Liontu - Anne Bernhardi - E-Book

Liontu E-Book

Anne Bernhardi

4,8

Beschreibung

Im September 1634 bringt der Dragoner Thies einen verletzten Fremden und seinen Schimmel zu dem Waisenmädchen Ianthe auf eine verborgene Lichtung mitten im Wald. Gemeinsam und doch getrennt waren die zwei Männer geflohen. Wovor, das bleibt für Ianthe lange eine dunkle Ahnung. Sie pflegt den jungen Mann gesund, und während in den darauffolgenden Wochen die Liebe der zwei ungleichen Menschen zueinander wächst, droht am Horizont neues Übel. Denn der Fremde entkam nur knapp einem dunklen Schicksal, und die Gefahr ist längst nicht vorüber. --- Illustrierter historischer Abenteuerroman. Band 1 der Reihe. -- Neuauflage des bereits unter dem Pseudonym "Kay Linn" erschienenen Buches "Liontu".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 610

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (29 Bewertungen)
24
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 1

September 1634

Das Pferd stand neben ihm. So ruhig, dass er es für eine Marmorstatue gehalten hätte, wäre da nicht der gleichmäßige Atem gewesen, der dann und wann sein Gesicht streifte. Oder das Rucken, das seinen Arm durchzog, wenn das Pferd neugierig aufschaute und in die Richtung blickte, aus der sie gekommen waren.

Er senkte den Kopf.

Ein warmes Rinnsal suchte sich einen Weg über seine Stirn und bildete an seinem Kinn einen Tropfen, der auf ein Blatt am Boden fiel. Er war verletzt. Wie es dazu gekommen war, wusste er nicht.

Ein weiterer Ruck, verursacht durch einen Seitwärtsschritt des Pferdes, brachte ihn beinah aus der Balance, und er musste sich mit dem rechten Arm abstützen, um nicht hinzufallen. Schon erschütterte ihn der nächste Ruck: Das Pferd wollte weiterlaufen, und er würde ihm folgen. Die Pause hatte gereicht. Das Pferd gab den Weg vor, er würde ihm nachgehen. Und all seine Kraft versammeln.

Während er sich voranschleppte, über Ranken stolperte, an umgefallenen Baumstämmen hängen blieb und sich wieder aufraffte, stur wie ein alter Stier, begann er zu grübeln. Er hatte den Namen vergessen. Den Namen des Pferdes, von dem er sich sicher war, dass er ihn wissen musste. Seinen eigenen noch dazu ... Nichts war da mehr.

Am Nachmittag rasteten sie unter einer uralten Eiche am Wegesrand, die von vielen Stürmen und Blitzeinschlägen verkrüppelt dastand und nur noch an wenigen ihrer knorrigen Äste, die wie arthritische Finger in den Himmel zeigten, Blätter hervorgebracht hatte. Während das Pferd graste, versuchte der junge Mann es sich zwischen zwei Wurzeln so bequem wie möglich zu machen. Er hoffte, die Ruhe würde seinem Kopf, der den ganzen Tag über schrecklich geschmerzt hatte, endlich Frieden geben. Mühsam rutschte er nach rechts, wieder nach links, aber die harte, unregelmäßige Rinde störte im Rücken, selbst wenn sein Oberkörper im Kürass gefangen war. Endlich kam die Erschöpfung über ihn und ließ ihn in sich zusammensinken. Kein noch so starker Wille konnte ihn von der bleiernen Müdigkeit trennen, die von ihm Besitz genommen hatte.

Noch bevor er vollständig wegdämmerte, rief ihn der Klang von Hufschlag zurück in die Wirklichkeit. Nur für kurze Zeit, so sagte er sich, würde er sich dort aufhalten, dann könne die Dunkelheit zurückkehren.

Sein Pferd wieherte. Das Geräusch, grell, so als bliese jemand direkt neben seinem Ohr in ein Horn, durchfuhr ihn wie ein heißer Blitz. Die Antwort war das hohe, abwehrende Quietschen einer Stute.

»Verdammter Schimmel, verschwinde!«, fauchte eine Stimme, doch nicht laut genug, um den weißen Hengst davon abzuhalten, sich die Stute des Reiters genauer anzusehen. Sie war nicht bereit und keilte nach ihm aus, woraufhin der Hengst frustriert mit dem Kopf schlug, aufgab und sich lieber dem Gras vor seinen Hufen widmete.

»Hättest deinen Gaul ruhig zurückhalten können«, zischte der Reiter, als er bei dem jungen Mann ankam. Doch das letzte Wort war nur noch schwach zu vernehmen. Der Mann bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es mochte zu Beginn nur eine dunkle Vermutung sein, eine viel zu abwegige Vermutung, aber er glaubte den Reiter zu kennen, und je näher er ihm kam, desto gewisser wurde er sich. Er kannte diesen Mann nur allzu gut. Zwar war er selbst ein Dragoner, der Verletzte ein Reiter der leichten Kavallerie, aber sie stammten aus demselben Ort, waren zusammen gereist und befanden sich in diesem Moment aus offenbar dem gleichen Grund an einem Ort, an dem sie nicht hätten sein dürfen.

Das Leder seines Sattels knarzte leise, als er absaß.

»Seid Ihr wach, Herr?«, fragte er vorsichtig.

Der Verletzte drehte den Kopf zur Seite, so als wolle er der Stimme entkommen, die zu ihm sprach. Er öffnete die Augen, starrte am Reiter vorbei und schloss sie wieder.

»Ihr dürft hier nicht bleiben«, sagte der Mann eindringlich. »Ihr müsst fort, so bald es geht. Könnt Ihr das?«

Der Verletzte sah ihn jetzt zwar an, strich sich aber nur fahrig über den Kürass.

»Wartet, ich helfe Euch da raus. Euer Kopf ist verletzt. Es sieht nicht gut aus.«

Der Reiter hob den Blick, sah zu dem Waldstück hin, durch das der Verletzte geirrt sein musste. Geirrt würde des Rätsels Lösung sein, es wirkte nicht so, als hätte der Verletzte bei vollem Bewusstsein entschieden, davonzulaufen. Oder sollte er sich täuschen? So oder so würde es wenig Sinn ergeben, ihn durch den Wald dahin zurückzubringen, wohin er selbst nicht mehr wollte. Noch lag das Unterholz ruhig vor ihnen, man war zu beschäftigt, als dass man ihnen gefolgt wäre, aber es wäre nur eine Frage der Zeit, und diese Zeit rann ihnen wie Sand durch die Finger.

Kurz darauf lagen der prächtige Kürass und das Rapier mit seinem goldverzierten Gehänge im Gras. Der Reiter hatte den Verletzten von allem befreit, was ihn gefangen hielt, nun sah er aus wie ein normaler Mensch, der vom Baum gefallen war.

»Kommt«, forderte er ihn leise auf. »Wir müssen hier weg. Wir werden einen besseren Ort finden, wo Ihr Euch ausruhen könnt.«

Er zog den Verletzten auf die Beine, stützte ihn, grübelte, ob es eine gute Lösung sei, den jungen Mann auf seinen Hengst zu setzen, und entschied sich dann dazu, es lieber mit seiner eigenen Stute versuchen zu wollen. Der Schimmel wirkte wie sein Reiter noch so verstört, dass es keinen Sinn machen würde, ihm eine halbe Leiche in den Sattel zu setzen.

Während die Sonne langsam nach Westen wanderte, suchten sie sich den Weg nach Westen, immer entlang des Waldes, um im Notfall sofort untertauchen zu können. Es waren mühsame Meilen, eine nach der anderen. Zehn Tage lange hatte es nicht geregnet, was fast schon wunderlich gewesen war nach diesem kalten und verregneten Sommer, der das Wort Sommer nicht verdient gehabt hatte. Nun tat die Trockenheit in doppeltem Sinne gut, denn der Boden würde ihre Schritte kaum verraten. Sobald sich der leichte Staub hinter ihnen wie ein raues Tuch über Fuß- und Huftritte gelegt hätte, würde ihnen so schnell niemand folgen. Wenn sie nur nicht so furchtbar langsam wären, befand der Dragoner, aber ein Blick auf den Verletzten machte seine Hoffnung zunichte, dass sie ihre Flucht beschleunigen könnten. Wie ein Halm im Wind wippte der Oberkörper des jungen Mannes vor und zurück, hin und her. Er brachte gerade einmal die nötige Kraft zusammen, nicht bewusstlos zu werden. Also mussten sie weiterhin so schnell und gleichzeitig so langsam wie möglich fliehen, ein Zustand, der an den Nerven zerrte. Hinzu kam der weiße Hengst, der mal ein Stück voraus galoppierte, dann wieder zurück blieb, sie aber nie aus den Augen ließ. Manchmal näherte er sich dem Verletzten und wirkte fast ein wenig enttäuscht, wenn sein gewohnter Reiter kein Lebenszeichen von sich gab. Unwirsch warf er den Kopf.

