Lingua Mathematica - Armin Schneider - E-Book

Lingua Mathematica E-Book

Armin Schneider

0,0

Beschreibung

Der alte Leuchtturm des kleinen Städtchens Hyvelstörp birgt ein dunkles Geheimnis. Ein mysteriöses mathematisches Symbol scheint der Schlüssel zu sein. Juri und Maria, zwei Schüler der sechsten Klasse, wollten eigentlich nur das schöne Sommerwetter am Ende des Schuljahres genießen. Doch jetzt sind sie einer Sache auf der Spur, die ihre Welt völlig durcheinander wirft. Weiß man auf der Forschungsplattform für Hochenergiephysik draußen vor der Küste mehr, als die Bevölkerung wissen darf? Oder sind hier noch größere Mächte am Werk?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 458

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mathematikunterricht
Da ist noch so viel mehr
Anomalien im Hochenergiespektrum
Maria macht eine Entdeckung
Auf dem Marktplatz
Ein Symbol
Gelbes Absperrband
Forschung bis zum Äußersten
Bücherei
Der Name Maria Stevens
Abakus
Ursprung und Aufschlag
Mysteriöse Begegnungen
Entschlüsselung
U-Boot
Zwei Beine einer Hose
Ein Buch
Der alte Leuchtturm
Gauß
Von Zahlentrollen und mathematischer Energie
Allerlei Fremdsprachen
Leere Seiten
Vier Farben
Der Reiter
Draco Numeris
Nach dem Sturm
Maria lernt richtig Subtrahieren
Quod Erat Demonstrandum
Anstelle eines Vorworts
Quellen und Inspirationen

Armin Schneider

Lingua Mathematica

Roman

For the things of this world cannot be made known without a knowledge of mathematics.

Denn die Dinge dieser Welt können nicht erkannt werden ohne mathematisches Wissen.

Roger Bacon (1214 – 1294)

Handlung und Personen dieser Erzählung sind frei erfunden bis auf die Referenzen auf bekannte Wissenschaftler und Autoren.

Zweite Auflage 2022

Copyright 2020 by Armin Schneider

Entwurf des Umschlagbilds: Miriam, 11 Jahre

Über den Autor:

Armin Schneider, geboren am 20. Dezember 1966, hat schon als Kind mit dem Schreiben von phantastischen Geschichten begonnen. Seines Zeichens Informatiker, kombiniert er in seinem ersten Buch seine Passion für Mathematik mit Themen aus dem Science-Fiction- und Fantasy-Bereich. Er ist verheiratet und lebt in Berlin.

In Erinnerung an Dustin

Mathematikunterricht

Eine Stunde hat 60 Minuten. Eine Minute hat 60 Sekunden. Das macht dann 3.600 Sekunden in einer ganzen Stunde. Eine Schulstunde hat 45 Minuten, also ¾ einer ganzen Stunde. Ein Viertel von 3.600 sind 900. Und das mal drei - das macht dann 2.700 Sekunden in einer Schulstunde.

Jede Sekunde dauerte ein langes qualvolles Jahr.

»Am Ende dieser Schulstunde werde ich 2.700 Jahre älter sein«, dachte Juri. »Eine Mumie, fest mit dem Stuhl und dem Pult verwachsen. Wenn mich jemand bewegen will, zerfalle ich zu trockenem, erstickendem Staub.«

24 Stunden in einem Tag. 86.400 Sekunden. Jede von ihnen die Ewigkeit. Zeit und Raum lösten sich auf. Die monotonen Geräusche der vor sich hinarbeitenden Kinder, die zwei Seiten Text-Aufgaben aus dem Mathebuch lösen mussten, das rhythmische Ticken der Wanduhr, deren Zeiger sich einfach nicht weiterbewegen wollten - alles Teil eines teuflischen Plans eines Wesens aus einer anderen Dimension, das einem den Lebenssaft mit Hilfe von Zirkel und Lineal aus der Seele saugen wollte. Der Lehrer, Herr Hagen, saß derweil vorn am Lehrerpult und las seine Zeitung, die Lehne seines Stuhls nach hinten geklappt, die übereinandergeschlagenen Beine auf der Schreibtischplatte neben dem großen Abakus, den er aus nostalgischen Gründen immer dort stehen hatte.

60 Sekunden, 60 Minuten, 60 Jahre.

Juri seufzte und blickte aus dem Fenster. Draußen war der schönste Sonnenschein. Vor drei Jahren war er mit seinen Eltern aus der Ukraine an diesen kleinen Ort Hyvelstörp an der nordostdeutschen Küste gezogen. Sein Vater war Physiker und im Rahmen eines gemeinsamen Projekts der Regierungen von Deutschland und der Ukraine zur Erforschung von abnormen Phänomenen der Hochenergiephysik nach Deutschland versetzt worden. Seitdem war sein Vater kaum noch zu Hause gewesen. Seine Arbeitsstelle lag draußen vor der Küste auf einer streng bewachten und von der Außenwelt abgeschnittenen schwimmenden Plattform. Juris Mutter arbeitete halbtags in der städtischen Bücherei, damit sie am Nachmittag zu Hause war, wenn Juri nach Hause kam. Sie war eine sehr schöne Frau mit langem fließenden schwarzen Haar, hohen Wangenknochen und makelloser, olivfarben getönter Haut. Und sie gab Juri die uneingeschränkte Geborgenheit und Liebe, die sein Zuhause eben zu seinem Zuhause machte.

60 Jahre enthalten selbst 60 x 365 x 24 x 60 x 60 Sekunden. Das sind dann - ach halt - da gibt es ja auch noch Schaltjahre. Wie war die Regel dafür nochmal?

Juri selbst war ein unauffälliger, blasser, schmächtiger Junge von gerade zwölf Jahren mit braunem Haar und Sommersprossen auf der Nase. In allem war er so ziemlich der Durchschnitt. Im Sport war er nicht sonderlich gut, dafür hielt er mit Ach und Krach seine Drei in Mathematik und auch in den anderen Fächern. Still und zurückhaltend hatte er noch keine richtigen Freunde gefunden. Aber Juri hatte Träume. Wenn er allein in seinem Zimmer saß, stellte er sich vor, wie auch er eines Tages ein berühmter Forscher und Physiker werden würde. Oder besser noch: Astronaut! Er hatte ein großes Teleskop an seinem Fenster stehen, mit dem er die Sterne beobachten konnte. Das Teleskop hatte er letztes Weihnachten von seinem Vater bekommen, bevor der gleich wieder zu seiner Forschungsstation beordert worden war. Juris Mutter ermutigte ihn in seinem Hobby, aber als er einmal seinem Lehrer davon erzählte, hatte der nur die Stirn gerunzelt und gesagt, da müsse er aber noch in Mathe eine ganze Schippe drauflegen, denn ohne Mathematik ginge in der Astrophysik nichts.

Mit äußerster Willensanstrengung wandte Juri seinen Blick vom Fenster ab und starrte auf sein leeres Heft. Er kritzelte eine »1)« in die obere linke Ecke für die erste Aufgabe und seufzte erneut. Es half nichts, er musste jetzt mal anfangen. Von rechts neben ihm vernahm er das flinke Kratzen eines Füllers über Papier. Neben ihm saß Maria Stevens, die Klassenbeste. Sie hatte natürlich schon mehrere Seiten mit Antworten gefüllt. Juri dachte, er könnte jetzt wenigstens eine kleine Starthilfe gebrauchen, und versuchte zu erkennen, was Maria denn so alles geschrieben hatte. Doch ihr langes blondes Haar fiel ihr beim Schreiben nach vorn wie ein Vorhang, der ihm die Sicht auf ihr Heft versperrte. Und auch ihr Arm lag quer über der linken Heftseite, sodass er auch dort nicht das Geringste entziffern konnte.

Maria merkte, dass jemand sie anstarrte. Sie drehte den Kopf und richtete ihre klaren blauen Augen vorwurfsvoll auf Juri. Dann sah sie hinunter auf sein leeres Blatt und flüsterte: »Warum schreibst du nicht? Die Stunde ist bald vorbei.«

Juri lief knallrot an, einmal, weil Maria ihn erwischt hatte, und einmal, weil er sich schämte, dass er noch nichts zustande gebracht hatte. Die Sprache versagte ihm. Er konnte nur ein dummes Gesicht machen und hilflos mit den Schultern zucken.

Maria schaute ihn noch ein paar Augenblicke durchdringend an und verdrehte dann genervt die Augen. »Hier.« Damit nahm sie ihren linken Arm vom Heft, damit er ihre Antworten lesen konnte. »Aber das heißt nicht, dass du das immer machen darfst«, zischte Maria ihm leise zu.

