade mir als seiner besten Freundin angetan hat, war schlimmer als das, was er mir als seiner festen Freundin angetan hat. Wir waren noch nicht so lange ein Paar, aber wir waren schon ein ganzes Leben lang Freunde.«

Zur Autorin

Annie Stone, geboren 1981, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete als Fraktionsgeschäftsführerin in einem kommunalen Parlament in NRW, bevor sie diesen Job für ihre Leidenschaft, das Schreiben, aufgab. Mittlerweile ist sie erfolgreiche Selfpublisherin in den Genres Liebesroman und Historischer Roman.

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2019 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: FinePic / München Lektorat: Anna Hoffmann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745750188

www.harpercollins.de Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

Kapitel 1

Cade

»Melinda hat mich daran erinnert, was wir gemeinsam haben, was wir gemeinsam für unsere Zukunft geplant haben. Ich kann das nicht wegwerfen. Nicht für eine reine Möglichkeit. Was, wenn wir nicht mehr zueinanderpassen? Es tut mir leid, aber ich kann nicht.«

Als ich diese Worte ausspreche, hasse ich mich. Schlimmer noch, ich kann sehen, dass auch Avery mich in diesem Augenblick hasst. Ihre wunderschönen grauen Augen sind vor Schock noch größer geworden, als sie es normalerweise sind. Sie kann es nicht fassen, dass ich ihr das antue. Ich will ihr sagen, dass auch mein Herz bricht. Dass die letzten Wochen mit ihr die schönsten waren, die ich seit unserer gemeinsamen Teenagerzeit erlebt habe. Dass es der größte Fehler meines Lebens ist, ihr dies zu sagen.

Aber ich kann nicht. Sie muss es glauben, denn sonst würde sie nicht gehen.

Sie greift nach ihrer Tasche und ihrer Jacke, schmeißt eine Vase mit Blumen um und stürzt aus dem Café, in das ich nie wieder kommen kann. Mein Lieblingscafé, und nun ist es mit all diesen düsteren Erinnerungen besudelt.

Bevor Avery an der Tür ist, trete ich ans Fenster. Melinda steht draußen und beobachtet uns, aber egal, was sie denken mag, ich muss noch einen Blick auf Avery werfen. Auf meine große Liebe, der ich ein Messer ins Herz gerammt habe.

Sie steht einen Moment auf dem Bürgersteig, starrt Melinda an, bevor sie ihre Jacke anzieht, ihre Tasche über die Schulter hängt und vollkommen ruhig die Straße entlanggeht. Einen Augenblick frage ich mich, ob es ihr tatsächlich nichts ausmacht, aber dann sehe ich das winzige Zittern in ihrem Schritt. Mir läuft eine Träne die Wange hinunter. Sie ist das Beste in meinem Leben. Sie war es schon immer.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Melinda ins Café kommt. Sie stellt sich halb vor mich und beäugt mich kritisch. Als sie die nassen Tränenspuren auf meinen Wangen sieht, wird ihr Blick hart.

»Ich weiß wirklich nicht, wieso ich mich mit dir rumärgere.«

Gerne würde ich erwidern: Dann lass es doch, aber stattdessen sage ich: »Lass uns gehen.«

Melinda sieht sich im Café um und rümpft die Nase. »Hier gehst du immer hin? Es kommt mir ein wenig … nun ja … abgewrackt vor.«

»Nicht alles muss fünf Sterne haben, um erfolgreich zu sein. Du hast ja auch keine.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch, bevor sich ein grausames Lächeln auf ihrem Gesicht breitmacht. »Heute lasse ich dir das durchgehen. Aber wenn du von jetzt an immer die beleidigte Leberwurst spielst, hat das Konsequenzen. Sei ein Mann, reiß dich zusammen.«

Leichter gesagt als getan.

Melinda sieht auf die Uhr. »Wir haben noch ein bisschen Zeit.«

»Wofür?«

»Na, wir treffen uns heute mit Mr. Miller zum Mittagessen.«

»Heute? Sag das ab. Ich kann nicht.«

»Was soll ich sagen? Mr. Turner lässt sich entschuldigen, er heult sich die Augen nach seiner Sandkastenliebe aus?«

»Sei nicht so herzlos.«

Sie kommt einen Schritt auf mich zu und streicht über die Knopfleiste meines Hemdes. Innerlich wappne ich mich, um nicht zurückzuzucken und mir den Ekel nicht anmerken zu lassen, den ich verspüre, als sie mich berührt.

»Ich versteh es, okay? Deine Avery ist echt niedlich in ihrer ganzen alternativen Art. Aber das sind doch Dinge, die Kindern und Teenagern wichtig sind. Wir sind mittlerweile erwachsen, und andere Sachen stehen im Fokus. Partnerschaft ist wichtiger als unsterbliche Liebe, gemeinsam Ziele zu erreichen, sich ein Leben aufzubauen, auf das wir beide stolz sein können. Glaub nicht, ich bin herzlos, aber es hängt einfach viel davon ab, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen.«

»Du erpresst mich.«

Ihr plötzlich so spitzer Nagel presst sich wie ein Dolch in meine Brust. »So würde ich das nicht nennen.«

»Und wie würdest du es nennen?«, presse ich hervor, während ich mir vorstelle, dass ihr Finger sich so tief in meine Haut bohrt, bis Blut fließt.

»Ich hatte überzeugende Argumente, denen du gefolgt bist.«

»Unfreiwillig.«

»Ach was. Es ist doch wohl klar, dass ich deinen Kumpels und dir mit dem Start-up nicht mehr helfe, wenn wir nicht mehr zusammen sind. Das kannst du nun wirklich nicht erwarten.«

»Das hast du alles so geplant.«

Sie wiegt den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte. Aber es ist von alleine so unheimlich gut gelaufen.« Bevor ich etwas sagen kann, meint sie: »Lass uns jetzt neu anfangen, okay? Kein Gerede mehr von Erpressung und Schlussmachen und der Vergangenheit, in der du offensichtlich nicht zufrieden warst. Lass uns an die gemeinsame Zukunft denken und daran, uns gegenseitig glücklich zu machen. Denn ich kann dich glücklich machen, Cade, das weiß ich genau.«

Ich habe meine Entscheidung getroffen. Sie hat recht. Es wäre einfach, ihr alles in die Schuhe zu schieben, und auch wenn sie mich mit Sicherheit dazu gedrängt hat, bin ich es doch, der sich entschieden hat. Für meine Zukunft und gegen Avery.

Also nicke ich. »Okay, fangen wir neu an.«

Dieses Mal ist ihr Lächeln echt, und die Krallen haben sich wieder in normale Finger verwandelt. Sie kommt mir entgegen, und ich drücke meine Lippen kurz auf ihre.

»Wollen wir in euer Büro fahren, und ihr zeigt mir noch mal alle Details des neuen Projekts?«, fragt sie und hakt sich bei mir ein.

»Gerne.«

Äußerlich lächele ich, äußerlich tätschele ich ihre Hand, äußerlich halte ich ihr die Tür auf. Aber innerlich zerbröselt die Fantasiewelt, die ich mir aufgebaut habe, von Avery und mir und einer zweiten Chance. Innerlich errichte ich eine starke Mauer um mein Herz, um es zum Schweigen zu bringen. Innerlich schreie ich, dass das alles so unfair ist.

Wir fahren mit Melindas Auto zu unserem Büro. Chris und Mick sind bereits da, was mich bei einem Blick auf die Uhr nicht überrascht. Ich bin echt spät für meine Verhältnisse.