Sie würden die Nacht über nicht in der Nähe des Weges übernachten können, also wurde es Zeit, sich ins Unterholz zu schlagen. Es war ein kleiner Pfad, wahrscheinlich ein Wildpfad, der den Reiter einlud, ihm zu folgen. Er zog seine Stute hinter sich her ins Dickicht, über Brombeerranken und umgestürzte Bäume, auf denen Moos und erste Pilze wucherten. Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blattwerk der Eichen und Buchen, wie Spinnweben durchzogen sie die Luft, nur dass man durch sie hindurchreiten konnte, ohne dass sie einen einfingen und festhielten. Der Weg war friedlich, führte ab und an durch einen kleinen Bach, dann wieder seichte Hügel empor, bis er schließlich auf einer Lichtung endete, auf der eine winzige Holzhütte stand. Zur Freude des Reiters war deren Dach heil, und zudem sah sie verlassen aus. Einzig die Katze, die vor dem Haus faul in der Sonne lag, hätte man als Zeichen deuten können, dass in dieser Hütte jemand wohnte.

»Wir scheinen Glück zu haben«, sagte er leise zu dem Verletzten, der zwar kurz die Augen öffnete und ihn ansah, aber sofort wieder wegzudämmern schien. »Ich denke, hier finden wir Ruhe.«

Der Plan sollte nicht aufgehen.

»He!«

Der Dragoner sprang herum, wollte sein Rapier ziehen, doch er stockte, als er sah, dass sich nur ein schmächtiger junger Mann näherte. Er wirkte etwas älter als er sein mochte, vielleicht um die achtzehn Jahre. Die großen Augen in seinem schmalen Gesicht beobachteten ihn misstrauisch. Seine einzige Waffe war eine hölzerne Mistgabel, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Was willst du hier? Verschwinde!«

Der Dragoner zögerte. Was sollte er tun? Während er grübelte, ob es klüger sei, weiter zu flüchten, trabte hinter ihnen der Schimmel auf die Lichtung, schüttelte sich und begann zu grasen.

»Was wollt ihr hier?«, wiederholte der junge Mann die Frage. »Verschwindet!« Die Drohung gewann an Gewicht.

»Wir wollen euch hier nicht. Hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Wer bist du, Bursche?«

»Was sollte dich das interessieren? Was hast du hier zu suchen? Ihr seid Soldaten, oder etwa nicht? Wollt ihr uns ausrauben?«

»N-niemand will hier irgendwen ausrauben«, krächzte der Dragoner.

»Vor wem flüchtet ihr dann? Wir wollen hier keinen Ärger!«, rief der junge Mann und hob seine Waffe. »Verschwindet, wenn ihr Ärger an den Hacken habt!«

»Das geht dich nichts an, Bursche. Ich bitte dich nur um eine Bleibe für diese Nacht. Morgen werden wir verschwunden sein.«

Ein leises Lachen war die Antwort.

»Und warum verdammt noch mal sollte ich so verrückt sein, dich hier übernachten zu lassen, wo du hier auftauchst mit einem Rapier voll Blut? Scher dich zum Teufel und nimm deinen Begleiter mit dir!«

Anstatt zu gehen, löste der Dragoner sein Rapiergehänge und ließ es mit leisem Klirren vor sich auf den Boden fallen. Ebenso verfuhr er mit den Pistolen und seinem Dolch. Er stieß sie mit dem Fuß von sich fort. Seine Hand deutete auf die Waffen.

»Nimm sie, ich bitte dich. Wir können nicht mehr weiter, und wenn wir hier nicht rasten, wo dann?«

»Im Wald?! Wenn ihr so dringend fliehen wollt, warum begebt ihr euch unter Menschen und schlaft nicht im Wald?«

Da hatte der Kerl völlig recht, dachte der Dragoner. Mit einem erneuten Blick auf den Verletzten wollte er seine Waffen aufheben und die Stute in Richtung Wald ziehen, aber er zögerte.

»Lass mich hierbleiben, ich habe keine weiteren Waffen. Mein Begleiter braucht dringend Ruhe. Und es wäre für ihn besser, wenn er dafür nicht im Wald selbst schlafen müsste. Du hast ein Dach über dem Kopf. Und er braucht auch ein Dach über dem Kopf.« Die Stimme wurde schwächer, je mehr der Mann sprach.

»Lass sie doch auf dem Strohhaufen neben der Hütte schlafen, Jonas!«, rief eine helle Stimme vom Wald her.

Der Reiter sah, wie sich ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren näherte.

»Du bist leichtsinnig, Ianthe, lass dich nicht blenden. Er ist ein Krieger und er hat getötet. Solchen Menschen darfst du nicht vertrauen!«

»Lass sie bleiben, Jonas! Er bittet uns, und wir sollten ihm diese einfache Bitte nicht abschlagen. Es gehört sich nicht. Nimm seine Waffen und wir verriegeln die Tür.«

»Nein, Ianthe, ich dulde ihn hier nicht. Er ist eine Gefahr für uns.«

Der junge Mann namens Jonas blieb eisern. Nichts ließ darauf schließen, dass er seine Meinung noch einmal ändern würde.

Der Dragoner warf einen Blick zu dem Mädchen, das Ianthe hieß und deren Aufmerksamkeit fast von Beginn an auf dem Verletzten ruhte, der schwankend im Sattel saß und immer mal wieder hilflos den Kopf hob.

»Eine Nacht!«, rief Jonas plötzlich.

Der Dragoner sah ihn an.

»Eine Nacht dulde ich dich hier, aber ich behalte deine Waffen, und du schläfst mit deinem Begleiter draußen im Stroh.«

»Danke. Morgen früh werde ich fort sein, aber ich bitte euch, dass ihr euch um ihn kümmert.«

Jonas wollte längst wieder den Kopf schütteln, aber Ianthe kam ihm zuvor.

»Du siehst doch, dass er krank ist, Bruder, also lass ihn schon bei uns bleiben. Ich werde für ihn sorgen.«

Jonas schwieg. Noch während er sprachlos war, zog der Dragoner den Verletzten aus dem Sattel und trug ihn zu dem überdachten Bereich neben der Hütte, wo neben einem Stapel Holz ein kleiner Resthaufen Stroh aufgehäuft lag. Das schräge Dach aus grob gehauenen Latten schützte es vor Nässe, hinten und zur rechten Waldseite hin gab es zudem eine niedrige Wand aus Reisig. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte der Platz fast einladend.

Als der Dragoner den Verletzten in das Stroh legte, seufzte der tief, so als habe er in seinem Dämmerzustand bemerkt, dass er endlich weich liegen konnte.

»Mädchen? Er wird dich brauchen.«

»Herrje«, war das Einzige, was Ianthe hervorbrachte.

»Hör zu, du musst dich um ihn kümmern, kannst du das?«

Ianthe nickte zweifelnd. »Ein klein wenig kenne ich mich mit Wunden aus.«

»Ich hoffe, er übersteht es. Sorge dafür, dass er vorerst nicht unter Menschen geht, es ist sicherer für ihn. Und meidet die Soldaten!«

Ianthe warf ihm einen fragenden Blick zu. Diese Warnung erschien ihr merkwürdig, wo doch jeder die Soldaten mied, wenn ihm sein Leben lieb war.

»Er dürfte nicht hier sein«, erklärte der Soldat leise. »Ich dürfte nicht hier sein, aber er schon gar nicht.«

***

Kapitel 2

Ianthe setzte sich im letzten Schein der Sonne an den Holztisch in der Mitte der Hütte, die nicht mehr als vier Schritt breit und fünf Schritt lang war. In ihr gab es nur diesen einen Tisch, zwei notdürftig zusammengeschusterte Schemel, eine Feuerstelle mit einem uralten Eisentopf und eine Art kleines Podest mit zwei Schlafstellen, die aus zwei alten strohgefüllten Säcken als Matratzen und je einer wollenen Decke bestanden, die im Sommer kratzte und im Winter nicht genug Wärme gab. Das Podest selbst schützte mäßig vor Ungeziefer und Feuchtigkeit.