Endlich klingelte es zum Ende der Stunde. Die Kinder packten eilig ihre Sachen, gaben ihre Rechenaufgaben bei Herrn Hagen ab und strömten dann lärmend und ausgelassen nach draußen in die Freiheit des sonnigen Nachmittags. Das Wochenende lachte. Nur Juri blieb tief in Gedanken zurück. In Zeitlupe packte er seine Bücher ein.

»Juri, was ist los? Die Stunde ist zu Ende, und die anderen sind schon raus«, riss ihn die Stimme von Herrn Hagen aus seiner Trance. »Beeil‘ dich, ich will den Klassenraum abschließen.«

Im Hinausgehen drückte Juri mit gesenktem Kopf seinem Lehrer sein Heft in Hand. »Tut mir leid, ich bin nicht ganz fertig geworden«, murmelte Juri.

Herr Hagen runzelte die Stirn. »Die Zeit war mehr als ausreichend, und die anderen sind doch auch alle fertig geworden.«

Juri konnte nur verlegen mir den Schultern zucken.

»Also, ich weiß auch nicht, wie das mit dir weitergehen soll, Juri«, sagte Herr Hagen streng. »Ich meine, bisher konntest du deine Drei halten, aber seitdem wir das neue Thema begonnen haben, habe ich nicht den Eindruck, dass du mit den anderen Schülern mitkommst. Die letzte Lernzielkontrolle war jedenfalls sehr enttäuschend. Wenn du dir jetzt Lücken im Stoff leistest, wirst du es später wirklich schwer haben. Ich mache mir Sorgen. Du willst doch mal Astrophysiker oder Astronaut werden. Ich werde mal mit deinem Vater sprechen. Der ist doch Wissenschaftler. Kann der dir nicht ein bisschen helfen?«

»Mein Vater ist fast nie zu Hause. Er arbeitet immer draußen auf der Plattform.«

»Ach ja, stimmt. Na, dann werde ich eben mit deiner Mutter sprechen. Sage ihr bitte, dass sie sich bei mir melden soll, damit wir einen Termin ausmachen können.«

Und damit öffnete er für Juri die Klassentür und deutete ihm unmissverständlich an, dass die Schule und das Gespräch beendet waren. Juri quetschte sich an Herrn Hagen vorbei und verließ mit roten Ohren den Raum. Er schämte sich und wäre wirklich gern besser in der Schule. Aber irgendwie wollte der Knoten nicht platzen.

Draußen vor der Schule standen die Schülerinnen und Schüler in Grüppchen auf dem Schulhof schwatzend und lachend zusammen und machten Pläne für das bevorstehende warme Wochenende.

»Oh nein«, dachte Juri, »auch das noch.« Da standen Klaus, der Dicke Willi und der lange Dirk zusammen. Sie waren eine Klassenstufe höher und gehörten zu den coolen Kids der Schule. Aus irgendeinem Grund hatten sie es gerade immer auf Juri abgesehen, wenn sie jemanden zum Schikanieren und Demütigen suchten.

Juri zog den Kopf ein und steuerte geradewegs dem Torausgang des Schulhofes zu. Wenn er sich mit gesenktem Blick auf der anderen Seite der Traube von Mädchen aus seiner Klasse vorbeidrückte, die gerade eifrig mit ihren Smartphones beschäftigt waren, würden die drei Rowdys ihn vielleicht nicht sehen. »Bloß nicht hochschauen«, sagte sich Juri.

»Hey, da ist ja unser Russe! Warte mal!«

Zu spät. Sie hatten ihn gesehen, kamen direkt auf ihn zu und traten ihm in den Weg.

»Bin kein Russe, ich bin aus der Ukraine«, murmelte Juri, der plötzlich scheinbar ein großes Interesse an seinen Turnschuhen gefunden hatte.

»Na sowas, unser Aussiedler hat plötzlich Ahnung von Geographie«, höhnte Klaus. »Dann sag‘ uns doch mal, was die Hauptstadt von Opfer-Land ist.«

»Kenne ich nicht.« Juris Stimme war kaum zu hören. Dafür leuchteten seine knallroten Ohren umso heller.

»Das kennt er nicht!« Klaus mimte großes Erstaunen, während Willi und Dirk an seiner Rechten und Linken von einem Ohr zum anderen feixten. »Das müsstest du aber doch kennen. Da wohnen nämlich alle Opfer. Also auch du.«

Mittlerweile hatten die umstehenden Kinder bemerkt, dass etwas Aufregendes passierte. Im Nu hatte sich ein Kreis um die drei Flegel und den armen Juri gebildet. Alle gafften neugierig, aber keiner tat oder sagte etwas. Es war nicht ratsam, auf die schlechte Seite von Klaus und seiner Gang zu geraten.

»Lasst mich in Ruhe«, stammelte Juri und wollte sich zwischen Klaus und dem Dicken Willi durchquetschen. Aber die hielten ihn fest und stießen ihn zurück.

»Nein, nein, nein, so geht das nicht«, sagte Klaus und hielt Juri die offene Hand hin. »Bürger von Opfer-Land müssen Zoll bezahlen, wenn sie in unsere kleine Stadt einreisen wollen.«

»Ich habe aber kein Geld.«

»Kein Geld? Was wollen wir dann mit unserem kleinen Opfer machen, Männer? Stecken wir ihn in die Mülltonne, oder schmeißen wir seine Turnschuhe auf das Dach der Schule?«

»Ich bin für eine Haarspülung in der Toilette«, grinste der lange Dirk, der immer die gemeinsten Ideen ausheckte.

»Tolle Idee, Dirk. Seine Haare sind ja wirklich ganz fettig. Los, packen wir ihn und dann ab aufs Schulklo.«

Die herumstehenden Schülerinnen und Schüler johlten vor Schadenfreude. Solange es sie nicht selbst traf, war ihnen jede Form der Unterhaltung recht, die ihnen Klaus und seine beiden Handlanger boten. Die drei Rowdys gingen auf Juri los und hatten ihn nach kurzem Rangeln fest im Schwitzkasten. Sein verzweifeltes Strampeln und Winden nutzten Juri kein bisschen, und so wurde er gegen seinen heftigen Widerstand Schritt um Schritt Richtung Schulklo bugsiert. Derweil lachten und applaudierten seine eigenen Klassenkameraden am lautesten.

Juri versuchte, dem Dicken Willi in die Rippen zu boxen, doch Dirk ergriff seinen Arm im richtigen Moment und verdrehte ihn auf Juris Rücken, sodass er Angst hatte, er könne jeden Augenblick brechen. Derweil zog Willi seinen fetten Arm immer fester um Juris Hals zusammen. Juri bekam fast keine Luft mehr. Sein Arm schmerzte wie Feuer, und Tränen und Schweiß rannen ihm in seine Augen, sodass er nichts mehr sehen konnte. Der Lärm der brüllenden Schüler löschte jedes andere Geräusch aus. Dann boxte ihm Klaus auch noch kräftig in den Magen. Juri wurde schlecht und hätte sich hustend zusammengekrümmt oder gar übergeben, wenn ihn Dirk und Willi nicht fest im Griff gehabt hätten.

Doch plötzlich kam der kleine Trupp jäh zum Stehen.

»Aufhören! Sofort!« ertönte eine helle Stimme.

Der Griff um Juris Hals und seinen Arm lockerte sich, und Juri sank auf die Knie, um Atem ringend.

»Was fällt dir ein, dich einfach so einzumischen?« hörte Juri die barsche Stimme von Klaus.

Als er durch den feuchten Schleier vor seinen Augen hindurch blinzelte, konnte er an den Beinen von Klaus, Willi und Dirk vorbei schemenhaft die Situation erkennen. Die drei hatten ihm den Rücken gekehrt und ihn einfach zu Boden sinken lassen. Vor ihnen stand wie ein rettender Engel im hellen Sonnenlicht mit wehenden blonden Haaren ... Maria! Und sie fuchtelte energisch mit irgendetwas Rechteckigem vor Klaus‘ Nase herum.

»Ihr seid ja richtig mutig! Drei auf einen, der noch dazu eine Klasse unter euch ist!«

»Ooooh, Leute. Wie interessant. Maria hat ein Herz für kleine Opfer!« zischte Klaus bedrohlich. »Hast den Russen ja ganz schön ins Herz geschlossen.«

»Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi und schmatzte dabei ein paar Küsse in die Luft.

Die umstehenden Schüler kicherten.

»Und, was willst du jetzt machen, Kleine? Du willst doch keine Entscheidung treffen, die dir und deinem kleinen Russen-Freund leidtun könnte.«

»Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi.