»Hallo«, verkündet Melinda, als sie in dem Raum steht, der so unordentlich ist, dass ich bei jedem Blick ein wenig zusammenzucke. Das Chaos ist ganz sicher nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich brauche sie gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie uns dafür verurteilt, dass sie mich verurteilt.

»Hey«, kommt es semienthusiastisch von Chris und Mick.

»Wollt ihr euch nicht mal nach neuen Räumlichkeiten umsehen, die eurem Status gerecht werden?«

»Welchem Status?«, fragt Chris.

»Na, ihr seid ein aufstrebendes Start-up, ihr sammelt Gelder ein, da müsst ihr auch nach etwas aussehen. So seht ihr …« Sie bricht ab.

»Wie Apple in der ehemaligen Garage aus?«, vollende ich ihren Satz.

Sie lacht auf. »Sehr witzig. Und touché.«

Ich hasse ihr Lachen. Es ist so schrill und gleichzeitig herablassend, snobistisch durch und durch. So lacht die Elite Neuenglands. Averys Lachen dagegen ist lieb und nett und sonnig und durch und durch kalifornisch. Hör auf an sie zu denken, bete ich mir vor.

»Ist was?«, fragt Mick, der ausgerechnet in dem Augenblick zu mir sieht und meinen inneren Tumult offenbar erkennt.

»Was soll sein?«, antworte ich geistreich. »Hey, hört mal. Melinda und ich sind mit Mr. Miller verabredet. Können wir ihr unsere Präsentation zeigen?«, wechsele ich lieber das Thema.

»Klar«, meint Mick, der sofort abgelenkt ist, sobald er über sein Baby, unser neues Onlinespiel, sprechen kann.

Während Mick und Chris Melinda auf den neuesten Stand bringen, setze ich mich an meinen Schreibtisch und checke automatisch die Verkaufsseiten und unsere Downloads. Auch nach mehreren Wochen schlagen wir uns richtig gut. So oft habe ich diese Aufgaben erledigt, dass ich sie im Schlaf kann, was gut ist, denn bei der Sache bin ich nicht.

Wieder und wieder geht mir alles durch den Kopf. Hätte ich anders handeln können? Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten, ich weiß, aber hier schienen mir die Hände gebunden zu sein. Melinda hat mich vor die Wahl gestellt. Entweder Avery oder unsere finanzielle Zukunft. Es ging nicht nur um mich, sondern auch um Mick und Chris und deren Familien. Wenn sie uns den Geldhahn zudreht, dann können wir unser Start-up und damit unsere gesamte harte Arbeit der letzten Jahre vergessen. Und ja, es ist nicht Melinda persönlich, die uns Geld leiht, aber wir haben ja bei Mr. Miller erlebt, wie es läuft, wenn wir es ohne sie versuchen. Nämlich katastrophal. Sie hat das alles so geschickt eingefädelt. Melinda kann mir sagen, was sie will. Ich glaube, dass das ihr Plan war. Mich und uns von ihr abhängig zu machen, als eine Art Versicherung. Sie mag nicht gewusst haben, wofür sie die mal braucht, aber es steckte von Anfang an Kalkül dahinter.

Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Und trotzdem bin ich in ihre Falle getappt.

Avery

Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem schmutzigen Gehweg gesessen habe, während ich Stück für Stück auseinandergebrochen bin. Tausende Splitter liegen um mich herum, jeder so klein, dass man sie unmöglich wieder zusammensetzen kann. Irreparabel zerbrochen. Wenn ein Windstoß käme, würde er die Fetzchen meines Selbst in alle Winkel der Welt tragen, und so würde ich für immer verstreut sein.

Mein Handy klingelt, aber ich reagiere nicht darauf, weil ich nicht kann. Muskeln, Sehnen, Knochen, Haut, all das, was man zum Bewegen braucht, ist nur noch eine schlaffe Masse. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht bewegen. Wie denn auch, wenn die Splitter meines Herzens um mich herum liegen? Wie soll ich an so was Profanes wie mein Handy denken, wenn mein ausgemaltes Leben mit einem Schloss für Cade und Avery in Trümmern liegt?

Wie konnte er mir das antun? Schon wieder! Lerne ich eigentlich jemals dazu?

Ehrlich, ich habe ihm geglaubt. So naiv! So furchtbar naiv. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und wer dir einmal das Herz bricht, der wird es wieder tun. Wie dumm von mir. Männer verlassen ihre Frauen und Freundinnen nicht für ihre Affären. So ein schmutziges Wort, und doch ist es wahr. Oh Gott, es ist so wahr!

Ich bin Cades Affäre gewesen.

Wieder ertönt das Klingeln, wieder ignoriere ich es. Es wird meine Mom sein, die mit ihrem untrüglichen Gespür fühlt, dass ich gerade zerbreche. Aber selbst mit diesem Wissen – oder ist es Glauben? – kann ich nicht drangehen.

Ich bin so dämlich. Avery McIntyre, du bist so dämlich! Wenn das Universum einen Preis für Dämlichkeit vergeben würde, er wäre deiner. Ganz eindeutig.

Mein Humor kommt mal wieder an den unpassendsten Stellen zum Vorschein. Es ist ein Schutzreflex, ich weiß, aber ich wünschte, ich würde nicht versuchen, mich selbst aufzumuntern, denn in diesem Moment ist das aussichtslos. Wie soll man so etwas auch überstehen? Vor allem: Wie soll man es zweimal überstehen, dass der Mann, mit dem man sein Leben verbringen möchte, einen verlässt?

Ich weiß es nicht.

Als das Handy zum dritten Mal klingelt, stecke ich langsam meine Finger in die Jackentasche und ziehe es heraus. Ich drücke den grünen Knopf, und noch bevor Mom etwas sagen kann, erkläre ich: »Er hat sich für Melinda entschieden«, und breche erneut in Tränen aus, die gerade eben aufgehört hatten zu fließen. Ich dachte, ich wäre ausgetrocknet, aber offensichtlich ist in mir ein unendlicher Quell an Tränen.

»Ach, Schätzchen …«

»Warum, Mom? Warum tut er mir das zum zweiten Mal an?«

»Ich weiß es nicht, Süße. Ich hatte so eine Ahnung, aber ich hatte gehofft, sie wäre falsch. Wo bist du gerade?«

»Ich … ich sitze … auf der Straße.«

»Da müssen wir dich als Erstes wegbekommen. Kannst du nicht deine Freundin anrufen? Wie heißt sie? Nicole? Oder Sarah?«

»Ich will sie nicht belasten.«

»Ach, Unsinn! Freundinnen sind da, um sie zu belasten, wenn man sie braucht. Wärst du für sie da, wenn sie dich brauchen? Und sag jetzt nicht Nein, nur um deinen Standpunkt zu verdeutlichen.«

»Aber …«

»Nein, nichts aber. Ich kann nicht bei dir sein, und es bringt mich geradezu um, daher musst du mir versprechen, dass jemand anderes kommen wird, um dich aufzufangen. Versprich es. Oder ich nehme den nächsten Flug. Vielleicht sollte ich das sowieso tun. Ich schau gleich mal im Internet.«

»Mom, ich bin dreißig. Du brauchst nicht zu kommen, wenn ich Liebeskummer habe.«

»Dann versprich, dass du jetzt auflegst und jemanden anrufst.«

»Okay, Mom.«

»Fein. Und ruf mich später an.«

»Mach ich.«

Ich mag es nicht, eine meiner Arbeitskolleginnen um Hilfe zu bitten, aber Mom hat leider recht. Gerade weiß ich nicht, wie ich sonst hier wegkomme. Die Frage ist nur: Wen rufe ich an? Stephanie, damit wir gemeinsam über die schlimmen Männer lästern können? Nicole, die mich mit ihren Hochzeitsvorbereitungen nerven könnte? Oder Sarah, die sich so unbedingt einen Freund wünscht, dass sie nicht verstehen kann, warum ich Dylan für diese Fata Morgana namens Cade verlassen habe?