Obwohl sie so ärmlich lebten, hatte Ianthe niemals Gram gehegt. Es war merkwürdig, aber solange sie nicht viel besaßen, konnte ihnen auch niemand etwas stehlen, und das war gut so. Das einzig Wertvolle in ihrem Leben war ein Buch, das sie von ihrer Mutter zu ihrem zehnten Weihnachtsfest geschenkt bekommen hatte und welches gut beschützt in einer Lindenholzschatulle in einer dunklen Ecke der Hütte ruhte. Manchmal, wenn es die Zeit hergab und alle anderen aus dem Haus waren, holte sie es hervor, um ein paar Seiten zu lesen. Dann verschwand es wieder und blieb ein Ort der Geheimnisse und Erinnerungen. Sie wollte nicht zu oft darin lesen oder es gar abnutzen, weil sie befürchtete, dass es dann an Bedeutung verlieren und seine Zauberkraft einbüßen würde. Natürlich konnte es nicht im eigentlichen Sinne zaubern, vielmehr brachte es sie zum Träumen und entführte sie in fremde ferne Welten, wies sie aus dem grauen Alltag in eine Welt voller Abenteuer. Und sie wusste, dass es sich mit diesem Buch so verhielt wie mit einer süßen Köstlichkeit: Je mehr man von ihr genoss, und je öfter, desto schneller wurden man ihrer überdrüssig. Nach dem Tod ihrer Eltern vor fünf Jahren waren die beiden Kinder bald in die Armut abgerutscht, hatten sich mit Jonas’ Wissen und ihren vier Händen diese Hütte zusammengebaut und lebten dort mehr schlecht als recht, aber immerhin in Sicherheit, denn bis zu diesem Tag, an dem der Soldat erschienen war, hatte noch nie jemand den Weg zu dieser Lichtung gefunden. Hier im Wald hatten sie Äpfel, Erbsen, Wurzeln und auch Hafer für sich angebaut, aber viel zu oft ließen Schädlinge und die viel zu kalten, nassen Sommer die Ernte so gering ausfallen, dass sie kaum für eine Jahreszeit reichte, geschweige denn für ein ganzes Jahr. Vor der Hütte, auf der Lichtung, gab es eine kleine, mit grobem Reisig umzäunte Fläche, in der sich jetzt die beiden Pferde aufhielten. Errichtet hatte sie Jonas erst im letzten Jahr, als er auf einer seiner Wanderungen zwei Schafe im Wald gefunden hatte. Einmal hatten sie sie scheren können, dann waren die Wölfe gekommen und hatten sie nachts gerissen.

Jonas’ und Ianthes Eltern waren noch während der ersten Kriegsjahre durchaus vermögend gewesen. Der Vater hatte als Kaufmann gutes Geld verdient, doch nachdem er auf Reisen der Pest zum Opfer gefallen und die Mutter kurz darauf an gebrochenem Herzen gestorben war, hatten durchtriebene Nachbarn den Kindern das Geld gestohlen. So waren sie auf der Straße gelandet. Doch mit mehr Glück als Verstand und immer wieder Hilfe von gutherzigen Menschen hatten sie die letzten fünf Jahre allen Schicksalsschlägen zum Trotz überstanden, und es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht auch in Zukunft so sein würde.

Draußen legte sich die Nacht über den Wald. Jonas hatte die Tür nach allen Regeln der Kunst verrammelt und horchte immer wieder misstrauisch nach Geräuschen von den zwei Männern, die draußen im Stroh lagen. Sie waren still und nichts ließ darauf schließen, dass dort überhaupt jemand lag. Die Nacht verstrich schnell und ohne Vorkommnisse.

Als der Morgen graute, holte sich der Dragoner seine Waffen und machte sich auf in den Wald. Bevor er im fast undurchdringlich scheinenden Gewirr der Bäume und Sträucher verschwand, warf er noch einmal einen Blick zurück auf die Lichtung, dorthin, wo der junge Mann lag. Ianthe entdeckte auf seinem Gesicht keine Regung. Dann schluckte der Wald Stute und Reiter, und Ianthe fragte sich, ob er sie wohl noch einmal auf dieser Lichtung ausspeien würde.

Der Verletzte, den sie in Zukunft nur noch den Fremden nennen wollte, hatte Fieber bekommen. Ianthe holte ihm eine Wolldecke, da er immer wieder von Schauerwellen heimgesucht wurde, die ihm der Schüttelfrost durch den Körper laufen ließ. Der Trunk aus Weidenrinde, den sie ihm einflößen wollte, versickerte größtenteils im Spitzenkragen. Nur ein paar Schlucke schaffte er, und Ianthe hoffte, die Weidenrinde würde bald ihre Wirkung zeigen und das Fieber senken. Die Säuberung der Wunde war nicht weniger schwierig, denn sie hatte sich bereits oberflächlich geschlossen, während die Entzündung unterhalb der Kruste weiter schwelte. Mit warmem Wasser öffnete Ianthe die Wunde und rümpfte ihre Nase über den eitrig-faulen Geruch, der ihr entgegenquoll. Sie spülte die Wunde mit kaltem Salbeitee und verband sie mit dem saubersten Tuch, das sie finden konnte.

Mit fortschreitender Stunde war die Waldlichtung erwärmt vom Sonnenlicht, die vereinzelten langen Gräser beugten sich einem seichten Wind, um kurz darauf wieder der Sonne zu trotzen. Hummeln surrten von Kleeblüte zu Habichtskraut und vorbei an einer dicken Butterblume, auf der sich eine nicht minder dicke Biene im Pollenstaub vergnügte, und über allem lag eine große Ruhe, die nur ab und an von einer zarten Vogelstimme durchbrochen wurde. Es war Mittagszeit, und auf seinem Lieblingsplatz vor der Hütte rekelte sich ein alter, getigerter Kater in der Sonne. Dann und wann erwachte er aus seinem Schlaf, nur um kurz aufzustehen, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und sich leicht verändert wieder hinzulegen. Er hatte nur noch ein himmelblaues Auge und war der Hüter dieses Waldflecks.

Ianthe saß neben dem Fremden und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Ab und zu tauschte sie die kühlenden Tücher aus, die sie dem jungen Mann um Arme und Beine gewickelt hatte. Ihre Behandlung schien Erfolg zu haben, denn zum frühen Abend hin fieberte er nicht mehr so stark, und offenbar hatte er keine Alpträume mehr; zumindest schlief er ruhig und entspannt und redete nicht immer wieder wirres Zeug, auf das sich Ianthe keinen Reim machen konnte.

In einem stillen Moment, zwischen zwei Umschlagwechseln und während Jonas auf Jagd war, ging Ianthe in die Hütte und schöpfte mit einem kleinen Holzbecher Wasser aus der weiten Steingutschüssel, die sie noch aus dem Haus ihrer Eltern hatten retten können. Ganz in Gedanken versunken setzte sie sich auf einen der Schemel und blickte durch das einzige Fenster in den Wald. Soweit man es ein Fenster nennen konnte, denn es war nur eine einfache Öffnung in der Hüttenwand, kaum größer als zwei Hände, die man bei Kälte oder Dunkelheit mit dem ausgesägten Stück Holz wieder verschloss. Im Winter pfiff der Wind durch die vielen Löcher zwischen den Brettern, aus denen die Hütte gezimmert war. Gegen die bittere Kälte schützten sie sich mit erjagten Fellen, die sie jetzt im Herbst noch in einer großen Kiste lagerten und mit denen sie die Schlafstätten aufpolsterten. Gegen Eisfüße halfen später Lappen, die sie um die letzten Schuhe banden, die ihnen noch aus ihrem früheren Zuhause geblieben waren.

Für einen kurzen Moment hatte Ianthe ihren Kopf in den Händen vergraben, als der getigerte Kater mit einem buschigen Schwanz in die Hütte geflitzt kam und in zwei Sprüngen oben auf dem Podest saß.

»Was ist denn mit dir los, Peter?«, fragte Ianthe leise, um dem Grund, der den Kater in Angst versetzt hatte, auch ja nicht zu verraten, dass sie sich in der Hütte befand. Vorsichtig stand sie auf, und ohne ein Geräusch zu machen, schlich sie zur Tür, streckte den Kopf zuerst nur so weit vor, dass sie mit einem Auge die Lichtung absuchen konnte, und als sie nichts entdeckte, vor dem man sich fürchten musste, trat sie hinaus in die Abendsonne. Aus dem Wald hörte sie das Rascheln der Büsche, und schnell erkannte sie, dass Jonas auf seiner Jagd Erfolg gehabt hatte: Ein Rebhuhn war ihm in die Finger geraten.

»Ist irgendetwas passiert?« Jonas wollte das Rebhuhn fallen lassen, als er Ianthe regungslos und in Habachtstellung vor der Hütte stehen sah.

Ianthe ließ ihre angespannten Schultern sinken und atmete die Luft aus, die sie in ihren Lungen gefangen gehalten hatte.

»Nein, es ist nichts!«, rief sie Jonas entgegen. »Peter lief eben ganz plötzlich wie vom Teufel gejagt in die Hütte, da dachte ich mir, ich schau mal nach, vor welchem Wolf ich ihn dieses Mal beschützen muss.« Sie grinste. »Sag bloß, du hast ihn erschreckt?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Jonas und hielt das Rebhuhn zufrieden in die Luft. »Ich habe ihn allerdings vor einiger Zeit im Wald mausen gesehen, vielleicht hat ihm ja eine Maus in die Nase gebissen.«

»Mag sein.«

Als sie an dem Verletzten vorbeikamen, warf Jonas einen zweifelnden Blick auf ihn.