»Ich bin nicht ‚deine Kleine‘«, ereiferte sich Maria und trat so nah an Klaus heran, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Hätten ihre blauen Augen Blitze schießen können, wäre Klaus‘ Kopf augenblicklich in Flammen aufgegangen.

Gegenwehr war Klaus noch nie passiert. Das war er nicht gewohnt. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. »Pass‘ bloß auf!« drohte er und pumpte sich zu seiner vollen Größe auf.

»Komm, lassen wir sie mit ihrem Opfer-Lover allein«, sagte Dirk und ergriff Klaus‘ Schulter.

»Knutschie, knutschie, knutschie!« machte der Dicke Willi.

Es gab einen dumpfen Knall. Die Augen vom Dicken Willi flatterten, verzogen sich dann zu einem verdrehten Schielen, und er kippte wie ein Brett nach hinten und wäre auf den Asphalt des Schulhofs geschlagen, wenn ihn seine beiden Kumpane nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätten.

Maria hielt das große rechteckige Mathematikbuch hoch über den Kopf. »Will noch jemand eine Portion Grips eingehämmert bekommen?«

»Was geht denn hier vor?!« Herr Hagen stand wie die geballte Faust Gottes auf der Schwelle des Schulhauses.

Ganz plötzlich hatten alle Schüler es furchtbar eilig, den Schulhof zu verlassen. Im Gehen rief Klaus noch zu Juri und Maria herüber, dass das Ganze noch nicht zu Ende sei. Dann nahmen er und Dirk den Dicken Willi unter die Arme, dessen Nase schon zur doppelten Breite angeschwollen war. Keine 30 Sekunden später waren Juri und Maria allein auf dem Schulhof mit Herrn Hagen.

»Herr Lehrer, ich...« begann Maria.

»Du brauchst dich nicht zu erklären, Maria«, entgegnete der Mathematiklehrer. »Ich habe das Ende des Schauspiels mitbekommen. Das war sehr mutig und anständig von dir. Ist alles OK mit dir, Juri? Soll ich die Eltern von Klaus, Dirk und Willi anrufen?«

Maria half Juri auf Beine.

»Nein«, krächzte Juri. »Es ist schon alles gut.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Kein Problem.« Er rieb seinen Bauch und seinen schmerzenden Arm.

»Gut. Aber wenn die drei nochmal Ärger machen, dann sag‘ mir sofort Bescheid.« Und an Maria gewandt, fügte Herr Hagen noch mit einem Lächeln und einem Nicken auf das Mathematikbuch hinzu: »Hey, in Deiner Hand ist Mathematik ja eine richtige Waffe, Maria. Schönes Wochenende noch.« Und damit drehte er sich um und ging mit seinem kleinen Aktenköfferchen mit langen Schritten vom Hof.

Da ist noch so viel mehr

»Tut es sehr weh?« fragte Maria.

»Nur wenn ich lache«, sagte Juri, und zu seiner Überraschung musste er wirklich plötzlich lachen.

»Das war wirklich Klasse von dir, wie du dem Willi das Buch auf die Nase gehauen hast. Aua!«. Juri verzog das Gesicht und hielt sich seine Körpermitte.

Maria grinste. »Das war aber auch höchste Zeit, dass denen jemand mal eine Lektion erteilt hat.«

»Danke, dass du mir geholfen hast.« Juri stand verlegen herum und nestelte mit seinen Fingern.

»Gern.« Maria strahlte ihn an, und ihre blauen Augen funkelten in der Sonne.

Juri überwand seine Scham und strahlte zurück. Ein paar Sekunden sagte keiner von beiden ein Wort. Sie schauten sich einfach nur lächelnd und schweigend in die Augen.

Dann begannen plötzlich Marias Schultern zu zucken und zu zittern. Juris Stirn legte sich in Falten des Nichtverstehens. Schließlich prustete Maria los. Aus einem Prusten wurde ein Kichern. Aus einem Kichern wurde ein Lachen. Aus einem Lachen wurde ein Sturm der Heiterkeit. Auch Juri ließ sich davon Anstecken und mitreißen. Die beiden Kinder lachten und lachten, bis sie sich die schmerzenden Seiten hielten und nach Luft rangen.

»Ich weiß nicht, wovon mir morgen der Bauch mehr wehtun wird«, keuchte Juri, »von der Prügelei oder vom Lachen.«

»Eine richtige Prügelei sieht aber anders aus«, kicherte Maria wieder los. »Da steckt einer nicht nur alles ein, sondern teilt auch mal etwas aus.«

»Aufhören, ich kann nicht mehr!« kicherte Juri und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Zusammen gingen sie hinüber zu den Fahrradständern, wo Maria ihr Fahrrad angeschlossen hatte.

Juri nahm all seinen Mut zusammen: »Sag‘ mal, Maria. Du bist doch so gut in Mathe und so. Kannst du mir nicht ein bisschen helfen?«

»Ja, gern. Kein Problem. Wir könnten heute gleich damit anfangen und unsere Schulaufgaben gemeinsam machen.«

»Das würdest du tun?«

»Natürlich. Ich muss die Aufgaben doch ohnehin machen.« Maria machte ihr Fahrradschloss auf und schob das Fahrrad vom Schulhof.

»Ohne mich bist du doch viel schneller.«

»Quatsch‘ nicht. Gehen wir zu dir? Meine Mama putzt heute die Wohnung, und da ist es bei uns nicht besonders gemütlich.«

»Ok«, strahlte Juri. »Meine Mama kann uns Blinis zum Abendessen machen. Und ich kann dir mein Teleskop zeigen.«

»Du hast ein Teleskop? Cool!«

Sie schlenderten durch die Gassen von Hyvelstörp und standen schließlich vor einem großen mit Reet gedeckten Haus inmitten eines wunderschönen Gartens dicht an der Steilküste, welches das Heim von Juri und seinen Eltern war. Maria staunte nicht schlecht über die wunderbare Aussicht und den gepflegten Garten. Das Haus musste sehr teuer gewesen sein, aber offenbar verdienten Juris Eltern viel Geld. Sie wusste, dass Juris Vater irgendetwas für die Regierung machte. Sie selbst wohnte im Ort in der Siedlung in einer kleinen Mietwohnung. Marias Vater arbeitete in einer Tankstelle, ihre Mutter in einer Steuerberatung. Viel Geld hatten sie nicht, aber zum Leben reichte es. Marias Vater wollte immer, dass sie es einmal besser haben sollte, und so unterstützte er ihren Wunsch, einmal Abitur machen zu wollen und zu studieren. Das war keinesfalls selbstverständlich.

Sie war genau wie Juri ein Einzelkind. Sie hatte sich immer schon einen Bruder gewünscht, doch ihre Eltern hatten offenbar andere Pläne gehabt. Und nun war da auf einmal Juri.

Juri hatte ein total schickes, großes Zimmer unter dem Dach. Die gesamte Zimmerdecke stellte ein Bild einer Galaxie dar, wobei die großen Fixsterne Deckenspots waren. Die kleineren Sterne konnten als kleine LEDs separat dazu geschaltet werden. Juri hatte neben dem Bett eine eigene kleine Sitzecke mit einer gemütlichen Couch und einem schwingenden Sessel, der mit einem Strick an der Decke befestigt war. Auf dem Schreibtisch hatte er einen eigenen top-modernen Computer, und an der Wand hing über der Stereoanlage ein großer Flachbild-Fernseher, der selbstverständlich auch 3D-Filme darstellen konnte. Juri hatte so ziemlich alles, was sich ein Zwölfjähriger wünschen könnte. Juri hatte sogar einen eigenen Balkon mit Blick zur Ostsee. Dafür sah er seinen Vater so gut wie nie.

Maria schaukelte in Juris Sessel und schob sich gerade den letzten Blini in den Mund, den Juris Mutter den Kindern aufs Zimmer gebracht hatte.

»Wirklich lecker, diese Blinis.«

»Waren das deine ersten Blinis?«

»Ja. Ich wusste gar nicht, dass die russische - ich meine - die ukrainische Küche so gut ist.«

»Mach‘ dir nichts draus. Da gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten«, winkte Juri ab.

»Zeigst du mir jetzt Dein Teleskop?«

»Klar.«

Das Teleskop stand auf Juris Balkon. An einem klaren Tag konnte er damit sogar gerade noch die Forschungsplattform seines Vaters erkennen. Nach Westen konnte man sehr gut den alten Leuchtturm an der Steilküste betrachten.