Ich entscheide mich für Steph. Geteiltes Leid ist halbes Leid und so.

Kannst du bitte sofort herkommen? Ich schick dir meinen Standort.

Es dauert kaum eine Sekunde, bis sie antwortet:

Bin auf dem Weg.

Langsam lasse ich den Kopf gegen die Wand hinter mir sinken, ohne mir Gedanken zum Zustand derselbigen zu machen.

Unweigerlich muss ich an damals denken. Damals, als Cade mir kurz nach der Highschool schon einmal das Herz gebrochen hat und allein zum Studium nach Boston gezogen ist. Fühlt es sich ebenso an? Das Gute an Zeit ist ja, dass alles verblasst, sobald erst mal ein paar Jahre ins Land gegangen sind. Der alte Kummer schmerzt nicht mehr so wie der aktuelle, aber ich weiß noch immer, dass es mich damals beinahe zerstört hat. Cade war ja nicht nur mein fester Freund, er war auch mein bester Freund. Und das war beinahe der größere Verrat. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man mehr als nur einen festen Freund in seinem Leben hat. Auch wenn man es romantisiert – was ich auf jeden Fall tue! –, beweist die Statistik, dass man wohl nicht mit seinem ersten festen Freund gemeinsam alt wird. Den besten Freund aber kann man sein Leben lang haben.

Klar lässt sich das in unserem Fall nicht trennen, aber was Cade mir als seiner besten Freundin angetan hat, war schlimmer als das, was er mir als seiner festen Freundin angetan hat. Wir waren noch nicht so lange ein Paar, aber wir waren schon ein ganzes Leben lang Freunde.

Dieses Mal fehlt diese Komponente. Wir waren nicht erst Freunde, die dann Liebende wurden. Es war von Anfang an klar, worauf das hinauslaufen würde, auch wenn wir es langsam angehen wollten. Auch wenn wir so getan haben, als wäre das Ende offen. Wir wussten die ganze Zeit, dass wir entweder zusammenkommen oder uns nicht weiter sehen würden.

Und auch wenn ich es jetzt so rationalisiere, tut es weh. Ich kann mich nicht erinnern, dass es beim ersten Mal so schlimm war. Vielleicht macht die Wiederholung es schmerzhafter, oder es ist einfach so, dass die Erinnerung einen Schleier darüber wirft, der alles dämpft.

»Oh, da bist du ja«, höre ich Stephanies Stimme, bevor ich die Absätze ihrer Ankle Boots von Prada höre. Sie kniet sich neben mich und greift nach meiner Hand. »Was ist passiert?«

Ich schüttele leicht den Kopf. »Nicht hier.«

Stephanie steht auf, reicht mir die Hand und hilft mir hoch. Meine Beine wackeln. Kann man in einer Stunde Muskelatrophie bekommen?

»Mein Auto steht gleich um die Ecke.«

»Danke.«

Bevor ich einsteige, wischt sie mir noch mit einem Taschentuch den Rücken ab. Ob sie damit ihre Autositze schützen oder mir was Gutes tun will, weiß ich nicht.

»Wo soll ich dich hinbringen?«

»Kannst du Giselle sagen, dass ich heute nicht komme?«

»Klar. Wo willst du hin?«

»Nach Hause.«

Auf der Fahrt ruft Stephanie im Büro an, meldet mich krank und teilt mit, dass sie heute nicht mehr reinkommt.

»Das musst du nicht machen«, protestiere ich.

Sie schüttelt ihren hellbraunen Pixiekopf. »Doch, ich muss. Weil es das ist, was Freundinnen tun.«

»Danke.«

Ich schaue aus dem Fenster, Tränen laufen meine Wangen hinunter. Angestrengt bemühe ich mich, meinen Kopf leer werden zu lassen, zu vergessen, was passiert ist, einfach abzuschalten. Aber der Kopf ist eigenartig. Manche Dinge vergisst er sofort, aber die, die man am liebsten aus dem Gedächtnis löschen würde, die nisten sich so tief ein, dass man sie auch in dreißig Jahren noch genauso vorfindet.

An einer roten Ampel legt mir Steph die Hand auf den Arm. »Was immer auch passiert ist, du kannst es mir sagen.«

Langsam nicke ich. »Ich weiß.«

Die nächsten Worte sprechen wir erst, als wir vor meiner Wohnungstür stehen. Die Fahrt und das Treppensteigen sind gleichzeitig rasant und unendlich langsam an mir vorbeigezogen.

»Du hast doch keine Katzenallergie?«, frage ich.

»Nein.«

Spocky steht maunzend an der Tür und reibt ihren Körper an meinen Beinen, als ich meine Jacke ausziehe und sie aufhänge.

»Die solltest du reinigen lassen«, kommentiert Steph, und ich werfe einen Blick auf sie. Okay, ich will gar nicht wissen, worin ich gesessen habe.

»Tut mir leid, dass ich dein Auto beschmutzt habe.«

»Das macht gar nichts. Soll ich uns eine Tasse Tee machen?«

Ich nicke, führe sie in die Küche und lasse mich auf einen der Barhocker sinken, während sie Wasser in den Kocher füllt.

»Wo sind die Tassen?«, fragt sie.

Ich deute mit dem Finger auf den richtigen Schrank, aber es ist eine echte Herausforderung, meinen Arm zu heben. Alles an mir ist so schwer. Meine Arme, meine Beine, ganz besonders mein Kopf. Einen Ellenbogen stütze ich auf dem kleinen Hochtisch ab und lehne meinen Kopf auf die Hand. Alleine könnte ich ihn nicht mehr halten, glaube ich.

Mit zwei dampfenden Tassen bewaffnet, marschieren wir ins Wohnzimmer. Ich setze mich in meine Lieblingsecke der Couch und ziehe die Wolldecke über mich, als wäre ich in einem Kokon.

Steph setzt sich neben mich. »Du kannst es mir erzählen oder auch nicht. Ich bleib auch hier neben dir sitzen, ohne ein einziges Wort. Oder wenn du alleine sein möchtest, dann gehe ich auch. Es geht ganz allein um dich und um das, was du jetzt brauchst.«

Ich versuche, all meine Dankbarkeit in meinen Blick zu legen, aber da sie ein wenig verwirrt guckt, scheine ich das nicht so gut hinzubekommen. »Danke«, sage ich daher bekräftigend.

Eine Weile sitzen wir nebeneinander, schweigen und trinken unseren Tee, bis ich sage: »Ich hatte doch von diesem Jungen von früher erzählt, den ich hier in Boston wiedergetroffen habe.«

»Wie hieß er noch mal?«

»Cade. Nun ja, wir haben uns mehrmals getroffen, zufällig und danach auch absichtlich.«

»Was ist mit Dylan?«

Schuldgefühle schwappen über mich, die ich zu unterdrücken versuche. Gott, für nichts und wieder nichts habe ich Dylan verletzt. Obwohl … mir ist ja auch klargeworden, dass wir nicht zusammenpassen, ganz unabhängig von Cade und allem.