»Ist er noch nicht zu sich gekommen?«

»Nein, noch nicht. Aber sein Fieber ist etwas zurückgegangen, seitdem ich ihm die kühlen Wickel gegeben habe. Da fällt mir ein, dass es bald wieder Zeit sein wird. Sie müssten inzwischen warm sein.«

»Gut, ich schau derweil mal, was das Rebhuhn von vorgestern macht. Eigentlich müsste es jetzt abgehangen sein. Aber wehe du schimpfst hinterher, dass es wieder zu gerupft aussieht!«, sagte Jonas und verschwand mit seinem erneuten Jagderfolg in der Hütte.

»Da mach dir mal keine Gedanken!«, rief Ianthe ihm hinterher. »Was auch immer du aus dem Huhn machst, ich werde es schon essen, so ein Knurren wie ich im Magen habe.«

Kaum hatte sie das letzte Wort gerufen, als zum ersten Mal eine Regung durch den Körper des jungen Mannes ging. Er bewegte sich vorsichtig, lag dann für eine Weile wieder ruhig und öffnete schließlich blinzelnd die Augen.

Da Ianthe seitlich von ihm saß, fiel sein schmerzender Blick nur auf ein paar Holzbalken und den abendlichen Wald dahinter. Seine Hände suchten nach Halt, um den Körper aufzurichten.

»Wartet, ich helfe Euch.« Ianthe griff nach seinem Arm und erschreckte den Verletzten so sehr, dass er zusammenfuhr und sie selbst aufschrie.

»Ent- Entschuldigung«, stammelte sie. »Habe ich Euch wehgetan?«

»Brauchst du Hilfe?«, hörte sie Jonas aus der Hütte rufen.

»Nein«, kam ihre Antwort vorsichtig zurück.

»Habt Ihr große Schmerzen? Möchtet Ihr etwas trinken?«

Im Kopf des jungen Mannes jagten die Gedanken durcheinander. Wo war er? Was war geschehen? Es herrschte eine beängstigende Leere in seinem Kopf und auf keine seiner Fragen konnte er sich eine Antwort geben. Aber eins wusste er.

»Ja, bitte.« Der Durst war schier unerträglich und seine Kehle so rau, als hätte er Sand eingeatmet.

Bevor Jonas überhaupt von seinem gerupften Huhn aufgucken konnte, war Ianthe in der Hütte, hatte einen Holzbecher voll Wasser geschnappt und war wieder um die Ecke verschwunden.

»Brauchst du wirklich keine Hilfe? Ist er endlich zu sich gekommen?«

Dieses Mal erhielt er keine Antwort.

Ianthe hockte sich wieder neben den Fremden und flößte ihm vorsichtig das Wasser ein. Er trank wie ein Halbverdursteter und hatte den Becher schnell bis zum Grund geleert.

»Möchtet Ihr noch etwas mehr Wasser?«

Die Antwort war ein schwaches Kopfschütteln, dem kurz darauf eine schmerzverzerrte Miene folgte.

»Nein«, kam dem Verletzten mühsam über die Lippen. »Danke.«

Er versuchte, sich noch einmal hinzusetzen, jedoch ohne Erfolg, seine Arme fühlten sich so kraftlos an, als hätte er sie noch nie benutzt. Auch der Rest des Körpers war durchzogen von Schwäche, und wenn er den Kopf bewegte oder die Augen öffnete, dann drehte sich die Welt um ihn in schwindelerregender Geschwindigkeit. So dämmerte er eine Weile vor sich hin, versuchte, sich auf die Gesänge der Vögel zu konzentrieren, die er durch den Nebel des Fiebers und Schmerzes wahrnahm, aber es gelang ihm nicht einmal für die Dauer von fünf Minuten. Als er kurz darauf endlich wieder in einen ruhigen Schlaf eintauchte, fühlte er sich, als habe er während der kurzen Zeit des Wachseins die Welt zweimal zu Fuß umrundet.

Ianthe bemerkte, wie der Verletzte im Stroh zusammensackte, als der Schlaf seinem Körper die Spannung nahm. Sie stand auf und ging zu Jonas in die Hütte, der das Rebhuhn inzwischen so weit vorbereitet hatte, dass sie es nur noch zu braten brauchte. Er warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu, so als sei er ein dürrer Hund, der seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen hatte. Tatsächlich hatten sie seit Tagen kaum etwas gegessen, und der permanente Nahrungsmangel schwächte sie beide.

»Hatte ich recht? Ist er zu sich gekommen?« Jonas wurde ungeduldig, als Ianthe sich auf ihren Schemel setzte, die Ellbogen auf den Holztisch stemmte und ihren Kopf in den Händen vergrub. Er bekam ein müdes Nicken als Antwort.

»Schön, wenn wir Glück haben, ist er schon auf dem Weg der Besserung und wir sind ihn bald los. Wir können es uns wirklich nicht mehr lange leisten, noch einen hungrigen Magen füttern zu müssen, noch dazu einen Kranken.«

»Du sagst es! Er ist krank, das heißt, er wird nicht viel essen, wenn überhaupt. Du hast also keinen Grund zu schimpfen, und erst recht musst du dir keine Sorgen machen!« Ianthe spürte eine ihr fremde Wut wie ein Unkraut in ihrer Brust wachsen. Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu, der ihm schnell zu verstehen gab, dass es klüger für ihn war, auf ihre Bemerkung kein Wort zu antworten. Er stand auf und begann, das Feuer in der kleinen Feuerstelle zu schüren, legte Holz nach und beobachtete, wie die Flammen sich nach und nach Futter holten und bald genug Hitze boten, um das Rebhuhn zu braten.

»Hilfst du mir, ihn auf das Podest zu tragen?«, fragte Ianthe, nachdem Jonas das Rebhuhn über das Feuer gehängt und sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. Ihre Augen trafen auf die ihres Bruders, der sie ansah, als verlange sie etwas ganz und gar Unmögliches. So sehr sie sich darüber wunderte, so sehr wusste sie, dass ihre Worte zuvor einen Tick zu harsch gewesen waren. Das wurmte sie umso mehr.

»Er kann doch heute Nacht nicht dort draußen liegen«, rief sie erbost, als Jonas nur abwehrend den Kopf schüttelte. »Er braucht einen anständigen Platz zum Schlafen, wenn er bald wieder gesund werden soll, und außerdem sollte ständig jemand nach ihm sehen. Was ist, wenn er heute Nacht dringend Hilfe braucht?«

Jonas antwortete ihr nicht. Er starrte vor sich hin und ließ ein Stöhnen hören, in das er all seine Frustration legte.

»Gut.« Ianthe sprang auf und holte den Rest ihrer Lagerstatt vom Podest. »Wenn du ihn nicht im Haus duldest, dann schlafe ich bei ihm draußen. Ob es dir passt oder nicht. Irgendjemand muss auf ihn Acht geben.«

»Ianthe ...« Jonas hob verwirrt den Kopf.

»Schweig. Sei einfach still. Ich wache bei ihm draußen und Schluss. Wenn ein Wolf oder Bär kommt, um uns beide zu fressen, dann schrei ich.« Sie begann den Stab, auf den sie das Rebhuhn aufgespießt hatte, zu drehen, damit es von allen Seiten gar und knusprig wurde. Der Duft von gebratenem Fleisch erfüllte bald die Hütte und ließ allen Anwesenden das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auch der getigerte Kater kam angelaufen und bekam sein Stück vom Braten ab.

Spät am Abend saß Ianthe wieder bei dem Verletzten, eingewickelt in eine der Wolldecken, die fast schon auseinanderfiel, so mottenzerfressen und alt war sie. Ein leichter Wind wehte über die Lichtung und durch ihre Haare. Nachdem die Sonne untergegangen war, verwandelte sich der Wald in eine Welt voller Lebewesen, die entweder so hässlich sein mussten, dass sie sich bei Tageslicht nicht hervortrauten, oder den Mond der Sonne vorzogen. So dünkte es zumindest Ianthe. Sie konnte von Glück sagen, dass der Mond fast voll war und kaum eine Wolke über den Himmel wanderte, sonst hätte sie die Nacht in völliger Dunkelheit verbringen müssen. So konnte sie zumindest die schemenhaften Umrisse des Fremden erkennen, und das gab ihr Sicherheit, wenn er ihr auch nicht helfen konnte, sollte ein hungriger Wolf sich nähern.

Sie schloss die Augen und folgte einem Tagtraum, als sie ein Rascheln neben ihr weckte. Der Verletzte sog Luft in seine Lungen, als habe er sich vor etwas erschreckt. Sein Atem war schnell und gehetzt.

»Ist gut, ich bin ja da«, flüsterte sie und hockte sich neben ihn. »Habt Ihr etwas Schlechtes geträumt?«

»Ich sehe nichts mehr«, murmelte der Fremde entsetzt und brachte Ianthe ungewollt zum Lachen.

»Es ist Nacht«, erklärte sie sanft. »Ich sehe ebenso wenig, wie Ihr es tut. Wenn man sich ein bisschen konzentriert, kann man ein paar Umrisse wahrnehmen, mehr aber nicht.« Das Atmen beruhigte sich.

»Habt Ihr Durst?« Ianthes Hand suchte nach dem Wasserkrug, den sie in der Nähe eines Holzbalkens gelassen hatte und nun nicht finden konnte.