»Ich habe eine Idee«, platzte Maria heraus. »Ich frage meine Mama, ob ich heute länger wegbleiben kann, und dann können wir uns gemeinsam die Sterne ansehen. Bis es dunkel wird, haben wir auch unsere Hausaufgaben erledigt.«

----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----

Ein paar Stunden später saßen Maria und Juri gemeinsam unter einer Wolldecke auf Juris Balkon. Die Nacht war sternenklar aber auch sehr kühl hier an der Küste. Der Mond war kurz davor, in einer vollen Scheibe zu erstrahlen. Juri hatte Maria begeistert alle Sterne und Galaxien gezeigt und erklärt. Sie war sehr wissbegierig gewesen, und dass er alle ihre Fragen beantworten konnte, erfüllte ihn mit Stolz und einem Selbstwertgefühl, das er bisher nicht gekannt hatte. Nun waren sie schon müde, und ihre Augen brannten vom angestrengten Starren durch die Linsen des Teleskops. Sie saßen mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt und blickten hinaus in den Himmel.

»Meinst du, man kann das alles berechnen?« fragte Juri nach einem langen Schweigen.

»Was meinst du?«

»Na, die Sterne. Wo die Sterne heute sind, wie sie sich bewegen, wo sie sein werden. Sowas eben.«

»Ich weiß nicht. Ich hoffe es.«

»Warum hoffst du das?«

»Weil das Ganze damit einen Sinn ergäbe. Es würde dann einer bestimmten Logik folgen. Damit hätte das Universum einen erklärbaren Zusammenhang.«

»Möchtest du denn alles erklären können?«

»Nein. Aber es wäre schön, wenn man wüsste, dass es prinzipiell ginge. Wenn die Dinge nicht dem Zufall überlassen wären. Es wäre für mich sehr beruhigend. Es hätte eine bestimmte Schönheit. Das wäre so, als ob du ein Bild betrachten und nach einer Weile erkennen würdest, dass der Künstler nicht nur Kleckse nach Gutdünken und Zufall auf die Leinwand gebracht, sondern sich etwas dabei gedacht hatte, was sogar bestimmten Regeln folgt.«

»Malen nach Zahlen?«

»Weißt du«, sagte Maria, »ich glaube, dass ganz Vieles von unserem Leben ein bisschen so ist.« Sie knipste die Taschenlampe von ihrem Handy an, holte das dicke Mathematikbuch hervor und schlug es auf. »Auf der einen Seite gibt es bestimmte Regeln, denen alles folgt und die wir berechnen können. Alles hängt durch Formeln miteinander zusammen. Auf der anderen Seite können wir mit unserem freien Willen Entscheidungen treffen, was diese Regeln durchbrechen kann, dann aber auch möglicherweise wieder logischen Regeln folgt.«

»Ich glaube, jetzt hast du mich abgehängt.«

Maria gähnte. »Ich will nur sagen: Da ist noch so viel mehr…. Aber es ist schon nach 22 Uhr.« Sie klappte das Buch zusammen und steckte ihr Smartphone ein. »Meine Mama wird mich jetzt gleich abholen. Es war schön, Juri. Sehen wir uns am Wochenende?«

Juri lief wieder knallrot an, aber diesmal, weil er sich so freute.

Anomalien im Hochenergiespektrum

Das Zentrum zur Erforschung von abnormen Phänomenen der Hochenergiephysik war eine schwimmende Plattform draußen vor der Küste. Auf den ersten Blick hätte man sie für eine Ölbohrplattform ohne Beine gehalten. Sie war rot-weiß angestrichen, quadratisch und so groß wie zwei Fußballfelder. Den Auftrieb erzeugten große gelbe Schwimmkörper, die um die gesamte Plattform herum an den Kanten vertäut waren und an Bratschläuche kurz vor dem Platzen erinnerten.

Das Deck war mit einem komplizierten Röhren- und Leitungssystem überzogen. Ein großer roter Kran ragte an der einen Kante empor. Mit ihm konnten nicht nur Verpflegung und wissenschaftliche Geräte von Versorgungsschiffen auf die Plattform gehievt werden, sondern auch das kleine gelbe Unterseeboot zu seinen Missionen ins Wasser und wieder heraus gehoben werden. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Helipad, eine erhöhte Plattform mit einem großen weißen »H« auf dem olivgrünen Boden, worauf Hubschrauber auch bei stärkerem Seegang sicher landen konnten. An der Ecke gleich neben dem Helipad erhob sich wie ein weißes Hochhaus mit großen Funkantennen und Radarschüsseln auf dem Dach der Wohn-, Ess- und Freizeitbereich der Plattform. Hier befanden sich auf fünf Stockwerken die Wohn- und Schlafräume der hier arbeitenden Wissenschaftler, zwei Kantinen, ein Café und mehrere Aufenthaltsräume. Daneben gab es einen Fitnessraum, ein Schwimmbad, eine Sauna und eine umfangreiche Bibliothek. Auch eine kleine Arztstation mit Apotheke gehörte zur Ausstattung der Plattform. Das oberste Stockwerk diente als Kommandozentrale. Hinter dunkel getönten Scheiben wurden von der diensthabenden Crew der gesamte Flug-, Schiffs- und Funkverkehr rund um die Plattform überwacht. Auch der Wetterdienst war hier angesiedelt.

Doch das wissenschaftliche Herz der Anlage befand sich unter Wasser!

Von außen nicht sichtbar, ragte vom Zentrum der Anlage ein langer schmaler Trichter fünf Stockwerke tief in die Ostsee hinein. Von diesem Trichter führten auf jedem Stockwerk waagerechte Röhren hinaus ins Meer wie die Speichen eines Rades, an deren Spitzen jeweils in einer kugelförmigen Verdickung die verschiedenen Labore und Messstationen der Anlage untergebracht waren. Die Station sah damit unter Wasser ein bisschen aus wie ein auf den Kopf gestellter Tannenbaum. An der untersten Spitze des Trichters, tief unter dem Meeresspiegel, befand sich schließlich das Rechenzentrum mit den derzeit leistungsfähigsten Sensoren und Supercomputern zur Auswertung von Messdaten und zur Simulation von Modellrechnungen. Drei Fahrstühle in der Mitte brachten die Wissenschaftler von ihren Behausungen an Deck zu ihren Unterwasser-Arbeitsplätzen und wieder zurück.

Juris Vater, Pjotr Petkov, saß an einem Labortisch auf Ebene drei unter dem Meeresspiegel und blickte angestrengt in ein Mikroskop. Es war schon nach 22 Uhr, und seine Augen brannten und waren gerötet und müde. Er arbeitete nun schon seit einigen Wochen an diesem Experiment, und es wollte sich partout kein Fortschritt einstellen. Wahrscheinlich würde er die eingeschlagene Forschungsidee in ein paar Tagen als sinnlos und unfruchtbar aufgeben müssen.

Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter. Pjotr zuckte vehement zusammen und hätte fast seinen erkalteten Kaffee über seine Aufzeichnungen geschüttet.

»Mensch, Karl, musst du mich so erschrecken?!« fluchte er.

Sein schwedischer Kollege Karl Lundqvist, ein breitschultriger, glattrasierter, blonder Hüne in seinen Dreißigern stand hinter ihm und lächelte verlegen und schuldbewusst.

»Tut mir leid, Tschaikowski, aber ich hatte schon dreimal gefragt, ob du jetzt auch Schluss machst und auf einen Schlummertrunk mitkommst. Aber du warst so vertieft….«

Seine direkten Arbeitskollegen nannten Pjotr immer wie seinen berühmten musikalischen Namensvetter »Tschaikowski«, obwohl der nicht aus der Ukraine, sondern aus Russland stammte. Der Spitzname hatte dennoch ganz schnell die Runde auf der Plattform gemacht, und Juris Vater fand ihn auch gar nicht so schlecht, da er eine Schwäche für klassische Musik hatte.

»Oh, äh, nein. Danke, Karl. Ich will das hier nur noch schnell zu Ende machen und dann eine E-Mail an meinen Jungen schicken.«

»Ok, Tschaikowski. Der letzte macht das Licht aus.« Karl gähnte und streckte sich theatralisch, nahm seine kleine Aktentasche unter den Arm und ging aus dem Labor in den Vorraum. Er zog dort seinen Kittel aus und hängte ihn an einen Haken, bevor er sich durch ein Schott hinaus durch einen der Speichenarme zum Fahrstuhl begab. Das Schott fiel mit einem metallischen Donnern zu. Dann herrschte Ruhe.

Pjotr wandte sich wieder seinem Mikroskop zu und seufzte. Wie lange hatte er Juri nun eigentlich nicht mehr gesehen? Waren es vier Wochen? Oder doch schon wieder sechs Wochen? Die Wissenschaft war eine harte Geliebte. Aber morgen würde er sich losreißen und einen kurzen Landurlaub machen und seine Familie wiedersehen! Sollte er das schon in seiner E-Mail an Juri erwähnen, oder sollte es eine Überraschung werden? Eine Überraschung wäre schön, aber es könnte ja immerhin sein, dass Juri irgendwelche Pläne machte und gar nicht bei der Ankunft seines Vater zu Hause wäre. Also gut. Keine Überraschung. »Jetzt aber noch ein bisschen Konzentration, Tschaikowski«, trieb er sich selbst an und summte dabei die ersten Takte der ersten Sinfonie seines berühmten Namensvetters mit dem Titel »Winterträume«.