»Wir haben Schluss gemacht.«

»Das hattest du gar nicht erzählt.«

»Ist auch gerade erst passiert. Ich hab es mit ihm beendet, weil Cade und ich …« Bei diesen drei Worten Cade und ich strömen die Tränen wieder. Es wird niemals mehr ein Cade und ich geben. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht – zumindest will ich das –, aber in der einen halte ich noch die Tasse, die überschwappt. Gott sei Dank ist der Tee nicht mehr heiß.

Steph nimmt mir die Tasse ab und legt ihre Hand auf mein angezogenes Knie. »Lass es raus. Weinen hilft. Du glaubst nicht, wie viel ich geweint habe, als James und ich uns getrennt haben. Und da war es meine Entscheidung. Trotzdem hat es mir das Herz gebrochen, dass es zu Ende war, einfach, weil wir so viel Zeit miteinander verbracht haben, unser halbes Leben. Ich kann verstehen, dass es wehtut, wenn man etwas beendet.«

»Ich weine nicht wegen Dylan«, gebe ich zu.

»Wegen Cade?«

»Wir wollten es noch mal versuchen, wollten mit unseren Partnern Schluss machen und uns heute Morgen treffen als Neuanfang. Nur … na ja, er hat es mit seiner Freundin nicht beendet.« Dieses Mal beuge ich mich nach vorne, lege den Kopf auf meine angezogenen Knie und weine in die Decke. Spocky nutzt den Augenblick, um auf die Lehne der Couch zu springen und es sich dann auf meinen Schultern gemütlich zu machen. Dabei schnurrt sie mir ins Ohr.

»Ach, Avery, es tut mir so leid.«

»Mir auch«, murmele ich in die Decke.

»Hat er gesagt, wieso?«

»So ein Blabla, dass er gemerkt hätte, was sie gemeinsam haben und so. Dass er das nicht für eine Chance mit mir aufs Spiel setzen kann.« Ich richte mich auf, während Spocky faucht, weil sie auf die Lehne rutscht. Wie gut, dass mein Pullover dick ist, darin kann sie sich nicht so leicht festkrallen wie in meinen Sommersachen. »Aber weißt du, ich verstehe nicht, was das heißen soll. Was für eine Chance denn? Für mich war klar, dass wir ab heute zusammen sind. Fest zusammen. Keine Chance zusammenzukommen, sondern dass das bereits das Endresultat ist.«

»Hattet ihr das denn auch so besprochen?«

»Ja, da bin ich mir sicher. Wir haben nicht davon gesprochen, dass es eine Chance gibt, sondern dass wir dann richtig, ehrlich zusammen sind.«

»Komisch.«

»Ich versteh einfach nicht, wie er mir das noch mal antun kann. Er muss doch wissen, dass mich das ebenso fertigmachen würde wie beim letzten Mal.«

»Weiß er das denn?«

»Auch das habe ich ihm in den letzten Wochen erzählt. Wie traurig ich war. Ach was! Wie absolut fertig ich war. Und trotzdem verletzt er mich erneut. Das verstehe ich einfach nicht. Das ist so … so kaltherzig.«

»Meinst du, da könnte was anderes dahinterstecken?«

Bitter lache ich auf. »Was kann schon dahinterstecken? Es geht um eine Beziehung, nicht um Leben und Tod. Beziehungen kann man beenden, wenn man möchte.«

»Keine Ahnung. Ist sie schwanger?«

Ich glaube, mir wird schlecht. »Hat er nicht gesagt.«

»Aber das könnte doch ein Grund sein.«

»Meinst du nicht, dass er mir das gesagt hätte? Damit ich weiß, es gibt einen validen Grund. Dann hätte ich immer noch Liebeskummer, aber ich wüsste, dass es nicht aus Kaltherzigkeit geschehen ist. Nein, er hätte es mir gesagt.«

Steph zuckt mit den Schultern. »Einen anderen wichtigen Grund weiß ich auch nicht. Sie wird ihn ja nicht erpressen oder so.«

Wieder ertönt dieses bittere Lachen. Bin das wirklich ich? »Klar. Das wird es sein.«

Sie schüttelt den Kopf. »Na ja, vielleicht liebt er sie einfach mehr. Ich weiß, das willst du nicht hören, aber vielleicht ist das der Grund.«

»So sieht es aus. Nein, hören will ich das tatsächlich nicht, aber alle Alternativen wären schlimmer. Oder? Keine Ahnung.«

Kapitel 2

Cade

Gemeinsam fahren wir zum Restaurant, in dem wir mit Mr. Miller verabredet sind.

»Alles okay?«, fragt Melinda, als wir aussteigen.

»Klar.«

»Hey, Cade, du musst präsent sein, okay? Hier geht es nicht um deine persönlichen Befindlichkeiten, sondern ums Geschäft. Da musst du einfach topfit sein.«

»Ich weiß.«

»Okay, ich wollte nur sichergehen.«

Sie greift nach meiner Hand. Einen Moment zögere ich, aber dann schließe ich meine Finger um ihre. Wie man sich bettet, so liegt man. Ich habe diese Entscheidung getroffen, also muss ich jetzt eben das Beste daraus machen.

Melinda lächelt mich an. »Ich werd alles geben, um euch noch mehr Kapital zu besorgen als bei Benjamin.«

»Danke.«

Und ich bin ihr tatsächlich dankbar. Sie müsste es nicht tun und hätte es beim ersten Mal, als es um unsere Organizer-App namens Benjamin ging, auch nicht tun müssen. Doch Menschen bestehen nun mal aus vielen Facetten, niemand ist einfach nur schlecht oder nur gut, sondern immer eine Mischung daraus. Das Leben wäre viel leichter, wenn es so klar wäre wie in den Filmen aus den Neunzigern.

Ich halte Melinda die Tür zu diesem Restaurant auf, das niemand außer mir mit Turnschuhen betritt. Ich Rebell.

»Wir haben für Charles Miller plus zwei reserviert«, sagt sie einer Kellnerin.

»Kommen Sie bitte mit. Mr. Miller ist noch nicht da.« Wir werden durch das Restaurant geführt. »Ist Ihnen dieser Tisch recht?«

»Natürlich, danke.«

Ich richte Melinda den Stuhl, und sie schenkt mir ein Lächeln.

»Das wird ein Kinderspiel, glaub mir.«

»Ich hoffe es. Mick würde es das Herz brechen, wenn wir das Projekt nicht realisieren können.«

»Wieso eigentlich jetzt ein Spiel?«

»Mick hatte die Idee, und wir fanden sie gut. Da steckt echt viel Geld drin. Also potenziell. Wenn man einen Knaller wie Angry Birds oder Candy Crush landet, hat man ausgesorgt, wenn man es geschickt anstellt.«

»Da steckt mehr Geld drin als in Benjamin?«, fragt sie erstaunt.

»Viel mehr. Candy Crush wurde in den ersten fünf Jahren 2,7 Milliarden Mal heruntergeladen.«

Wenn wir in einem Comic wären, würden jetzt Dollarzeichen in Melindas Augen auftauchen. »Milliarden? Meinst du das ernst?«

»Das ist mein voller Ernst.«

»Oh mein Gott.«

Während sie noch die Zahl verdaut, tritt Mr. Miller an den Tisch. »Wie schön, dass Sie schon da sind.«

Ich stehe auf und schüttele ihm die Hand. Melinda küsst er auf die Wange.