Stille. Sie wartete auf eine Antwort.

»Mir ist eher nach dem Gegenteil zumute«, kam es aus dem Dunkeln.

»Gebt mir Eure Hand!« Mit aller Kraft schaffte es Ianthe, dem jungen Mann auf die Beine zu helfen und mit ihm ein Stück in die Büsche am Rande der Lichtung zu laufen, damit er seine Notdurft verrichten konnte.

»Gott, ist mir übel«, sagte der Verletzte leise.

»Sprecht nicht so viel, wenn es Euch die Kräfte raubt. Soviel ich weiß, ist Übelkeit völlig normal, wenn man sich am Kopf verletzt.«

»Wie konnte das geschehen?«

»Das wisst Ihr selbst nicht? Ein Soldat hat Euch mit einer Kopfverletzung hierhergebracht, aber er hat nicht gesagt, wie es dazu gekommen ist.«

»Mein Kopf ist furchtbar leer«, brachte der junge Mann hervor. Er suchte nach Erinnerungen, traf aber in seinem Kopf auf dieselbe gähnende, schwarze Leere, wie sie vor seinen Augen war. Nach einer schier endlosen Zeit ließ er sich wieder zurück ins Stroh sinken.

»Danke.« Er spähte in die Dunkelheit, um Näheres über die Person herauszufinden, die ihm geholfen hatte, aber mehr als ihre Umrisse konnten seine Augen nicht erkennen. »Wie heißt du?«, versuchte er schließlich, seine Neugier anderweitig zu befriedigen. Nach ihrer Stimme zu gehen, war sie jung.

»Ianthe, und Ihr?«

Wieder Stille.

»Habt Ihr denn keinen Namen?«, amüsierte sie sich, bis ihr dämmerte, dass der Fremde durch seine Kopfverletzung alle Erinnerungen an sein früheres Leben verloren haben musste, einschließlich seines Namens.

Verzweiflung machte sich im Kopf des Fremden breit. Er erinnerte sich dunkel an ein weißes Pferd und an eine Wanderung durch den Wald, die eher einer Flucht glich, aber mehr wollte ihm sein Kopf nicht enthüllen.

Als die Zeit verstrich und Ianthe noch immer keine Antwort erhalten hatte, schüttelte sie die Verwunderung ab und versuchte es anders.

»Habt Ihr Hunger? Jonas hat vor zwei Tagen ein Rebhuhn gefangen und ich habe eine Art Hühnerbrühe davon gemacht, die Euch neue Kraft geben würde, wenn Ihr sie denn mögt.«

»Ja, mir ist zwar nach wie vor übel, aber das ändert nichts daran, dass mein Magen knurrt wie verrückt.« Die Stimme des Fremden versuchte hörbar, die Unsicherheit zu verdrängen. Er richtete sich vorsichtig auf. Jetzt, wo die Sonne nicht schien und die Luft kühl war, ging es seinem Kopf etwas besser. Der Schmerz hatte nachgelassen, war aber noch stark genug, um seinen Körper zu lähmen und jede Kopfbewegung oder Erschütterung zu einer Tortur zu machen. Die Verletzung pochte, so als stünde dort ein Zwerg, der mit einem Hammer gegen seinen Schädel schlug.

Ianthe holte die Suppe und fütterte den Fremden Löffel für Löffel, bis die ganze Schüssel leer war. Der Fremde öffnete erneut den Mund, in der Hoffnung, noch einen Löffel zu erhalten. Ianthe lachte.

»Tut mir leid, das war alles.«

»Herrje« kam ein leiser Fluch, dann sah sie im schwachen Licht des Mondes ein Lächeln über sein Gesicht huschen.

»Vielen Dank, es schmeckt sehr gut und ich hätte gerne noch mehr gehabt«, meinte er und rutschte zurück ins Stroh. Sein Körper fühlte sich ein weiteres Stückchen besser an, nur sein Kopf war so erinnerungslos wie zuvor. Er gähnte vorsichtig.

»Ihr habt recht, Ihr solltet jetzt schlafen. Ich halte währenddessen Wache.« Ianthe setzte sich auf ihren Strohsack und verkroch sich unter ihrer Decke. »Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«, kam die Antwort. »Du schläfst nicht?«

»Nein, ich werde die Augen oder besser gesagt die Ohren offenhalten. Falls sich Wölfe nähern.«

»Falls sich Wölfe nähern«, wiederholte der Fremde nachdenklich. Dann blieb es ruhig.

***

Kapitel 3

1. Traum

Es donnerte. Die Dunkelheit schien undurchdringlich, wie ein schwerer, dunkler Vorhang aus Samt, der alles Licht schluckte. Ab und an wurde die Nacht von feurigen Blitzen erleuchtet. Eine alte Eiche gab ihm Schutz vor dem Regen. Der kleine Junge presste sich gegen sie, als könne sie ihre Äste wie Arme schützend um ihn legen. Seine Wut auf seinen Vater war einer großen Angst gewichen. Er hatte sich verlaufen. Er kannte den Weg nach Hause nicht mehr, zur heimatlichen Burg. Sein Atem ging schnell. Wer würde ihn hier finden? Wer brachte ihn zurück in die sicheren Mauern?

»Friedrich«, jammerte er. Dies war der Name seines besten Gefährten auf der Burg. Der Name des Hauptmanns der herzoglichen Garde, der über die zehn Jahre, die der Junge jetzt lebte, immer ein Auge auf ihn gehalten, ihn getröstet hatte, wenn er es bei den restlichen Adligen nicht mehr ausgehalten hatte. Und nun war Friedrich nicht da. Nur die Eiche, die inmitten des dichten Waldes stand, der die Burg auf drei Seiten umgab.

Der Junge sah das Gesicht seines Vaters wieder vor sich. Seit mehreren Tagen hatte sich dieser mit den Fremden unterhalten, hatte jede freie Minute den Soldaten geschenkt oder dem Schachspiel mit Graalfs, diesem Mann, den der Junge nicht leiden konnte. Sein Vater hatte nicht eine Minute für ihn gehabt, hatte ihn ignoriert, so als sei er das Lästigste auf der Welt. Und als dem Jungen dann aus Versehen beim Abendmahl ein wertvolles Glas aus der Hand gefallen und auf dem Boden zerschellt war, war der Vater in Wut geraten und hatte ihn vor seiner Mutter und den Fremden des Salons verwiesen. Er war zu Friedrich gelaufen, doch der war nicht in seinem Raum in der Soldatenbaracke zu finden gewesen. Wahrscheinlich führte er eine Order aus, die er vom Vater des Jungen erhalten hatte. Und so war der Junge einfach durch das offene Tor der Stallungen davongelaufen. Die Wut auf seinen Vater schäumte in ihm. Immer weiter war er über das freie Feld bis zum Wald gestürmt, während am Horizont bereits die Blitze eines Gewitters aufleuchteten. Es war kalt in dieser Mainacht.

Der Blitz krachte nur wenige Fuß entfernt von dem Jungen in eine andere Eiche. Ein Teil des Baumes schlug knapp neben dem Jungen auf dem Waldboden auf und wirbelte ihm Schmutz und Blätter um die Ohren. Er löste sich von seiner Eiche und jagte weiter in den Wald hinein. Bis er plötzlich über einen Ast stolperte und in die Aushöhlung fiel, die ein entwurzelter Baum hinterlassen hatte. Als der Lärm des nächsten Blitzes verklungen war, schmerzten dem Jungen der Arm und der Knöchel des Beins, mit dem er hängen geblieben war, und er wagte sich nicht mehr zu bewegen.

Zur gleichen Zeit gerieten auf einer Weide mehrere Pferde in Panik, darunter eine zierliche weiße Stute mit einem neugeborenen braunen Hengstfohlen. Die Herde entkam der Umzäunung und jagte wie vom Teufel selbst gehetzt durch den Wald. Die Stute verlor in ihrer blinden Furcht das Fohlen für kurze Zeit aus den Augen, aber diese Minuten reichten aus, um sie für immer voneinander zu trennen.

Verständnislos suchte das Fohlen in der Dunkelheit nach seiner Mutter. Doch es fand sie nicht. Stattdessen geriet es nach Stunden der Suche am frühen Morgen an den Jungen, der noch immer regungslos in seinem Erdloch lag.

Der Junge erwachte aus seinem Schlaf, in den er nach dem Gewitter gefallen war. Er zitterte, es war furchtbar kalt. Seine Kleidung war durchnässt und voll Schmutz gesogen. Ein schnaufendes Geräusch ganz in der Nähe seines Kopfes ließ ihn hochschrecken. Sein Blick fiel auf das braune Fohlen, das ihn nicht minder erschreckt ansah und einen mächtigen Satz in den Wald machte. In diesem Moment wurde das unsichtbare Band zwischen dem Jungen und dem Fohlen geschmiedet.