----- ∀∃∮∞∡∛⊗ -----

Zwei Ringe unter ihm in einem anderen Ausläufer des Laborsystems prangte an einem Schott ein Schild »Bosonenfalle - Achtung! Hochspannung! Starke Magnetfelder! Radioaktivität!« Das Schott war mit einem Tastenfeld zur Eingabe eines Zugangscodes gesichert. Dahinter befand sich eine Sicherheitsschleuse, die zu einem dunklen Raum führte, der fast vollständig mit einem großen kugelförmigen stählernen Tank auf sechs Beinen ausgefüllt war. Mehrere Sichtfenster mit dickem Spezialglas erlaubten einen Blick auf die mit superschweren Isotopen gesättigte Indikatorflüssigkeit im Inneren. Durch die Sichtfenster fiel ein blauer Schein aus dem Inneren des Tanks und erzeugte in dem Raum außen eine kühle surreale Atmosphäre. Von der Spitze des Tanks, der den Kern der Bosonenfalle zum Nachweis zahlreicher Elementarteilchen darstellte, führten mehrere mit Kondenswasser beschlagene Rohre zur Decke.

An der linken Wand gelangte man über eine Stahltür in den benachbarten Mess- und Kontrollraum. Der kleine Raum war mit Computern, Spektrometern und anderen wissenschaftlichen Geräten bis zum Bersten gefüllt. Die Dunkelheit im Raum wurde nur von den blinkenden Lichtern der Computerkonsolen und dem bläulichen Licht der Bosonenfalle durchdrungen, das durch ein Beobachtungsfenster hereinfiel. Der verlassene Schreibtisch war sauber aufgeräumt, der bequeme Drehstuhl auf fünf Rollen ordentlich an den Schreibtisch herangeschoben. Außer dem Surren der Geräte und dem rhythmischen Ticken einer digitalen Wanduhr herrschte absolute Stille. Die Wanduhr zeigte 22:03:14.

Zuerst kaum wahrnehmbar veränderte sich etwas. Die Dunkelheit im Messraum schien langsam schwerer zu werden und sich wie ein Tuch herabzusenken. Es herrschte eine Anspannung wie vor einem Unwetter, eine Erwartung, die Hunde winseln und Katzen mit einem Fauchen das Weite suchen lassen würde. An den Grenzen der Wahrnehmung pulsierten die Beziehungen zwischen Raum und Zeit.

Dann war plötzlich die Luft wie von einer elektrischen Spannung erfüllt. Sie schwoll an und stellte die Härchen an den Armen auf. Stärker noch. Sie ließ die Haut kribbeln, bis sie sich vom Fleisch lösen wollte. Die Lichter der Messgeräte begannen heftig zu tanzen. Durch die dicken Glasscheiben zeigten sich in der Bosonenfalle zunächst feine Blasen, die sich rasch vermehrten und anschwollen. Immer noch nahm die mysteriöse Energie zu, bis die Flüssigkeit im Tank heftig blubberte und sich der Lichtschein zu einem tiefen anormalen Blau veränderte. Im Kontrollraum erwachten die Computerkonsolen zu eigenem Leben und zeigten alle möglichen Messdaten mit unerklärlichen Maximalausschlägen.

Und irgendwo tief unten in der kugeligen Spitze der Forschungsanlage bei den Hochenergiesensoren und Supercomputern fing eine kleine gelbe Lampe an, rhythmisch zu blinken.

Maria macht eine Entdeckung

Auf der Landseite erhob sich ein grüner mit Gras bewachsener Hügel, der ganz plötzlich schroff und steil zur Ostsee hin abstürzte. Auf seinem Gipfel stand seit vielen Jahrzehnten der alte Leuchtturm mit dem angeschlossenen kleinen Leuchtturmwärter-Häuschen. In seiner Glanzzeit strahlte sein Leuchtfeuer über hundert Kilometer hinaus auf das Meer und wies einsamen und vom Sturm gepeitschten Seeleuten den Weg nach Hause. Er trotze allen Winden, und auch im dicksten Nebel konnte man damals seine Laterne von Ferne hoch und stolz circa 30 Meter über der Klippe ausmachen. Doch das war alles schon lange her.

Heute fanden nur noch die Möwen auf der Balustrade unter dem überhängenden Dach eine Zuflucht. Die rote und weiße Farbe löste sich an vielen Stellen in großen Fladen von den gekrümmten Wänden, die gläserne Kuppel war getrübt und an einigen Stellen gesprungen, und an der verschlossenen Eingangstür im Erdgeschoss prangte ein großes, fleckiges Warnschild »Unbefugten ist das Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder.« Es war einer der einsamsten Orte in der Gegend.

Und damit auch einer der aufregendsten Orte, wenn man ein Kind ist und in einer Kleinstadt an der Küste wohnt. Maria war, als sie jünger war, schon oft mit klopfendem Herzen um den Leuchtturm herumgeschlichen. Hier hatte sie als Schmugglerin so manches Abenteuer bestanden. Sie hatte immer schon nachts mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelegen und Geschichten über Piraten, Schmuggler, versteckte Schätze und tollkühne Helden gelesen. Nach der Schule und auch an Wochenenden war sie immer hinaus zum Leuchtturm gegangen und hatte alle diese Geschichten stundenlang nachgespielt. Sie war Hauptmann der Schmuggler, edler Kaufmann und schöne Prinzessin zugleich und im Wechsel.

In gerader Verlängerung des Leuchtturms nach unten, dort, wo der Strand die steil aufragenden Klippen traf, gab es eine Grotte mit einem Eingang, der wie ein doppelt mannshohes »A« aussah. Das war ihr geheimer Unterschlupf. Na, nicht wirklich geheim. Die anderen Kinder im Ort kannten die Grotte natürlich auch gut. Als sie noch kleiner gewesen waren, hatten sie auch oft gemeinsam hier gespielt. Natürlich wollten die Mädchen immer »Vater, Mutter, Kind« spielen. Aber Maria war immer schon lieber Pirat gewesen und hatte mit den Jungen spielen wollen. Als sie dann auch noch in der Schule immer besser geworden war und ihr merkwürdiges Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften entwickelt hatte, hatten sich die anderen Mädchen allmählich von Maria zurückgezogen und sich von Barbie Puppen über Smartphones und Make-up zu Jungs-Fragen vorgearbeitet. Nur Maria kam noch hierher. Die Jugendlichen und Erwachsenen im Ort orientierten sich derweil auch eher nach Osten und Westen zu den großen bewachten Stränden, die allerlei Abwechslungen, Buden, Läden und Restaurants an den Promenaden boten.

Es war der folgende Samstagmorgen, und Marias Eltern hatten beschlossen, in die Stadt zum Einkaufen zu fahren. Maria hatte sich nach dem Frühstück ein paar Brote geschmiert und einen Apfel, ein Buch und ein Handtuch eingepackt und war auf ihr Fahrrad gesprungen, um zum Leuchtturm zu fahren. Es würde ein heißer Sommertag werden. Der Himmel war makellos blau, und die Sonne schickte bereits ihre wärmenden Strahlen herab. Der Weg zum Leuchtturm führte Maria über den Marktplatz mit seinem Neptun-Brunnen in der Mitte, an der »Statue des Geometers« vor dem Zunfthaus vorbei und dann nach Nordwesten aus dem Örtchen heraus. Am Ortsausgangsschild bog sie rechts auf einen kleinen Feldweg ein, der sie erst an ein paar Weizenfeldern und dann an einem Wäldchen vorbeiführte. Schließlich machte der Weg eine weite Biegung zurück nach rechts und führte parallel der Küste entlang über eine Wiese, bis er vor dem Hügel mit dem Leuchtturm endete und sich in einen Trampelpfad verwandelte, der sich in mehreren Serpentinen zum Eingang des Leuchtturms hochwand.

Maria warf ihr Fahrrad einfach ins hohe Gras, schulterte ihre Tasche und ging links am Leuchtturmhügel vorbei. Dort befand sich am Rand der Klippe eine Treppe hinab zum Strand, die aber schon nach wenigen Metern endete, sodass man sich von dort an selbst einen Weg durch die zerklüfteten Klippen suchen musste, wenn man nach unten wollte. Maria kannte ihren Weg blind und sprang behände von Stein zu Stein und Vorsprung zu Vorsprung, bis sie auf dem weichen Sand des Strandes landete. Er war noch von der Nacht ein wenig kühl und feucht, aber das würde die Sonne bald ändern, wenn sie an diesem schönen Sommertag höher stieg.