»Charles, ich freue mich, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben«, flötet sie.

»Immer gerne. Was gibt es Besseres, als gute Geschäfte in schöner Begleitung zu machen?«

Melinda legt sich die Hand auf die Brust. »Sie schmeicheln mir, Charles. Wie geht es Eleonor?«

»Bestens, bestens. Sie lässt sich entschuldigen, aber Sie werden sich ja am Wochenende auf der Charity-Gala sehen.«

»Natürlich. Bestellen Sie ihr liebe Grüße.«

Die Kellnerin kommt, um unsere Bestellung aufzunehmen. Auch wenn dies offiziell ein Mittagessen ist, bestellen wir nur Getränke.

Nachdem wir versorgt sind, sagt Charles: »Melinda, ich muss sagen, was Sie da mit Benjamin geschafft haben … Ich bin sprachlos. Sie haben ein wunderbares Produkt entwickelt.«

Klar, Melinda hat es entwickelt. Sie kennt nicht mal den Unterschied zwischen JavaScript und SQL.

»Mein Anteil an dem Erfolg ist bescheiden, Charles. Cade und seine Partner sind dafür verantwortlich. Ich hab nur ein klein bisschen bei der PR geholfen.«

»Sie stellen Ihr Licht wahrscheinlich wieder unter den Scheffel.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich helfe gerne. Cade hat mir mitgeteilt, dass er Ihnen bereits das neue Projekt vorgestellt hat. Hatten Sie schon Gelegenheit, sich dazu Gedanken zu machen?«

»Ich habe mir alles angesehen, und auf dem Papier sieht es gut aus. Aber ein Spiel? Hat das überhaupt Potenzial?« Mr. Miller schaut mich skeptisch an, bevor er sich wieder lächelnd Melinda zuwendet.

»Absolut. Wussten Sie, dass eines der bekanntesten Spiele 2,7 Milliarden Mal runtergeladen wurde? Es heißt Candy Crush.«

»Milliarden?«

»Ganz genau. Mobile Spiele sind populär. Um ganz ehrlich zu sein, auch ich habe Candy Crush auf dem Handy.«

»Sie? Wirklich?«, fragt er überrascht. Mich erstaunt dieses Geständnis auch. Melinda wirkt nicht wie jemand, der jemals relaxt, sondern immer fokussiert ist. Daher hätte ich nie gedacht, dass sie auch mal Ablenkung braucht.

Melinda zieht ihr Handy aus der Tasche, und zeigt Mr. Miller die App.

»Und Ihr Spiel wäre genauso?«, fragt er jetzt mich.

»Nein, nicht genauso. Es ist ein anderes Spielprinzip, doch es soll ebenfalls auf In-App-Käufen basieren, aber auch eine kostenfreie Version beinhalten.«

»Aber, wenn es kostenlos ist, wie soll es Umsatz generieren?«, fragt Mr. Miller.

Er hat ganz offensichtlich doch nicht alle Unterlagen gelesen, die wir ihm dagelassen haben.

»Durch die kostenlose Version werden Anwender auf dieses Spiel aufmerksam, man schafft also die größtmögliche Basis. Durch die In-App-Käufe gibt man einigen Spielern die Chance, weiter voranzukommen.«

»Wie viele Käufe gibt es denn?«

»Bei dem Spiel, dass Ihnen Melinda gerade gezeigt hat, gibt es zwischen zwei und vier Prozent Spieler, die weitere Leben und Spezialeffekte kaufen.«

»Das ist wenig«, meint Melinda etwas ernüchtert.

»Aber du darfst nicht vergessen, dass sie 2014 über 245 Millionen aktive Spieler hatten. In diesem Jahr haben sie über eine Milliarde Dollar erwirtschaftet.«

Doppelte-Dollarzeichen-Augen sehen mir entgegen. »Sie wollen mir sagen, dass dieses Spiel über eine Milliarde Dollar gemacht hat?«

»So ist es. Sogar weit mehr, denn 2013 haben sie in einem Halbjahr eine Milliarde erwirtschaftet, und die letzten Zahlen, die ich ermitteln konnte, sprachen von 250 Millionen im Quartal in 2017.«

»Und Ihre App ist ebenso?«

»Wie gesagt, das Prinzip ist ein anderes, und natürlich kann man einen Erfolg nicht versprechen, aber Angry Birds, ein weiteres Spiel, wurde auch über zwei Milliarden Mal heruntergeladen. Es gibt dieses Potenzial. Man muss aber ganz klar sagen, dass man das nicht immer genau steuern kann. Wenn man zwei ähnliche Spiele hat, kann eines groß herauskommen und eines floppen, auch wenn man alles gleich angegangen ist.«

»Aber wir werden natürlich mit einer ausgeklügelten Marketingstrategie verhindern, dass unser Spiel floppt«, wirft Melinda ein und tritt mir leicht gegen den Fuß.

»Wir werden selbstverständlich alles dafür tun, dass es erfolgreich wird«, erkläre ich leicht zerknirscht mit einem Seitenblick auf Melinda.

Mr. Miller lehnt sich im Stuhl zurück und faltet die Hände auf dem Tisch vor sich zusammen. »Ich denke, wir kommen ins Geschäft.«

Innerlich jubiliere ich, auch wenn ein bitterer Beigeschmack bleibt, aber zu wissen, dass unser größter Finanzier wieder mit an Bord ist, erleichtert mich ungemein.

Melinda und Mr. Miller besprechen noch ein paar Einzelheiten, zu denen ich nicht befragt werde, was mir auch ganz recht ist. Wir haben einen Anwalt, der sich um die Verträge kümmern wird, Gott sei Dank. Plötzlich fällt mir auf, dass ich das Gefühl habe, nicht selbst der Herr meines Lebens zu sein. So lange hatte ich dieses Gefühl nicht mehr. Früher war es allgegenwärtig.

Dad war schon immer cholerisch, aber nachdem Mom gestorben war, wurde es immer schlimmer. Manchmal schlich ich nur auf Zehenspitzen durchs Haus, weil jeder Laut von mir sein Temperament aufflammen ließ. Ich fühlte mich wie ein Geist in meinem eigenen Leben.

Vorsichtig und langsam ging ich die Treppe hinauf und versuchte, das Knirschen der fünften Stufe von unten zu vermeiden. Aber es war, als wollte sie, dass ich in Schwierigkeiten geriet, denn wie immer knarzte sie, was dazu führte, dass Dad schrie: »Kannst du nicht einmal leise sein, Cade?«

Bollernde Schritte ertönten im Flur, wütende Augen funkelten mich an, ein verzogener Mund spuckte Speichelfäden beim Reden.

»Wenn ich von der Arbeit wiederkomme, will ich nur Ruhe! Ist das zu viel verlangt? Aber du kannst nicht einmal ruhig sein. Immer musst du Krach machen. Krach, Krach, Krach!«

»Entschuldigung«, murmelte ich.

Dad stampfte die paar Stufen hinauf, schloss seine kräftigen dicken Finger um meinen viel zu dünnen Oberarm, zerrte mich die Treppe hinunter, öffnete die Kellertür und stieß mich hinein. Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, während ich versuchte, nicht die Treppe hinunterzufallen. Schnell drehte ich mich um, eilte zur Tür und trommelte dagegen.