Als Friedrich den Jungen fand, war es bereits Mittag. Mit zehn seiner Männer hatte er die Wälder durchkämmt, nachdem er dem Vater nicht hatte glauben wollen, dass der Sohn entführt worden war. Irgendeine innere Stimme hatte ihm gesagt, dass er den Jungen im Wald finden würde, wohin dieser oft lief, wenn er Ärger mit seinem Vater hatte, und er, Friedrich, sich nicht um ihn kümmern konnte, weil ein weiterer Auftrag auf seine Erfüllung wartete.

Und jetzt sah er den Jungen ihm entgegenlaufen, mit einem braunen Fohlen. Es folgte dem Jungen wie ein Schatten.

***

Kapitel 4

Der Morgen kam mit einem leichten Regen. Kurz vor der Dämmerung waren die Wolken aufgezogen und ergossen ihren Inhalt über die Lichtung wie auch über die kleine Hütte. Ianthe stellte es mit einer gewissen Enttäuschung fest, denn zum einen hatte es die ganze Nacht über nicht nach Regen ausgesehen, und zum anderen fühlte sie sich einfach zu gut für einen grauen, schwermütigen Himmel. Andererseits konnte sie so endlich die Augen schließen, denn mit den erwachenden Vögeln gingen die Wölfe schlafen, auch wenn sie sie die ganze Nacht nicht hatte heulen hören. Sie streckte sich unter ihrer klammen Decke auf dem Strohsack aus, bis ihre Glieder entspannt waren. Neben ihr lag der Fremde, inzwischen nicht mehr steif auf dem Rücken, sondern auf die Seite gerollt, und atmete ruhig. Für kurze Zeit holte sich ihr Körper den Schlaf, den er brauchte, bevor sie die quietschende Tür der Hütte weckte. Jonas war auf den Beinen und die Feuerstelle wartete. Es galt Hafer zu quetschen für das Frühstück. Dann kochte sie ihn in Wasser, bis eine schleimige Masse entstand, und füllte zwei Schalen und einen Teller.

»Es tut mir leid, dass ich Euch nichts Besseres bieten kann«, sagte sie, als sie dem Verletzten kurz darauf eine Schüssel mit Haferschleim brachte. »Es sieht furchtbar aus und so schmeckt es auch. Leider fehlt uns die Sahne, um ihn etwas schmackhafter zu machen.« Sie betonte das kleine Wort ›etwas‹ so sehr es ihr möglich war.

Die Reaktion des jungen Mannes war nicht anders, als sie erwartet hatte. Er warf ihr einen bemüht höflichen Blick zu, der aber die Verzweiflung über die angebotene Nahrung nicht verstecken konnte.

»Das macht nichts! Hauptsache mein Hunger gibt endlich Ruhe«, versuchte er zu lächeln.

Schon kurz nachdem Ianthe aufgewacht und ins Haus gegangen war, war auch der Fremde zu sich gekommen. Erfreut stellte er fest, dass mit seinen Augen, anders als in der Nacht befürchtet, tatsächlich alles in Ordnung war. Zwar war noch immer keine Bewegung möglich, ohne dass ihm vor Kopfschmerz schwarz vor Augen und übel wurde, aber immerhin konnte er inzwischen, wenn er ruhig saß und nicht redete, fast schmerzfrei wach sein und auch etwas essen.

Ianthe reichte ihm die Schale.

»Oder ist es Euch lieber, wenn ich Euch wieder füttere?« Sie musste grinsen. Einen erwachsenen Mann zu fragen, ob sie ihn füttern sollte, schien absurd.

»Danke, ich hoffe, mir geht es schon gut genug, um selbst zu essen.«

Es war gelogen, und er wusste, dass sie es wusste. Keine zwei Löffel schaffte er in seinen Mund, bis ihm so schwindelig wurde, dass er die Hand zitternd sinken lassen musste.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begann Ianthe ihn zu füttern. Sie aßen schweigend, und sie war froh, nach dem Essen in die Hütte gehen zu können. Es war seltsam in der Nähe des Fremden zu sein. Nicht unangenehm, sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, aber trotzdem seltsam.

Den Vormittag verbrachte sie unter einer Linde, die ihre alten, ausladenden Äste wie ein Dach als Schutz vor dem Regen über ihrem Kopf ausbreitete, in der Nähe des Gatters, in dem sich der weiße Hengst aufhielt. Sie beobachtete, wie er ab und an den Kopf hob, als nehme er Witterung auf, ihn dann aber wieder sinken ließ. Und immer wieder ging sein Blick in Richtung des Verletzten, der Hengst schien argwöhnisch darüber zu wachen, dass sein Herr bei ihm blieb. Eine ungewöhnlich starke Bindung musste zwischen beiden existieren, denn in ihrem ganzen Leben hatte Ianthe noch kein Pferd gesehen, dass einem Menschen so anhänglich folgte. Als Jonas und sie noch wohlbehütet bei ihren Eltern gelebt hatten, waren sie öfter auf den Pferden ihrer Eltern geritten, aber keins von ihnen war so an den Menschen interessiert gewesen wie dieser Hengst.

Später war Ianthe allein mit dem Fremden. Sie hatte neues Wasser von der Quelle geholt, die Hütte von den Blättern befreit, die der Wind immer wieder von der Lichtung hineinblies. Der Reisigbesen stand wieder einsam in seiner Ecke und sie saß auf ihrem Schemel am Tisch, den Blick auf die Lindenholzschatulle gerichtet. Später würde sie sich um das Unkraut in den Gemüsebeeten kümmern, aber in diesem Moment gab es nur sie, die Schatulle und das sanfte Rieseln des Landregens. Und die Stimme des Fremden, die sie aus ihrer Träumerei riss.

Als sie aus der Hütte kam, fand sie ihn totenbleich an einen Pfosten der Überdachung gelehnt. Er hatte es bis zum Rand der Lichtung geschafft, um sich ohne ihre Hilfe zu erleichtern, aber auf dem Rückweg war ihm schwarz vor Augen geworden.

»Wartet, ich helfe Euch!« Sie brachte ihn zurück auf sein Strohlager.

»Danke«, stöhnte er und hielt seinen Kopf mit beiden Händen, um dem pochenden Schmerz zu entkommen. Es war angenehm, als er spürte, wie das Hämmern langsam nachließ und nur ein dumpfes Gefühl zurückblieb. Er atmete tief ein und entspannte sich. Als er die Augen öffnete, fiel sein Blick auf Ianthe, die ihn besorgt ansah.

»Geht es Euch wieder besser?«

Er schloss die Augen und hob nur die Hand als Antwort.

»Ihr hättet mich rufen sollen. Es macht mir nichts aus, Euch zu helfen.« Sie sah ihn mitleidig an, wie er so regungslos dasaß und sich um Haltung bemühte. Sein Gesicht glänzte ein wenig vom feinen Regen. Auch die Haare waren mit einem filigranen Tropfennetz überzogen.

»Wisst Ihr inzwischen Euren Namen? Fremder?«

Er öffnete die Augen und sah sie hilflos an. Nichts wusste er. Außer ... er wandte den Kopf nach rechts auf der Suche nach dem weißen Pferd. War dieser Hengst das Fohlen aus dem Traum? Das weiße Pferd gehörte zu seinem Leben, so viel konnte er sich denken, aber in welcher Weise? Wie war er zu ihm gekommen? Er konnte dem Traum nicht vertrauen, oder etwa doch? Hatte dieser Traum ihm einen Teil seiner Erinnerung zurückgegeben?

Der Hengst hob den Kopf und betrachtete ihn ebenfalls. Als er sah, dass sein Herr zu ihm herübersah, wieherte er leise. Seine Ohren waren gespitzt.

»Es ist furchtbar«, murmelte der Fremde. »Nichts weiß ich mehr.« Er wandte sich zu Ianthe und entdeckte, dass sie blaugraue Augen hatte. »Ich kann dir meinen Namen nicht sagen, so leid es mir tut. Er will mir nicht in den Sinn kommen.«

»Macht Euch keine Sorgen, irgendwann werdet Ihr ihn wieder wissen. Und solange nenne ich Euch Fremder«, lächelte sie. »Jetzt werde ich erst einmal Euren Verband erneuern, und dann können wir nur hoffen, dass Jonas Erfolg bei seiner Jagd hat.«

»Er geht auf die Jagd?« Der Fremde verzog sein Gesicht, als sie den Verband löste.

»Ja, wir haben keine Taler, um uns Mehl und Gemüse zu kaufen. Also versuchen wir, unser Essen selbst anzubauen. Aber die Wurzeln sind in diesem Jahr nicht gut gewachsen, der Hafer ist uns halb verschimmelt. Das Wetter war zu kalt und feucht. Die wenige Gerste reicht nicht, also muss Jonas jagen, um uns am Leben zu halten.« Die Wunde hatte sich noch nicht vollständig geschlossen, aber sie war auch nicht entzündet, wie Ianthe zufrieden feststellte. »Es ist gefährlich, denn er vergreift sich am Wild des Grafen. Wenn sie ihn fangen, hängen sie ihn auf. Und für die Rebhühner muss er furchtbar weit laufen, oft ist er den ganzen Tag unterwegs, denn sie verirren sich fast nie in den Wald. Er muss an die Waldränder, wo die Felder sind.«

Der Fremde sah sie an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte wollten nicht sofort kommen.