Aus Gewohnheit wandte sich Maria nach rechts und steuerte auf die Grotte zu. Dort wollte sie ihr Handtuch ausrollen und ein bisschen lesen. Doch wie sie bei dem großen »A« im Felsen ankam, blieb sie plötzlich stehen. Direkt vor ihren Füßen entdeckte sie eine Reihe von kleinen Fußspuren im Sand. Sie könnten von kleinen Kindern mit nackten Füßen stammen, und sie verschwanden in der Grotte. Es gab keine Fußspuren, die sich wieder heraus bewegt hätten, d.h. die Kinder müssten noch in der Höhle sein. Marias Blick folgte den Fußspuren in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und stellte überrascht fest, dass sie aus dem Wasser gekommen waren. Ein Boot konnte sie nirgends sehen. Als sie den Strand hinauf- und hinuntersah, konnte Maria auch keine weiteren Fußspuren erkennen. Es gab nur diese eine offenbar frische Fährte vom Wasser zur Grotte.

Neugierig und vorsichtig näherte sich Maria von der Seite dem Eingang zur Grotte. Sie wollte sehen, wer die Kinder waren und was sie hier trieben, bevor sie sich eventuell zu erkennen geben wollte. Sie lauschte angestrengt ein paar Atemzüge lang. Ihr war, als ob sie von innen das Wispern leiser Stimmen hörte und das sanfte Klackern von Steinen aufeinander. Die Stimmen klangen ganz und gar nicht wie Kinderstimmen, eher wie die von Erwachsenen, aber das konnte Maria nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Vorsichtig spähte sie um die Ecke.

Die Grotte hatte einen circa zehn Meter langen Eingangsbereich, der grob der Form des »A« entsprach und sich rasch nach hinten verjüngte. Niemand war zu sehen, aber die Fußspuren setzten sich durch den Sand auf dem Boden weiter nach hinten fort. Maria wusste, dass sich am Ende ein kleiner Gang weiter in den Fels erstreckte. Diesen Gang konnte ein Erwachsener nur gebeugt betreten. Er beschrieb ein sanftes »S« und endete nach einigen Schritten in einer Sackgasse, die vom Eingangsbereich aus nicht einzusehen war. Wer auch immer in der Grotte war, musste im Gang stecken und bald feststellen, dass es dort nicht weiterging.

Maria huschte leise voran und presste sich grinsend neben den Eingang zum kleinen Gang. Der Schalk hatte sie gepackt. Wenn die Kinder herauskämen, würde sie ihnen einen gehörigen Schrecken einjagen.

Sie konnte jetzt die Stimmen deutlicher hören. Zu dem Klappern von Steinen aufeinander kam jetzt noch ein schabendes Geräusch, so als ob jemand eine Hacke oder Schaufel über die Felswand zog. Je länger Maria lauschte, desto sicherer wurde sie sich, dass es doch keine Kinder waren, die dort hinten im Gang tuschelten und werkelten. Ab und zu drangen ein kehliges Keuchen oder ein leiser derber Fluch an ihre Ohren. Einzelne Worte konnte Maria nicht ausmachen. Entweder waren die Stimmen zu leise, sodass sie nicht klar gegen die Nebengeräusche zu hören waren, oder es handelte sich um eine fremde Sprache, die Maria nicht erkannte. Je länger Maria dastand, desto unheimlicher wurde ihr dabei, und ihr Grinsen schmolz dahin. Ihr kamen die Geschichten von den Schmugglern wieder in den Sinn. Wer weiß, was dort im Gang passierte. Vielleicht vergrub eine Diebesbande gerade irgendwelche Schätze. Jedenfalls wurde ihr plötzlich klar, dass sie möglichst nicht entdeckt werden wollte. Ihr Herz begann, wild in ihrer Brust zu pochen. Leise entfernte sie sich rückwärts von dem Gang Richtung Ausgang, die Augen immer auf das dunkle Loch gerichtet. Sie malte sich aus, dass jeden Augenblick jemand aus dem Gang heraustreten und sie mit einem Schrei entdecken würde. Ihre Fantasie fing an, mir ihr durchzugehen. Sie bildete sich ein, blitzende Augen zu sehen, die aus der Dunkelheit auf sie gerichtet waren. Kalt lief es ihren Rücken herab. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf.

Und dann war da plötzlich noch ein elektrisches Kribbeln, das von ihren Haarwurzeln zu ihren Fußsohlen hinablief. Panik ergriff Marias Herz. Sie wandte sich um und rannte los. Wie sie gerade aus dem Mund der Höhle schoss, vernahm sie hinter sich einen lauten Ruf:

»Quod erat demonstrandum![Fußnote 1]«

Dann folgte ein Knall und gleichzeitig bekam sie von hinten einen Stoß von einer Druckwelle, die sie aus der Grotte herausschleuderte und ein paar Meter weiter auf den weichen Sand katapultierte. Maria wartete gar nicht lange und schaute auch nicht zurück. Sie spuckte den Sand aus ihrem Mund und war schon wieder auf den Beinen, kaum dass sie gelandet war. Sie rannte aus voller Kraft auf den Aufstieg zur Klippe zu. »Bloß weg hier!« dachte sie sich.

Als sie 20 Meter weiter den Fuß der Klippen erreicht hatte, kauerte sie sich schnell hinter einen großen herabgestürzten Steinbrocken und hielt schwer atmend Ausschau nach Verfolgern. Zu ihrer Erleichterung war ihr niemand gefolgt. Sie zitterte am ganzen Körper. Maria wollte aufstehen und verstohlen den steilen Aufstieg zur Klippe antreten, aber ihre Knie versagten ihr den Dienst. So musste sie sich notgedrungen wieder hinkauern und warten, bis sie ihre Kräfte zurückhatte. Hilfe konnte sie keine rufen, denn sie hatte ihr Handy nicht mitgenommen. So ein Mist aber auch!

Was waren das nur für Leute? Und was haben die da in der Grotte gemacht? Maria versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Bestimmt haben die da in der Grotte etwas gesprengt. Sollte sie die Polizei rufen? Vielleicht hatte es ja auch etwas mit den Forschungen von Juris Vater zu tun, denn die Fußspuren kamen ja vom Wasser her, und die schwimmende Plattform lag genau in dieser Richtung draußen vor der Küste. Dann wäre das sicher so ein hochgeheimes Regierungsprojekt, und man würde sie vielleicht einsperren, wenn sie etwas gesehen hatte, was sie nicht sollte. Man weiß ja nie. Vielleicht sollte sie erst mit jemandem sprechen.

Und wenn es doch einfach nur ausländische Schmuggler waren? Und wenn die wirklich einen Schatz dort vergraben hätten? Bestimmt haben die einen geheimen Raum in den Fels gegraben, um dort ihre Waren und ihr Gold zu verstecken.

Dann fielen ihr wieder der Knall und die Druckwelle ein. Wenn jemand hinten in dem kleinen Gang steht und solch eine Sprengung durchführt, müsste derjenige dann nicht von der Explosion augenblicklich zerfetzt worden sein? Normalerweise legt man eine Sprengladung in den Fels und zieht sich dann weit zurück in Sicherheit. Man bleibt nicht einfach daneben stehen. Und diese elektrische Ladung, dieses Kribbeln, das sie gespürt hatte... Handelte es sich vielleicht nicht um eine Sprengung, sondern um irgendeine große elektrische Entladung. Dann hat es vielleicht doch etwas mit den Forschungen von Juris Vater zu tun. Aber auch hier stellte sich die Frage, was mit den Leuten in dem Gang passiert sein mochte, wenn sie bei dieser Entladung direkt daneben gestanden wären.

Sie wurde in ihren Überlegungen jäh unterbrochen. Während sie aus ihrem Versteck hinter dem Steinbrocken die Lage beobachtete, trat aus der Grotte ein kleiner Mann heraus. Er mochte nur etwa einen Meter hoch sein. Bis auf eine Art weißer Unterhose, die wie eine dicke Windel aussah, war er vollkommen nackt. Seine Haut war gelblich bis olivgrün und üppig tätowiert. Sein Schädel war glatt und von der Form eher platt und gedrungen. Die Nase des Mannes war überdimensional groß, und seine Ohren standen weit ab und waren an den Enden spitz zulaufend. Die Augen schimmerten grün, waren geschlitzt und standen eng zusammen. Das war der hässlichste kleine Mann, den Maria jemals gesehen hatte. Er stand geduckt vor der Grotte und blickte langsam den Strand hinauf und hinunter. Mit seiner Nase schnüffelte er ein paar Mal in alle Richtungen. Dann drehte er sich um und verschwand wieder in der Höhle.