»Dad, nicht! Bitte! Ich bin ganz leise! Versprochen. Lass mich nicht hier im Dunkeln. Bitte!«

Aber meine Worte hatten keinen Effekt. Wieder und wieder suchte ich an den kahlen Kellerwänden nach einem Lichtschalter, obwohl ich doch genau wusste, dass dieser außen angebracht war. Ich kauerte mich auf der obersten Stufe zusammen, umfasste die Knie und vergrub das Gesicht im Stoff meiner Ärmel.

Ich murmelte leise vor mich hin und erzählte mir eine Geschichte, die ich von Avery hatte. Sobald ich ihre Stimme im Kopf hörte, fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein, wie noch einen Augenblick zuvor.

»Cade?«, fragt Melinda, und an ihrem ungeduldigen Ton erkenne ich, dass sie mich schon mindestens einmal zuvor angesprochen hat.

»Entschuldige, ja?«

»Ich habe gefragt, ob ihr schon einen Zeitplan für die Entwicklung habt.«

»Äh, ja, wir haben Ihnen den auch in den Unterlagen beigelegt, Mr. Miller. Wir hoffen, innerhalb von sechs Monaten eine erste Version zu haben, die wir testen können. Und wenn alles gut geht, sind wir dann in einem Jahr bereit, das Spiel zu launchen.«

Mr. Miller schaut mich an. »Das erscheint mir ein realistischer Zeitrahmen, obwohl ich zugeben muss, dass ich keine Ahnung von der Materie habe.« Er lacht gutmütig. »Aber ich habe sehr viel Ahnung von Zahlen, und Ihre lesen sich sehr gut. Ich bin zuversichtlich, dass unsere weitere Zusammenarbeit ebenso fruchtbar wie die vergangene sein wird.« Er schaut auf die Uhr. »Sie entschuldigen mich? Ich muss noch zu einem anderen Termin.«

»Natürlich, Charles, wir wollen Sie nicht aufhalten«, schnurrt Melinda, während wir beide aufstehen, um ihn zu verabschieden.

Als wir uns die Hände schütteln, klopft er mir auf die Schulter. »Sie sind zu Größerem bestimmt, Junge.«

Nachdem er gegangen ist, fragt Melinda: »Sollen wir jetzt noch zu Mittag essen? Wir sind ja nicht dazu gekommen.«

Ich nicke und setze mich wieder auf den Stuhl. Melinda winkt der Kellnerin, um sich das Menü geben zu lassen.

»Das ist doch sehr gut gelaufen«, sagt sie und legt ihre Hand auf meine.

Ich habe den starken Drang, sie wegzuziehen, stattdessen lächele ich sie an. »Danke für deine Hilfe.«

»Jederzeit. Das meine ich ernst. Wir sind ein gutes Team.«

Ich nicke, versuche dabei freundlich zu sein, denke aber nur, dass eine Beziehung doch mehr sein sollte als eine geschäftliche Verbindung.

Avery

Aus Tee wird Wein, aus dem einen Gesprächsthema über Cade und meinen Liebeskummer werden weitere, und es ist Mitternacht, als Steph sich verabschiedet und ein Taxi ruft. Ich soll ihr Auto morgen zur Arbeit fahren. Früher bin ich immer selbst gefahren, aber seit ich in Boston bin, nicht ein Mal. Das kann ja heiter werden.

»Wenn du willst, bleibe ich hier«, sagt sie noch einmal, als ich sie zur Tür bringe.

»Ich hab dich schon viel zu lange beschlagnahmt. Deine Kinder brauchen dich.«

»Meine Mom ist bei ihnen, mach dir keine Gedanken.«

»Sie sind aber noch klein.«

»Einen Abend geht das schon. Wenn du mich brauchst, ruf mich an.«

»Mach ich. Und danke.«

Sie lächelt. »Dafür sind Freundinnen doch da.«

Als ich die Tür hinter ihr schließe, lehne ich den Kopf dagegen. Die letzten paar Stunden haben mich abgelenkt, aber jetzt kommt alles mit einem Schwung zurück, es erscheint mir schlimmer als zuvor.

Ich drehe mich um, presse den Rücken gegen das Holz und rutsche langsam herunter, bis ich auf dem Boden sitze. Was mache ich nur? Zwölf Jahre sind vergangen, und ich bin in der gleichen Situation, in der ich schon einmal war. Gleiches Drehbuch, gleiche Schauspieler, denke ich in Anlehnung an den Song von Whitney Houston und Deborah Cox, der nie wirklich ein Hit wurde, aber so viel Potenzial hatte.

Spocky reibt ihren Körper an meinen angewinkelten Beinen, und ich streichele sie. Ihr weiches Fell fließt durch meine Finger. Die monotone Bewegung lenkt mich für einen Moment von dem Schmerz ab, der durch mich fließt.

»Ach, Spocky, sei froh, dass du keinen Mann hast.«

Sie schnurrt. Geflissentlich ignoriere ich, dass es ja nicht ihre Entscheidung ist, alleine zu sein, sondern meine. Die Strandkatzen hatten eindeutig mehr Gesellschaft. Vielleicht braucht Spocky einen Freund … Vor allem, weil ich ja nicht wirklich häufig zu Hause bin. Aber sie war schon ihr ganzes Leben lang alleine. Vielleicht würde sie sich nicht darüber freuen, ihr Reich plötzlich mit einer anderen Katze teilen zu müssen.

»Willst du einen Freund? Oder eine Freundin?«, frage ich sie, aber sie legt sich einfach nur auf den Rücken, damit ich genau zehn Mal über ihren Bauch streicheln darf, bevor sie mit einem entrüsteten Maunzen wieder auf die Beine springt, mich anfaucht und im Wohnzimmer verschwindet. Auch das ist ein Stück, das wir schon mehrmals aufgeführt haben.

Langsam stehe ich auf, gehe ins Bad, mache mich fürs Bett fertig, bevor ich mich in diesem einrolle, die Arme um mich schlinge und versuche, die Tränen aufzuhalten, die sich Bahn brechen.

Als mein Wecker klingelt, kommt es mir vor, als hätte ich nur fünf Minuten geschlafen. Und vielleicht habe ich das auch. Ich bin vollkommen gerädert, ziehe die Decke über den Kopf, und für wundervolle dreißig Sekunden habe ich vergessen, was gestern passiert ist, aber dann kommt alles zurück, und ich wünsche mir den Moment der Ignoranz nach dem Aufwachen zurück.

Spocky miaut bereits in der Küche, weswegen ich aufstehe und ihr Fressen in die Schale fülle, wobei sie natürlich auf meinen Rücken springt und ihn beim Aufstehen zerkratzt. Dieses kleine Monster.

Kaffee. Ich brauche unbedingt Kaffee. Am besten intravenös. Da ich nur eine Kaffeemaschine habe, muss ich mich damit begnügen. MacGyver hätte daraus wahrscheinlich eine Infusionsmaschine basteln können.

Während der Kaffee kocht, stelle ich mich unter die Dusche, lasse das Wasser meine Tränen wegwaschen und shampooniere meine Locken, die sich immer nur nass zähmen lassen. Nach dem Abtrocknen und Zähneputzen schaue ich in den Spiegel und betrachte das Elend. Augenringe bis zu den Mundwinkeln, gerötete Augen, und zu allem Überfluss wächst auch noch mittig auf der Stirn ein Pickel, der sich anschickt, dem Mount Everest Konkurrenz zu machen. Klar, ein Unglück kommt selten allein.