»Er gibt sich immer große Mühe, unsichtbar zu sein. Und er jagt auch nur ganz selten etwas Größeres als ein Rebhuhn, aber manchmal lässt es sich nicht umgehen. Es bliebe ihm nur, Hühner oder Hasen bei den wohlhabenderen Bauern zu stehlen ...«

Sie stockte. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie dabei war, dem Falschen vom verbotenen Handeln ihres Bruders zu erzählen. Nach der Kleidung des Fremden zu schließen, war er wohlhabend. Wohlhabender, als ihre Eltern es je gewesen waren. Was, wenn er, sobald er gesund war, den Häschern des Grafen von den Vergehen ihres Bruders erzählte?

Der Fremde schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging.

»Es wird unser Geheimnis bleiben«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Du kannst mir glauben, was und wer auch immer ich bin, ich werde kein Wort verraten.«

»Versprecht Ihr mir das?«

»Versprochen!«

Der Verband war gewechselt. Sie hatte auch versucht, die Haare des Fremden von verkrustetem Blut zu befreien. Er hatte rötliches Haar, schulterlang, wellig, wenn es gewaschen war. Im Moment schien es dunkelbraun, schmutzig und verfilzt. Auch der Bart in seinem Gesicht war verklebt. Das Blut musste ihm stundenlang über das Gesicht gelaufen sein, nur seine Haut hatte sie bisher notdürftig reinigen können. Er sah aus, als sei er geradewegs aus der Hölle gekommen.

Das Wams und das Hemd mit seinem feinen Spitzenkragen waren nur zum Teil blutverschmiert, der größte Teil war mit Staub und Erde beschmutzt, die würde sie leicht entfernen können. Für das Blut jedoch brauchte sie Gallseife. Doch Gallseife kostete Geld. Münzen, wie lange schon hatte sie keine mehr in ihren Händen gehalten?

Ein Wiehern riss sie aus ihrer Nachdenklichkeit. Der Hengst stand mit erhobenem Kopf, gespitzten Ohren und bebenden Nüstern am Zaun und blickte zu ihr und dem Fremden herüber. Er schien unruhig, sein ganzer Körper war angespannt.

»Er vermisst das Laufen«, kam es mit einem Mal von dem Fremden. Und so als wundere er sich darüber, dass er so schnell wusste, was dem Hengst fehlte, verzog er das Gesicht.

»Das kann gut sein. Das Gatter ist leider etwas klein, er kann nur ein paar Schritte traben«, bestätigte Ianthe. Ihr Blick ruhte auf dem Hengst, und sie bemerkte nicht, wie der Fremde sie prüfend musterte. »Im letzten Jahr hatten wir Schafe, dafür hat Jonas das Gatter gebaut. Ein wenig größer als nötig, aber nicht groß genug für Euer Pferd.«

»Kannst du reiten?«

Ianthe reagierte nicht. Die Frage schien ihr im Moment zu absurd. Konnte sie reiten? Natürlich konnte sie reiten. Aber auf diesem Pferd?

»Kannst du reiten?«, wiederholte der Fremde seine Frage ohne Ungeduld. »Er würde sich bestimmt freuen, wenn er etwas Bewegung bekäme.«

Ianthe sah ihn an, als habe er sie gefragt, ob sie Lust hätte, von der nächsten Klippe zu springen.

»Ja?«, fragte er.

Ianthe rang sich zu einem leichten Nicken durch. »Ich konnte reiten, aber es ist lange her, dass ich das letzte Mal Gelegenheit dazu hatte. Meine Eltern besaßen Pferde. Zwei, um genau zu sein. Doch keine so edlen wie Eures.«

»Eures«, wiederholte der junge Mann kaum hörbar. Der weiße Hengst schien das einzige Wesen auf dieser Welt zu sein, das ihn noch mit der Vergangenheit verband. Der Name des Tieres wollte ihm nicht mehr in den Sinn kommen, aber ein vertrautes Gefühl überkam ihn jedes Mal, wenn er einen Blick auf das Tier warf. Er hatte keine Erinnerungen, wie lange er dieses Pferd schon besaß, wusste auch nicht, was sie zusammen erlebt hatten. Er konnte Ianthe noch nicht einmal garantieren, dass der Hengst gutmütig war. Nur ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass er dem Tier vertrauen konnte. Es war merkwürdig.

»Ich kann dir helfen, wenn du mit ihm nicht zurechtkommst, aber so viel anders als eure Pferde sollte er eigentlich nicht zu reiten sein«, meinte er, jedoch ohne wirkliche Überzeugung.

Bald stand Ianthe neben dem Gatter. Sie hatte den jungen Mann unter die alte Linde gebracht und ihn als zusätzlichen Schutz vor dem Regen mit der Decke zugedeckt. Jetzt saß er dort und beobachtete, wie sie mit dem Zaumzeug in der Hand zögernd am Zaun stand, nur zwei Schritte von dem weißen Hengst entfernt, und sich nicht recht an ihn herantraute. Es war Unsinn, das war ihr bewusst, und doch zögerte sie.

Der Hengst rührte sich nicht, als sie sich zwischen den Latten hindurchzwängte und zu ihm trat. Er wandte seinen Kopf zu ihr und ließ sich aufzäumen, öffnete sogar freiwillig das Maul, ließ den Kopf unten und wartete geduldig, bis sie seine Ohren unter dem Genickstück des Zaums hervorgezogen hatte. Er war vorbildlich erzogen. Das Satteln klappte nicht minder gut. Und ehe sie sich versah, stand Ianthe vor dem fertigen Hengst, der nur noch darauf zu warten schien, dass sie endlich aufstieg. Sie traute sich nicht, einen Blick zurück zu werfen. Dorthin, wo der Fremde saß und sie beobachtete.

Sie saß auf. Der Schimmel stand wie eine Statue, nur sein Kopf bewegte sich ab und an nach rechts oder links, je nachdem, wo seine Ohren gerade etwas Interessantes ausgemacht hatten. Ianthe nahm die Zügel vorsichtig auf. Sofort spürte sie, wie der Hengst sich anspannte und auf den nächsten Befehl wartete.

Kurz darauf hatten sie die zehnte Runde durch die kleine Koppel gedreht. Ianthe begann sich langsam aber sicher wohlzufühlen. Der Hengst lief so ruhig, als sei er eine alte Stute, die schon alles Wichtige erlebt hatte. Aber traben und galoppieren war innerhalb der Umzäunung unmöglich. So ritt sie ihn vorsichtig bis zum Tor, brachte ihn längsseits der Holzbalken und schob den obersten Balken zurück. Nun musste sie ihn fallen lassen. Sollte sie es wagen, oder würde der Hengst sich erschrecken und sie abwerfen? Sie beugte sich so weit es ging hinunter und ließ den Balken die letzten fünfzig Zoll fallen. Der Schimmel stand völlig ruhig.

Ich hätte es ahnen können, dachte Ianthe.

»Es klappt doch ganz gut, oder?«, kam es von der Linde her. »Er scheint dich zu mögen.«

Ianthe grinste.

»Warten wir’s ab.«

Sie ritt weitere drei Runden auf der Lichtung, die groß genug war, um später auch einige Runden im Galopp zu reiten, ohne dass sie einen Drehwurm bekommen würde. Der Regen legte fürs Erste eine Pause ein. Die Wolkendecke riss auf, und die Sonne schielte ab und an zwischen den Wolken hervor, brachte die Wassertropfen auf den Grashalmen zum Verdampfen. Für den Fremden sah es so aus, als trüge der Schimmel seine Reiterin durch einen Nebel, der sie beide zu Gespenstern werden ließ.

Ianthe trabte schließlich an, und als sie nach einer Stunde auch den Galopp hinter sich gebracht hatte, spürte Ianthe ein Glücksgefühl, wie sie es sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Alle Anspannung war gewichen und gab einem wohligen Seufzer Raum.

Sie ritt den Schimmel zu der Linde hinüber und bemerkte, dass der Fremde eingeschlafen war. Nachdem sie den Hengst von Sattel und Zaumzeug befreit hatte, ging sie noch einmal zu ihm, um zu prüfen, ob er einigermaßen bequem lag, und machte sich dann auf den Weg in die Hütte, um zu sehen, was sie an diesem Abend essen konnten.

Eine Stunde später vernahm sie plötzlich einen Schuss, ganz in der Nähe. Sofort lief sie vor die Hütte. Es dauerte nicht lange, da kam ihr Jonas aus dem Wald entgegen, in der Hand hielt er eine beachtlich große Radschloßpistole und lächelte zufrieden.

»Hast du etwa geschossen?« Woher hatte er die Pistole?