Maria hatte nun endgültig genug gesehen. Sie zwang sich zum Aufstehen und kletterte eilig die Klippe hinauf. Nach einigen Minuten stand sie schweißgebadet neben ihrem Fahrrad. Ängstlich schaute sie über ihre Schulter, aber es war zu ihrer Erleichterung niemand zu sehen. Schnell trat sie in die Pedale und sauste davon. »Das muss ich Juri erzählen«, dachte sie sich. »Vielleicht hat er eine Idee, was wir machen sollen.«

Auf dem Marktplatz

Zwei Stunden früher saß Juri voll guter Laune und Erwartung am Frühstückstisch und löffelte mit Heißhunger Cornflakes in sich hinein. Dabei starrte er die ganze Zeit mit einem Auge auf sein Handy, welches neben ihm auf dem Küchentisch lag. Heute würde sein Vater für ein paar Tage nach Hause kommen! Das sagte die E-Mail, die er heute früh auf seinem Computer entdeckt hatte. Und nun müsste jeden Augenblick auch die SMS eintreffen, dass sich sein Vater auf den Weg gemacht hatte und in das Shuttle-Boot zum Festland eingestiegen war. Juris Mutter war bereits fertig mit dem Frühstück und hantierte geschäftig in der Küche herum, räumte das abgewaschene Geschirr aus dem Geschirrspüler in die Küchenschränke, das gebrauchte Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler, wischte die Anrichte bereits zum dritten Mal sauber und versuchte zwischendurch immer wieder, Juris noch ungekämmte Haare mit der Hand zu richten.

»Mama, ich kann so nicht essen, wenn du ständig an mir herumfummelst.«

»Du musst doch ordentlich aussehen, wenn Papa nach Hause kommt. Sonst denkt er noch, dass ich nicht richtig auf dich aufpasse.« Und damit griff sie wieder nach dem Putzlappen.

»Mama, die Herdplatte hast du jetzt aber schon mehrfach sauber gemacht.«

»Wirklich? Das habe ich gar nicht gemerkt. Nun beeil‘ dich und iss. Ich muss sehen, dass ich noch irgendwie zum Friseur komme. Wie ich wieder aussehe!« Sie versuchte, im Spiegel des Kühlschranks ihre Haare zurechtzuzupfen. »Und anzuziehen habe ich auch nichts Richtiges mehr.«

Juri blickte von seiner Schüssel auf. »Du siehst völlig in Ordnung aus, Mama. Glaub‘ mir.«

Tatsächlich war Frau Petkov wie immer adrett gekleidet. Sie trug ein leichtes, getupftes Sommerkleid und hatte ihre langen Haare zu einem makellosen Zopf geflochten. Ihr perfekter Teint wurde durch eine einfache Pflegecreme hervorgehoben, war aber nicht aufdringlich.

»Ach, ich weiß nicht, ich sehe aus wie eine Schlampe. Papa wird mich gar nicht wiedererkennen.«

»Papa wird sich riesig freuen, dich endlich wiederzusehen. Er vermisst dich bestimmt genauso, wie du ihn.... Was ist mit deinen Augen?«

»Ach, nichts.« Juris Mutter musste sich abwenden, damit Juri nicht sah, dass sie vor Freude weinte. Sie fing wieder mit geröteten Wangen mit dem energischen Wienern der Anrichte an.

Das Haustelefon klingelte.

Wie ein Reh schoss Frau Petkov aus der Küche in den Hausflur, wo das Telefon an der Wand hing. »Ich geh‘ schon«, rief sie, » Das ist bestimmt Papa!«

Juri ließ den Löffel in die Cornflakes plumpsen, lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn, um besser hören zu können, und spitzte die Ohren, soweit es nur ging.

Er vernahm trotzdem nur Bruchstücke von dem auf Ukrainisch geführten Gespräch.

»Bist du schon unterwegs? ... Wann kommst du? ... Was? ... Juri wird ... Kann das nicht bis nächste Woche warten? ... Warum kann Karl nicht ... Nein, es ist nicht ... Ja, ich verstehe... Mach dir keine Sorgen... Tschüss ... Ich dich auch.«

Als Juris Mutter wieder in die Küche kam und sich mit dem Rücken an den Kühlschrank lehnte, war alle Farbe aus Ihrem Gesicht gewichen. Tränen kullerten ihre Wangen herunter, doch diesmal machte sie sich nicht die Mühe, sie zu verbergen.

Juri guckte sie mit großen Augen an.

»Das war Papa«, sagte sie. »Es gab in der Nacht ein paar merkwürdige Aufzeichnungen der Sensoren. Das ganze Team wurde beordert, die Vorkommnisse zu untersuchen.... Alle Urlaube sind gestrichen worden.«

Juri war, als ob ihm jemand plötzlich die Kehle zuschnürte. Ihn schwindelte. Er war unendlich wütend und traurig zugleich. Die Welt war so ungerecht! Er hämmerte mit der Faust auf den Tisch und verbarg das Gesicht vor Verzweiflung in den Händen.

»Juri, es tut mir so leid.« Seine Mutter kam um den Tisch herum und versuchte, ihren Sohn in die Arme zu nehmen. Doch der stieß sie energisch zur Seite, sprang vom Tisch auf, verschüttete dabei die Milch und rannte wie ein torkelnder Seemann aus dem Raum und durch den Flur nach draußen in den Morgen.

Seine Mutter rief ihm noch nach, aber Juri musste jetzt allein sein.

Sein Weg führte ihn durch unbestimmte Gassen kreuz und quer durch den Ort. Er weinte.

Wann immer er einer Menschenseele begegnete, wechselte er rasch die Straßenseite oder wandte sich ab, damit keiner sein Gesicht sehen konnte. Er war wütend auf seinen Vater, auf die Forschungsgesellschaft, auf die Physik, auf einfach alles. Einmal trat er aus lauter Frust mit voller Wucht gegen einen Stromkasten. Der darauf folgende heftige Schmerz brachte ihn ein wenig zur Besinnung, sodass er nur noch wie benebelt durch die Straßen wankte und vor sich hin schniefte. Als er zufällig an der Schule vorbeikam, vernahm er von der Seeseite her einen entfernten dumpfen Knall. Er blieb stehen und lauschte. Als es keinen weiteren Knall mehr gab, hielt er das Geräusch für den Überschall-Knall eines Flugzeugs, das den Ort in großer Höhe überflog, und stapfte tief in Gedanken weiter.

Ohne es zu merken, fand Juri sich schließlich auf dem Marktplatz von Hyvelstörp wieder. In der Mitte des mit Kopfsteinpflaster gedeckten und von Fachwerkhäusern mit Reetdächern umsäumten Platzes befand sich der große Brunnen. Das Wasserspiel plätscherte beruhigend über die Figuren von Neptun und einigen Nymphen, die auf Delphinen ritten und verschiedene Musikinstrumente spielten. Die höher steigende Sonne brach sich in den Myriaden von Tropfen und erzeugte hunderte von kleinen, kurzlebigen Regenbögen, die in den feinen Nebelwolken des spritzenden Wassers tanzten.

Juri stieg die drei kleinen Stufen zum Brunnen hoch und setzte sich im Schneidersitz auf der Schattenseite hin. Mit dem Rücken lehnte er sich an die kühle Steinumrandung.

Warum konnte er keine normale Familie haben? Die anderen Kinder sahen doch auch ihre Eltern jeden Tag, konnten mit ihnen Eis essen gehen, wurden zum Sport oder ins Kino gefahren, konnten am Wochenende im Garten Grillen oder mit ihren Eltern nach Sierksdorf zum Hansapark fahren. Er nahm sich fest vor, seine Kinder niemals allein zu lassen, wenn er einmal welche haben sollte.

Wie er so mit sich und seinem Schicksal haderte, schlenderte in der Morgensonne aus einer Nebenstraße ein kleiner Hund über den menschenleeren Marktplatz. Es war so eine struppige Promenadenmischung mit grauem drahtigen Fell, spitzen Knickohren und nur einem halben Schwanz, den er sicherlich irgendwann bei seinem rauen Straßenleben verloren hatte. Juri beobachtete den Hund, wie er sich, von seiner schnüffelnden Nase geführt, in undefinierbaren Schlangenlinien langsam aber sicher näherte. Ab und an blieb er stehen und beschnüffelte eine bestimmte Stelle auf dem Marktplatz besonders ausgiebig. Danach begab er sich in eine scheinbar zufällig gewählte Richtung weiter, aber tendenziell immer auf den Brunnen zu. Er schien Juri bei seinem geschäftigen Mäandern nicht wahrzunehmen. Jedenfalls ignorierte er den Jungen auch, als er die Stufen zum Brunnen hochhoppelte. Dort angekommen, setzte er sich in die Sonne und kratzte sich lange und umständlich mit der Hinterpfote hinterm Ohr. Dann gähnte er ausgiebig, setzte sich auf seine Hinterbeine und blickte eine Weile versonnen über den Marktplatz, wenn Hunde überhaupt versonnen blicken konnten. Den Jungen mit dem verweinten, ernsten Gesicht hatte er immer noch nicht zur Kenntnis genommen.