Ich fische nach meinem Concealer – der zum Glück bei dem seltenen Gebrauch nicht eingetrocknet ist – und versuche alles zu kaschieren. Tarnen und täuschen hat Dad immer gesagt, wenn er irgendwas im Haus repariert oder renoviert hat. Dieses Mantra wende ich jetzt auch an. Und es ist ja beinahe eine Renovierung, denn ich spachtele das Zeug dick auf.

Gegen die roten Augen kann ich kaum etwas tun, aber ich bemühe mich, den Rest so gut wie möglich zu verbergen. Ich betrachte mein Werk und bin eigentlich ganz zufrieden. Nur im Profil darf man mich nicht ansehen, denn dann sieht man das Horn auf meiner Stirn. Bin ich jetzt eigentlich ein Einhorn?

Wie spät ist es? Ich suche nach meinem Handy. Als ich es einschalte, sehe ich schon auf dem Sperrbildschirm die Nachricht von Cade.

Es tut mir leid.

Das kann er sich sparen. Statt die Nachricht zu öffnen, lösche ich unseren Chat, blockiere seine Nummer und lösche dann auch diese.

Was denkt er sich eigentlich? Mit so einem simplen Satz will er alles wiedergutmachen, was er mir nicht einmal, sondern zweimal angetan hat?

Dabei fällt mir das Sprichwort ein: Hältst du mich einmal zum Narren, schäm dich. Hältst du mich zweimal zum Narren, sollte ich mich schämen. Das trifft auf mich zu. Zweimal bin ich auf ihn reingefallen. Aber kann man wirklich von Reinfallen sprechen? Er ist auf jeden Fall sehr gut im Herzen brechen.

Ich fülle den Kaffee in meine Thermostasse, verabschiede mich wortreich von meiner Katze, die mir die kalte Schulter zeigt, und eile dann aus dem Haus, um vielleicht noch rechtzeitig meine Bahn zu erwischen. Als ich draußen bin, erfasst mich ein eisiger Wind. Boston ist über Nacht abgekühlt. Wie gut, dass ich die dicke Jacke schon gekauft habe, in die ich mich jetzt tiefer einkuschele, um gegen den Gruß vom Nordpol geschützt zu sein. Nein, ein kalifornisches Mädchen ist ganz sicher nicht für solche Temperaturen gemacht.

Als mein Blick auf Stephs Auto fällt, erinnere ich mich, dass ich ja heute damit fahre, statt mit der Bahn, und freue mich einen kleinen Augenblick. Sobald ich bemerke, dass ich die Scheiben freikratzen muss, ist diese Freude schnell verflogen. In der Bahn brauche ich wenigstens keinen Eiskratzer. Nachdem ich mir beinahe die Hände abgefroren habe, setze ich mich ins Auto, umschließe die Thermostasse und hoffe, dass ich auftaue. Wenn es hier noch kälter wird, brauche ich einen Schneeanzug.

Schlimmer als die Kälte ist nur, sie mit gebrochenem Herzen ertragen zu müssen. Sonne lindert Liebeskummer auch nicht, aber sie verschlimmert die Gefühlslage nicht auch noch. Kälte dagegen kommt eigentlich aus der Hölle. Ich glaube nicht einen Moment, dass es dort heiß ist, denn Kälte ist die wahre Qual.

In meinen Anti-Kälte-Gedanken verschwunden, verpasse ich beinahe die Abbiegung zu meinem Bürogebäude. Gerade noch rechtzeitig setze ich den Blinker. Das hätte auch noch gefehlt.

Da ich mich nicht lange in den eisigen Gefilden aufhalten mag, sprinte ich beinahe den Weg vom Parkplatz zum Büro. Okay, ich renne nicht. Bei einem so chaotischen Menschen wie mir können dabei schlimme Dinge passieren, aber ich laufe im Stechschritt. Mein Army-Großvater wäre stolz auf mich.

Im elften Stock unseres recht schmucklosen Gebäudes angekommen, straffe ich die Schultern und gebe mir selbst das Versprechen, den ganzen Tag nicht zu weinen. Ich werde mich in der Arbeit vergraben, sodass ich gar keine Zeit habe, an die Person, deren Name nicht genannt wird, zu denken.

Ich öffne die Tür und betrete den Büroflur, bevor Nicole, Sarah und Steph auf mich zustürzen.

»Wie geht es dir?«

»Hast du gut geschlafen?«

»Konntest du die Geschehnisse zur Seite schieben?«

»So ein Arsch aber auch!«

»Wie konnte er das tun?«

»Aber wie geht es dir wirklich?«

»Kann ich was für dich tun?«

»Brauchst du was?«

»Soll ich dir einen Kaffee holen?«

Sie reden durcheinander, umarmen mich immer wieder und wischen die Tränen ab, die mir über die Wangen laufen, weil ich die Sorge in ihren Gesichtern sehe. Es tut gut zu wissen, dass ich auch in der Fremde schon Menschen gefunden habe, denen ich wichtig bin.

»Nicht weinen«, bittet Sarah, der auch schon die Tränen in den Augen stehen.

»Tut mir leid.«

»Es gibt keinen Grund, dass du dich entschuldigst«, meint Nicole. »Wenn wir was tun können, sag Bescheid.«

Ich nicke, während ich langsam an meinen Tisch trete.

Aus der offenen oberen Etage ruft Giselle zu uns herunter: »Redaktionskonferenz in zehn Minuten!«

Ich spüre ihren Blick im Rücken, zumindest bilde ich es mir ein. Doch ich drehe mich nicht zu ihr, denn ich will verteufelt sein, wenn mich meine Chefin weinen sieht. Das eine Versprechen habe ich schon in den ersten dreißig Sekunden gebrochen, dieses soll länger halten. Ewig, wenn möglich.

Aus meiner Tasche krame ich einen kleinen Spiegel, checke, ob die Tränen mein Make-up ruiniert haben, bevor ich in die Küche gehe, um mir einen Kaffee zu holen.

Dann schließe ich mich dem Treck in unseren Konferenzraum an. Steph drückt meinen Arm, Nicole lächelt mich lieb an, während Sarah, die schon da ist, mir einen Platz frei gehalten hat. Strategisch weiter hinten gewählt. Wie lieb.

Dieses Mal kann ich Giselles Blick nicht entgehen. Prüfend, empathisch und ein klein wenig kalkulierend vielleicht. Sie denkt sich was aus. Ich will gar nicht wissen, was. Wahrscheinlich soll ich über die zehn Dinge schreiben, die gegen Liebeskummer helfen. Aber dann muss ich diesen Job leider kündigen, so gerne ich ihn auch mache, denn das kann ich nicht. Ich muss mich von meinem Herzschmerz ablenken, nicht mich damit im Detail beschäftigen.

»Okay, legen wir los. Für die nächste Ausgabe habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Ein Jahr nach Hashtag MeToo. Was hat sich in unserer Welt verändert, hat sich überhaupt was geändert oder ist alles noch genauso, wie es immer war? Was sagen die Betroffenen heute, ist das Thema immer noch präsent? Also, ganz allgemein, was ist seitdem passiert.«

Sofort ist mein Interesse geweckt. Das will ich machen. Das muss ich machen.

»Und ich denke, das Avery genau die Richtige für dieses Thema ist.« Sie schaut mich an und lächelt mitfühlend.