»Ja, Schwesterchen. Und rate mal, was es bald zu essen geben wird!«, strahlte er.

»Wie soll ich das erraten? Sag schon!«

»Hirsch!«

Ianthe erstarrte. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder ihrem Bruder lieber eine Ohrfeige für sein gefährliches Tun geben sollte. Die Freude siegte.

Oder der Hunger.

»Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein. Kommst du und hilfst mir, das Tier auf die Lichtung zu ziehen? Ich schaffe es nicht alleine.«

»Natürlich«, murmelte sie und ging ihm grübelnd hinterher.

Als sie kurz darauf mit ihrer schweren Last zurück auf die Lichtung kamen, sah sie, dass der Fremde wach war und aufmerksam zu ihnen herüberblickte.

»Nun ist es auch egal, ob ich ihm heute Morgen von Jonas’ Wilderei erzählt habe, immerhin hat er’s jetzt sogar mit eigenen Augen gesehen«, dachte Ianthe besorgt. »Ob Jonas nicht selbst ein komisches Gefühl hat, wenn er den Hirsch vor den Augen des Fremden über die Lichtung zieht?« Er machte nicht den Eindruck.

Es war ein prächtiger Hirsch, und Ianthe wunderte sich ein wenig, wie es Jonas so einfach gelungen war, ihn zu erlegen. Er trug ein Geweih mit sechzehn Enden, und sie spürte fast so etwas wie Trauer, dass sie ihn nun essen würden. Stärker nagte aber das dumpfe Gefühl an ihr, dass Jonas sich lieber an ein weibliches Tier hätte halten sollen. Was, wenn auch jemand anderes ein Auge auf diesen Hirsch geworfen hatte? Jemand, der das Jagdrecht besaß? Ianthe schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.

Als sie die Hütte betrat, um das scharfe Messer zu holen, oder vielmehr, das einst scharfe Messer, mit dem Jonas seine liebe Mühe haben würde, den Hirsch für das Abhängen vorzubereiten, fiel ihr Blick auf zwei Münzen. Zwei alte Kreuzer lagen mittig auf dem Tisch, fast wie ein Schatz. Vor einer halben Ewigkeit war Jonas mit ihnen aus der Stadt heimgekehrt. Ianthe hatte ihn nie gefragt, wie er an die Münzen gekommen war, aber dass sie nicht gestohlen waren, so viel wusste sie auch ohne nachzuforschen. Und Jonas hätte niemals zugegeben, dass er betteln ging.

Später gab es den Rest von Ianthes Rebhuhnbrühe. Die Hälfte des Huhns hatte sie gebraten, mit der anderen Hälfte, zwei Wurzeln und einer Handvoll Gerstengraupen die Brühe gekocht. Jonas aß wie ein Mensch, für den es kein feineres Menü geben konnte. Man sah ihm an, dass er zufrieden mit sich und der Welt war. Er strich auch den letzten Rest Suppe mit seinem Finger aus der Schale, und wäre er noch kleiner gewesen, dachte Ianthe, dann hätte er die Holzschale sicherlich auch noch ausgeleckt.

Sie selbst genoss das Gefühl, wie ihr Hunger langsam verschwand und einer wohligen Wärme und Sättigung wich. Der Abend hätte nicht schöner sein können, wenn nur Jonas dem Fremden erlaubt hätte, mit am Tisch zu sitzen. Aus irgendeinem Ianthe unerfindlichen Grund hatte Jonas beschlossen, dass der Fremde zu krank sei, und sowieso, es wäre ja gar kein Stuhl mehr für ihn frei. Als Ianthe daraufhin entgegnete, der Fremde könne doch ihren Schemel haben und sie säße derweil auf dem Podest, meinte Jonas nur, der Fremde würde vor Schwäche vom Schemel kippen. Sie war nicht weiter darauf eingegangen.

Später am Abend schlich sich Ianthe mit einer großen Schüssel Suppe aus dem Haus. Jonas musste nicht mitbekommen, wie viel sie von der feinen Suppe für den Fremden zurückgehalten hatte.

Der Fremde schien sie erwartet zu haben. Er hatte den Kopf angelehnt, um ohne Schmerzen gerade sitzen zu können, blickte aber in ihre Richtung.

»Euer Essen«, sagte sie schlicht.

»Ich habe mächtig Hunger«, gab er zur Antwort.

»Ihr braucht einen sehr gesunden Hunger, wenn Ihr das alles aufessen wollt«, betonte Ianthe und hockte sich mit dem Teller auf die Erde.

»Ich denke, den habe ich.« Der Fremde warf einen interessierten Blick auf das Fleisch. »Ich hatte zumindest große Beschwerden damit, meinen Magen in den letzten Stunden so ruhig zu halten, dass er mit seinem Gebrummel nicht irgendeinen Bären anlockt.«

Ianthe musste lachen.

»Ich glaube, ich kann Euch beruhigen. Es gibt in diesem Landstrich schon seit Längerem keine Bären mehr. Euer Magen hätte also ruhig noch weitergrummeln können.«

Der Fremde antwortete nicht. Sie bemerkte nur den sehnsüchtigen Blick, den er auf die Speisen warf.

»Geht es Euch denn besser?«, spannte sie ihn auf die Folter.

»Ich denke ja«, kam die leise, fast kleinlaute Antwort auf ihre Frage. »Um ehrlich zu sein, kreist meine Welt immer noch bei jeder stärkeren Bewegung um sich selbst, und ich würde am liebsten den ganzen Tag nur liegen und die Augen geschlossen halten. Aber zumindest bin ich fast schmerzfrei, wenn ich den Kopf nicht bewege und auch die Augen nicht. Und erst recht nicht rede.«

»Oh.« Ianthe machte ein so seltsam verstörtes Gesicht, dass es den Fremden zum Lachen brachte. Und ihn kurz darauf die Lippen aufeinanderpressen ließ, bis der berstende Schmerz abebbte.

»Um Himmels willen, sprecht nicht mehr. Ich werde Euch wieder füttern und dann müsst Ihr schlafen! Vorher werde ich nur noch einmal nach der Wunde sehen, aber es scheint, als hätte sie sich geschlossen. Der Verband ist nicht durchgeblutet.«

Der Fremde schaffte es tatsächlich, fast die gesamte Suppenschale zu leeren. Die letzten Reste löffelte Ianthe schnell noch selbst, bevor sie die Hütte wieder betrat. Jonas blickte ihr im schwachen Licht eines Kienspans entgegen. Sie wich seinem Blick aus und begann, den Teller auffällig gründlich zu reinigen. Um nichts in der Welt wollte sie mit Jonas an einem Tisch sitzen und seinen besorgten, nörgelnden Reden zuhören. Sicherlich, auch sie selbst hatte an manchen Tagen der letzten Jahre nur schwarze Dinge sehen können, aber nun war es anders, und sie wollte dieses Gefühl beschützen.

»Wie geht es ihm?«, wollte Jonas wissen.

»Nicht allzu gut«, antwortete Ianthe knapp.

»Tatsächlich? Als ich vorhin von der Jagd kam, hat er aber schon sehr aufmerksam gucken können.«

Ianthe sog scharf die Luft ein. Erneut spürte sie Wut in sich aufkeimen. Konnte Jonas nicht für fünf Minuten seine Abneigung, woher auch immer sie kam, vergessen?

»Na und? Ich habe auch nicht schlecht gestaunt über den großen Hirsch, den du erlegt hast. Woher hattest du die Pistole?«

»Aus seiner Satteltasche. Er hat noch eine weitere dort. Und Kugeln. Und Schießpulver. Wir können also noch für ein paar Wochen erfolgreich jagen.« Seine Stimme war etwas weicher geworden.

»Das heißt also, du duldest ihn weiterhin auf deinem Grund und Boden, Bruder?«, stichelte sie.

»Sagen wir es so, ich wage zu bezweifeln, dass er noch lange hierbleiben wird, wenn es ihm wieder gut geht. Hast du daran mal gedacht? Wohin er verschwinden wird, wenn er wieder reiten kann? Wer er überhaupt ist?«

»Er weiß ja selbst nicht, wer er ist«, brachte Ianthe trotzig hervor. Sie bemerkte, dass sie den Moment, in dem der Fremde seinen Namen und seine Erinnerung wiederfand, fürchtete. Wahrscheinlich würde er so schnell es ging wieder in seine alte Heimat zurückkehren, denn wo auch immer er herkam, es war ihm dort nicht schlecht ergangen. Warum um alles in der Welt sollte er also bei ihnen im Wald in dieser ärmlichen Hütte ohne jegliche Behaglichkeit bleiben und sich im Winter Frostbeulen holen?

Jonas schien ihre Gedanken zu lesen.

»Er muss sehr reich sein«, meinte er nachdenklich. »Nicht nur sein Pferd ist mit dem edelsten Sattelzeug ausgestattet, er trägt Kleider, wie ich sie noch nie von Nahem gesehen habe.«

»Und?«