Juri wandte den Blick von der Promenadenmischung ab und dachte wieder an seinen Vater. Eigenartig. Ein ganzer Teil seiner Wut und Verzweiflung war vergangen. Er fasste sogar wieder ein bisschen Mut. Vielleicht konnte sein Vater ja seine Arbeit schnell erledigen und dann seinen Urlaub in Kürze nachholen. Ja, so würde es bestimmt kommen! Sein Vater war ein intelligenter Forscher und würde bald die ungeklärten Phänomene, oder was immer das war, im Griff haben und dann seine Mama und ihn besuchen können.

Der kleine Hund hatte offenbar seine anstrengenden morgendlichen Angelegenheiten erledigt. Er reckte sich genüsslich und rollte sich anschließend zu einem pelzigen Kringel zusammen und war schnell in der Sonne eingeschlafen. Juri beobachtete das rhythmische Heben und Senken des kleinen Brustkorbs. Das Gesicht des Hundes strahlte eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit aus. »Ja, Hund müsste man sein«, dachte Juri. »Keine Verpflichtungen, keine Sorgen.«

Nach einer Weile war Juri seltsamerweise auch fast schon wieder guter Hoffnung, als erneut sein Herz in die Hose sank. Plötzlich erblickte er nämlich Klaus, Dirk und Willi auf ihren Fahrrädern, die offenbar mit ihrem Fußball zum Bolzplatz unterwegs waren. Und ihr Weg führte sie natürlich genau mitten über den Marktplatz an Juri vorbei. Es war zu spät, sich zu verstecken. Somit blieb Juri nichts anderes übrig, als still sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass er mit dem Steinbassin des Brunnens zur Unkenntlichkeit verschmolz. Jetzt waren sie schon ganz nah und müssten ihn eigentlich schon längst entdeckt haben.

Juri begann schon zu hoffen, dass die drei Jungen vorbeifahren würden und er es überstanden hätte. Da hörte er zu seinem Entsetzen den Dicken Willi rufen, »Schaut mal, wer da oben am Brunnen sitzt!«

Die beiden anderen Kumpane hielten an, und Klaus grinste, »Wenn das mal nicht unser kleines russisches Opfer ist.«

»Oh nein!« dachte Juri. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen und die nun zweifelsfrei folgenden Demütigungen zu ertragen. Er schaute stumm und starr zu, wie die drei Kerle von ihren Fahrrädern abstiegen, sie auf das Kopfsteinpflaster legten und langsam die Stufen zum Brunnen hochstiegen.

Juri wollte sich hochrappeln und seinen Peinigern wenigstens stehend begegnen, aber eigenartigerweise konnte er sich nicht rühren. Seine untergeschlagenen Beine waren wie in Zement eingegossen. Panik ergriff ihn, und er begann zu zappeln, um endlich hochzukommen. Die drei hämisch grinsenden Gesichter der Rowdys waren schon ganz nah.

Doch dann blieben sie auf einmal stehen, und die schiere Bosheit in den Augen von Klaus, Dirk und Willi verwandelte sich in Unglauben und zerschmolz dann zu bodenloser Angst. Alle vier Jungen hörten ein anschwellendes Knurren. Das Geräusch kam von der kleinen Fellkugel in der Sonne. Der Hund war erwacht, hatte den Kopf ein wenig erhoben, die Ohren steil nach vorn gereckt und die Nase kraus gezogen. Die dabei entblößten Zähne an sich waren nicht so einschüchternd, aber das Knurren, das sich seiner Kehle entrang, war bedrohlicher als das eines hellwachen Dobermanns, den man eine Woche vergessen hatte, zu füttern.

Alle Augen richteten sich auf den grauen struppigen Hund.

Es entstand eine unangenehme Pause, in der keiner ein Wort sagte und alle nur dem nachdrücklichen Knurren zuhörten.

Klaus fasste sich als Erster: »Wir, äh, sind schon ziemlich spät dran. Lasst uns gehen, Jungs.«

»Ja klar«, pflichtete Dirk ihm bei, machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Chef der Bande die Treppen hinunter zu den Fahrrädern.

Nur der Dicke Willi stand noch unentschlossen am Brunnen und wusste nicht recht, was er tun sollte. Das Knurren des kleinen Hundes hielt noch immer an, wenn auch vielleicht nicht mehr ganz so gefährlich klingend. Juri konnte genau sehen, dass Willis Nase von der Begegnung mit Marias Mathematikbuch grün und blau verfärbt und geschwollen war. Sein Blick traf den von Willi, und für einen kleinen Moment konnte Juri durch die äußere Fassade des sonst so gemeinen Kerls hindurchblicken und sah einen schüchternen, falsch verstandenen Jungen mit einem sehr schlechten Selbstbild, der immer irgendwo nach Beachtung und Anerkennung schrie.

»Nun komm‘ schon, Alter!« drängelte Klaus. »Sonst müssen wir wieder irgendwelche Grundschüler vom Platz vertreiben.«

Willis Augen blinkerten mehrmals. Dann schüttelte er sich. »Ja, ja, ich komme gleich!« rief Willi über seine Schulter. Und leise, sodass Klaus es nicht hören konnte, wohl aber Juri, fügte er hinzu: »Redet ihr nur. Immer schnell, schnell. Auf mich nimmt nie einer Rücksicht. Ich muss sowieso immer das doppelte Gewicht von Euch beiden herumtragen. Und dass meine Nase weh tut, interessiert auch keinen. Und Hunger habe ich auch schon wieder.«

Dann polterte Willi ungelenk die Stufen hinunter und ergriff sein Fahrrad. Klaus und Dirk traten an, und Juri musste unwillkürlich grinsen, als er sah, wie Willi versuchte, den beiden schnell zu folgen. Willi rannte erst eine Weile wie ein donnernder Wackelpudding neben seinem Fahrrad her, bis er genug Schwung hatte. Dann hatte er endlich den einen Fuß auf der Pedale und versuchte, das zweite Bein über den Sattel zu schwingen. Das gelang ihm wegen seiner Masse erst beim vierten oder fünften Versuch, derweil Willi auf einem Bein neben dem Fahrrad her hopste. Juri konnte sein Keuchen und Fluchen ganz deutlich hören. Dann endlich saß Willi auf dem Sattel. Seine Hose war von dem ganzen Manöver ein Stück heruntergerutscht, sodass der Ansatz seines Pos in der Sonne leuchtete.

»Hey, Leute, wartet auf mich!« rief er den anderen beiden hinterher und strampelte so stark los, dass seine fetten Beine wie die Kolben einer Dampflok aussahen.

Dann wurde das Klappern seines Fahrrads über die Pflastersteine immer leiser und erstarb schließlich ganz. Stille breitete sich erneut über dem Marktplatz aus. Juri saß noch eine ganze Weile grübelnd am Brunnen.

»Was war das denn jetzt gewesen?« dachte er bei sich und betrachtete den neben ihm liegenden Hund mit neuerlichem Interesse.

Dieser erhob sich langsam wie nach getaner Arbeit, streckte erst seine Vorderbeine, indem er den Po hob und den Kopf senkte, dann jedes einzelne Hinterbein, das er waagerecht nach hinten wegstreckte und dabei sogar die Zehen bis zum Äußersten spreizte. Ohne Juri weiter zu beachten, sprang er die Treppen hinunter, hob die Nase schnüffelnd in die milde Brise und trottete in eine unbestimmte Richtung davon.

Nun war Juri wieder ganz allein. Er versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken, und beobachtete die kürzer werdenden Schatten der umstehenden Gebäude, während die Sonne ihren Weg zum mittäglichen Höchststand fortsetzte. Es war ein langsamer Vormittag, und nur ab und an lief einer der Einwohner von Hyvelstörp über den Marktplatz.

Nach etwa einer halben Stunde kam Maria auf ihrem Fahrrad angerast. Ihr Gesicht war gerötet, ihr langes blondes Haar wehte zerzaust im Fahrtwind. Mit quietschenden Reifen kam sie vor dem Brunnen zum Stehen.