Mitleid. Sie gibt mir diesen Auftrag aus Mitleid. Das kann ich nicht ertragen.

»Gibst du mir den Job aus Mitleid?«, frage ich geradeheraus.

Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Seit du hier arbeitest, bittest du mich um ernsthaftere Themen, und jetzt denkst du, ich tue es aus Mitleid?«

»Tust du es?«

»Ein bisschen vielleicht, aber du bist die Einzige hier, die immer wieder solche Themen eingebracht hat, alle anderen haben bereits vor Ewigkeiten eingesehen, dass sie damit keinen Erfolg haben.« Ihre Stimme hat einen ironischen Unterton angenommen, weswegen ich verstohlenes Gelächter um mich herum höre. »Aber ich denke, dass es wichtig ist, sich zu positionieren, auch wenn wir nur ein Frauenmagazin sind. Aber in einer politischen Lage, in der die Rechte von Frauen beschnitten werden, in der den Tätern mehr geglaubt wird als den Opfern, haben die Medien die Verpflichtung, ihre Leserinnen zu informieren. Ich bin dagegen, dass wir nun ein politisches Blatt werden, aber wir müssen über alle Themen berichten, die unsere Leserinnen interessieren könnten, und vor allem über die, die sie selbst betreffen. Daher fände ich es gut, wenn wir jeden Monat auch ein Thema mit in den Redaktionsplan aufnehmen, das sich nicht nur mit den neuesten Trendfarben befasst, sondern mit Dingen, die das Land wirklich beschäftigen. Und es ist eine aufregende, aber auch beängstigende Zeit für uns Frauen. Ein Mann, der trotz Missbrauchsbeschuldigungen in den Supreme Court gewählt wurde, ein Präsident, der trotz ähnlicher Anschuldigungen im Amt ist, eine Politik, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen einschränken will. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir politisch werden?«

Giselle schaut mich an. »Der erste Artikel fällt jetzt zufällig auf diesen Zeitpunkt, aber so sehr ich dich auch mag, Avery, würde ich die Ausrichtung des Magazins nicht nur ändern, damit es dir besser geht. Aber es ist gutes Timing. Willst du den Artikel oder nicht?«

»Ja.«

»Gut, dann mach dich an die Arbeit. Weil das nicht unsere Expertise ist, muss der Text überzeugen.«

Während über andere Artikelideen gesprochen wird, versinke ich in meinem neuen Auftrag. Endlich habe ich die Chance, auch mal über etwas anderes zu schreiben, über etwas Wichtiges, dass das Potenzial hat, die Welt aus den Angeln zu heben. Na gut, das ist vielleicht ein wenig hochgestochen, aber so lange mein Artikel nur einer Handvoll Frauen hilft, bin ich zufrieden.

Als die Sitzung beendet ist, bittet mich Giselle noch einen Augenblick zu warten. Ich weiß, sie wird mich jetzt nach meinem Liebeskummer fragen. Wieso hat Steph es eigentlich allen erzählt?

»Ich will dich nicht unter Druck setzen, aber ich hoffe, du verstehst, wie wichtig dieser erste Ausflug in unerforschte Gewässer ist. Er muss einschlagen wie eine Bombe. Wenn wir schluderig arbeiten, setzen wir uns Kritik aus – zu Recht. Daher dürfen wir uns keine Blöße geben. Dass die ganzen frauenhassenden Trolle uns angreifen werden, ist beinahe schon klar, aber kein seriöses Blatt darf behaupten, dass wir vielleicht lieber nur über Lippenstifte und Co. berichten sollten. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Gut, ich werde den Artikel redigieren, und ich wünsche mir, dass wir enger zusammenarbeiten, als wir es normalerweise tun. Nicht, weil ich dir nicht vertraue, sondern weil viel auf dem Spiel steht.«

»Danke.«

Sie lächelt, und ich verabschiede mich, bevor sie doch noch auf mein Privatleben zu sprechen kommt. Ich eile die Treppe hinunter in die Küche, schließe die Tür hinter mir und hüpfe kreischend auf und ab. Es ist die Chance, auf die ich hier gewartet habe, dass sich dieses Magazin auch anderen Geschichten öffnet, und wir die Welt ein Stückchen verändern können.

Als ich mich wieder beruhigt habe, gehe ich zurück in den Redaktionsraum, wo all unsere Schreibtische stehen. Alle Blicke sind auf mich gerichtet, viele meiner Kolleginnen grinsen oder lächeln.

»Ihr habt mich gehört, oder?«, frage ich, während mir die Röte in die Wangen steigt.

»Gesehen auch, Süße, die Tür ist aus nicht besonders blickdichtem Milchglas«, meint Nicole amüsiert.

»Oh Gott.«

Ich schleiche unter Gelächter zu meinem Schreibtisch, dabei denke ich: mal wieder typisch Avery, und grinse ebenfalls.

Erschrocken fasse ich in mein Gesicht, berühre meine Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen haben. Wie kann ich lachen, wenn mein Herz zersplittert ist?

Steph kommt an meinen Tisch. »Was ist?«

»Ich frage mich, ob es okay ist zu lachen.«

»Das Merkwürdige an Trauer ist, dass es trotzdem immer noch lustige Momente gibt, die einen froh machen und zum Lachen bringen. Ich denke, das muss auch so sein, denn sonst würde man nicht überleben.«

»Danke.«

Sie nickt einfach nur, während ich mich an den Computer setze und in all den Geschichten versinke, die durch Hashtag MeToo aus den dunklen Ecken der Scham ans Licht gespült wurden. Und zum zweiten Mal an diesem Tag breche ich mein Versprechen, denn viele der erschütternden Berichte bringen Tränen zum Vorschein.

Kapitel 3

Cade

Immer wieder schaue ich auf mein Handy, um zu sehen, ob Avery mir auf die Nachricht, die ich ihr in einem schwachen Moment geschrieben habe, antwortet. Ich glaube es nicht, welchen Grund hätte sie auch? Aber mir würde es besser gehen, wenn sie mir verzeihen würde. Utopisch, das ist mir auch klar, aber dennoch würde es mein Leben leichter machen.

Denn es ist schwer. Mein Herz ist gebrochen, genau wie ihres. Ich sehne mich nach ihr. Klar, ich bin selbst schuld, aber das ändert einfach mal gar nichts. Und dann muss ich noch so tun, als wäre mit Melinda alles in Ordnung, weil sie sonst sauer werden könnte und unsere Vereinbarung platzen lässt. Es ist ein Damoklesschwert, das über mir hängt. Dazu kommt noch, dass ich niemanden habe, mit dem ich darüber sprechen kann. Mick und Chris kann ich es nicht sagen. Wenn sie nicht verstehen würden, warum es mir schwerfällt, mit Avery Schluss zu machen, weil es doch um unsere Firma und somit um unsere Zukunft geht, dann würde ich sie hassen. Wenn sie mir erklären würden, dass ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe, wäre es noch schlimmer. Beide Alternativen sind absolut nicht hilfreich.

Und sonst habe ich eigentlich niemanden hier in Boston. Mick und Chris habe ich direkt am ersten Tag am MIT kennengelernt, und seitdem waren wir immer unzertrennlich, auch wenn sich das ein wenig kitschig anhört.

Mit meinen Freunden aus Kalifornien habe ich wenig Kontakt. Ich weiß nicht einmal genau, was Daniel und Justin heute machen. Vielleicht wäre es an der Zeit, das mal herauszufinden?